Jesus und die himmlische Welt

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4. Joshua ben Perachia und Nittai aus Arbela (um 110 v. Chr.)

Joshua ben Perachia und Nittai aus Arbela – beide gehören in die späte 2. Hälfte des 2. vorchr. Jh. – bilden nach MAb 1,6f. das nächste Jochpaar. Die ihnen zugeschriebenen Sprüche stehen in einem Verhältnis der Ergänzung und Spannung zueinander; sie beschreiben die Bildung der pharisäischen חבורה und das dementsprechende Verhältnis des Pharisäers zu seinen Mitmenschen.

Zur Bildung der חבורה gehört die Sammlung einer Schülergruppe um einen Lehrer einerseits – so Joshua ben Perachia – und die Trennung von üblen Nachbarn und Schuldigen andererseits, so Nittai.

bSchab 127b kennt die anonym tradierte Sentenz: „Wer seinen Nächsten nach der Seite des Verdienstes beurteilt, über den wird ebenfalls nach der Seite des Verdienstes geurteilt werden“; der Kontext betont den Zusammenhang von jetzigem irdischen Verhalten und einstigem, jenseitigen Ergehen. Demgegenüber hat die auf Joschua ben Perachia zurückgeführte Überlieferung in MAb 1,6f. ihre eigene Zuspitzung, weil sie das Verhalten nicht auf den חבר sondern auf כל אדם bezieht. Die ergänzende Parallelisierung mit dem Spruch des Nittai – ‚überlass dich nicht dem Zweifel an der Vergeltung‘ – unterstreicht im antisadduzäischen Sinn den eschatologischen Vorbehalt des Pharisäismus. Der Spruch des Joshua ben Perachia bildet in seiner umfassenden Schlichtheit eine Aufnahme des kultisch getragenen Gottesverhältnisses und der in ihm begründeten גמילות חסידים. Wie der Tempel für den Priester, so bildet die Chavurah für den Pharisäer die Grundlage seiner reinen und heiligen Lebensform. Die Abgrenzung vom Unreinen und Unheiligen erschöpft sich jedoch hier wie dort nicht im Rückzug, sondern ist mit dem Anspruch verbunden, eine für das ganze Volk segnende und sündentilgende Kraft zu haben. Der חבר ist in der Lage, alle Menschen nach der Seite des Verdienstes zu beurteilen, so wie der Priester den Anspruch hat, Unreinheit und Sünde zu tilgen. Der Pharisäismus übernimmt offenbar zunächst das kultisch-positive Gottes- und Menschenbild und kommt ohne eine allzustarke Betonung der eschatologischen Scheidung und ihrer irdischen Vorwegnahme aus.1

5. Judah ben Tabbai und Simeon ben Shetach (um 90 v. Chr.)

Die in MAb nächstgenannten Judah ben Tabbai und Simeon ben Shetach gehören in die Zeit des Königs und Hohenpriesters Alexander Jannäus (103-76 v.Chr.). Die in MAb 1,8f. aufgeführten Kernsprüche zeigen sie als abwägende Juristen, die sich vor allem im Zeugenrecht und im Umgang mit Beschuldigten durch Unvoreingenommenheit und Sorgfalt auszeichnen.

Dazu passt die von Simeon ben Shetach überlieferte Legende bSanh 37b, wonach er einen von einem einzigen Zeugen bei einem Mord Ertappten unter den Schutz des Gebotes des Doppelzeugnisses stellt. Ebenso liegt auf dieser Linie sein Eintreten nach bMakk 5b gegen seinen Jochgenossen, der einen Falschzeugen töten lassen will 1, wogegen Simeon ben Shetach die mäßigende Halacha betont.2

Der größere Block der mit Simeon ben Shetach verbundenen Tradition zeigt ihn jedoch als Eiferer, der mit der späteren Halacha, welche die Mischna im mäßigenden Sinne normiert, in Konflikt steht. Die literarisch älteste Berührung dieses Punktes begegnet MSanh 6,5, wo die Tat des Simeon ben Shetach, nämlich 80 Hexen auf einmal hingerichtet zu haben, als nicht der Halacha entsprechend bezeichnet wird.

Die Legende von Simeon ben Shetach und den 80 Hexen3 nennt im ältesten Stoff als Begründung für sein Vorgehen „die Stunde benötigte das“ (jSanh 6,9 23c).4 Sein Eifer ist nur durch die besondere Situation gerechtfertigt.

Nach bSanh 19a lädt er den König und Hohenpriester Alexander Jannäus – aufgrund des Vergehens eines seiner Knechte – als Mitangeklagten vor das Synhedrion und verlangt von ihm die Respektierung der göttlichen Autorität des Gremiums5 durch Aufstehen. Dies bedeutet, dass der Pharisäer für dieses Gremium, auch gegenüber dem König und in Konkurrenz zum Hohenpriester, das uralte Kultrecht der Repräsentation Gottes beansprucht. Alexander Jannäus verwendete nach einer anderen Legende (bKidd 66a) seinerseits gegen die Pharisäer die alte kultrechtliche Legitimationsform des auf dem Hochpriesterdiadem eingravierten Gottesnamens. Er verweigert das Aufstehen und befragt die übrigen pharisäischen6 Mitglieder des Gremiums. Als diese einer Entscheidung im Sinne des Simeon ausweichen, lässt dieser – so die Legende – den Himmel durch den Engel Gabriel eingreifen, der die Sanhedristen tötet. In diesem übertriebenen Eifer sieht die Gemara eine Bestätigung der mischnischen Halacha, die den König der irdischen Gerichtsbarkeit entzieht.

Dieser Eifer des Simeon ben Shetach entspricht der zugespitzten Situation einer verschärften Auseinandersetzung der Pharisäer mit den Hasmonäern unter Alexander Jannäus. Gegenüber dem machtpolitisch verkommenen Hochpriestertum und der sadduzäischen Partei will Simeon ben Shetach die Autorität der Leitung des Gottesvolkes auf das – pharisäisch besetzte7 – Synhedrion übertragen. Die Autorität der kultrechtlichen Ordnung des Gottesvolkes hängt nach seinem Anspruch nicht mehr am Hohenpriester, der sich des Gottesnamens zu Unrecht bedient, sondern am Synhedrion, das die Gottheit repräsentiert. Bezeichnend ist, dass die Tradition mit dem Wirken des Simeon ben Shetach den Anspruch verbindet, die segnende Kraft, die traditionell vom Kultus ausgeht, wieder hergestellt zu haben:

„‚Ich gebe euch Regen zu ihrer Frist‘ (Lev 26,4). ‚Zu ihrer Frist‘: in den Nächten der vierten Tage und in den Nächten der Sabbate.8 Denn so finden wir es in den Tagen des Simeon ben Shetach, in denen der Regen in den Nächten der vierten Tage und in den Nächten der Sabbate fiel, dass der Weizen wie Nieren, die Gerste wie Olivenkerne, die Linsen wie Golddinare wurden. Man bündelte davon zum Zeichen für zukünftige Geschlechter einiges ein, um ihnen zu weisen, wie viel die Sünde bewirkt. Wie gesagt ist (Jer 5,25): ‚Eure Verfehlungen haben dies nun verborgen, eure Versündigungen haben euch das Gute verwirkt‘. Und so finden wir es auch aus den Tagen des Herodes: als sie mit dem Bau des Heiligtums sich mühten, fiel der Regen in den Nächten, am Morgen aber wehte ein Wind, die Wolken zerstreuten sich und die Sonne erglänzte. Das Volk zog zu seiner Arbeit aus und wusste, dass es eine Himmelsarbeit in Händen habe.“ (bTaan 23a)

Der Tempel gibt Segen; wenn jemandes Wirken mit einer segnenden Kraft für ganz Israel verbunden ist, dann entsteht daraus die Frage, wie und ob dieses seinen Segen hervorbringendes Wirken mit dem Tempel zusammenhängt. Auf diese Frage gibt die Tradition eine deutliche Antwort: Simeon ben Shetach ist Reformer des Synhedrions, dessen eigenständiges Recht er gegen das verderbte Hochpriesteramt und Königtum durchsetzt. Während das üble Handeln des Alexander an den pharisäischen Weisen die Welt zum Veröden bringt, lässt Simeon ben Schetach sie wieder aufleben, indem er die Tora auf ihren Urstand zurückführt.9 Auch nimmt Schimon ben Shetach die klassische Aufgabe des Kultes wahr, Götzendienst und Zauberei zurückzudrängen. Entsprechend geht er nach der Tradition auch gegen ‚Choni der Kreiszieher‘ vor,10 der den Gottesnamen in einer der Magie verdächtigen Regenbeschwörung verwendet. In Choni begegnet ein ‚Konkurrent‘, der nicht wie die Pharisäer auf die rechtliche Grundlage des Kultes zurückgreift, sondern die in ihm liegende Macht zur Bestätigung der Schöpfungsordnung charismatisch verwendet.

6. Hillel und Schammai (um 30 v. Chr.)

Mit Hillel (und Schammai) endet in MAb 1,15 die vormischnische Sammlung1, die in etwa an die vorneutestamentliche Zeit heranführt. Hillel wurde Vorsteher des Sanhedrin 100 Jahre vor der Zerstörung des Tempels (b Schab 15a), also im Jahre 30 v. Chr.

Begann dieser vorrabbinische Traditionsblock mit dem Hohenpriester Simon der Gerechte, so endet er bei Hillel in einem Leitspruch (MAb 1,12), der die pharisäische Gelehrtenbewegung betont in die Tradition des aaronidischen Priestertums stellt. Erinnert sei daneben nochmals an das vor Hillel und Schammai auftretende Lehrerpaar Schemaja und Abtalion, das beanspruchte, in Wahrheit den Dienst Aaarons zu versehen.2

„Sei von den Jüngern Aarons, den Frieden liebend und nach Frieden strebend; die Menschen liebend und sie der Tora zuführend.“ (MAb 1,12)

ARN A 12 (24b) führt dieses Bild vom Priester aaronidischer Art als Friedensmehrer auf Mal 2,6 zurück. Mal 2,5-7 enthalten, neben Sach 3, das nachexilische, biblische Idealbild des Priesters aus dem Bunde Gottes mit Levi. שלום ist hiernach Kennzeichen des Stehens im Priesterbund Levis; שלום ist Segnung dieses Bundes und Kennzeichen des priesterlichen Wandels. Mit dem Jüngertum Aarons verbindet Hillel die Liebe zur בריאות. Gegen die Einschränkung in ANR A auf Israel spricht hier ein Wissen darum, dass Priesterdienst und Kultus sich im Horizont der ganzen Schöpfung vollziehen. Entsprechend trägt der pharisäische Aaron-Jünger Verantwortung gegenüber der ganzen Menschheit. In diesem priesterlich-kultischen Urelement, auf das der Kernspruch Hillels verweist, liegt also die Verpflichtung gegenüber dem Heidentum, die bekannterweise Hillel auch sonst betont.3 Dass Friedensdienst und Liebe zur Schöpfung sich im Zuführen zur Tora vollziehen, entspricht der Forderung von Mal 2,7. Auch die Kennzeichnung des Levi-Bundes als ein ‚Bund des Lebens‘ (Mal 2,5) klingt in MAb 1,13 nach: „Wer nicht lernt, ist des Todes schuldig“; der pharisäische Aaron-Jünger kann nur dann seinem Friedens- und Lebensdienst entsprechen, wenn er Tora gibt, Tora-Gelehrter ist. Der gottgefällige Priester nach Mal 2,5 beugt sich in Ehrfurcht vor dem Gottesnamen; entsprechend warnt Hillel nach MAb 1,13: „wer sich der Krone bedient, ist des Todes schuldig“; ARN A 12 Ende (28b) formt um: „wer sich des geheimen Gottesnamens bedient, hat keinen Anteil an der zukünftigen Welt“. Wenn der Priester, der den Namen Gottes ‚verwaltet‘, zur Ehrfurcht ihm gegenüber gerufen ist, so muss der pharisäische Aaron-Jünger, der als Tora-Gelehrter sich auf das Geheimnis des Namens versteht, ebenfalls davor gewarnt werden, den Gottesnamen zur Erlangung besonderer ‚mystischer‘ Erkenntnis oder zur Vollbringung von Wundern zu verwenden.4

 

Hillel erinnert daran, dass die besondere Heilsaufgabe des pharisäischen Gelehrten sich in Erfüllung der Aaron-Jüngerschaft vollzieht. Vermittlung von Frieden und Leben, Liebe zur בריאות, Heranführen an die Tora – das sind die dem alten Ideal des Priesterdienstes entsprechenden Kennzeichen des pharisäischen Lehrers. Damit kommt der pharisäische Aaron-Jünger in eine Stellung zwischen himmlischer und irdischer Welt, die ehemals der Priester als מלאך היי wahrnahm. Bereits Hillel nach MAb 1,13 lehnt eine theurgische Benutzung dieser Stellung ab, deutet damit aber auf eine Möglichkeit (und Gefahr) hin, die im späteren Judentum immer bedeutsamer wurde.

7. Zusammenfassung

Die auf eine ältere, in sich geschlossene Sammlung zurückgehende Spruchfolge MAb 1,1-15 umreißt die theologische Entwicklung des palästinischen Judentums chasidisch-pharisäischer Prägung aus rabbinischem Blickwinkel. Abgedeckt wird die Zeitspanne von ca. 200 v. Chr. bis zur Zeitenwende, also die Epoche, die im Besonderen den Hintergrund für Jesus und das Neue Testament bildet.

Der hier sichtbar werdende, vorrabbinische Pharisäismus ist geprägt durch die Aufnahme und Umsetzung priesterlicher Aufgaben und Ideale; dazu gehört auch die Erwirkung einer Verbindung von himmlischer und irdischer Welt, welche die Grundlage des vom Kult ausgehenden Segens und der priesterlichen Offenbarung bildete.

Die priesterlichen Ideale werden im frühen Pharisäismus zunächst von Priestern formuliert und hochgehalten; doch schon im priesterlichen Pharisäismus deutet sich an, dass die kosmische, Himmel und Erde verbindende, Bedeutung des Kultes sich vom Priestertum, welches durch stammesmäßige Herkunft definiert ist, löst und vom gelehrten Frommen wahrgenommen werden kann. Der Schriftgelehrte ist der wahre Aaron-Jünger, ohne aus priesterlichem Geschlecht stammen zu müssen. Wenn so die Ordensgemeinschaft חבורהan die Stelle der Priesterschaft כהונה tritt, so ist es im Besonderen die Figur des Hohenpriesters, die an einem in ihr liegenden Anspruch gemessen wird, der sich in der Gestalt des pharisäischen Chasid neu verwirklicht.

Man stößt auf einen Grundzug in der Theologie dieses priesterlichen Pharisäismus, der das Gehaltensein der Schöpfung durch die חסד Gottes betont und so in der Barmherzigkeit allen Menschen gegenüber den vorzüglichen Ausdruck seiner Frömmigkeit findet. Offenbar ist dabei weniger die Erwartung des zukünftigen Gerichtes Grundlage, als vielmehr das Wissen in einer jetzt schon mit dem Himmel verbundenen Welt zu leben: Der priesterliche Pharisäer dient dem שלום; er erwirkt gesegnetes Leben für Israel und die Schöpfung; er besitzt mit der Tora eine kultisch-kosmische Größe, die dem Tempel-Ritual überlegen ist; der geheime Gottesname, der bis zur Zeit des ‚Simon der Gerechte‘ im Kultus öffentlich verwendet wurde, wird dem Vollzug im Allerheiligsten vorbehalten und gleichzeitig dem pharisäischen Aaron-Jünger anvertraut. Aus dem Versuch, den Gottesnamen zu schützen, ergibt sich andererseits der Beleg für die Gefahr einer ‚mystischen‘ oder ‚magischen‘ Verwendung bereits in vor-mischnischer Zeit.

Neben der Verwendung des ‚Namens‘ deuten sich andere Möglichkeiten des priesterlichen Kontaktes zur himmlischen Welt an, die nun der pharisäische Aaron-Jünger übernimmt: die priesterliche Verklärung, der Empfang der Himmelsstime בת קול, die Hinwendung zur Gestalt der Gottheit und die Entrückung in der Todesstunde.

C) Die apokalyptische Rezeptionslinie: der himmlische Hintergrund des Kultes als Ausgangspunkt einer eschatologischen Neuordnung der verklärten Schöpfung

Die vorrabbinische, pharisäische Tradition war nach MAb 1,2-15 im Zentrum bemüht um die Wahrnehmung der Segenskräfte des Kultes für das Volk Gottes, ja für die ganze Schöpfung. Der Pharisäer versteht sich als der wahre Aaron-Jünger, der Frieden und Barmherzigkeit als die kultischen Segenskräfte für die Schöpfung erwirkt.

Das Zentrum dieser vorrabbinischen, pharisäischen Kultrezeption ist nicht eschatologisch ausgerichtet. Es geht um die kultische Bestimmung der alten Schöpfung durch eine neue, priesterlich-pharisäische Frömmigkeit.

Neben der priesterlich-pharisäischen Rezeption des Kultanspruchs steht eine Linie priesterlich-apokalyptischer Verdichtung. Hier blickte man nicht so sehr auf eine Laisierung priesterlicher Frömmigkeit, als vielmehr auf das vom Kult erschlossene Geheimnis des himmlischen Teils der Schöpfung, von dem aus man auf eine eschatologische Neuordnung der ganzen Schöpfung wartet. Hanson1 wies die Anfänge der apokalyptischen Bemühung um eine Enthüllung des himmlischen Schöpfungsteils priesterlichen Außenseiterkreisen zu. Die spätprophetische Zionseschatologie hätten sie durch visionäre Enthüllung der ‚Vorbereitung im Himmel‘ verstärkt.

Wir untersuchen diese apokalyptische Rezeption des Kultanspruchs am Beispiel des 1Hen, weil diese Schrift die genannte Konzeption besonders deutlich zeigt. Zudem umgreift das kontinuierliche traditionsgeschichtliche Wachsen dieses Blocks die für das Neue Testament entscheidende Epoche von ca. 200 v. Chr. bis in die nachneutestamentliche Zeit.2

Da die vorchristliche Entstehung des die Menschensohn-Gestalt bezeugenden Teils 1Hen 37-71 fraglich ist,3 werden wir zusätzlich auf die Ausformung der kultapokalyptischen Erlösergestalt in der Levi-Tradition eingehen. Hier ist das Bild einer Erlösergestalt vor dem Hintergrund des Rückgriffs auf den himmlischen Haltegrund des Kultes gezeichnet. Die Erlösergestalt in der Levi-Tradition entstammt apokalyptischer Kultrezeption.

I) Die Kultordnung des Himmels und die eschatologische Verklärung des Zion nach 1Hen

Die Verklärungstradition begegnet im vermutlich ältesten Teil1 des 1Hen, dem angelologischen Buch (Kapp. 6-36), in zwei parallelen Entwürfen: 24f. beginnt mit Henochs Schau des inmitten prächtiger, überirdischer Berge stehenden göttlichen Thronberges (24,3).2 Bei ihm sind wohlriechende Bäume und unter ihnen ein besonderer (24,3f.).3 Henoch erfährt, dass Gott auf diesem Thronberg sitzen wird, wenn er herabkommt, die Erde mit Gutem heimzusuchen (25,3). Das Gut dieser göttlichen Katabasis besteht in der Übergabe des Lebensbaumes an die Auserwählten (25,3-5). Der Lebensbaum wird an den Zion verpflanzt werden.4 „Dann werden sie sich überaus freuen und in das Heiligtum eingehen (Knibb: „will be glad in the holy place“), indem sein Duft ihre Gebeine erfüllt. Sie werden ein längeres (eth.: langes) Leben auf Erden führen als das, welches deine Väter geführt haben …“ (25,6). Die apokalyptische Vision und die Deutung des Engels enthüllen einen Heilszustand, wie er traditionell von der Zionstheologie beschrieben wird und den vor allem Tritojesaja als eschatologische Wirklichkeit ankündigte: Der Zion ist der Ort, an dem Gott thronen wird und von dem das kultisch vermittelte, gesegnete Leben sowie die Verfluchung der Sünder ausgehen werden.5 Göttliche Katabasis und Verpflanzung des paradiesischen Lebensbaumes werden die jetzt visionär enthüllte himmlische Perspektive des Zion real werden lassen.

Vergleicht man 1Hen 24f. mit der spätprophetischen Zionseschatologie, so sieht man, dass der Apokalyptiker beim himmlischen Hintergrund der traditionellen Kulttheologie ansetzt. Der Sprung in die Zukunft geschieht mittels eines Rückgriffs auf das himmlische Geheimnis des Zion. Er ist Thronsitz des himmlischen Königs und Ausgangsort gesegneten Lebens.6 Dieses Hindurchdringen auf das himmlische Geheimnis und der Vorgriff auf die eschatologische Erfüllung implizieren eine Kritik am nachexilischen Kult als einem theologisch missglückten Unternehmen, wie dann deutlich in der Tierapokalypse (89,73) ausgesprochen. Das apokalyptische Kultwissen nimmt offenbar den alten priesterlichen Grundsatz der Priorität des himmlischen Teils der Schöpfung (Gen 1,1) ernst. Deshalb wird der traditionelle Anspruch des Zionskultes, vom göttlichen Herrn und seiner Präsenz aus Leben und Gerechtigkeit zuzusprechen,7 am himmlischen Hintergrund des Kultes festgemacht. Von ihm her scheint der irdische Zion als ersatzbedürftig. Am Ende der Zeiten wird er seiner himmlischen Bestimmung entsprechend verklärt. Er bedarf der Katabasis, der Verpflanzung, der Verklärung. Gegenwärtig ist zugänglich das visionär vermittelte Wissen darum, dass eine die heilsgeschichtliche Bestimmung des Zion tragende himmlische Wirklichkeit verlässlich gegeben ist. Dieser Prozess des betonten und ausgeformten Rückgriffs auf die himmlische Verankerung und des daraus entstehenden Vorausverweisens auf die eschatologische Erfüllung markiert die eigentlich apokalyptische Umsetzung priesterlichen Wissens.8 Es ist deshalb dem Inhalt und dem Sitz im Leben9 dieser Kultapokalyptik angemessen, dass der Apokalyptiker am Ende des visionären Durchgangs einstimmt in den Lobpreis des Herrn der Herrlichkeit: Er hat die Zionsherrlichkeit und den vom Zion ausgehenden Segen als Geheimnis seiner Schöpfung zubereitet.10

26-36 bringen in einer Art Dublette eine weitere Enthüllung des himmlischen Geheimnisses des Zion. Augenfällige Zionsattribute werden zur Bezeichnung des geschauten Ortes genannt: Mittelpunkt der Erde (26,1)11, Ort, von dem Segen und Fruchtbarkeit ausgehen (26,1f.)12, heiliger Berg (26,2)13. Diese kosmisch-kultischen Zionsattribute begegnen im Rahmen einer visionären Beschreibung der Jerusalemer Topographie.14 Der Deuteengel enthüllt, dass das Kidrontal Aufbewahrungsort der Sünder bis zum Gericht ist (27,2). So werden sich in den Tagen des Gerichtes die Gott preisende Gemeinde der Erwählten, die Gerechten, die Erbarmung fanden, und die vom Gotteslob Ausgeschlossenen gegenüberstehen (27,3). Der Zion ist Ort des Lebens und des Gerichtes, ja Paradies und Scheol sind jetzt schon mit dem Zion geheimnisvoll verbunden.15

Die folgenden Kapp. 28-36 zeigen die Auswirkungen der eschatologischen und himmlisch-irdischen Segenskraft des verklärten Zion auf die um Jerusalem herum liegenden Wüstengegenden: Sie haben Wasser und Fruchtbarkeit im Überfluss und bringen die edelsten Gewächse hervor (28f.).16 Die vom Zion ausgehende Segens- und Lebenskraft steht in Verbindung17 mit der Fruchtbarkeit und dem ewigen Leben im Garten der Gerechtigkeit. Unter den vom Seher geschauten Gewächsen dieses Gartens befindet sich der Baum der Weisheit, von dessen Frucht die Heiligen essen. Als Adam und Eva von diesem Paradiesbaum aßen, mussten sie den Garten verlassen, denn sie erkannten nun ihre Nacktheit und verloren dadurch das engelmäßige Leben ohne Geschlechtlichkeit. Hier klingt ein Thema an, das zur Erwartung der Verklärung des Zion und der erwählten Zionsbürgerschaft gehört: die Rückkehr zur Gemeinschaft mit den Engeln und die Realisierung engelähnlichen Lebens.18

Bezeichnend ist, dass diese augenscheinlich eschatologisch bedeutsamen Enthüllungen nahtlos zusammenstehen mit kosmischen Enthüllungen astronomischer und meteorologischer Geheimnisse (33-36). Offenbar handelt es sich überhaupt nur um einen Bereich des weisheitlichen Wissens: apokalyptisches Wissen ist hier Wissen um Schöpfungsgeheimnisse. Das traditionelle kultische Wissen um die Schöpfungsordnung dehnt der Visionär aus auf alle räumlichen Bereiche der Schöpfung, die für Leben und Tod, Segen und Gericht, Verklärung der Kultgemeinde des himmlischen Königs und Verdammung der Sünder entscheidend sind. Entsprechend steht auch am Ende dieses Durchgangs der abschließende Segensspruch: „Als ich (es) sah, pries ich (ihn), und zu jeder Zeit preise ich den Herrn der Herrlichkeit, der die großen und herrlichen Wunder(werke) geschaffen hat, um die Größe seines Werkes seinen Engeln und den Seelen der Menschen zu zeigen, damit sie sein Werk und seine ganze Schöpfung preisen, damit sie das Werk seiner Macht sehen und seine ganze Schöpfung preisen und ihn rühmen bis in Ewigkeit.“ (36,4) Damit sind die Grundmotive dieser sakralen Zionsapokalyptik in aller Klarheit summiert: Es geht um die Schöpfungsgeheimnisse, um die geheime Schöpfungsordnung,19 von denen zu wissen Engel und Menschen eint, und die deshalb gemeinsam in das Lob des Schöpfers einstimmen können. Formgeschichtlich ist auffällig, dass die abschließenden ברכות mit den Anfängen derהודיות der Qumran-Gemeinde übereinstimmen. Das himmlische Wissen, auf das die הודיות zurückblicken,20 ist im 1Hen breit ausgeformt, während die abschließende ברכהder Loblieder ausgestaltet ist. Man hat den Eindruck, als verwiesen diese Gattungen aufeinander, so dass der gleiche Grundbestand an apokalyptischem Wissen um die Schöpfungsgeheimnisse vorliegt, jedoch einmal mehr didaktisch und im anderen Fall im Lobpreis der bereits Belehrten und Wissenden vorgetragen wird. Es ergibt sich die Frage, ob für 1Hen nicht der Zion in seiner himmlisch-eschatologischen Qualität Ort des Offenbarungsempfangs ist.

 

Dies scheint der Beginn des Reiseberichtes in Kap 17 anzudeuten. Henoch wird eingangs an einen Ort gebracht, „wo die dort (Befindlichen)21 wie flammendes Feuer sind, und wenn sie wollen, erscheinen sie wie Menschen.“ Ein loderndes Feuer nennt 18,8f. im Zusammenhang einer Thronvision, so dass Beeinflussung durch Ez 1,4f.13f. wahrscheinlich ist. Auch der Sturmwind zu Beginn der Vision begegnet hier wie dort. Der Berg, der bis in den Himmel reicht, erinnert an den ‚sehr hohen Berg‘, von dem aus Ezechiel das auf ihm liegende himmlische Tempelgebäude sieht (40,2ff.).22 17,1 und 17,2 hängen dann so zusammen, dass Henoch auf den Zionsberg entrückt wird bzw. auf den als himmlisches Geheimnis hinter dem Zion liegenden himmlisch-irdischen Ort. Auf dem Zion als Verbindungsort von Himmel und Erde liegt der Zugang zur heiligen Thronwelt Gottes; von hier aus erschließen sich die Schöpfungsgeheimnisse (17,3-10; 33f.), sowie die Geheimnisse der Aufbewahrungsorte in Paradies und Unterwelt.23 Der Zionsberg ist der Punkt, von dem aus sich die Erkenntnis der Schöpfungsgeheimnisse dem Visionär erschließt. Auch 14,8ff. bezeugen dies alte Offenbarungsschema: Der Apokalyptiker empfängt seine Offenbarung vom himmlischen Thron aus. I. Gruenwald sieht hierin eine traditionsgeschichtliche Abhängigkeit von der priesterlich-apokalyptischen Merkaba-Lehre Ezechiels.24

Auch die aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert stammende Tiervision (Kapp. 85-90)25 geht von diesem kultapokalyptischen Offenbarungsverständnis aus. Die rein gebliebenen, weißen Engel führen den kultisch reinen (85,3) Henoch an dem Punkt der Vision, an dem sich der Umschwung zu Gericht und Erlösung eröffnet, auf einen hohen Ort und zeigen ihm einen Turm hoch über der Erde, von dem aus alle anderen Hügel niedrig sind (87,2). Es handelt sich um den Zion als Himmelsberg, um den himmlisch-irdischen Tempel in der Gestalt des Turmes.26 Diese Symbolik wird ausdrücklich in der von diesem Berg und Turm aus anhebenden Vision mit dem Tempel in Verbindung gebracht. Zum 1. Tempel heißt es in 89,50: „Jenes Haus aber wurde groß und breit, und ein hoher und großer Turm wurde für jene Schafe gebaut, jenes Haus war niedrig, aber der Turm war ragend und hoch, und der Herr der Schafe stand auf jenem Turm, und man setzte ihm einen vollen Tisch vor.“ 89,73 heißt es vom 2. Tempel: „Da begannen sie wiederum wie zuvor zu bauen und führten jenen Turm auf, und man nannte ihn den hohen Turm; sie begannen wiederum einen Tisch vor den Turm zu stellen, aber alles Brot auf ihm war befleckt und unrein.“ Das eschatologische Haus ersetzt dann diesen nicht mehr seiner Bestimmung entsprechenden Ort. Ein neues Haus wird sichtbar, in das, als der neuen Basis der Verbindung von Himmel und Erde, der Seher nunmehr hinaufgebracht wird. Der himmlisch-irdische Kultort, der einst ganz in eine neue Verbindung von Himmel und Erde verklärt werden wird, ist der Bezugspunkt des Visionärs, seine Warte27, von der aus er Offenbarung empfängt und von der aus die eschatologischen Heilsprozesse sich entrollen. Die Zehn-Wochen-Apokalypse (93,3-10, 91,12-17)28 verweist auf die Zionsverklärung am Ende eines von Anfang an eschatologisch ausgerichteten Geschichtssummariums: Von Henoch über Noah, den Noahbund und Abraham (Pflanze der Gerechtigkeit) berührt dieser Überblick den Sinai-Bund, welcher durch die Elemente ‚Gottesvision‘29,‘Tora-Gabe‘ und Einrichtung einer ‚Einfriedung‘30 gerahmt ist. Danach nennt der Überblick sofort den salomonischen Tempelbau, bezeichnet als Bau des ‚Hauses der Herrlichkeit und Herrschaft für immer‘ (93,7). Es folgt eine Epoche der Verblendung und des Mangels an Weisheit, aus der nur Elia positiv herausragt; das Haus der Herrschaft wird verbrannt und mit ihm die auserwählte Wurzel (der Gerechtigkeit) zerstreut (93,8). In Zuspitzung des Schemas der Tiersymbolapokalypse (89,73) wird die nachexilische Restauration ganz übersprungen. In die anhaltende Epoche des nachexilischen Abfalls fällt die (gegenwärtige) eschatologische Wende: „Am Ende derselben (der 7. Woche, die durch die verfehlte nachexilische Restauration gekennzeichnet ist) werden die auserwählten Gerechten der ewigen Pflanze der Gerechtigkeit auserwählt werden, um siebenfache Belehrung über seine ganze Schöpfung zu empfangen.“ (93,10)31 Der Umschwung beginnt also als apokalyptische Belehrung der ewigen Pflanze der Gerechtigkeit, also mit einer Neu-Konstituierung der Abrahamkindschaft und der mit dem Haus der Herrschaft verbundenen Wurzel.32 Danach hebt die Zeit der Gerechtigkeit an, in der die Ungerechten und Sünder beseitigt werden (91,12). Am Ende der Zeit der Gerechtigkeit werden die Auserwählten Häuser erwerben und „das Haus des großen Königs wird in Herrlichkeit für immer gebaut werden.“ (91,13)33 Das apokalyptische Wissen als Gabe am Beginn der eschatologischen Zeiten zielt auf die Beseitigung der Ungerechtigkeit und Sünde und wird so selbst zur Voraussetzung des Tempelbaus und seiner eschatologischen Segnungen für eine in einem sündlosen Land wohnende Bürgerschaft.34 Von der Erfüllung der im 1. Tempel angedeuteten, im 2. ganz verfehlten himmlischen Bestimmung des Kultes aus vollzieht sich der Ausblick auf das ewige Ende der Heilsgeschichte: Die ganze Menschheit schaut auf die Zionsherrlichkeit, so dass auf der ganzen Erde alle Gottlosigkeit verschwindet (91,14).35 Dem korrespondiert das Gericht unter den Engeln (91,15), so dass nun im Himmel und auf der Erde die Voraussetzungen gegeben sind für eine neue Schöpfung.36 Ein neuer Himmel wird mit siebenfacher Intensität des Segens37 über der Erde stehen (91,16), die in zahllosen Wochen bis in Ewigkeit ohne Sünde und ganz in Güte und Gerechtigkeit sein wird (91,17).

Die Verklärung der Schöpfung bis in den Himmel hinein geht von dem zu seiner himmlischen Bestimmung gekommenen Zion aus. Sie setzt ein als Belehrung über die Schöpfungsgeheimnisse. Das siebenfache Wissen der Apokalyptiker entspricht der siebenfachen Erleuchtung der eschatologischen Schöpfung und ist damit der erste Ausdruck des eschatologischen Umschwungs. Formal und inhaltlich gibt sich die apokalyptische Offenbarung des 1Hen auch in diesem Stück als Wissen um die geheime Ordnung der Schöpfung und damit als vom Zion ausgehendes Geheimwissen zu erkennen.

Auch die Tiervision (85-90), auf deren Offenbarungsverständnis wir oben bereits hinwiesen,38 bezieht ihren eschatologischen Zielpunkt für den Geschichtsüberblick von Adam bis in die Hasmonäerzeit aus der geschauten Verklärung des Zion. Bis zum Fall der Sterne (= Engel)39, geschildert in 86,1-3, war die Schöpfung in kultisch reiner Ordnung (85). Der Verunreinigung der Schöpfungsordnung durch die Sterne (86,4-6) steuern vier menschengestaltige, weiße, und d. h. reine Engelwesen entgegen (87). Die gefallenen Himmelssöhne werden gefesselt (88) und der verunreinigte Teil der irdischen Schöpfung der Sintflut übergeben. Die Heilsgeschichte wird fortgesetzt mit dem weißen (= reinen) Farren Noah und seinen drei weißen Genossen (Vertreter der übrigen Menschheit). Den vier reinen, menschengestaltigen Engeln, welche den himmlischen Teil der Schöpfung zur kultischen Reinheit zurückbringen,40 entsprechen die vier weißen Farren, welche den kultisch reinen Neubeginn der irdischen Schöpfung bezeichnen. Der Umschwung von der unreinen Zeit der Vermischung in die der Wiederdurchsetzung der Reinheit beginnt irdisch damit, dass Noah in ein Geheimnis eingeweiht wird (89,1). Auch bei ihm begleitet eine Art apokalyptisches Geheimwissen den heilsgeschichtlichen Umschwung. Der weitere Überblick über die Geschichte entspricht ganz der 10-Wochen-Apokalypse. Seit dem Exil untersteht Israel der Fremdherrschaft und damit auch einem ihr entsprechenden himmlischen Element (Fremdgötter, Strafengel, Dämonen [89,59]). Michael wird beauftragt, darüber zu wachen, dass die fremden Hirten nur entsprechend dem Befehl Gottes mit Israel verfahren (89,61-71). Der nachexilische Neubeginn ändert nichts an dieser Lage, weil die Neugründung des Kultbetriebs in Befleckung stecken bleibt (89,73). Mit 90,6ff. steuert die Schilderung auf die anti-hellenistische Erneuerung zu: Nicht von den blinden Kulterneuerern geht der Umschwung aus, sondern von den ‚weißen‘ Schafen, die wieder an die ‚weiße‘ Linie der Geschichte Israels anknüpfen. Michael tritt im makkabäischen Kampf als Helfer der Bedrängten auf (90,14). Bezeichnenderweise besteht seine Hilfe darin, dass der dem Böckchen (einem Makkabäerführer41) „alles“ zeigte. Darauf beginnt das Gericht über die fremden Herrscher, bzw. ihre himmlischen Entsprechungsfiguren: Die Macht geht zu den Schafen über. Zum Gericht wird der Gottesthron in dem lieblichen Land sichtbar, auf dem Zion.42 Gott thront, und Michael tritt vor ihn mit den geöffneten Gerichtsbüchern. Auf dem Zion beginnt also eine himmlisch-irdische Gerichtsszene. Wie die Tiere in den Abgrund geworfen wurden, so werden nun Hirten, Sterne und verblendete Schafe von den 7 ersten Weißen, Erzengeln, in den Abgrund geworfen, der rechts neben dem Haus ist (98,26). Hier klingt deutlich die apokalyptische Zionstopographie von 26f. an. Wie das kosmische Gericht vom Zion ausgeht, so besteht auch die Erlösung in einem Zionsereignis. Das alte Haus wird eingewickelt und zur Seite geschafft.43 Gott selbst bringt ein neues Haus, den eschatologischen Tempel, auf den Zion und wohnt selbst in ihm. In dem durch die Gottesgegenwart eschatologisch verklärten Tempel sind alle zu himmlischer Reinheit gewandelt (90,32).44 Alle Geschöpfe beten die neue Herrlichkeit am Zion an (90,30)45, ja die kultische Gottesschau wird geradezu zur Seinsform der Verklärten (90,35).46 Damit wird auch das apokalyptische Sehen nochmals in Entsprechung gesetzt zum kultischen Sehen der verklärten Gemeinde. In dieser schon endzeitlichen, auf dem verklärten Zion wohnenden, reinen Priestergemeinde wird der Messias geboren, als weißer Farre (90,37: es handelt sich um einen Rückgriff auf die Urzeit, vgl. 85-89,10), in dessen kultisch reine Gestalt sich alle Geschlechter verwandeln (90,38). Die Geschichte kehrt zurück aus der sündhaften Unordnung an ihren reinen und kultisch geordneten Anfang. Bemerkenswert ist der Hinweis auf die messianische Figur. Es ist wohl kaum ein davidischer Messias, sondern eher eine der kultischen, weißen Linie entstammende, priesterliche Erlöser-Gestalt. Ihre Aufgabe ist auch nicht der kriegerische Kampf gegen die Feinde, sondern er ist Anführer der Verklärung. Die Reinheit seiner Gestalt bewirkt, dass seine Gemeinde an seiner Reinheit teilbekommt.