Babel

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«Das zahlen wir ihr heim», sagte Lisbeth am Nachmittag, als sie die Aufzüge putzten, in sicherer Entfernung von Maria und Rosario, die mit den Aufzügen am anderen Ende des Flurs angefangen hatten.

«Lass gut sein», sagte Naomi, «sie hat mir einen Dienst erwiesen.»

Lisbeth schaute sie verwundert an.

«Ist doch egal, ob sie dir damit einen Dienst erwiesen hat. Sie wollte dir wehtun.»

«Ich kann ihr nicht immer mit Prynne drohen. Sie ist schlau genug, die Sachen, die sie uns gestohlen hat, nicht mehr in ihrem Spind aufzubewahren.»

«Ich kann mit Betty reden.»

«Mit Betty?»

Es war das erste Mal seit dem Zwischenfall mit der Suppe, dass Lisbeth diesen Namen fallenließ.

«Ja, sie ist wieder unten.»

«Sie ist kein A mehr?»

«Doch. Aber sie ist krank. Da oben ist eine Grippeepidemie ausgebrochen, und alle, die krank sind, werden sofort weggeschickt, damit sie den alten Mann und seine Enkelin nicht anstecken.»

«Steht Immunität vor der Grippe denn nicht in seinem Pakt mit dem Teufel?»

«Lach du nur; das kann unsere Chance sein, uns Betty zu nähern. Ihr Zimmer befindet sich in dem Stockwerk über uns. Wir können sie ganz einfach besuchen. Außer dem Arzt sieht sie nicht viele Leute. Sie hat sich nämlich nicht viele Freunde gemacht, seit sie eine A ist.»

«Wie könnte sie uns denn helfen?»

«Ein Wort von Lichtenstern zu Prynne, und Deborah wird entlassen.»

«Du würdest so weit gehen?»

«Du nicht? Auch nicht nach der Sache mit dem Foto?»

«Wird Betty sich nicht wundern, wenn wir vorbeikommen?»

«Sie wird sich über ein bekanntes Gesicht freuen.»

«Ich bin kein bekanntes Gesicht.»

«Wir sind ein Team», sagte Lisbeth und fasste Naomi am Arm. «Mitgefangen, mitgehangen.»

«Es wäre einen Versuch wert», sagte Naomi. Vorsichtig zog sie ihren Arm zurück. In diesem Moment schoss der Fahrstuhl nach oben.

«Merkwürdig», sagte Lisbeth. «Wir hatten noch ein paar Minuten.»

«Wenn er weg ist, brauchen wir ihn auch nicht zu putzen», sagte Naomi. «Wenn wir uns ranhalten, ist dieser Aufzug in fünf Minuten fertig, und wir können zu Betty.»

«Besser, wir bringen ihr etwas mit. Was hältst du von Weintrauben?»

«Glaubst du, Weintrauben funktionieren noch bei einer, die den Luxus von Babel gewohnt ist?»

«Was würdest du ihr mitbringen?»

«Ein paar Modemagazine?»

«Das ist eine bessere Idee. Ich freue mich, dass du jetzt hier arbeitest, Naomi. Ich habe das Gefühl, dass wir mehr als Freundinnen sind. Es ist, als wäre unser Schicksal miteinander verbunden, empfindest du das auch so? Wir werden große Dinge erleben, wenn wir zusammenbleiben.»

In diesem Augenblick kam der Fahrstuhl wieder nach unten. Die Mädchen erschraken, als ein Mann ausstieg. Er trug einen grauen Anzug. Auf seinem blütenweißen Hemd war kein Buchstabe oder Turm auszumachen. Er war hübsch, selbst für babelsche Maßstäbe. Sein dickes schwarzes Haar hatte er nach hinten gekämmt. Die Nase war groß und streng, und seine Augen – zwei dunkle Pfuhle in einem bleichen Gesicht – waren unmöglich zu ignorieren. Sie sogen einen auf und ließen einen nicht los. Sie versengten einen. Als er Naomi von Kopf bis Fuß musterte, errötete sie bis in den Nacken.

«Herr Lichtenstern!», rief Lisbeth und machte eine kleine Verbeugung. Maria und Rosario kamen angelaufen, um das Wunder mitanzusehen.

«Wenn Sie Betty suchen», sagte Lisbeth, «die liegt auf minus vier. Ich kann Ihnen zeigen, wo es ist. Ich hatte gerade vor, sie zu besuchen.»

«Weshalb sollte ich?», sagte Lichtenstern. Seine Stimme war tief und dunkel und wie ein anschmiegsames düsteres Tier.

«Sie ist krank», sagte Maria gedankenlos.

«In der Tat», sagte Lisbeth. «und Sie dürfen keine Ansteckung riskieren. Sehr vernünftig. Vielleicht sollte ich meinen Besuch auch noch etwas aufschieben.»

Lichtenstern schaute sie an, als fragte er sich, wer sich wohl darum scheren mochte, ob dieses Mädchen die Grippe bekam oder nicht.

«Ich suche einen zeitweiligen Ersatz für Betty», sagte er. «Normalerweise macht Prynne das, aber da ich ohnehin nach unten musste, schaue ich mich selbst einmal um.»

«Tenga mi! Tenga mi!», rief Rosario, die vor Aufregung in ihre Muttersprache verfiel.

Lichtensterns Blick glitt von ihrem begierigen Gesicht zu ihren Brüsten und zurück.

«Vielleicht jemand, der eine verständliche Sprache spricht», sagte er.

«Ich spreche!», sagte Maria.

«Tja, leider», sagte Lisbeth, die zwischen Lichtenstern und Naomi glitt. «Als Bettys beste Freundin wäre es mir eine Ehre, für eine Weile ihre Tätigkeit zu übernehmen, Herr Lichtenstern.»

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. «Nach fünf Jahren in Babel habe ich genügend Erfahrung, um befriedigende Arbeit zu liefern.»

Er schaute kurz auf die Hand und schüttelte diese dann von sich ab.

«Du da!» Er zeigte auf Naomi. «Komm her.»

«Sie ist noch neu, Herr Lichtenstern», sagte Lisbeth. «Sie weiß noch nicht richtig, wie es hier im Turm zugeht. Es mangelt ihr an der nötigen Erfahrung.»

Lichtenstern ignorierte sie.

«Wie heißt du?»

«Naomi.»

«Willst du nach oben, Naomi?»

«Was soll ich da tun?»

Er legte seinen Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf an, sodass sie in seine traurigen Augen schaute.

«Pragmatisch, das liebe ich.»

Sie senkte ihren Blick als Erste.

«Such Prynne und sage ihr, dass du Betty ersetzt. Sie wird dir sagen, was du zu tun hast.»

Er stieg in den Aufzug.

«Meine Damen, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Arbeitstag.»

Er lächelte, als ob er wüsste, dass er ihre gesamte Hoffnung auf ein besseres Leben mit sich nahm. Der Fahrstuhl schloss sich, und die Mädchen sahen sich in der Metalltür widergespiegelt, verzerrt mit langen Armen, kurzen Beinen und monströsen Köpfen. Lisbeth war die Erste, die sich umdrehte. Sie zwang sich zu einem Lächeln.

«Das sind großartige Neuigkeiten, Naomi. Ganz nach oben! Wer weiß, was für Chancen du dort bekommst! Und falls es noch mehr Kranke geben sollte, weißt du, dass ich nur zu gern für jemanden einspringe. Dann können wir wieder zusammenarbeiten. Wäre das nicht großartig?»

«Mitgefangen, mitgehangen», sagte Naomi.

Lisbeth nickte.

«Genau.»

«Leider weiß ich noch nicht richtig, wie es hier im Turm so zugeht. Ich halte es für besser, du arbeitest mit einer Person zusammen, die mehr Erfahrung hat», sagte Naomi.

«Das nimmst du mir doch nicht übel, Naomi, nach allem, was wir zusammen erlebt haben? Ich habe das nur gesagt, um dich zu beschützen. Wir sind doch Freundinnen!»

Naomi entfernte sich. Maria und Rosario, noch im Schock, witterten ihre Chance, als sie merkten, dass Lisbeth allein zurückblieb. Es dauerte nicht lange, bis jemand Naomis Namen schrie. Naomi schaute sich nicht um.

Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss und verschluckte dort eine Gruppe von Touristen, die sich wenig um die missbilligenden Blicke von Frau Prynne kümmerten. Sie holten Bierdosen aus ihren Rucksäcken und tönten dann in irgendeiner osteuropäischen Sprache herum.

«Abschaum», murmelte Frau Prynne.

Naomi ignorierte die Touristen und starrte auf den Plasmabildschirm, der an der Fahrstuhlwand hing und in dem Frauen, die Hände voll mit Champagner und teuren Handtaschen, Männern mit perfekt rasierten Gesichtern, gekämmten Haaren, weißen Hemden, weißen Zähnen und einer weißen Haut zulächelten. Beide Arbeitnehmerinnen ignorierten den eindringlichen Geruch von Schweiß, Bier und Salami und holten erst wieder tief Luft, als der Aufzug im dreihundertfünfundzwanzigsten Stockwerk anhielt. Der Pulk ergoss sich hinaus und rannte johlend durch den Flur, prallte jedoch beim Eingang auf den «Maître d’» des City View Restaurants, der ihnen klarmachte, dass sie ohne Krawatte und mit Bierdosen nicht eingelassen würden. Die Gruppe hatte nicht vor, es dabei zu belassen, und umzingelte den Maître d’, der ruhig blieb und Prynne zunickte, als sie und Naomi vorbeigingen. Naomi schaute durch die Glastür ins Restaurant. Es war noch vor halb zehn Uhr morgens, und doch saßen schon jede Menge Leute an den Tischen, versteckt hinter Zeitungen oder gelangweilt in ihren Tassen rührend. Niemand schien sich für die unbezahlbare Aussicht zu interessieren. Sie selbst sah vom Flur aus auch nichts durch die Außenfenster, ausgenommen das strahlende Blau des Himmels. Ein Streifen tieferes Blau ließ das Meer erahnen, aber es konnte auch eine Verfärbung der Fenster sein. Viel Zeit bekam sie nicht, das Restaurant zu bestaunen. Sie bogen links in einen Flur ein, aus dem ihnen sechs Männer mit gezückten Schlagstöcken und einem C2 auf der Uniform entgegengelaufen kamen.

«Bin gespannt, ob das Gesindel gleich auch noch so viel Spaß hat», sagte Prynne mit einem dünnen Lächeln. Sie bogen abermals nach links ab, bis sie vor einem zweiten Fahrstuhl standen.

Prynne legte ihre Hand auf eine Metallplatte in der Wand, und der Lift öffnete sich. Danach tippte sie eine Zahlenkombination ein, und der Buchstabe A flackerte grünlich auf dem Bildschirm.

«Gibt es keinen direkten Fahrstuhl von unten nach oben?», fragte Naomi.

«Doch», sagte Prynne, «aber der ist exklusiv für Abraham Babel.»

Auf dem kleinen Monitor folgten die Zahlen einander im Eiltempo: 326. 327. 328.

«Wer wohnt auf diesen Etagen?»

«Niemand.»

«Niemand?»

«Planst du, dich hier einzumieten?»

Der Fahrstuhl stoppte. Die Türen öffneten sich von selbst, aber der Ausgang wurde von einem großen Spiegel blockiert. Naomi sah sich in der neuen Kleidung, die zu ihrem zeitweiligen A-Dienstrang gehörte. Sie trug einen schwarzen Rock bis genau über die Knie, weiße Socken und weiße Filzschuhe. Im Gegensatz zu Frau Prynne, einem Muster der Restaurierungskunst, trug sie kein Make-up. Ihr dickes schwarzes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der neben ihrem Hals über das weiße Baumwollshirt fiel und das rote A auf ihrer rechten Brust fast bedeckte.

 

Ihre Finger glitten kurz über dieses A. Frau Prynne hatte ihr klargemacht, dass sie sich keine Illusionen zu machen brauche. Sie sei lediglich eine Vertretung und tue gut daran zu begreifen, dass sie jeden Moment wieder bei ihren Sub-Kolleginnen landen konnte. Je weniger sie ihren zeitweiligen Status missbrauche, desto weniger Problemen sei sie ausgesetzt, wenn sie wieder zur Putzhilfe werde.

Naomi hatte sich die Frage verkniffen, ob sie in ihrem zeitweiligen Status auch die Vorgesetzte von Frau Prynne mit «bloß» einem C war. Die A-s waren übrigens nicht der höchste Rang im Turm. Über ihnen standen unlogischerweise die B-s. Von B wie Babel. Nur sie gelangten in Abraham Babels Nähe.

Sie merkte, dass Frau Prynne sie beobachtete, und zog ihre Hand zurück.

«Knöpf dein Shirt zu.»

Naomi tat, was ihr befohlen war.

«Wie schade», tönte eine Stimme über ihnen. «Ich hätte gern etwas mehr gesehen.»

«Lass uns herein, Hans», sagte Prynne. «Wir haben zu arbeiten.»

Die Stimme fragte nach den Identifikationsdaten.

«Du weißt, wer ich bin», sagte Prynne.

«Das tut nichts zur Sache.»

Prynne seufzte.

«Bei jedem neuen Dienstmädchen immer dieselbe Routine. Du glaubst doch nicht, dass das sie beeindruckt, Hans? Diese Mädchen haben in ihrem kurzen Leben schon mehr gesehen und mehr ignoriert, als du ihnen bieten kannst.»

«Die Identifikation bitte», sagte die Stimme.

Prynne drückte ihre Hand auf die Metallplatte an der Spiegelwand. Ein grünes Licht leuchtete auf.

«Jetzt unsere neue A», sagte die Stimme.

Naomi folgte Prynnes Beispiel. Das Metall fühlte sich kalt an. Das Licht wurde rot.

«Und jetzt?», sagte Prynne. «Soll ich hier bis ans Ende der Zeiten stehen bleiben?»

«Keine Panik, Frau Prynne, das kann für Sie nicht mehr so lange dauern», sagte die Stimme.

Der Spiegel schob sich zur Seite, und fünf Männer in schwarzen Maßanzügen kamen auf sie zu. Naomi wurde gebeten, die Arme in die Höhe zu strecken, und wurde dann professionell abgetastet. Frau Prynne tippte ungeduldig mit ihren manikürten Nägeln gegen die Fahrstuhlwand. Einer der Männer, blond und breit und mit einer von seiner linken Schläfe bis zu seinem Mundwinkel verlaufenden Narbe, drehte sich zu ihr um.

«Sparen Sie sich dieses Gehabe, Frau Prynne. Ich tue meine Arbeit. Und Sie sollten das besser auch tun. Ich habe keine Formulare im Zusammenhang mit einer neuen Putzhilfe erhalten.»

«Sie ist eine zeitweilige Vertretung. Sie kommt aus dem Waisenhaus. Sie wurde gründlich durchleuchtet. Sie ist clean.»

«Behaupten Sie.»

«Willst du lieber selbst die Zimmer putzen, Hans?»

Sie starrten sich gegenseitig an.

«Also gut. Heute kann sie so hinein, aber bis morgen will ich alle Papiere auf meinem Schreibtisch haben, sonst wandert sie zurück nach unten.»

«Das werden wir ja sehen», sagte Prynne und schob Naomi weiter durch einen Metalldetektor und das Zimmer der Wachleute.

Da ging sie also, hinein in das höchste, teuerste, exklusivste Apartment der Welt. Nicht, dass sie viel von dem Luxus bemerkt hätte, denn die Flure, durch die Prynne sie führte, waren für das Personal gedacht und nicht für die Bewohner. Die Flure waren zwar nicht kahl und giftgrün wie unten, sondern breit und warm mit indirekter Beleuchtung und Drucken an den Wänden – es waren immerhin die Räumlichkeiten Babels –, aber dennoch lediglich Flure, die genau wie die Wasserleitungen oder die Strom- und Glasfaserkabel hinter dem wirklichen Leben in den Apartments entlangführten.

Prynne lotste sie in ein großes Zimmer, das nach Lavendel roch. Hier standen die Putzmittel, alle säuberlich angeordnet und etikettiert. Frau Prynne schnurrte die Etiketten herunter: B für Badezimmer, O für Orangerie, G2 für das zweite Gästezimmer, F3 für Flur drei, By für den Byzantinischen Saal und so weiter. Es war nicht sonderlich schwer. Im Zweifelsfall konnte sie die Räume immer auf dem Etagenplan finden, der an der Wand hing.

«Wo sind wir jetzt?», fragte Naomi.

«Hier.» Frau Prynne bohrte ihren spitzen Fingernagel in eines der kleinen Quadrate auf dem Plan.

«Ist dieses Apartment so groß, dass es einen Plan dafür braucht?»

Die kalten Lippen von Frau Prynne kräuselten sich zu einem Lächeln.

«Komm», sagte sie bloß, und wieder folgte Naomi ihr wie ein Hündchen. Etwa dreißig Meter weiter stieß Frau Prynne eine Tür auf.

«Nach dir.»

Naomi lugte in das Zimmer. Das Flurlicht drang lediglich einige Meter in den Raum hinein, und das Einzige, was Naomi dort sehen konnte, war ihr eigener zögerlicher Schatten auf den kleinen blauen Fliesen zu ihren Füßen.

«Los, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.»

Was war das für ein Geruch? Ihre Hände suchten vergeblich nach einem Lichtschalter.

Prynne klatschte in die Hände, und das Licht sprang an.

«Oh», sagte Naomi.

«Olympische Dimensionen natürlich», sagte Frau Prynne. «Nicht, dass hier jemals Wettkämpfe stattfinden würden, aber auch hier gilt das Prinzip: Wenn schon, dann lieber gleich anständig.»

Naomi erkannte den Geruch von Chlor. Sie stand am Rand eines immensen Schwimmbeckens. Sie schaute zu Frau Prynne, die sich keine Mühe gab zu verbergen, wie sehr sie Naomis Verwunderung genoss.

«Was willst du wissen? Wieso eine Schwimmhalle von diesen Ausmaßen wie selbstverständlich an der Spitze des höchsten Gebäudes der Welt zu finden ist? Ganz simpel, Mädchen. Mit Geld kann man alles. Hast du irgendeine Vorstellung, wie viel diese abertausend Liter Wasser wiegen?»

Naomi ging um das Schwimmbecken herum. Bei jedem Schritt, den sie machte, leuchteten nicht nur an den Wänden, sondern auch unten im Wasser Lichtspots auf. Der Boden war mit goldenen Mosaiken ausgelegt. Durch die Lichtwellen hindurch sah sie, wie schwarze Wale Schiffe verschlangen, und ein hölzernes Hausboot, durch dessen Dach Elefantenrüssel und Giraffenhälse ragten.

Noch außergewöhnlicher als die Ausmaße war die Leere der Schwimmhalle. Keine halbstarken Jungs, keine schreienden Babys und keine alten Frauen mit beblümten, an verdorrte Brautsträuße erinnernden Badekappen, wie sie jedes Schwimmbad bevölkerten. Hier war alles Ruhe, Luxus und Überfluss.

Naomi tauchte ihre Hand in das Wasser. Lichtkräusel wogten über die Wände. Wie wunderbar musste es sein, sich hier hineingleiten zu lassen, nicht in ein Wasser, das an diesem Tag schon von Hunderten anderen benutzt worden war, sondern in ein jungfräuliches Nass, über dem einem nahezu sichtbaren Jungfernhäutchen gleich die Stille schwebte.

«Du putzt das hier, sobald du mit den Badezimmern fertig bist. Schau auf den Zeitplan. Du beginnst keine Minute früher und keine Minute später, verstanden?»

Naomi nickte. Sie gingen zurück in den Flur.

Frau Prynne klatschte zweimal in die Hände, und alle Lichter gingen aus.

Naomis erste Aufgabe war das Putzen der Bäder in den Gästezimmern. Jedes einzelne davon war größer als der Schlafsaal der Subs. Goldgerahmte Spiegel zierten die Marmorwände. Die Schränke waren aus unbekannten Holzarten gefertigt, die Handtücher so dick und weich, dass man darin versank. Die Badewanne war eine Riesenmuschel aus Marmor.

«Du hast genau achtzig Minuten pro Badezimmer. Es sind insgesamt fünf, also du weißt, was du zu tun hast. Wenn du fertig bist, gehst du zur Schwimmhalle. Die brauchst du heute lediglich zu wischen. Du hast eine halbe Stunde, was mehr als ausreichend ist. Wenn du fertig bist, verstaust du die Putzsachen und kehrst zum Aufzug zurück. Hans wird Schwierigkeiten machen, dich zuletzt aber doch hinauslassen. Morgen früh wartest du um halb neun unten bei den Aufzügen auf die A-Mannschaft. Sie werden dich mit nach oben nehmen. Hast du noch Fragen? Dann steh nicht herum wie ein Ölgötze, sondern fang an!»

Nichts war schmutzig. Da war nicht ein Fleck auf den Spiegeln, nicht ein Streifen in den Waschbecken. Naomi legte sich auf den Boden des Badezimmers, presste eine Wange auf die Fliesen, sodass sie jede Unebenheit auf dem Fußboden bemerkt hätte, und immer noch sah sie nirgendwo eine Fluse oder ein Stäubchen.

Sie knotete ihre Schuhe auf und kroch barfuß in die Riesenmuschel. Der Marmor fühlte sich kühl an. Sie schrubbte, nicht weil sie plötzlich von Menschen hinterlassene Spuren gefunden hätte, sondern weil sie davon ausging, dass Prynne sie kontrollieren würde. Ihr wurde heiß. Sie zog ihr Shirt aus und hängte es auf einen Handtuchhalter. Nach einer halben Stunde war sie mit dem Badezimmer fertig. Fünfzig Minuten zu früh.

Sie betrachtete sich im Spiegel. Sie zog die Lippen hoch, klapperte mit den Zähnen und bedachte sich selbst mit einem Augenzwinkern. Naomi. Mitten im Turm von Babel.

Im Spiegel sah sie, wie sich die Türklinke bewegte. Die Tür ging auf. Es war nicht Prynne.

«Warum solche Angst?»

Lichtenstern glitt ins Zimmer, setzte sich auf die Marmorplatte des Waschtischs und besah sich im Spiegel.

«Ich bin ordentlich rasiert. Von meinen Zähnen tropft kein Blut. Ich sehe nicht ein, weshalb du dich erschrecken solltest.»

Er musterte sich weiter im Spiegel.

«Oder ist dieser Anzug zu förmlich? Besonders, wenn ich sehe, wie bequem du gekleidet bist.»

Über seine Schulter hinweg sah sie sich selbst im Spiegel, ohne Shirt, nur mit BH. Sie legte die Hand über ihre Brüste.

«Komm, nicht so bescheiden. Wie heißt es in der Bibel? Ein Mensch darf seine Talente nicht begraben.»

«Was kann ich für Sie tun, Herr Lichtenstern?»

«Setz dich. Du machst mich nervös mit diesem Blick wie von einem in die Enge getriebenen Stück Wild. Ich tue dir nichts. Ich brauche eine Frau nicht zu zwingen. Die Arbeitnehmerinnen von Babel stehen Schlange, um mir jede Annehmlichkeit zu bieten.»

«Dann würde ich sie nicht länger warten lassen», sagte Naomi.

Seine Augenbraue wanderte in die Höhe.

«Möchtest du denn nicht von dieser einmaligen Gelegenheit profitieren? Du brauchst keine Angst zu haben, Prynne könnte hier jeden Moment eindringen. Wir werden von niemandem gestört werden. Du kannst so laut schreien, wie du willst.»

Er fuhr sich mit beiden Zeigefingern über die Lippen.

«Nicht zu trocken. Nicht zu feucht. Genau richtig.»

Er drehte sich vom Spiegel weg und schaute sie an. Den einen Arm noch immer vor ihren Brüsten, machte sie einen Schritt zurück, bis ihr Rücken die Badezimmerwand berührte. Mit ihrer freien Hand griff sie nach der Handbrause.

«Was hast du vor? Mich nass sprühen, bis ich schmelze?»

«Ich muss weiter mit meiner Arbeit, Herr Lichtenstern.»

Er kam auf sie zu. Der Duschkopf in ihrer Hand zitterte.

«Findest du mich denn nicht anziehend, Naomi? Nein? Du brichst mir das Herz.»

Er grinste.

«Etwas mehr Dankbarkeit hatte ich schon erwartet. Ohne mich wärst du gar nicht hier! Zugegeben, dieser Putzjob ist nur vorübergehend, aber wenn du freundlich zu mir bist, könnte ich für eine dauerhafte Beförderung sorgen. Nicht sofort als A natürlich. Aber alles ist besser, als eine Sub zu bleiben, nicht?»

«Mir gefällt es dort ausgezeichnet», sagte Naomi.

«Findest du mich so abstoßend? Was für ein Schlag für mein Ego! Oder willst du irgendeinem pickligen Teenager treu bleiben, der draußen auf dich wartet? Nein, da ist niemand, ich spüre es. Magst du keine Männer, Naomi? Hast du andere Interessen? Ich denke nicht. Aber du hast Angst vor uns. Warum? Schlechte Erfahrungen?»

Er stand jetzt am Rand der Badewannenmuschel.

«Ich könnte dir sagen, dass nicht alle Männer gleich sind, aber aus meinem Mund würde sich das merkwürdig anhören. Ich weiß, was über mich gesagt wird.»

«Alles gelogen natürlich», sagte Naomi.

«Nicht alles.»

Er setzte sich auf den Rand der Muschel.

«Weißt du, was das Problem ist? Frauen finden, dass ich zu schnell vorgehe. Ich bin genau wie du, Naomi. Direkt. Frauen wollen das nicht. Obwohl ich ihnen damit einen großen Dienst erweise. Ich verzichte gern auf diese ersten Dates, die Verabredungen zum Essen oder fürs Kino, und erst recht auf die langen Gespräche, um sich gegenseitig besser kennenzulernen. Ich gönne Frauen die nötige Distanz. Sie können sein, wer sie sein wollen. Tausende von Frauenrollen können sie annehmen, die eine noch mysteriöser als die andere. Aber nein, mit jeder Frage nach meiner Lieblingsfarbe, mit jedem Aufstoßen ihrer unverdauten Vergangenheit, mit jeder schlechten Erfahrung im Job und mit jeder zutiefst persönlichen Meinung, die sie mit dem Rest der Weltbevölkerung teilen, schrumpfen sie, bis sie weiter nichts mehr sind als ein banales Stück Fleisch, aus dem sich sämtlicher Biss und Geschmack verflüchtigt hat. Ich gebe ihnen Unmengen an Gold und Glamour, und sie geben mir Nachbarschaftsstreitigkeiten und verschlissenes Bettzeug. Das ist kein fairer Tausch.»

 

Er streckte seine Hand nach ihr aus.

«Bist du eine von ihnen, Naomi? Will du mich auch mit deinen trivialen Träumen und deiner tristen Vergangenheit langweilen? Oder willst du im Hier und Jetzt leben? Den Augenblick genießen, der sich uns bietet?»

Sie berührte seine ausgestreckte Hand nicht.

«Hat diese Ansprache jemals funktioniert?», fragte sie ihn.

Er ließ seine Hand sinken.

«Öfter, als du dir vielleicht vorstellst.»

Er betrachtete seine Fingernägel.

«Du kannst die Brause ruhig zurückhängen. Es muss anstrengend sein, das Ding so lange zu umklammern. Und deinen anderen Arm darfst du auch sinken lassen.»

Naomi bewegte sich nicht.

«Auch gut. Misstrauen über allem.»

Er stand auf und entfernte sich. An der Badezimmertür drehte er sich um.

«Was erwartest du vom Leben, Naomi?»

«In Ruhe gelassen zu werden.»

Er lachte.

«Ein unmöglicher Wunsch. Das Leben lässt einen nicht in Ruhe. Es ist ein wilder Ritt, aus dem man nur auf eine Weise aussteigen kann, und die ist wiederum zu ruhig, selbst für dich.»

«Ich liebe die Ruhe.»

«Dann darfst du aber nicht so aussehen, wie du aussiehst, und nicht so aus den Augen schauen, wie du es tust.»

«Wie denn?»

«Schlummernd. Wie ein Vulkan oder ein Selbstmordterrorist auf dem Weg zu seinem Ziel. Oder wie eine Frau, kurz bevor sie sich über ihre letzten Bedenken hinwegsetzt.»

«Ich bin nichts von alledem.»

«Schade. Das war ein interessantes Gespräch, Naomi. Das Resultat war zwar nicht das, was ich mir erhofft hatte, aber ich freue mich auf unsere nächste Begegnung.»

Die Tür fiel ins Schloss.

Sie wartete eine Viertelstunde, öffnete dann vorsichtig die Badezimmertür und schaute hinaus in den Flur. Alles war ruhig. Keine Prynne und kein Lichtenstern zu sehen. Sie schlich hinaus, und keine maskierten Wachleute kamen auf sie zu gerannt. Vor einer der Türen blieb sie stehen und drückte auf die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen. Leise schob sie sie einen Spaltbreit auf. Ein weißes Licht fiel auf den Flur. Es dauerte etwas, bis ihr bewusst wurde, was sie sah, und dann trat sie fasziniert in das Zimmer.