Babel

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Als sie an der Reihe war, wusste Naomi kaum, was sie wollte. Lisbeth bemerkte ihre Verwirrung und übernahm die Regie. Sie wählte für sie beide Suppe, Püree und Huhn.

«Den Nachtisch und den Kaffee holen wir uns später», sagte sie.

Naomi steuerte einen freien Platz an einem Tisch an, aber Lisbeth hielt sie zurück.

«Nicht zu nah bei den Männern. Es ist nicht unwichtig, wohin und zu wem du dich hier setzt. Du musst die Augen offenhalten.»

Lisbeth drehte sich um und stieß mit ihrem Tablett gegen eine hinter ihr stehende Frau. Die Suppe spritzte in alle Richtungen.

«Dumme Kuh! Gib Acht, wohin du trittst!»

Naomi spürte Hunderte von brennenden Blicken auf sich.

«Meine Bluse! Meine Schuhe!», rief die Frau.

«Entschuldige, Betty, ich hatte dich nicht gesehen.»

«Was? Was nimmst du dir da heraus?»

«Entschuldigung, Frau Tarris.»

«Ich brauche deine Entschuldigung nicht, dumme Sub! Du hättest mich verbrennen können mit dieser heißen Suppe!»

«Es tut mir leid, Frau Tarris.»

«Und was ist mit den Flecken auf meinen Schuhen?»

Lisbeth ging in die Hocke, knöpfte ihre Bluse los und tupfte damit die Schuhe ab.

«Betty, lass gut sein!», rief jemand.

Die Frau drehte sich wütend um.

«Habt ihr keine Augen im Kopf? Oder könnt ihr es durch die Flecken vielleicht nicht mehr lesen?» Sie deutete auf ihre Brust. «Das hier ist ein A. Ein A!»

Lisbeths Tränen tropften auf die Schuhe.

«Genug, Sub! Du machst alles nur noch schlimmer.»

Die Frau zog ihren Fuß weg, sodass Lisbeth das Gleichgewicht verlor und in die verschüttete Suppe fiel.

«Es kostet mich zehn Minuten, mich umzuziehen. Wenn ich dadurch in Schwierigkeiten gerate, dann werde ich es dir heimzahlen!» Sie stieg über Lisbeth hinweg und verließ den Saal.

Naomi stellte ihr Tablett auf den Boden und half Lisbeth auf.

«Setz dich. Ich bringe dir einen neuen Teller.»

«Ich habe keinen rechten Appetit», sagte Lisbeth. «Ich denke, ich lasse das Essen ausfallen.» Sie rannte aus dem Saal.

Naomi nahm ihr Tablett. Die Köpfe wandten sich wieder ihren eigenen Tellern zu, und die Ränge schlossen sich, als sie an den Tischen entlangging. Schließlich fand sie am äußeren Ende eines Tischs noch einen leeren Platz.

Zwei Mädchen, das F3 deutlich lesbar auf ihren Shirts, wischten das verkleckerte Essen fachgerecht und schnell auf.

«Was habe ich gehört, Lisbeth?», fragte Deborah abends im Schlafsaal. «Du bist heute deiner guten Freundin Betty in die Arme gelaufen?»

Die anderen Mädchen kicherten in ihr Bettzeug.

«Hat sie dir schon Bescheid gegeben, wann du nach oben darfst? Sie wollte doch ein gutes Wort für dich einlegen, als beste Freundin?», setzte Glenda in dem Bett neben Deborah noch eins drauf.

«Wie schön, dass man auch befördert werden kann, ohne gleich auf die Knie zu sinken», sagte Deborah. «Ohne sich dafür erniedrigen zu müssen.»

So ging es noch eine Weile weiter.

Lisbeth biss in ihr Kissen, bis die Mädchen allmählich genug hatten.

«Naomi?», flüsterte sie, als leises Schnarchen ihren Teil des Saals erfüllte. «Bist du wach? Was heute im Speisesaal passiert ist …»

«Ich habe es schon vergessen», sagte Naomi. «Das solltest du besser auch tun und jetzt schlafen.»

«Aber ich kann nicht schlafen, bevor ich dir erklärt habe, wie es zwischen Betty und mir ist.»

«Ich kenne Betty nicht», sagte Naomi.

«Du kennst mich», sagte Lisbeth.

«Ja», seufzte Naomi, «ich kenne dich.»

«Du musst wissen, dass Betty eine von uns war. Keine dumme Sub wie Deborah, die stolz ist, dass sie hier die Drecksarbeit tun darf, solange sie nur draußen erzählen kann, dass sie für Babel arbeitet. Betty hatte Ehrgeiz. Sie wollte aufsteigen. Wenn man sie sah, wusste man, sie würde es schaffen. Sie war passioniert. Sie konnte selbst Frau Prynne um den Finger wickeln. Die hat sogar einmal fallenlassen, Betty könnte irgendwann einmal vielleicht ihren Platz einnehmen, wenn sie sich weiter so ins Zeug legte. Und Frau Prynne ist ein C1! Betty hatte Frau Prynne gegenüber genickt und getan, als wäre es zu viel der Ehre, aber hinter ihrem Rücken war sie wütend. Dachte diese Prynne, sie, Betty, würde sich mit einem C zufriedengeben? Sie würde es noch sehr viel weiterbringen. Betty hat sich getraut, solche Sachen zu sagen, weil wir Freundinnen waren, verstehst du? Ich habe sie unter meine Fittiche genommen, als sie ganz neu war. Wir waren ein Team. Ich habe manchmal ihre Arbeit gemacht, damit sie versuchen konnte, eine obere Arbeit zu bekommen.»

«Eine obere Arbeit?»

«Eine Arbeit über der Erde. Ihrer Meinung nach war das die einzige Möglichkeit, befördert zu werden. Sie würde sich nicht in den Kellern von Babel begraben, bis sie alt und hässlich war, also verbarg sie ihr Sub-Shirt unter einer Jacke und nahm die Touristenaufzüge. Ich weiß nicht, wie sie sich das vorstellte, von jemandem bemerkt zu werden, aber ich wusste auch, dass sie recht hatte und dass Putzen und Bettenmachen nicht die beste Art war, etwas zu erreichen. In den fünf Jahren, die ich hier arbeite, habe ich es noch keinen Schritt weiter geschafft. Betty war meine Chance, höher hinaus zu kommen.»

«Ihr ist es gelungen. Sie ist jetzt eine A.»

«Ja, sie ist eine A. Sie selbst hätte nie anzunehmen gewagt, dass es so schnell gehen würde.»

«Ist sie irgendwem aufgefallen?»

«Nicht einfach irgendwem!»

«Babel etwa?»

«Babel?»

Lisbeth kicherte.

«Was soll ein Mann wie Herr Babel mit einer wie Betty? Er kann durchaus etwas Besseres kriegen. Übrigens, Herr Babel trauert noch um seine Frau. Und er ist alt.»

«Alte Männer haben auch Augen im Kopf.»

«Herr Babel würde nie etwas mit seinem Personal anfangen.»

«Du kennst ihn gut.»

«In diesem Gebäude geschieht nichts, was die Subs nicht wissen. Falls jemals etwas Derartiges passiert wäre, dann hätte ich es gehört.»

«Wem ist Betty denn aufgefallen?», fragte Naomi.

«Lichtenstern natürlich.»

«Wer ist das?»

«Was? Du hast noch nie von Lichtenstern gehört?»

Dass sie von Lichtenstern erzählen konnte, ließ Lisbeth die Demütigung des Nachmittags vergessen. Es war klar, dass sie viele Nächte dagelegen und an Lichtenstern gedacht hatte. Er war Babels Vertrauter, obwohl er noch nicht so lange in dessen Diensten stand. Das an sich war schon ein Wunder, wenn man wusste, wie misstrauisch der alte Mann war. Aber Lichtenstern hatte ihn verzaubert. Wo Babel ging und stand, sah man Lichtenstern. Sie nannten ihn Babels Schatten. Oder auch «den Vampir».

«Warum?»

«Warte, bis du ihn irgendwann einmal siehst. Dann wirst du es verstehen.»

«Ich brauche ihn nicht zu sehen», sagte Naomi.

«Auch nicht, wenn er aus dir vom einen auf den anderen Tag eine A machen kann? Glaube mir, seit Betty das hinbekommen hat, erliegen ihm die Frauen noch schneller.»

«Dass er aussieht wie ein Vampir, schreckt sie nicht ab?»

«Er sieht nicht aus wie ein Vampir. Er hat keine scharfen Eckzähne oder so, aber er ist sehr blass, und seine traurigen schwarzen Augen scheinen dich geradewegs zu durchleuchten.»

«Das klingt nicht so schlimm.»

«Lass dich durch sein Äußeres nicht irreführen. Er ist ein berechnender und gnadenloser Mann. ‹Der mit den kalten Händen› wird er auch genannt.»

«Solange ich die nicht zu spüren brauche, bin ich zufrieden», sagte Naomi und drehte sich weg von Lisbeth.

«Du weißt nie, ob du sie nicht zu spüren bekommst», beeilte sich Lisbeth zu sagen. «Es heißt, er kommt manchmal hier herunter in die Schlafsäle. Er wartet, bis wir schlafen, und dann schleicht er sich ein. Kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlt, plötzlich seine kalten Hände auf deinem Körper zu spüren?»

«Ich versuche mir lediglich vorzustellen, wie es sich anfühlt zu schlafen», sagte Naomi.

Lisbeth schwieg.

«Na ja», sagte sie eine Weile später, «Betty ist ihm einfach im Foyer in die Arme gelaufen. Niemand weiß, was sie gesagt hat, aber vom einen auf den anderen Tag war sie eine A. Es ging so schnell, dass sie nicht mal mehr Zeit hatte, sich von mir zu verabschieden. Das ist jetzt zwei Monate her. Ich war nicht beunruhigt, als ich nicht sofort etwas von ihr hörte. Sie braucht Zeit, um sich einzuarbeiten. Sie würde mich nicht vergessen. Nach heute bin ich mir da nicht mehr sicher. Was meinst du, wie lange muss ich noch warten?»

Naomi antwortete nicht.

Am nächsten Morgen erkämpfte sich Naomi im Dampfnebel einen Weg zwischen den halbnackten Frauen hindurch zu den Spiegeln in den Waschräumen. Sie sah die verschlafenen Gesichter, die wieder mühsam in Fasson gebracht wurden; Knitterleinwände, die als Untergrund für neue Gesichter mit volleren Lippen, einer glatteren Haut und dichteren Wimpern herhalten mussten. Haare in allen möglichen Farben, Längen und Formen fanden ihren Weg in die Abflusslöcher der Duschen, aus denen Naomi sie später herauszupfen durfte, um sie anschließend noch nass und klebrig in Plastiksäcke zu werfen, in denen auch Tampon-Verpackungen, leere Tuben, Kaugummi, Zahnseide, Deo-Sticks und Wattestäbchen landeten; die Überbleibsel der täglichen Schlacht gegen die Zeit.

Auch im Speisesaal herrschte Betrieb. Die Männer waren mit dem Trimmen und Rasieren schneller fertig als die Frauen und saßen schon beim Kaffee. Manche hoben die Köpfe, als sie hereinkamen, anderen beugten sich über ihre Zeitungen, ihre Karten, ihre Gebetbücher oder ihren letzten Toast. An den Frauen, die trotz der Vorbereitungen in der Dusche den Schlendrian der Nacht noch nicht ganz von sich abgestreift hatten, schienen sie morgens weniger interessiert zu sein.

 

Hier und da hatten sich Pärchen abgesondert. Manche passten vom Alter und der Hautfarbe gut zusammen, aber es gab auch weniger naheliegende Kombinationen. An dem Tisch, zu dem Lisbeth Naomi lotste, saß ein Mann mit einem riesigen gelben Turban und einem noch riesigeren schwarzen Bart. Seine Nachbarin war eine zierliche Asiatin. Die beiden schienen die Sprache des jeweils anderen kaum zu verstehen, doch das war nicht nötig; das Paar orientierte sich offensichtlich am Klang der Worte. Der Mann klang brüsk. Er schlug mit der Hand auf den Tisch. Die Frau nahm die Hand, drehte sie um und zeichnete etwas mit dem Finger auf seine Handfläche. War es eine Wegbeschreibung? Sie tippte auf ihre Armbanduhr und zeigte neun Finger. Er nickte und drückte ihre Hand an seine Lippen. Die weiße Hand verschwand fast in seinem schwarzen Barthaar.

«Sie starren dich an.»

«Wer?»

«Wer?», wiederholte Lisbeth. «Die Männer im Saal, merkst du das denn nicht?»

Naomi beugte sich über ihr Frühstück. Lisbeth besaß weniger Scheu und blickte schamlos um sich.

«Diese ersten Tage sind wichtig, Naomi. Sie haben Frischfleisch gerochen. Erscheinst du jetzt zu entgegenkommend, werden sie dich fortwährend belästigen. Schau sie nicht an.»

«Das tue ich nicht», sagte Naomi, «aber du.»

«Ach, mich kennen sie, ich laufe keine Gefahr. Solange ich in deiner Nähe bin, werden sie dich in Ruhe lassen. Jedenfalls, solange du sie nicht irgendwie ermunterst.»

«Ich ermuntere niemanden», sagte Naomi, «aber manche Leute drängen sich einem auf.»

Lisbeth schien sich nicht an Naomis wortkargen Antworten zu stören. Sie hatte immer etwas zu erzählen. Es gab Lieblingsthemen wie ihre Familie in der Stadt und natürlich ihre Meinung über die anderen Mädchen. Oder wie großartig es sei, für Babel zu arbeiten. Das merke sie, wenn sie an ihren freien Tagen durch die Stadt ging. Es war dem Personal verboten, in Arbeitskleidung nach draußen zu gehen, aber manchmal vergesse sie das, besonders an heißen Tagen, wenn man in seinem Dienstshirt auf einer Bank sitzen und die Reaktionen der Passanten beobachten konnte, sobald deren Auge auf den gestickten Turm fiel. Man sehe zuerst das Erstaunen, dann die Erkenntnis, dass sie es mit einer von Babels Arbeitnehmerinnen zu tun hatten. Naomi habe ja keine Ahnung, wie viele Männer sich ihr, Lisbeth, schon aufdrängen wollten, nachdem sie den magischen Turm gesehen hätten. Nicht dass sie auf diese Avancen eingegangen wäre. Sie sei doch nicht verrückt. Sie würde sich nicht an Männer verschwenden, die genug Zeit hatten, ihre Nachmittage im Park zu verbringen.

«Ich verstehe es nicht. Es ist doch nur ein Gebäude», sagte Naomi.

Lisbeth erschrak und schaute in die Luft, als könnten sie jeden Moment vom Blitz getroffen werden.

«Es ist nicht einfach nur ein Gebäude! Es ist eine Energie. Hast du das denn nicht gespürt, als du zum ersten Mal hier hereingekommen bist? Ich war so nervös, dass ich dachte, ich würde ohnmächtig werden.»

Babel sei das Zentrum der Welt. Hier passiere es. Hier drängten sich die Filmstars, die Medaillengewinner und die Banker, um dazuzugehören. Hier werde über das Leben von Millionen Menschen entschieden. Jedes Wort, das ein Minister oder auch nur eine Sekretärin womöglich fallen ließ, könne das Ende einer Regierung oder das Aufblühen einer Volkswirtschaft bedeuten. Eine sich öffnende Tür, ein herumliegender Brief oder eine Begegnung in einem der Aufzüge könne die Weltkarte neu zeichnen. Lieber werde sie ihr Leben feudelnd und schrubbend in den Kellern von Babel verbringen, als irgendwo anders einen gut bezahlten Bürojob anzunehmen. Manchmal lege sie ihre Hand an die Wände, und dann fühle sie es durch das Gebäude rasen.

«Was?»

«Elektrizität. Die Fäden des Lebens, die flimmern, die singen, die nach oben fliegen und wie Schnüre in den Händen von Abraham Babel zusammenkommen.»

«Du tust so, als wäre er ein Gott.»

«Ja, aber das ist er auch.»

«Ich habe einmal ein Foto von ihm gesehen», sagte Naomi. «Er ist nur ein alter Mann.»

«Genau», sagte Lisbeth. «Ein alter Mann, der trotz der ganzen harten Arbeit, trotz der vielen Entscheidungen und Sitzungen und Attentate weiterlebt und weiterarbeitet. Was denkst du: Wie alt ist er?»

«Siebzig?»

«Pah! Eher hundert. Oder zweihundert. Niemand kennt sein wahres Alter. Niemand weiß, woher er kommt. Er ist ein Mysterium, ein Unsterblicher. Es ist nicht normal, dass ein Mann so viel Geld und Macht hat. Das bekommt man nicht einfach so. Er muss einen Pakt geschlossen haben mit …» Sie zeigte auf den Boden.

«Was meinst du?»

«… dem Teufel. Nein, Naomi, lach jetzt nicht. Es ist mein Ernst. Denk mal darüber nach. Wie sonst wird man so reich? Und jetzt läuft sein Vertrag bald aus. Darum ist Lichtenstern hier. Um ein Auge darauf zu haben, dass er nicht entwischt.»

«Lichtenstern ist der Teufel? Und der läuft hier herum?»

«Warte nur, bis du ihn siehst.»

«Prynne ist mir schon Teufel genug. Wir sollten besser weiterarbeiten, wenn wir nicht wollen, dass sie uns demnächst im Nacken sitzt.»

Neben dem Tratsch über Babel und die anderen Mädchen hatte Lisbeth ein unerschöpfliches Thema, und zwar, wie reich und erfolgreich sie später sein würde. Ihr jetziges Leben sei lediglich eine Probezeit. Irgendwann werde sie irgendwer aus diesem abstumpfenden Dasein pflücken. Einen Grund dafür, warum ausgerechnet sie und nicht eine der anderen Subs das verdient haben sollte, nannte sie nie. Nein, sie zweifle nicht daran, dass es so kommen werde. Sie kenne das Muster: Erst musste man wie ein modernes Aschenputtel in den Kellern arbeiten und die Demütigungen ertragen. Das Wichtigste sei, nicht in Zweifel zu verfallen, denn wenn man nicht fest genug daran glaube, dann konnte das Glück einem am Ende doch noch entwischen.

Lisbeth zweifelte nicht, das konnte sie sich nicht erlauben. Wie sollte sie ohne Hoffnung in den dunklen Tiefen überleben? Wenn man genug Entbehrungen ertragen hatte und nicht mehr tiefer sinken konnte, dann würde das Wunder geschehen. Meistens war es ein Mann, der ihr frisches kleines Gesicht unter den Rußflecken aufschimmern sähe. Manchmal war dieser Mann Lichtenstern, und dann vergaß sie einstweilen, dass sie ihn gerade noch als fleischgeworden Teufel abgestempelt hatte. Es gab Tage, an denen sie ihre Fantasien in eine praktischere Richtung dirigierte. Dann träumte sie, beim Putzen einmal ein Diamantarmband oder wichtige Papiere zu finden. Als ehrliche Finderin würde sie daraufhin nicht nur mit genügend Geld, sondern auch mit einer Stelle in einem der oberirdischen Büros belohnt. Einer Stelle, die sich zuletzt auch nur als eine Gelegenheit herausstellen würde, einen erfolgreichen Mann kennenzulernen. Darauf zu bauen, dass harte Arbeit ihr den Weg nach oben ebnen würde, hätte Verrat an ihren Träumen bedeutet. Lisbeths Haltung war «Alles oder nichts», und weil es jetzt schon fünf Jahre lang «nichts» gewesen war, bestärkte sie das nur noch in der Überzeugung, das «Alles» noch vor sich zu haben. Dass sie von Hunderten anderer Frauen umgeben war, die es auch nirgendwohin schafften, schien sie nicht zu entmutigen.

In der Zwischenzeit machten die anderen Subs ihr das Leben sauer. Deren Kommentare konnte sie ignorieren, aber die Schikanen nicht. Oft war abends ihr Kopfkissen oder ihre Bettdecke verschwunden. Sie wurde in den Duschen eingesperrt oder nachts unsanft geweckt, und auch Naomi als Lisbeths «Busenfreundin» wurde schon bald drangsaliert.

Es begann mit einer Haarbürste, die von ihrem Nachtschrank verschwand. Naomi fragte am nächsten Morgen, ob jemand wisse, wohin sie verschwunden sei, aber die Mädchen mimten die Ahnungslosen. Sie bekam von Frau Prynne eine neue Bürste und eine negative Beurteilung.

Seitdem packte sie ihre Sachen in ihren Spind, aber es gab andere Möglichkeiten der Schikane.

Als sie von einer Abendschicht zurückkehrten, waren ihr Bett und das von Lisbeth klatschnass. Jemand hatte einen Eimer Wasser über Bettzeug und Matratzen ausgekippt. Lisbeth versuchte zu tun, als ob nichts wäre, aber Naomi sah die Tränen in ihren Augen.

«Du!», rief Naomi Rosario zu. «Wer war das?»

Rosario saß auf ihrem Bett und kämmte sich die Haare.

«Wovon sprichst du?», sagte sie.

Zu diesem Zeitpunkt waren noch vier andere Mädchen im Saal: Maria, Deborah, Christel und Tu. Keine von ihnen hob den Kopf. Ihre Gleichgültigkeit verriet ihre Mitwisserschaft.

«Davon», sagte Naomi. Sie fasste Rosario am Arm und schleifte sie zu dem nassen Bett.

«Bist du verrückt geworden? Lass mich los!»

Sie warf Rosario auf das Bett und setzte sich auf sie.

«Was soll das, Neue? Lass sie los!»

Die anderen Mädchen sprangen von ihren Betten.

«Noch einen Schritt näher, und ich breche ihr den Arm», sagte Naomi.

Sie verdrehte Rosario den Arm, bis diese aufschrie.

«Was fühlst du?»

«Lass mich los!»

«Was fühlst du?»

«Es ist nass.»

«Wie kommt das?»

«Ich weiß es nicht.»

«Wenn du mir sagst, wer es war, lasse ich dich los. Sonst …»

«Au! Das ist unfair! Ich war es nicht. Ich habe nichts damit zu tun!»

«So einfach kommst du nicht davon. Du kannst nicht die Augen schließen und sagen, du wüsstest von nichts. Wenn du weißt, wer es war, und schweigst, dann bist du mitschuldig.»

«Es langt jetzt, Neue», sagte Deborah. «Lass sie los.» Sie kam auf Naomi zu.

«Wenn ich dir den Arm breche, Rosario, dann deshalb, weil Deborah es so will. Das verstehst du doch?»

Naomi drehte Rosarios Arm noch mehr zu ihrem Nacken hin. Rosario schrie aus Leibeskräften.

«Es war Deborah! Es war Deborah!»

Naomi ließ Rosario los und ging zu Deborahs Bett.

«Was hast du vor?»

«Na, was wohl? Ich gehe schlafen. Es war ein langer Tag.»

Naomi knotete ruhig die Ärmel ihrer Bluse auf.

«Geh von meinem Bett, bevor ein Unglück geschieht, Neue.»

«Wenn du Probleme mit meiner Bettwahl hast, kannst du das ja sofort Frau Prynne erzählen.» Naomi deutete mit einem Kopfnicken auf einen Schatten hinter Deborah.

Deborah war erstaunt, dass Frau Prynne zu dieser Zeit im Schlafsaal sein sollte, und drehte sich um.

Naomi fasste sie an den Haaren und knallte sie dreimal fest mit dem Kopf auf das Fußende des Betts. Als sie Deborah losließ, fiel diese stöhnend zu Boden. Maria und Tu rannten zu ihrer Freundin und versuchten, sie hochzuziehen.

«Du hast mir den Kiefer gebrochen, du Fotze! Ich gehe zu Prynne! Das kostet dich deinen Kopf!»

«Nur zu!», rief Naomi. «Und bitte sie auch gleich, den Reserveschlüssel zu deinem Spind mitzubringen. Ich kenne sie nicht so gut wie ihr, aber mir scheint, sie fasst einen Streit zwischen Subs nicht so schwer auf wie den Diebstahl von Babels Eigentum.»

«Du durchgeknallte Fotze!», rief Deborah.

«Schlaf gut», sagte Naomi. Sie stieg aus ihrem Rock, faltete ihn zusammen, legte ihn auf Deborahs Nachtschrank und kroch unter die Bettdecke. Deborah hielt sich den Kopf mit beiden Händen und machte sich im Saal auf die Suche nach einem trockenen Bett. Gefolgt von Lisbeth.

An ihren freien Nachmittagen saß Naomi meistens auf einer Bank in einem Park unweit des Turms. Sie kaufte Obst an einem Stand neben dem Eingang zum Park und beobachtete Frisbee-Fanatiker, Hundespaziergänger, Mütter mit klebrigen Kindern, schwänzende Schüler, Alkoholkranke und Baseballspieler. Sobald der Schatten des Turms auf ihre Bank fiel, wusste sie, dass es Zeit wurde zurückzukehren.

An einem dieser freien Tage wurde sie von Geschrei aufgeschreckt. Es kam von der anderen Seite des Parks. Über den Rasen, im Slalom zwischen ballspielenden Kindern, kam ein Jugendlicher in ihre Richtung gerannt. Er stolperte, rappelte sich wieder auf und rannte wie ein Besessener weiter.

Kurz darauf wurde klar, warum. Zwei Polizisten waren hinter ihm her. Alter und Donuts hatten ihren Tribut gefordert, aber sie gaben nicht auf, und das Meer der Parkbesucher teilte sich, als sie vorbeistolperten. Der Jugendliche rannte an Naomis Bank vorbei. Ihre Blicke kreuzten sich. Er zögerte und sprang dann in das Gebüsch hinter ihrer Bank.

Sofort darauf keuchten die Polizisten an ihr vorüber. Als sie merkten, dass sie den Jungen aus den Augen verloren hatten, blieben sie stehen. Der Ältere der beiden, rot angelaufen, die Hand auf seiner Pistolentasche, wandte sich zu ihr.

 

«Wohin ist er verschwunden?»

«Der Junge, der gerade hier vorbeigelaufen kam?», fragte Naomi.

«Wer sonst?»

«Er ist über die Hecke gesprungen. In diese Richtung.»

«Unmöglich. So schnell kann er nicht gewesen sein.»

Naomi zuckte mit den Schultern.

«Du musst doch gesehen haben, wohin er verschwunden ist!»

«Über die Hecke. Vielleicht können Sie ihn noch einholen, aber ich bezweifle es. Er war sehr schnell. Was hat er denn ausgefressen?»

«Das geht dich nichts an. Ich will von dir lediglich wissen, wo er ist.»

Sie stand auf. Ihre Jacke öffnete sich, und der Turm, der sich über ihre Brüste spannte, konnte dem Blick der Polizisten unmöglich entgehen.

«Du bist eine von Babel», sagte der Jüngere von ihnen. «Wie ist es denn da oben?»

«Harry!»

«Was denn? Es ist das erste Mal, dass ich eine von denen treffe. Ich bin neugierig!»

«Deswegen sind wir nicht hier.»

«Es tut mir leid», sagte Naomi, «aber er ist wirklich über die Hecke gesprungen. Weshalb sollte ich Sie anlügen?»

Die Männer tauschten einen Blick.

«Wo genau ist er denn rübergesprungen?»

Sie zeigte auf eine Senkung in der Hecke.

Der Jüngere tippte sich an die Mütze und rannte los. Der Ältere schaute sich noch einige Male um und folgte ihm dann.

Sie setzte sich wieder, nahm die Tüte mit Kirschen auf den Schoß und angelte sich seelenruhig eine heraus.

«Sind sie weg?»

«Sie sind auf die andere Straßenseite.»

«Danke.»

Sie hörte ein Rascheln. Dann saß er neben ihr.

«Naomi, nicht wahr?»

«Ja.»

«Ich bin’s, Aziz.»

«Ich weiß, wer du bist», sagte sie und hielt ihm die Tüte hin.

«Vielen Dank.» Er nahm sich eine Faust voll Kirschen.

«Dann weißt du auch, warum ich abgehauen bin.»

«Ja», sagte sie.

«Und du bist nicht angeekelt von mir?»

«Es geht mich nichts an.»

«Erst ging es ja auch nur mich etwas an. Und dann plötzlich alle.»

«Nimm die ganze Tüte», sagte Naomi. «Ich habe genug.»

«Willst du nicht aus einer Tüte mit mir essen? Angst, ich könnte dich anstecken?»

Sie musterte ihn kurz, pflückte sich eine Kirsche, die zwischen seinen Fingern baumelte, und steckte sie sich in den Mund.

«Entschuldige. Du hast mir vorhin geholfen, also müsste ich es eigentlich besser wissen. Aber auf die Dauer … Du bist immer anders gewesen als die anderen, Naomi. Still. Man konnte merken, dass du deinen eigenen Gedanken folgtest. Du bist keine Mitläuferin. Nicht wie …»

«Meine Mutter?»

«Ich habe es gehört.»

«Die ganze Welt hat es gehört.»

«Entschuldige.»

Naomi zuckte mit den Schultern. Er zeigte auf ihr Shirt.

«Jetzt arbeitest du bei Babel.»

Sie zog ihre Jacke zu.

«Schon gut. Ich brauche nichts zu wissen. Ich habe andere Dinge um die Ohren.»

«Warum waren sie hinter dir her?»

Der Junge zog eine Jeanshose unter seinem Pulli hervor.

«Geklaut?»

«Ja, ich bin ein Dieb geworden. Warum nicht? Der Mensch muss leben, und Klauen ist die geringste meiner Sünden. Du bist nicht schockiert?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Lass mich raten: Es geht dich nichts an.»

Sie lächelte.

«Was für eine interessante Art, das Leben zu betrachten. Hätte ich das früher gewusst, dann hätte ich dir mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Aus uns hätte ein schönes Paar werden können.»

Sie runzelte die Stirn.

«Nein? Nein, du hast recht. Es hätte nicht funktioniert. Obwohl ich den Eindruck hatte, dass du nichts lieber wolltest, als den ganzen Kram hinter dir zu lassen.»

Er spuckte die Kerne vor sich aus.

«Hörst du manchmal noch etwas von ihnen?», fragte er, als die Tüte fast leer war. «Von der Familie? Meiner Mutter?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Nichts? Niemand?»

«Und du?», fragte sie.

«Ich? Für sie bin ich tot. Und wenn ich so dumm wäre, zu ihnen zurückzugehen, dann würden sie dafür sorgen, dass ich echt draufgehe.»

«Das würden sie nie tun.»

«Egal. Ich habe jetzt ein neues Leben. Ich bin frei. Werde geliebt. Ja, ich, der dumme Aziz, werde geliebt. Wer hätte das gedacht?»

«Schön für dich.»

Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Wange, noch bevor sie sich wegdrehen konnte.

«Kann ich irgendwas für dich tun? Gibt es etwas, das ich für dich stehlen kann?»

«Nein, vielen Dank.»

«Weißt du …»

Er riss ein Stück von der Tüte und schrieb mit Kirschsaft eine Adresse darauf.

«Hier. Falls du mich mal brauchst, oder …» Er zögerte. «Falls du irgendwas von meiner Mutter hören solltest. Man weiß ja nie. Dann gib mir Bescheid. Danke für die Kirschen.»

Er rannte davon.

Sie wartete nicht auf den Schatten des Turms, bevor sie den Park verließ.

Naomi arbeitete schon lange genug in Babel, um gleich beim Aufwachen zu wissen, dass etwas Ungewöhnliches in der Luft hing. An anderen Tagen stolperten alle gleichzeitig zu den Waschräumen, aber diesmal blieben die Mädchen in ihren Betten liegen. Lisbeth, die halb betäubt aus dem Bett gekrochen war, blieb mitten im Saal stehen und blickte um sich. Warum folgten die anderen Subs nicht?

Naomi schaute zu Deborah. Die war zu still, zu achtlos.

«Maria, was tust du, wenn du deine Familie vermisst?», fragte Deborah.

«Dann frage ich Prynne, ob ich sie anrufen darf.»

«Und du, Naomi, was tust du?»

Deborah sagte nicht «Neue», sondern «Naomi.» Zu freundlich.

Naomi warf die Bettdecke von sich ab.

«Ich kann mich erinnern, wie schwer ich es hatte, als ich gerade hier anfing», sagte Deborah zu niemanden im Besonderen. «Ich vermisste meine Familie enorm. Manchmal hatte ich Angst, ich könnte vergessen, wie sie aussahen. Zum Glück hatte ich Fotos von ihnen. Fotos können eine enorme Stütze sein, nicht wahr, Naomi?»

«Vielleicht», sagte Naomi.

«Natürlich hast du als Waise solche Probleme nicht. Du brauchst keine Fotos mit dir herumzuschleppen, denn sie sind ohnehin alle tot. Du bist eine der Glücklichen, hab’ ich recht, Naomi?»

«Glücklich genug, keine Zeit mit offenbar endlosen Grübeleien zu verlieren.»

Sie ging an Lisbeth vorbei, die aus Angst vor dem, was kommen würde, noch wie erstarrt im Schlafsaal stand.

«So glücklich, nicht abhängig von Fotos wie diesem zu sein», sagte Deborah.

Naomi drehte sich um. Deborah hatte ein Foto in der Hand.

«Das habe ich in deinem Koffer gefunden. Im Futter versteckt. Vermutlich von einem früheren Besitzer des Koffers. Oder bedeutet dieses Foto dir etwas, Naomi?»

Deborah hielt das Foto in die Höhe und zeigte es den anderen Mädchen. Auf ihm war eine junge Frau zu sehen, die Haare unter einem stramm über die Stirn gebundenen Schal verborgen. Sie hatte die Armen um die Schultern von zwei Mädchen gelegt. Das jüngere Mädchen, ein Kind noch, war etwas dunkler als die Frau, aber dennoch deutlich ihre Tochter. Das andere Mädchen war ungefähr zwölf Jahre alt. Sie war blass, so als sähe sie selten die Sonne. Mutter und jüngere Tochter lachten. Die ältere Tochter schaute ernst. Es war unverkennbar eine junge Naomi.

«Das ist doch kein Foto von deiner Familie, Naomi? Nein? Arme Naomi. Die, ohne es zu wissen, ein Foto von einer glücklichen Familie mit sich herumschleppt. Nun, dafür habe ich eine Lösung.»

Deborah zog ein Feuerzeug hervor. «Oder hättest du das Foto gern wieder, Naomi? Dann komm und hol es dir.»

Naomi bewegte sich nicht. Es war Lisbeth, die zum Erstaunen aller auf Deborah zulief.

«Gib das Foto zurück, Deborah. Es gehört dir nicht.»

«Sieh an! Der Hund bellt.»

Die anderen Mädchen lachten.

«Pfeif sie zurück, Naomi, oder das Foto geht in Flammen auf.»

Alle schauten jetzt auf Naomi. Was würde sie tun? Ein Flämmchen flackerte über dem Feuerzeug, nah an einer Ecke des Fotos.

«Eine kleine Entschuldigung genügt, Naomi. Mehr nicht. Dann bekommst du es zurück.»

«Tu, was du nicht lassen kannst», sagte Naomi. Sie drehte sich um und ging zu den Duschen. Sie hatte den Saal noch nicht verlassen, da kroch ihr der Geruch von verbranntem Fotopapier schon in die Nase.

Sie blieb länger als sonst unter der Dusche. Sie fühlte, wie ihr die Tropfen über die Wangen rannen.