Jesus und die himmlische Welt

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Die Verklärung der Zionsgemeinde ist schließlich auch Hauptmotiv der Bilderreden (37-71).47 Kap. 38 nennt das Thema der ersten Bilderrede und der dann visionär erschlossenen Antworten: Es geht um das Sichtbarwerden der Gemeinde der Gerechten und um die Bestrafung der Sünder. Der Gerechte erscheint vor den Gerechten, wobei das Licht über ihnen leuchten wird, ja, das leuchtende Antlitz der Gerechten, das durch das Zionslicht48 geradezu mit himmlischer Qualität scheint, wird die Sünder wegtreiben, weil sie dieses Licht nicht aushalten können. Kap. 39 führt das in 38 Genannte visionär aus: Henoch schaut die Wohnungen der Gerechten und die Lagerstätte der Heiligen. Es handelt sich um die himmlische Gemeinde der verstorbenen Gerechten, die bei den Engeln, den Heiligen, wohnen und mit ihnen eine Gemeinde bilden (39,4-5). Sie sind die Fürsprecher der irdischen Gemeinde und begleiten ihr irdisches Geschick mit Gebeten. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bilden ihre himmlische Sphäre und sind geradezu Attribute ihrer himmlischen Herrlichkeit (39,5). Was der Kultus der irdischen Gemeinde je und je darbietet,49 ist in der himmlischen Lagerstatt immerwährende Wirklichkeit. Dem Bild der himmlischen Gemeinde, die am Ende der Tage auf dem verklärten Zion sichtbar werden wird, entspricht das Bild von dem Gerechten. Er wohnt direkt unter den Fittichen des Herrn der Geister, also über der Gemeinde aus Gerechten und Engeln (39,6f.). Das Erstrahlen himmlischen Lichtes, von dem in Kap. 38 in Bezug auf die verklärte Zionsgemeinde die Rede war, wird nun als Auszeichnung der zum himmlischen Gottesdienst versammelten Gemeinde gedeutet (39,7). Strukturell stößt man hier besonders deutlich auf den offenbar grundlegenden Dreischritt apokalyptischen Wissens: Kultmotiv, himmlischer Hintergrund, eschatologische Verklärung. Der himmlische Lobpreis ist die besondere Daseinsform der Engel und Gerechten (39,7). Kap. 38 benennt also den Zustand, an dem auch irdisch der im Kultus stets als Geheimnis gewusste, aber bis jetzt nur im Himmel verwirklichte Glanz der Schekina sichtbar werden wird. Wie der Farre in der Tiersymbolapokalypse, so ist hier der Gerechte, bzw. der Auserwählte der Gerechtigkeit, inklusiver Repräsentant der Gemeinde der Endzeit. Er ist jetzt im Himmel eine Art himmlischer Kultleiter, der über den verstorbenen Gerechten, aber auch über den Engeln steht.50 Das Geheimnis dieses Auserwählten der Gerechtigkeit wird hier schon für einen Moment gelüftet: Der Seher Henoch hat Verlangen nach der geschauten himmlischen Wohnung der Gerechten und Heiligen; denn er weiß, dass hier der Ort ist, der ihm schon früher vom Herrn der Geister zugewiesen wurde. So mischt er sich ein in den himmlischen Chor und zitiert das den Engeln obliegende Trishagion. Er hat sein Wissen als einer, der jetzt schon Zugang zur himmlischen Gemeinde hat und damit auch in den Bereich des Auserwählten der Gerechtigkeit gehört. Damit enthüllt 39 visionär, was die Einleitungsrede Kap. 37 voraussetzt: Henoch trägt seine Weisheitsrede vor dem Herrn der Geister vor, also im Zusammenhang einer kultischen Gegenwart Gottes. Als kultische Rede ist sie ausdrücklich ein Generationen verbindendes Sprechen. Urvater und Nachkommen sind verbunden, wenn das Wort ergeht, das vor dem Herrn der Geister vorgetragen wird.51 Diese Generationen verbindende und kosmische Ordnung ausdrückende Rede bedarf aber einer besonderen Legitimation. Wer diese Worte bringt, mit ihnen vom gegenwärtigen Herrn der Geister aus spricht, ist mehr als ein dem gegenwärtigen Geschlecht entsprechender Mensch. Dem Urvater Henoch ist Weisheit und das Los himmlischen Lebens beschieden (37,4). Henoch spricht also schon in Kap. 37 als Himmlischer. Kap. 39 deutet dies als Zugehörigkeit zur himmlischen Gemeinde. Apokalyptisches Wissen ergeht also im 1Hen als kultische Rede und vor dem Hintergrund einer kultisch geordneten und himmlisch gehaltenen Schöpfung.

Kap. 40 enthüllt die Rolle der Erzengel: Sie sind Fürsprecher der Menschen und bringen ihr irdisches Geschick in die Liturgie vor Gott ein. Diese Vermittlung ist unmittelbar bezogen auf das himmlische Gericht, die Verteilung des Reiches und die Zuweisung der himmlischen Wohnungen (Kap. 41). Die Verteilung des Reiches, das Anteilbekommen am Reich, ist in 41,1f. gleichbedeutend mit der Zuweisung einer himmlischen Wohnung bei den Engeln. Das Reich ist ein Reich der Verklärung. Kap. 41 macht in besonderer Weise die Nähe von apokalyptischem Wissen und Verklärungseschatologie deutlich: Die Vereinigung von Himmel und Erde ist Ziel dieser Verklärungseschatologie, ein Vorgang, den der Visionär durch seine Himmelsreise geradezu vorwegnimmt.

45,1 nennt als Thema der zweiten Bilderrede das Schicksal der Sünder. Ihre Sünde besteht im Leugnen dessen, was die apokalyptische Gemeinde ‚weiß‘: Es geht um die Wohnung der Heiligen, also den Zwischenort der verklärten, engelgleichen Gemeinde, und um Gott als den Herrn der Geister.52 Das Geschick der Sünder besteht entsprechend darin, dass sie von dem ausgeschlossen werden, was sie leugnen: Für sie gibt es keine (intramortale)53 Himmelfahrt und keine Herabkunft auf die eschatologisch verklärte Erde: „Sie werden nicht in den Himmel hinaufsteigen und auf die Erde nicht gelangen.“ Damit liegt in 1Hen 45,lf. eine lehrmäßige Zusammenfassung (wenn auch im Negativabdruck) der Erlösungslehre, die sich auch in den älteren Schichten des 1Hen abzeichnete: Die Zuversicht der apokalyptischen Gemeinde kommt aus dem Wissen um die Wohnung der Heiligen und das Verbundensein mit dem Herrn der Geister. Dieses kultspirituale Grundwissen kennen wir aus den Psalmen. Es ist die Andeutung einer Entrückung durch den Tod hindurch, die hier konsequent mit der Zionstheologie verbunden ist. Die Entrückung zur himmlischen Gemeinde ermöglicht eine intensivierte kultische Verbundenheit mit den Himmlischen, weitergehende Gemeinschaft mit der irdischen Gemeinde und die eschatologische Rückkehr auf die verklärte Zionserde.54 Das Wissen der Kultspiritualen wird vor dem Hintergrund der Zionseschatologie ausgeformt. Die Gewissheit um die Entrückung im Tod erscheint als ein Wissen um Wohnungen der heiligen, entrückten, engelgleichen Gemeinde.

Die lehrmäßige, thetische ‚Oberfläche‘ (45,1f.) wird durch 45,3ff. und die Kapp. 46ff. in zwei Schichten begründet und ausgeführt. 46,3ff. beziehen das Wissen um Wohnung, Himmelfahrt und Verklärung auf den Tag, an dem der Auserwählte auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen wird. Die Parallelität des Anfangs in 46,3 und 46,4 legt es nahe, das Gericht als himmlisch-irdische Szene vorzustellen, anhebend gleichsam auf dem in den Himmel ragenden bzw. aus dem Himmel herausragenden Zionsthron.55 Die Wohnungen der (unter den dann Lebenden?) Auserwählten werden zahllos sein, d. h. sie werden alle auf dem Zion wohnen und dort Platz haben.56 Sie werden vereint mit der Gemeinde der himmlischen Auserwählten, indem sie sie sehen und dabei ihr Geist erstarkt. Die Verklärung vollzieht sich im Sehen und als Stärkung des Geistes.57 V. 3 beschreibt also die anabatischen Seite des Vorgangs der Verklärung, während V. 4 die katabatische Seite ausdrückt: Der Auserwählte wird in der Mitte der verklärten Gemeinde wohnen und der Zionssegen wird als ewiger Segen und himmlisches Licht von einem verwandelten Himmel aus über ihnen sein.58 In diesem Vorgang wird auch die Erde verklärt und zu einer einzigen Segensquelle. Die Zionsattribute ‚Quelle des Segens‘59, des ‚Lebens‘60, der ‚Gerechtigkeit‘61, des ‚Lichtes‘62 und der ‚göttlichen Gegenwart‘63 bilden die Grundlage des apokalyptischen Wissens. Der Zionsthronende, der Auserwählte, steht hier in einer kaum noch sichtbaren David-Nachfolge; vielmehr ist er Repräsentant der himmlischen Gerechtigkeit und damit Repräsentant Gottes und der Gemeinde der auserwählten Gerechten. Auf der verklärten Zionserde haben natürlich die Sünder keinen Platz (45,5); für sie steht das Gericht bevor, das sie von der dann verklärten Erde ausschließen wird, während die Gerechten jetzt schon von Gott gesehen werden und sie – mit Heil gesättigt – jetzt schon vor ihm stehen zum kultischen Dienst.64

Kapp. 46ff. vertiefen in verschiedenen Anläufen diese am Zion orientierte Verklärungseschatologie. 46,1 führt die 45,3 angekündigte Gerichtsszene visionär aus. Henoch sieht den Betagten und den Auserwählten mit den Attributen der himmlischen Reinheit. Der Betagte hat ein Haupt weiß wie Wolle und ‚der bei ihm‘ ein Antlitz wie das eines Menschen und zugleich anmutig wie das von einem Engel. Der bei Gott Seiende ist das Urbild der zur engelgleichen Heiligkeit verklärten Gemeinde der Gerechten. Als Repräsentant der Gemeinde ist er nach 46,3 Ursprung ihres himmlischen Wissens.65 Er steht ganz in der himmlischen Gerechtigkeit, und dieser entspricht die irdische Seite seines menschlichen Lebens in Rechtschaffenheit.66 Er ist bei Gott, um vom Zion aus die fremden Herrscher zurückzuweisen: Sie werden in die Finsternis (= Zionsferne) eingehen und nicht von den Toten auferstehen.67 V. 7 trägt nach, dass auch die innerjüdischen Opponenten, die die ‚Sterne des Himmels‘, die Glieder der apokalyptischen Gemeinde,68 richten, aus den Häusern seiner Versammlung und der Gläubigen vertrieben werden, „die da aufbewahrt sind bei dem Herrn der Geister.“ (46,8) Bei der eschatologischen Verklärung der Gemeinde wird sie von Leugnern gereinigt. Die Sünder, mögen sie sich auch zum Gottesvolk rechnen, haben nicht Anteil an der himmlischen Segnung, während für die Gerechten jetzt schon die heiligen Engel vor Gott ihre Gebete darbringen (Kap. 47). ‚Gebet‘ und ‚Blut der Gerechten‘ werden in den Tagen des Endgerichtes vor Gott ihre Wirksamkeit zeigen, in diesen Tagen (des geschichtlichen Weitergangs69) aber sorgen die himmlischen Heiligen dafür, dass Gott ‚Gebet‘ und ‚Blut der Gerechten‘ annimmt. Auch hier ist die Verklärung von Gemeinde, Himmel und Erde eine gegenwärtig verborgene Realität der kultischen Gemeinschaft der leidenden Gemeinde mit den heiligen Engeln.

 

Nach 48,1 haben die himmlischen Gerechten, Heiligen und Auserwählten einen ‚Brunnen der Gerechtigkeit‘ und viele ‚Brunnen der Weisheit‘. An die Zionstradition erinnern die Wasser, die die Schöpfung erquicken.70 Die Gerechten, die jetzt schon in den himmlischen, paradiesischen Teil des Zion eingegangen sind, bekommen aus diesen wunderbaren Wassern die himmlischen Gaben, die zum Wohnen im Bereich himmlischer Heiligkeit befähigen: ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Weisheit‘. Das kultisch gesegnete Leben ist für die himmlische Zionsgemeinde Wirklichkeit. Mit Kap. 50 werden die in Kapp. 48f. angedeuteten Zionsmotive zu einer Umwandlungslehre ausgeformt: „In jenen Tagen wird eine Umwandlung für die Heiligen und Auserwählten stattfinden.“ (50,1) Immerwährendes Tageslicht wird über ihnen wohnen, dazu Herrlichkeit und Ehre.71 Die Herrlichkeit der Zionsgemeinde wird die Sünder in das Unheil ausstoßen, aber diejenigen, die diese Herrlichkeit sehen und Buße tun, werden dadurch gerettet werden.72 Mit der Verklärung der dann lebenden Gemeinde der Heiligen und Auserwählten einher geht die Rückgabe der Toten aus Erde, Scheol und Hölle (51,1). Der Auserwählte, der auf dem Thron sitzt, wird die Gerechten und Heiligen unter ihnen auswählen; offenbar sind nach 51,2 auch die Heiligen und Gerechten dem Totenreich anheimgegeben und keinesfalls bereits in einen paradiesischen Zwischenzustand eingegangen. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist jedoch, dass mit dem Thronen des Auserwählten die Verklärung der Gemeinde einhergeht: Die anderen Berge weichen furchtsam vor dem Zion zurück;73 „alle werden Engel im Himmel werden. Ihr Antlitz wird vor Freude leuchten, weil in jenen Tagen der Auserwählte sich erhoben hat, die Erde wird sich freuen, die Gerechten werden auf ihr wohnen …“ (51,4f.). Durch die Verklärung und Engelwerdung hört der jetzt bestehende, der Schöpfungsordnung nicht entsprechende Auseinanderfall von Himmel und Erde auf; die auf der Erde wohnenden Verklärten wohnen um den himmlisch-irdischen Zionsberg herum.

Die 3. Bilderrede nennt in Kap. 58 die Verklärung der auserwählten Gerechten als Ziel der eschatologischen Seligkeit. Kultische Segensfülle wird ihnen zukommen: ‚herrliches Los‘74, ‚Licht der Sonne‘75, ‚Licht ewigen Lebens‘ (V. 2f.). Ihre Lebenstage als Heilige werden kein Ende haben (V. 3). ‚Licht‘, ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Frieden‘ werden sie finden, ja der Himmel steht ihnen offen: Dort werden sie die Geheimnisse der Gerechtigkeit und das Los des Glaubens finden (V. 4f.). Freilich wird der Himmel nicht wie jetzt ein von der Erde getrennter Raum sein; indem auf der Erde die Finsternis ganz dem Licht weichen muss, so treten Himmel und Erde in eine neue, im ursprünglichen Sinne schöpfungsmäßige Beziehung zueinander. Die in aller Fülle kultisch gesegnete Erde ist der Zielort dieser zionstheologischen Apokalyptik. Nochmals wird deutlich, dass die traditionell kultische Beziehung zur himmlischen Welt, wie sie in besonderer Weise in der Zionstheologie geschichtlich ausgestaltet ist, die apokalyptische Perspektive trägt und allererst ermöglicht. Für diese Art Kultapokalyptik ist es entsprechend charakteristisch, dass in ihr die Segnungen der himmlisch verklärten Erde mit den Geheimnissen der Schöpfungsordnung zu tun haben. Das kultisch segnende Licht über der verklärten Zionsbürgerschaft ist eine Sonderform des in der Schöpfung waltenden Lichtes der Sterne und Blitze (Kap. 59). Kapp. 61ff. entfalten dann wieder im Visionsstil die in 58 in der Form des Makarismus vorangestellte, lehrmäßige Zusammenfassung. Zentralmotiv in 61,4a ist die Enthüllung der himmlisch-irdischen Gemeinschaft der dann verklärten Gemeinde: „Die Auserwählten werden anfangen bei den Auserwählten zu wohnen.“ Dazu bringen die Engel die Maße, mit denen die Geheimnisse der Gerechtigkeit und des Glaubens ergründet werden können, „damit sie (die Gerechten) sich für immer und ewig auf den Namen des Herrn der Geister stützen“ (61,3). ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Glaube‘ sind ebenso himmlische Schöpfungsgeheimnisse wie die Tiefe der Erde. Die verklärende Gemeinschaft mit den Auserwählten beginnt nach 61,1-5 mit der Offenbarung dieses himmlischen Wissens und geht hinüber in die Darstellung des himmlischen Gerichtes. Der Auserwählte wird himmlisch inthronisiert, begleitet von einer akklamierenden Anbetung durch die Himmlischen, die einstimmig, in einem Licht, in Weisheit und im Geist des Lebens geschieht. Dieser das Gericht begleitende einstimmige Lobgesang vereint Himmlische und Irdische (61,8-13).76 Auch das Bild dieser kultischen Gerichtsszene stammt aus der Zionseschatologie: Kap. 62 bringt als Ausführung zur Gerichtsszene die Aufforderung Gottes an die irdischen Könige, auf den Auserwählten zu schauen, wie er auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzt.77 Die irdischen Herrscher müssen geradezu in das Lob Gottes und seines Auserwählten einfallen, aber sie werden von der Erde vertilgt. Nun wird der verklärte Endzustand der Gemeinschaft der irdisch-himmlischen Gemeinde aus Heiligen und Auserwählten einkehren. Die Schekina kommt mitten unter sie, und sie werden gesegnete Lebensgemeinschaft mit dem Menschensohn in Ewigkeit haben (62,14). Die verklärte Gemeinde erhält himmlische Kleider der Herrlichkeit und Reinheit. Die Einwohnung der Schekina in der verklärten Gemeinde, (Opfer-)Mahlgemeinschaft mit dem Menschensohn und Bekleidetwerden mit himmlischer ‚Dienstkleidung‘ bilden den Abschluss der zionstheologischen Verklärungslehre.

Die Eschatologie des 1Hen besteht im Zentrum also offenbar in einer apokalyptischen Ausgestaltung der Verklärungslehre, wie sie in der biblischen Tradition an der Zionserwartung hängt. Über die biblische Grundlage hinaus weist die explizite Formulierung einer Engelgestaltigkeit der verklärten Gemeinde und ihres himmlischen Repräsentanten. Schon terminologisch durchbricht 1Hen mitunter die sonst durchgehaltene Trennung von (irdischen) ‚Gerechten und Auserwählten‘ einerseits und (himmlischen) ‚Heiligen‘ andererseits.78 Damit ist deutlich, dass die normale der Schöpfungsordnung entsprechende Trennung von Mensch und Engel, himmlischer Gemeinde und irdischer Gemeinde, ja von Himmel und Erde nicht absolut gilt. Das Noahbuch nennt in 69,11 einen Grund: Die Menschen sind im Ursprung nicht anders als die Engel geschaffen worden, damit sie gerecht und rein bleiben; deswegen sollen sich die Gerechten in Engelgestalt zurückwandeln (51,4). Diese angelogische Anthropologie hat kultische Wurzeln.79 Der Himmel ist der Bereich göttlicher Heiligkeit und Reinheit; deshalb heißen die Engel ‚Heilige‘ und ‚Weiße‘ .80 Der Himmel ist für 1Hen, und wohl für das ganze antike Judentum, kultisch bebildert. Die irdische Kultgemeinde partizipiert an einem Kultort, der aus der himmlischen Heiligkeit als Sitz der Gegenwart Gottes abstrahlt. Die Teilnehmer am irdischen Kult kommen in Kontakt mit einer überirdischen, himmlischen Heiligkeit; dies ist ein gefährlicher Kontakt, sofern man als Mensch der himmlischen Heiligkeit entsprechen müsste, was man nicht kann. Daraus entsteht die Erwartung einer Verwandlung in himmlisch-engelmäßige Reinheit und Heiligkeit.

Der Kontakt zur himmlischen Heiligkeit wird zunächst brisant im Priesterdienst. Der Priester muss sich reinhalten und weiße Schutzkleidung anziehen.81 Für den Hohenpriester ist der Dienst am Versöhnungstag geradezu lebensgefährlich. Andererseits sind Schutzmaßnahmen im Grunde gewährte Anpassungen an die himmlische Reinheit. Der Priester wird durch göttliche Stiftung für seinen Dienst zugerüstet. Mal. 2,7 weiß darum, dass der Priester im Grunde מלאך Gottes ist: Die Lippen des Priesters bewahren Erkenntnis, und von seinem Munde sucht man Weisung. Auch Philo deutet Lev 16,17 als gewährte Anpassung an die himmlische Heiligkeit. Der Hohepriester muss und darf sich in einen Engel verwandeln.82 Die rabbinische Überlieferung deutet das Hinaufsteigen der Priester auf den Altarstufen als Aufstieg in den über dem Altar offenen Himmel hinein.83 Dass im Kultus die Himmlischen und damit das erste und höherwertige Glied der Schöpfung präsent ist,84 führt also einerseits zum Vorgang der Sonderung und andererseits zur Eröffnung der Möglichkeit, an der himmlischen Heiligkeit, Reinheit und Gerechtigkeit teilzubekommen. Die Vollendung dieser zweiten Möglichkeit, nämlich Glied himmlischer Reinheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit zu werden, setzt die Überwindung aller Unreinheit, Unheiligkeit und Ungerechtigkeit voraus. Deswegen ist im 1Hen die Engelwerdung der gerechten Gemeinde an die vom Himmel ausgehende Verklärung der irdischen Schöpfung gebunden. Während der Kultus in Jerusalem durch Regression die Heiligkeit schützen musste, weiß die apokalyptische Gemeinde um die Hilfe der Himmlischen, durch welche die himmlische Reinheit und Heiligkeit gleichsam aggressiv wird und die Schöpfung in Richtung auf die Verklärung hin in Ordnung bringt.

Versucht man, von dieser kultischen Grundlage her die Engels- und Verklärungsmotive zu ordnen, so erkennt man, dass die kultische Gemeinschaft der irdischen Gemeinde und der himmlischen Engelschar das Hauptmotiv zu bilden scheint. In der Thronvision des Noah stehen die Engel und die Gerechten um den Thron Gottes (60,2). Ist in der klassischen Thronvision des Jesaja der himmlische Engelchor anwesend, so ist in 1Hen dieser die Vision einleitende Hintergrund um die Repräsentanten der irdischen Gemeinde erweitert. Entsprechend Ps 29 spricht 1Hen 36 von den großen und herrlichen Wunderwerken der Schöpfung, die die Engel und die Geister der Menschen gemeinsam erkennen und loben. Die Himmel und Erde einende Schöpfungsordnung ist das Ziel der gemeinsamen kultisch-apokalyptischen Erkenntnis und des kultischen Lobpreises der Engel und Menschen umfassenden heiligen Gemeinde.

Die kultische Grundlage der Engelgemeinschaft ist auch im Thema der Fürbitte erkennbar: Nach 39,4ff. legen die Heiligen Fürsprache für die Menschen ein. Der Kontext zeigt, dass die heiligen Engel von dem Ort aus Fürsprache halten, an dem auch die Wohnungen der Gerechten sind. Der himmlische Chor der Fürbitter besteht aus Engeln und aus verklärten Gerechten. Der irdischen Gemeinde steht nicht einfach die himmlische gegenüber, sondern beide sind dadurch vereint, dass die himmlische Gemeinde durch die Verstorbenen vergrößert wird. In 100,5 wird der Gedanke der fürbittenden Gemeinschaft so ausgedrückt, dass jeder irdische Gerechte und Heilige einen heiligen Engel als Schutzpatron bekommt, der sein Geschick bewahrt.85 Die kultische Erkenntnis-, Lobpreis- und Fürbittgemeinschaft zwischen irdischer und himmlischer Gemeinde ergibt zwangsläufig die Erwartung einer tatsächlichen Vereinigung an einem gemeinsamen Wohnort. Dieser Wohnort ist im 1Hen das Paradies, in dem die Gerechten und Auserwählten wohnen und in dem der Baum der Weisheit steht (32,2f.; 60,8). Nach 48,1f. schaut Henoch einen Brunnen der Gerechtigkeit an jenem Orte und viele Brunnen der Weisheit; daraus trinken die Glieder der himmlisch-eschatologischen Gemeinde der Gerechten, Heiligen und Auserwählten. Dieser Ort überquellenden, gesegneten Lebens liegt nach 25,4-6 am verklärten Zion. Es ist die himmlische Segensnahrung, die einst den engelähnlichen Adam im Paradies erquickte. Das Paradies ist Ort der verborgenen Schöpfungsgeheimnisse, an dem Heilige und Gerechte gemeinsam wohnen. Dies wird nach der Erwartung des 1Hen vom Zion aus zu einer Wirklichkeit der neuen Schöpfung.

Kultische Gemeinschaft mit den Himmlischen, kultische Anthropologie, die Gemeinschaft der Gerechten im Paradies und schließlich die Verklärung zur Engelgestalt vom eschatologischen Zion aus – dieses apokalyptisch ausgeformte Bild der kultisch aufeinander bezogenen Schöpfungshälften setzt voraus, dass die entscheidenden Prozesse der Sünden- und Heilsgeschichte in Korrelation von himmlischer und irdischer Ebene ablaufen, ja, dass den himmlischen Vorgängen eine Priorität zukommt. 1Hen entfaltet deshalb seit der ältesten Traditionsschicht eine Engellehre, die, ohne Gefährdung der Allmacht Gottes, sowohl Sünde als auch Erlösung der Intervention von Engeln zuschreibt.86 Die gefallenen bringen die Sünde in die Welt, indem sie die kultische Schöpfungsordnung durch Vermischung der Gattungen durcheinanderbringen. Mit dieser greuelhaften Vermischung verbunden ist die Mitteilung verbotenen himmlischen Wissens, das die Menschen magisch verwenden.87 Erlösung bedeutet von diesem Ansatz her Restituierung der kultischen Schöpfungsordnung vom Himmel aus. Es geht um Vermittlung kultischen Wissens durch die Engel, Enthüllung der himmlisch-kosmischen Bedeutung des Ritus des Versöhnungstages88 und vor allem auch um die Erwählung des Auserwählten als des Repräsentanten der Gemeinde der Gerechten zu einer Position in und über der himmlischen Engelwelt.

Nach 10,16ff. ist Michael Befreier von Sünde, Gottlosigkeit und Unreinheit. Er stellt den kultisch gesegneten, ordentlichen Zustand wieder her. Kapp. 10f. bilden eine Kurzfassung des Schemas der Erlösung durch kultisch-kosmische Neuordnung, die Segen erwirkt. 69,14ff. fügen aus dem gleichen Stratum des Noah-Buches hinzu, dass die Erlösung aus der Macht der gefallenen Engel durch Verwendung des geoffenbarten, geheimen Gottesnamens geschehen kann. Kultisches Wissen, apokalyptisch offenbart, kann vollmächtig gegen verderblichen Zauber eingesetzt werden.

 

12,2 deutet die Entrückung Henochs so, dass er bereits während seines Lebens in ständiger Verbindung mit den Wächtern und den Heiligen stand. 46,1ff. setzen auf der himmlischen Ebene an: Der ‚andere bei Gott‘ hat ein Antlitz wie das eines Menschen und zugleich wie das eines Engels. Der ‚andere bei Gott‘ ist zugleich menschlich und engelhaft. Bei ihm liegt jedoch keine Vermischung vor wie bei den ‚Biestern‘, die aus der Verbindung der Engel mit den Menschen hervorgegangen sind. Vielmehr ist er kultisch ganz rein. Wie die Sünde durch Verunreinigung per Vermischung zustande kommt, so die Gerechtigkeit durch ein verklärendes Wunder der Neuschöpfung.

Im Noah-Buch, in dem Henoch ganz als entrückter, himmlischer Offenbarer fungiert, wird von Noah gesagt: „Gott hat deinem Namen unter den Heiligen ewige Dauer verliehen … aus deinem Samen wird eine Quelle von zahllosen Gerechten und Heiligen immerdar hervorgehen.“ (65,12) Noahs Name ist bei den himmlischen Heiligen präsent und seine Nachkommenschaft ist eine Schar von Gerechten und Heiligen. Durch den zum Kreis der Himmlischen gehörigen, reinen Urvater weiß sich die Nachkommenschaft als ebenfalls mit dem himmlischen Ursprung der Reinheit und Heiligkeit verbunden. Die von Noah überlieferte Geburtslegende in 106f. entspricht 46,1ff: Noah wird als Kind mit Attributen engelhafter Reinheit, himmlischen Lichtes und Gotteslobes geboren.89 Henoch offenbart, dass dieses Wunderkind ‚in Ordnung‘ ist und an ihm die göttliche Macht der Neuschöpfung sichtbar wird, den Menschen zu seiner ursprünglichen, engelähnlichen Gestalt zu bringen (106,15f.). Kultische Reinheit, Wissen als Erleuchtung und himmlisches Gotteslob sind deshalb Kennzeichen der Noah-Söhne. Der engelähnliche Urstand ihres Vaters ist Anbruch einer Neuschöpfung, die auch an ihnen sichtbar wird.

Das Engelmotiv gehört also in die Grundschicht der kultischen Apokalyptik der Henochtradition. Es bestimmt, noch über die klassische Priesteranthropologie von Ps 8,6 hinausgehend, den kultisch mit der himmlischen Ordnung und dem himmlischen Wissen verbundenen Menschen als engelmäßig. Die Henoch-Gemeinde erwartet, über die Begnadigung des leidenden Menschen der Psalmen hinaus, eine Restituierung zu vollkommen gesegnetem Leben, ja für ihre Glieder eine postmortale Existenz. Diese Erhöhung der auserwählten Gerechten zu engelhaftem, verklärten Leben auf einer erneuerten Erde wird vom Zions-Berg ausgehen, an dem sich Himmel und Erde zu einer Neuschöpfung verbinden.

Damit ist auch die Rolle des Auserwählten in den Grundzügen klar: Er ist Repräsentant der himmlischen Zions-Gemeinde; an ihm ist die Neuschöpfung der kultischen Heiligkeit und Reinheit real geworden. Wie die gesamte Henoch-Tradition sich am himmlischen Urgrund des Kultes festmacht und von ihm her die eschatologische Verklärung zur Neuschöpfung erwartet, so ist die Engel-Gestaltigkeit nicht an einer irdischen hochpriesterlichen Figur festgemacht, sondern an einem zur himmlischen Welt wunderbar als Engel gehörenden Menschen. Über dem Menschensohn liegt deshalb ein neuer Glanz himmlischer Heiligkeit.

Dass die Tradenten der Henoch-Überlieferung ihr apokalyptisches Wissen in Bezug auf eine kultisch orientierte Gemeinde in einer kultisch strukturierten Schöpfung verstanden haben, zeigt die vermutlich redaktionell vorgeschaltete Einleitung Kapp. 1-5;90 durch sie erscheint die ganze Apokalypse als eine Segensrede. Die visionäre Begegnung mit Gott und seinen heiligen Engeln ist vermittelt als eine kultische Anrede. Die Segensrede hat deuteronomische Anklänge und steht formgeschichtlich in der Tradition der kultischen Begehung der Bundeserneuerung.91 Schon Ps 78,2 bezeichnet die Gegenüberstellung der Heilstaten Gottes und des Undankes Israels als משל (Ψ 77,2 παραβολή) aus der Vorzeit der Väter.92 Die Vision des Henoch kommt aus dem Bereich der himmlischen Heiligen und weist voraus auf die Theophanie des großen Heiligen (1,3). Dem entspricht die aus dem Corpus entnommene, bzw. dort entfaltete, Bezeichnung der Gemeinde als ‚auserwählte Gerechte‘ (1,1), die dereinst ganz zu Gott gehören werden (1,8; 5,7). Die Einleitung zu den Bilderreden macht deutlich, dass die Weisheitsrede des Henoch vor dem Herrn der Geister vorgetragen wird. Das apokalyptische Wissen ergeht als kultische Anrede in der Gegenwart Gottes und verbindet Urvater, Nachkommen und die eschatologische Zukunft vor dem himmlischen Hintergrund der Schöpfung. Die sie verbindende Geschichte erscheint als Darstellungsfeld einer stark an räumlichen Kategorien orientierten Betrachtung.

Wir stoßen auf ein kultisches Ordnungsdenken, welches auf dem zugewiesenen Raum aller Dinge insistiert und von der Erlangung des gehörigen Raumes das Heil erwartet. Schöpfung bedeutet räumliche Einteilung, und die die Zeit heraussetzenden Lichtvorgänge in der himmlischen Welt sind ein Durchschreiten von Räumen.93

Auch die Entschlafenen gehören zur Schöpfung und finden den ihnen zugewiesenen Ort (Kap. 22). Die Auferstehung bedeutet in diesem kultapokalyptischen Kontext Verwirklichung der Teilnahme des zu seiner schöpfungsmäßigen Urgestalt zurückkehrenden Menschen an der engelartigen Reinheit der Heiligen. Ähnliche Grundzusammenhänge zeigen auch die dem Pharisäismus zugerechneten Psalmen Salomos aus der 2. Hälfte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts.94

Im Zentrum steht hier das Bekenntnis zur βασιλεία Gottes und zu Gottes βασιλεύς-Sein. Mit diesem Bekenntnis ist verbunden die Aussage, dass Gott es ist, der ‚mich aufstellt, hinstellt, auferweckt zur δόξα‘(2,31). Gottes Handeln am Frommen bewirkt, dass er aufgestellt wird vor ihm in Kraft und dass das Gotteslob in Ewigkeit ergeht im Gegenüber seiner Knechte (2,36f.). Man muss hier an die Auferstehung als Einfügung in den Chor der lobpreisenden Engel denken. Der Fromme, dem Gott das Haus rein erklärt (3,8), weiß, dass er auferstehen wird in unvergänglichem Licht (3,11ff.)95. Auch hier schlägt Kultspirualität durch, die aber nicht den Tempelkult, sondern häusliche Reinheit unter dem Licht der himmlischen Herrlichkeit und im Glanze der himmlisch-weißen Reinheit sieht.

Charakteristisch pharisäisch sind dann auch die Aufgaben des Messias als Davidssohn: Er wird Jerusalem reinigen (17,22ff.30) und ein heiliges Volk zusammenbringen (17,26); er ist rein von Sünden, denn Gott hat ihm den Heiligen Geist gegeben (17,36); wenn er in der Volksversammlung des heiligen und reinen Gottesvolkes Recht spricht, so gleicht er einem himmlischen Erzengel und Israel den geheiligten Völkern des Himmels (17,43). Der pharisäische Fromme sieht sich und Israel vor dem Hintergrund des himmlischen Engelreiches Gottes, an dem er jetzt bereits durch seinen heiligen Lebenswandel teilnehmen darf und der ihn unter die Erwartung der Verwandlung in die himmlische δόξα und die ζωὴ αἰώνιος stellt.