Jesus und die himmlische Welt

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Beckers forschungsgeschichtlich bedeutsame Arbeit zur Soteriologie der Qumrantexte39 nennt als religionsgeschichtlich mit dem NT und der Jesus-Tradition vergleichbare Struktur das hebräische Sphärendenken, in dem sich Gottesherrschaft und Satansherrschaft gegenüberstünden und aus dem heraus es dem qumranitischen Kultdenken möglich sei, zu einer Qualifizierung der Gegenwart unter dem himmlischen und eschatologischen Aspekt der Gottesherrschaft zu kommen. Diese religionsgeschichtlich in den Grundzügen wohl unumstrittenen Strukturen versucht Becker auch beim irdischen Jesus als wirksam zu erweisen. Er nimmt also, wenn man so will, den Impetus der ‚einheitlichen Linie‘ der Kultgeschichtler auf, kultisch getragenes religiöses Weltempfinden bei Jesus wiederzufinden. Es ist ja überhaupt deutlich, dass mit der Entdeckung der Qumrantexte die Position der ‚einheitlichen‘ kultgeschichtlichen Betrachtung gestärkt wurde, da auch hier sich priesterlich-prophetisches Reform-Charisma einzelner Lehrer mit einem neuen Kultverständnis der Gemeinde verband.

Wie sieht nun aber das Jesusbild aus, das Becker auf dieser Grundlage entwirft? „War Michael in M das entscheidende Haupt, das für Gott den Kampf ausfocht, so ist es bei den Synoptikern keine Gestalt aus der damaligen Vorstellung der Himmelswelt, sondern ein konkreter Mensch. Genauer gesagt: Jesus selbst weiß sich als der an Stelle Gottes Kämpfende.“40 Jesus habe einen einmaligen Auftrag, eine einzigartige Vollmacht, sein Tun und Reden seien einmalig; seine christologische Vollmacht sei in ihrer Einmaligkeit irgendwie latent vorhanden, noch nicht in das religionsgeschichtlich Vergleichbare hinein expliziert.41 „Jesus versteht sich als Gottes eschatologisches Wort und als sein entscheidendes letztes Handeln für die Menschen.“42 Letztlich ist es ein „unausweisbare(r) Vollmachtsanspruch“ und eine „unmittelbare Autorität“43; in all dem geschieht das „Sichereignen der Gottesherrschaft hier auf Erden …“44

Es ist deutlich, dass Becker hier jeden religionsgeschichtlichen Vergleich abbricht: Ist das Kultdenken der Qumranleute auf himmlische Fürsprecher angewiesen, so steht im Neuen Testament an deren Stelle ein ‚konkreter Mensch‘; zu dieser ungeschichtlichen, modernen Kategorie des ‚konkreten Menschen‘, der offenbar außerhalb eines himmlische ‚Merkwürdigkeiten‘ implizierenden Weltbildes in schlichter Gottunmittelbarkeit steht, treten dogmatische, die zudem durch eine bestimmte Kerygmatheologie geprägt sind. Brachte bei Weiss und anderen Jesu Sittlichkeit die kultische Verehrung durch die Gemeinde zustande, so ist es hier das unausweisbare Wort Gottes, das seinen Träger zum Urheber des Zur-Herrschaft-Kommens Gottes macht. ‚Konkreter Mensch‘ und ‚unausweisbarer Vollmachtsanspruch‘ hängen am ebenso richtigen wie fatalen hermeneutischen Grundsatz, wonach gilt: ‚individuum est ineffabile‘. Zum Erweis des Rechtes dieses Satzes muss aber unseres Erachtens der religionsgeschichtliche Vergleich soweit wie möglich getrieben werden; diesen aber von vornherein abzubrechen, bleibt Folgerung aus einem unbewiesenen Postulat. Becker unterstellt sich einem höchst zeitbedingten dogmatischen Programm, das er gegen seine eigene religionsgeschichtliche Arbeit ausspielt.

Immerhin liefert Becker mit seiner Analyse des ‚Sphärendenkens‘, der Wirksamkeit damaliger ‚Vorstellungen‘ von der himmlischen Welt und der Möglichkeit, kultisch an ihr zu partizipieren, einen weiteren Hinweis auf das Selbstverständnis Jesu. Im Rahmen dieses Denkens wird Jesu christologisches Selbstverständnis beschreibbar: Es muss versucht werden, Jesu Verhältnis zur himmlischen Welt, seine Möglichkeit, in dieses Sphärendenken einzugreifen, traditions- und motivgeschichtlich zu bestimmen.

Auch H.-W. Kuhn45 kommt zu einer ähnlichen ‚Verbindung‘ von eschatologisch-räumlichem Denken in der Qumrangemeinde und in der Jesustradition. Das Sphärendenken, welches das eschatologische Heil in Qumran und in der Jesustradition aus seiner ausschließlichen Zukunftsbezogenheit löse, stelle grundsätzlich eine gemeinsame religionsgeschichtliche Voraussetzung dar, realisiere sich aber in Qumran aufgrund der Tempelsymbolik,46 bei Jesus jedoch in seinem Anspruch, „dass in seinem Wirken Gottes Herrsein aufgerichtet wird.“47 Im Gegensatz zum Tempeldenken der Qumrangemeinde habe Jesus „… die Gegenwart der Gottesherrschaft ‚nur in seiner Person und in seinem Wirken gesehen‘“.48 Erst die christliche Gemeinde nähere sich in ihrem präsentisch-eschatologischen Selbstverständnis der Tempelsymbolik. Sie sei von der Qumrangemeinde aber dadurch geschieden – „… etwas völlig anderes …“49 dass „sich schon letzte Geschichte im Christusgeschehen ereignet hat …“50 Auch bei Kuhn führen philosophische Voraussetzungen (‚Person Jesu‘) und die unvermittelte Rede vom ‚Christusgeschehen als eschatologisches Ereignis‘ dazu, dass letztlich die Urgemeinde und Jesus traditionsgeschichtlich isoliert dastehen.

Es kommen wohl in der Tat in den zuletzt genannten Arbeiten von Becker und Kuhn zwei unterschiedliche Ansätze zusammen, einmal die kultgeschichtliche Betrachtung mit ihrer Tendenz zur Christologisierung und Mythisierung der Jesustradition und andererseits die religionsgeschichtlich sich bindungslos gebende Kerygma-Theologie, die nun dazu eingesetzt wird, den von dieser kultgeschichtlichen Methode nicht gewagten Sprung zur Jesustradition zu vollziehen.

Ein weiterer Beitrag zur Frage nach dem historischen Jesus von einem Ansatz aus, der mit der Fragestellung der ‚Kultgeschichtler‘ Berührung hat, stammt von U.B. Müller.51 Das hebräischem Denken52 entstammende, sphärenhafte Weltbild, wonach Gottes- und Satansherrschaft nach dem Menschen greifen und die Gegenwart bestimmen wollen, sei bei Jesus zur Ansage des Hereinreichens der eschatologischen Heilssphäre Gottes in seine irdische Wirksamkeit verdichtet.53 Müller wendet sich gegen die sonst übliche Kategorie der Unmittelbarkeit und Unableitbarkeit der Vollmacht Jesu,54 widerspricht hier also u. a. Becker und Kuhn, deren Qumran-Analysen er sich ansonsten angeschlossen hat.55 Vielmehr sei vor diesem Hintergrund des sphärischen Weltbildes auch die Frage nach Jesu Vollmacht und ihrer Begründung grundsätzlich dem religionsgeschichtlichen Vergleich offen, der auf die Bedeutung der Kategorie ‚Vision‘ hindeutet.

Ähnlich K.L. Schmidt56 verweist Müller auf Lk 10,18, den Visionsbericht, welcher Jesus Kenntnis himmlischer Zusammenhänge zuweist. Die Vision enthält die Voraussetzungen für seine irdische Mission.57 Die Vision Lk 10,18 sei dabei noch ganz auf Gott bezogen, was für ihre Ursprünglichkeit spreche: „Gottes Kampf gegen den Satan im Himmel und die irdische Auseinandersetzung Jesu mit den Dämonen entsprechen einander.“58 Dabei sei Lk 10,18 von anderen apokalyptischen Visionen unterschieden, da diese ein zukünftiges Ereignis als himmlisch bereits eingetreten verkündigten59 und damit – so meint es wohl Müller – sich doch rein an der Zukunft und dem apokalyptischen Grundempfinden der heilsleeren Gegenwart festmachten.60 Für Lk 10,18 und die βασιλεία-Verkündigung Jesu liege eine gegenwärtig vorgegebene himmlische Veränderung offen, die sich himmlisch und irdisch schon jetzt realisiere.61

Wenn wir Müller recht verstehen, versucht er zwischen einer apokalyptischen Kategorie der visionären Prolepse, welche in der Zukunft festgemacht ist, und einer solchen zu unterscheiden, die sich nur in Qumran62 und bei Jesus finde, nämlich der Kategorie der Entsprechung und Korrelation, welche im himmlischen Geschehen des Handelns Gottes gegen Satan festgemacht sei. Daraus ergebe sich ein Gefälle von der Vision, die himmlisches Geschehen enthülle, zur Botschaft des Visionärs, die sein irdisches Auftreten in Korrelation zum Geschauten bringe. Da religionsgeschichtlich nicht die apokalyptischen Visionen als Vergleich heranzuziehen seien – zumal diese kaum noch auf echtem Erleben beruhten63 –, blieben nur die klassischen biblischen Propheten, bei denen ebenso die prophetische Schau aufdecke, „was in der Sphäre Gottes als Willenswirklichkeit gesetzt ist und sich zum Durchbruch in die Welt rüstet.“64 „Es scheint eine Eigenart prophetischer Offenbarungsgewissheit zu sein, dass der Prophet gerade aufgrund seiner Vision zur entscheidenden Grundüberzeugung gelangen kann, dass nämlich Gott Endgültiges schon in der Gegenwart bewirken will, ja bewirkt hat.“65 Die Elemente Vision und Botschaft, ‚Schau des Wissens‘ und Engelsgemeinschaft der Gemeinde, allgemein eine Verbindung von Sehen und Verkündigen, lasse sich für das gesamte nachbiblische Judentum nachweisen;66 jedoch sieht Müller die hauptsächliche Entsprechung bei den alttestamentlichen Propheten.67 Der Vergleich der Eschatologie Jesu mit der des Täufers mache zudem deutlich, dass dieser das Ende zwar als nahe erwarte, da die Vorbereitungen dafür im Himmel abgeschlossen sind, während Jesus mit der Vision des Satanssturzes ein himmlisches Ereignis, welches eschatologische Bedeutung habe, als abgeschlossen schaue.68 Während der Täufer anscheinend noch dem apokalyptischen Empfinden der heilsleeren Gegenwart unterstehe, habe Jesus mit seiner neuen Eschatologie einen ihm eigenen Vorsprung.69

Wie schon erwähnt, habe die Vision Lk 10,18 bei allem ursprünglich nicht christologische Bedeutung, da der Schauende in den himmlischen Vorgang nicht hineingenommen werde. Die Vision sei eine Wissensmitteilung, die eine neue Botschaft ermögliche, jedoch nicht Berufungsvision.70 Die Vision sei im Gegensatz zu der der Apokalyptiker keine Legitimationsform, vielmehr bleibe Jesus wie die klassischen Propheten der auf Glauben hin Redende.71 Auch die ethische Botschaft Jesu bedeute eine gegen jede Tradition72 sich richtende Radikalität und hänge an der ihm geschenkten Erkenntnis von der Entmachtung der Satansherrschaft durch Gott. „Die Herrschaft des Satan bestand für Jesus nicht nur in der Macht über die von Dämonen besessenen Kranken, so dass die Durchsetzung der Herrschaft Gottes sich gerade in den Dämonenaustreibungen manifestierte (Lk 11,20). Seine Bedeutung zeigte sich auch in seiner Möglichkeit, zur Sünde zu verführen. Deshalb ist die Bitte Lk 11,4 notwendig. Doch ist die Macht des Satans eine inzwischen angegriffene Macht (Lk 10,18), so dass die Zuversicht des Jüngers berechtigt ist, im Kontakt mit dem Sünder und dem Unreinen der Sünde und Unreinheit als metaphysischer Größe nicht zu erliegen. Von daher wird das Gebot der Feindesliebe zur realen Möglichkeit.“73

 

Die nicht zuletzt in diesem Zitat aufleuchtende Perspektive eines einheitlichen Verständnisses von Jesu Botschaft und Handeln auf dem Fundament visionär vermittelten, himmlischen Wissens, der Versuch, Jesu ἐξουσία religionsgeschichtlich verständlicher zu machen, lassen es lohnend erscheinen, Müllers entscheidende Voraussetzungen zu beleuchten, um so seine Fragestellung weiter aufnehmen zu können.

Das in Anschluss an Becker und Kuhn bemühte ‚Sphärendenken‘74 umschreibt an sich kein spezifisch hebräisches Weltempfinden; dies hat die religionssoziologisch arbeitende Studie von Aune75 deutlich gemacht. Das Sphären-Denken entsteht überall dort, wo ein Menschenbild akzeptiert ist, nach dem der Mensch ein durch Außenbedrohung angegriffenes, von Mächten umkämpftes Wesen ist. Vornehmlich steht er zwischen den Sphären des ‚Reinen‘ und ‚Unreinen‘, des ‚Profanen‘ und des ‚Heiligen‘, des schädigenden Zaubers und des schützenden, apotropäischen Kultes. Damit scheint gegeben, dass das Sphärendenken immer schon in einem spezifischen, traditionsgeschichtlich besonderen Deuteverbund steht. Dieser ist im Judentum z. Zt. Jesu durch die kultische Weltdeutung des Tempels bestimmt: Mit Sünde, Tod und Teufel greifen nach dem Menschen negative, anti-kultische und auf Störung der ursprünglichen Schöpfungsordnung ausgerichtete Kräfte. Der Kult tritt ihnen durch Entsühnung und Symbolisierung der Schöpfungsordnung entgegen. Der Kultus hängt mit der himmlischen Schöpfungshälfte zusammen,76 so dass auch die Bekämpfung des Satans als kultischer Vorgang zugleich ein himmlischer ist. Der von Müller untersuchte Zusammenhang von himmlischem Satanssturz und irdischem Exorzismus wird also schwerlich durch den Rückgriff auf die prophetische Struktur von Vision und Botschaft hinreichend geklärt. Vielmehr ist bei der Beobachtung einzusetzen, dass der Inhalt der Botschaft Jesu – Gottesherrschaft als Befreiung von Sünde, Tod und Teufel – Thema des Kultus und seiner mehr oder weniger zum Bereich der πρᾶξις gehörenden Derivate ist.

Kultus weist aber nie auf eine nur theologische Form der Bindung des Satans, sofern zum Ritus ausführende Menschen gehören. Auch die sich vom Kultus lösende Form der ‚Bindung‘, die exorzistische ἐξουσία des Charismatikers, ist nicht als in rein theologischer Begründung ruhende zu denken. Wie zwischen göttlichem und menschlichem Handeln im Kultus eine unauflösliche Korrelation besteht, so ist das Handeln des charismatischen Exorzisten auf die Bereitschaft des Himmels zur ermöglichenden Mitwirkung angewiesen. Im Tun des Exorzisten wirkt der Finger Gottes, er ist so mit dem Geist verbunden, dass Lästerung seines Geistes Lästerung Gottes ist. Hier müssen also christologisch kräftigere Verbindungen eingesetzt werden als nur die von der Vision zur Botschaft. Der Exorzist ist nicht nur Wortträger, sondern λόγος und πρᾶξις sind aufeinander bezogen. Lk 10,18 ist kaum ein rein theologischer Spruch, da gerade die die Visionen Schauenden in eine unmittelbare Beziehung zum Geschauten gebracht werden. Das rationalistische Modell, dass das, was dem Propheten wichtig ist, seinen Ursprung bei Gott hat,77 stellt zwar seinerseits eine ungeschützte Eintragung dar, gibt aber dem Empfinden Ausdruck, dass Vision nicht bloß Mitteilung über fremdes Geschehen ist. Müllers Betonung des Entsprechungsgedankens muss also christologisch stärker aufgenommen werden.

Besonders fragwürdig ist die Unterscheidung zwischen apokalyptischer Vision, die von der heilsleeren Gegenwart ausgehe und der Vision Jesu, die auf Eschatologisches als in die Gegenwart Hineinragendes schon zurückblicke. Der Rückgriff auf Himmlisches bringt immer eine eigene zeitliche Qualität des Himmlischen mit der irdischen Geschichte zusammen. Schöpfung und Eschaton sind zunächst im Himmlischen beginnende Prozesse, solche, in denen das Abrücken der irdischen Geschichte vom himmlischen Gang gleichsam zurückgenommen ist. Zugang zum Himmlischen betont also Zugang zum Geheimnis von Schöpfung und Erlösung. Der Himmel ist aber nicht das Reich der Ideen, sondern auch der Himmel hat seine Geschichte, deren Prae darin besteht, dass hier Anfang und Ende überschaubar sind, weil der Himmel an den Bereich der Transzendenz angrenzt. Der Ausdruck der ‚Willenswirklichkeit‘ für das Prae der himmlischen Prozesse vor ihrer irdischen Realisierung ist zu subjektiv, da es um eine gegliederte Wirklichkeit geht, in der Himmel und Erde in ihrer kosmischen Entsprechung auch geschichtlich aufeinander bezogen sind. Auch Gott ist darin wohl nicht isoliertes Individuum, das einsam seinen Willen durchsetzt, sondern Haupt einer himmlischen Kultgemeinde, zu der die irdische Gemeinde hinzustoßen kann. Die Unterscheidung zwischen ‚Nahe-Bevorstehen‘ ‚Schon Da-Sein‘, ‚heilsleere Gegenwart‘ ‚Anbruch der Erlösung in der Gegenwart‘ dürfte kaum durchzuführen sein. Der Täufer kündet ja auch nicht nur den Zorn als vor der Tür stehend, die Vorbereitungen zum Gericht als himmlisch abgeschlossen an, sondern er hat, als Beerber des Kultbetriebs, den apotropäischen Kultakt der Taufe bereit, der Vergebung der Sünden und Reue bewirkt, also eine Heilsgabe in die Gegenwart stellt.

Zu fragen wäre allenfalls, ob es einen begründbaren Unterschied gibt zwischen der Vision des Exorzisten und der des ‚bloßen‘ Offenbarungsmittlers: Bei diesem läge das Schwergewicht in der legitimierenden Verbindung von Vision und Botschaft, während bei jenem das besondere exorzistische Wissen, oder gar die Gewinnung einer himmlischen Gestalt, mit dem Himmlischen zu tun hätte. Vermutlich ist auch diese Unterscheidung zu eng gefasst: Die ‚theoretische‘ Mystik des Judentums hat neben sich immer die ‚praktische‘ Theurgie gehabt. Jedenfalls ist Müllers alleiniger Rückgriff auf die klassischen Propheten einseitig.

Religionsgeschichtlich weist Müller darauf hin, dass Jesu Kontakt zur himmlischen Welt Grundlage zu sein scheint für seine präsentisch-eschatologische Verkündigung und sein antidämonisches Wirken.

Im Hinblick auf die bei Müller nur schwach angedeuteten christologischen Konsequenzen ist nochmals auf Lohmeyers Programmschrift „Kultus und Evangelium“ einzugehen. Wie die βασιλεία-Verkündigung Jesu ganz den kultischen Gedanken der Theokratie in seiner eschatologischen Vollendung sehe, so stehe Jesus als Kämpfer gegen Sünde, Tod und Teufel in der Aufgabe, die im Kultus betont der Priester, zumal der Hohepriester, wahrnehme.78 Christologisch liege die eschatologische Überbietung des kultischen Kampfes gegen Sünde, Tod und Teufel deshalb in Jesu ἐξουσία, weil in ihm der himmlische ‚Menschensohn‘ wirke.79 „Er ist darum der eschatologische Herr dieses Tempels, ist es als König und Hoherpriester zugleich, wie ihn schon die Vision des Daniel in solcher doppelten Würde zeigt.“80 Jesus als himmlischer Menschensohn ist daher nach Lohmeyer eine Art himmlischer Hoherpriester: Im Tun des Menschensohnes auf Erden liege die himmlische Sphäre eingebunden.81 Der Menschensohn als ‚Heiliger Gottes‘ und eschatologischer Hoherpriester sei Neustifter der eschatologischen Heiligkeit und der eschatologischen Gemeinde Gottes.82 Als solcher wirke er auch gegen die Dämonen, die mit Krankheit und Sünde behaften.83 „Er befreit nicht nur von Sünde und Unreinheit, sondern bannt seinem Anspruch nach Krankheit und Not, Bedrückung und Tod, die dem Charakter der Heiligkeit widerstreben, aus dem ihm anvertrauten Volke und Lande.“84 In Jesu Wirksamkeit verbinde sich so das irdische Tun des Exorzisten mit dem himmlischen des Menschensohns. Jesu Beziehung zum eschatologischen Menschensohn gebe seinem Wirken eine zweifache Bedeutung: eine geschichtlich-irdische und eine himmlisch-eschatologische.85 „Um aber den Kultus zu vernichten und zu überwinden, bedarf es eines anderen Standortes und einer anderen als der überkommenen Heiligkeit. Der Ort, auf dem der Vollender steht, der zugleich der Zerstörer ist, liegt außerhalb der Geschichte …“86 So sei die Menschensohn-Christologie der Ansatz der Jesustradition, Jesus mit dem Prozess der Himmel und Erde umfassenden eschatologischen Vollendung zu verbinden. Dabei ist bei Lohmeyer nicht ganz klar, wie und ob der irdische Jesus sich auf den himmlischen Menschensohn bezogen habe. Letztlich steht hinter dieser als Thesenreihe klaren Position auch beim späten Lohmeyer noch das liberale Jesusbild des von den Tora-Regeln zur sittlichen Freiheit entbundenen Handelns der Liebe.87

Beachtenswert und als Anknüpfungspunkt für unsere Arbeit grundlegend bleiben Lohmeyers aus seiner kultgeschichtlichen Betrachtung erwachsene Thesen zur Menschensohn-Christologie und zu Jesu priesterlich-messianischem Wirken. Er wirkt als exorzistischer Kämpfer gegen die dämonischen Kräfte von Sünde, Tod und Teufel. Nach der beginnenden Auswertung der Qumran-Funde hat G. Friedrich88 den Ansatz Lohmeyers aufgenommen. Allerdings beschränkt Friedrich sich auf eine Untersuchung der Wirksamkeit der Hochpriesterchristologie des Urchristentums bei den synoptischen Evangelisten, lässt also offen, ob seine Ergebnisse über die redaktionsgeschichtliche Frage hinaus einen Beitrag zur Darstellung des irdischen Jesus geben können. Dennoch weist Friedrich, die Ansätze Lohmeyers verstärkend, auf die entscheidenden Punkte, von denen her die kultgeschichtliche Betrachtung zu einem klareren Bild des irdischen Jesus vorstoßen kann: Grundlegend sind für Friedrich – im ausdrücklichen Anschluss an K.L. Schmidt89 – die Dämonengeschichten. Jesus sei Exorzist, in Aufnahme der klassischen Priesterfunktion, nämlich der Bekämpfung des dämonischen Einflusses auf den Menschen in Unreinheit, Krankheit und Sünde.90 Dabei gelte: „Jesus ist für ihn (scil. den Geist des Besessenen) nicht irgendein Zauberer, sondern der eschatologische Bezwinger der dämonischen Mächte, der über die bösen Geister Vollmacht hat.“91 Friedrich weist damit indirekt auf die Notwendigkeit, vom kultgeschichtlichen Ansatz her die antidämonische Macht der Priester im Gegenüber zu den von der Institution ‚Kult‘ unabhängigen Formen ‚Magie‘ oder ‚Zauber‘ zu bestimmen. Die alte Sohn-Gottes-Christologie bezieht sich nach Friedrich auf diesen priesterlich-messianischen, antidämonischen Kontext.92 Ebenfalls in den Bahnen der älteren kultgeschichtlichen Betrachtung steht Friedrichs Versuch, Jesu Taufe vom Taufverständnis des Urchristentum als Einführung in den Priesterstand zu verstehen.93 Jesu Taufe sei Weihe zum eschatologischen Hohenpriester; der Geistbesitz sei Salbungsgabe an den eschatologischen Hohenpriester, der so den Dämonen in der Versuchung wirksam widerstehen und das eschatologische Erlassjahr der Befreiung aller ‚Bessessenen‘ ausrufen könne.94 In Anknüpfung an Lohmeyer deutet Friedrich schließlich den Themenkomplex ‚Jesus und der Tempel‘ als Kampf des eschatologischen Hohenpriesters um den Gottesdienst der Endzeit. Christologisch stehe hier der Priestermessias gegen den Anspruch, davidische Tradition erfüllen zu müssen.95 Die Menschensohn-Christologie trennt Friedrich deutlicher als Lohmeyer vom Ansatz der Priestermessianität, obgleich in der Leidenslehre des Johannesevangeliums und des Hebräerbriefes diese Verbindung ausdrücklich gezogen zu sein scheint.

Dass die Gestalt des Hohenpriesters in Traditionen des frühen Judentums messianisch geprägt wurde, gibt für W. Grundmann – im Gegenüber zur klassischen These vom hellenistischen Ursprung – den traditionsgeschichtlichen Anknüpfungspunkt für die Sohn-Christologie der Synoptiker.96 Grundlage sind vor allem TLevi Kapp. 4 und 18, sowie TJuda Kap. 21. Der Hohepriester ist himmlischer Kultdiener und steht im Gegenüber zu Juda in der Würde des himmlischen Königtums; ihm ist geöffnet der Zugang zur himmlisch-eschatologischen Seinsweise der sündlosen Paradiesexistenz.97

Ganz deutlich weist Grundmann darauf hin, dass der Zugang zum himmlischen Königtum und die damit verbundene Sohnes-Christologie erst vor dem Hintergrund der Hochpriester-Lehre ihre Bedeutung gewinnt. Allerdings will Grundmann – mit Jeremias98 – den traditionsgeschichtlichen Zugang zu diesem Komplex in der παῖς-Lehre sehen.99 Die alte Vater-Sohn-Lehre Jesu reduziert Grundmann mit W. Manson auf einen Ausdruck Jesu „persönlichen, religiösen Bewusstseins“.100 Die Gottesknecht-Christologie gehe auf den Irdischen zurück. Da auch der Gottesknecht im Judentum als messianischer Hoherpriester verstanden werden konnte, bezeugten die Evangelien „… die Ineinssetzung von Gottessohn und Gottesknecht, und zwar auf der Grundlage des Nenners ‚messianischer Hoherpriester‘“.101

 

Diese etwas mathematisch errechnete traditionsgeschichtliche Entwicklung – Sohnbewusstsein, Weg als Gottesknecht und Menschensohn, Umsetzung der Gottesknecht-Lehre, unter Einwirkung der Tradition vom messianischen Hohenpriester als Sohn, zur Sohn-Lehre – würde plausibler, wenn der innere Zusammenhang deutlicher aufgewiesen werden könnte. Dies kann nur so geschehen, dass man die Implikationen der Sohn-Lehre bei Jesus ernstnimmt: Mit ihr ist ein Zugang zum Vater umschrieben, ein direktes Treten in seine heilige Nähe. Dies ist aber auch das Grundanliegen der Hochpriestertradition, die diesen als Intimus Gottes zeichnet. So ist zu fragen, ob die Sohn-Lehre nicht von Anfang die Zugangsberechtigung zur heiligen, himmlischen Nähe Gottes meint und an sich schon immer am Modell der Gottesbegegnung des Hohenpriesters orientiert ist.

In den Arbeiten von Lohmeyer und Friedrich klingt die Frage nach dem Verhältnis von Kultus und πρᾶξις an. Der Kultus ist die öffentliche Institution, welche die Welt verwaltet; dazu gehört auch der Hintergrundsbereich der Welt, biblisch gesprochen der himmlische Teil der Schöpfung. Seit Thompson102 und Mowinckel103 ist es zum Gemeingut der Forschung geworden, das Funktionieren des Kultus vor dem Hintergrund eines ‚magischen‘ Weltbildes zu sehen: Der Kultus regelt das Beziehungsfeld, in dem alles Sein miteinander verbunden ist, im Sinne einer ‚positiven‘ Ordnung. Kultus ist so Ausdruck und Garant einer guten kosmischen und sozialen Ordnung. Der kultisch-rituelle Vollzug bedeutet eine ontologisch wirksame Größe, die negative Schadenskräfte bannt und durch Reaktivierung der Schöpfungsordnung Heil mehrt.104 Auch die Entsühnung, als eine im Alten Orient grundlegende Funktion des Kultes, beruht auf der von der den Kult schützenden obersten Gottheit geschaffenen Möglichkeit, durch rituellen Vollzug Schadenskräfte, welche Unreinheit und Sünde auf Menschen bringen, zurückzuweisen.105

Religionsgeschichtlich scheint der Kult als öffentliche Ordnungsinstitution auf einen Schamanismus zurückzugehen, dessen Wirksamkeit man auch im Bereich des Vorderen Orient und in der biblischen Tradition meint nachweisen zu können.106 Andererseits wird Kultus offenbar ständig begleitet von mehr ‚privateren‘ Formen, die in den vom Kultus verwalteten Bereich eingreifen und sich dem Verdacht der ‚Magie‘ aussetzen.107 Die auch magisch, d. h. auch außerhalb des Kultus, verwendbare Macht des Kultus liegt in der in ihm gehüteten Tradition über das Geheimnis der Schöpfung, ‚was sie im Innersten zusammenhält‘. Vor allem der heilige Name der Gottheit, die Kenntnis dessen, wie sie die Schöpfung geordnet und Himmlisches und Irdisches aufeinander bezogen hat, bilden das Kultgeheimnis. Der Kultus partizipiert so an der gebietenden Schöpfungsmacht der den Kultus haltenden Gottheit.108

Wenn Jesus außerhalb des offiziellen jüdischen Kultus auf die Ebene des himmlischen Schöpfungshintergrundes vorstößt – dies tut er als Exorzist, Bekämpfer von Sünde, Tod und Teufel und in dem von Jeremias als Anspruch auf Weltvollendung umrissenen Zusammenhang –, kommt die diesen Anspruch haltende Christologie in das Kraftfeld der Auseinandersetzung von Kultus und Magie zu stehen. Wenn Jesus von den Dämonen der ‚Heilige Gottes‘ genannt wird, so führt dies vor die Frage, ob er eine Hochpriester-ähnliche Gestalt ist, die in einer eschatologischen und von Gott legitimierten Weise am irdischen Kult vorbei sich vom himmlischen Schöpfungshintergrund aus in die irdischen Dinge einmischt; oder ob er Magier ist, der das Kultgeheimnis unlegitimiert missbraucht.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich mit einer gewissen Notwendigkeit das von M. Smith angeschlagene Thema „Jesus the Magician“.109 Wie der kultgeschichtlichen Betrachtung in der Linie Deissmann/Bertram/K.L. Schmidt/Lohmeyer geht es Smith um einen einheitlichen Ansatz der neutestamentlichen Traditionsbildung, die in ihren wesentlichen Elementen auf den irdischen Jesus zurückgehe. Dazu gehören nach Smith die das Gemeindeleben in seiner ‚vertikalen‘ Ausrichtung bestimmenden Sakramente Taufe und Abendmahl samt ihrer Grundinterpretation. Ferner die Christologie, in der Jesu sich als himmlisches Wesen sehe. Hintergrund für diesen einheitlichen Ansatz ist Smith Rekurs auf das ‚magische‘ Weltbild, welches in Palästina und allgemein im hellenistischen Raum grundlegend sei und religiös ähnliche Ausdrucksformen suche, so dass für Smith Zauberpapyri und Zaubermystik des Judentums (Sefer Ha-Razim) aus motivgeschichtlichen Gründen nebeneinander stehen.

Mit den älteren ‚Kultgeschichtlern‘ verbindet Smith auch der antiliberale Impetus bei der Rekonstruktion einer Christologie schon des irdischen Jesus: „Moreover, the fundamental antithesis, that between ‚the Christ of faith‘ as a mythological figure and ‚the Jesus of history‘ as preacher free of mythological presuppositions, is anachronistic. Where in ancient Palestine would one find a man whose understanding of the world and of himself was not mythological?“110

Im Rahmen eines mythologischen Weltbildes, das wesentlich auf ein Reich himmlischer Zwischenwesen zugeordnet sei, trete Jesus als Wundertäter auf. Gegen die liberale Forschung gilt nach Smith, dass die Wunder, nicht die Lehre Jesu das Ursprüngliche sind. Die Lehre sei bei Jesus esoterische Belehrung des Magiers, während das gesamte halachische Material sekundär in die Jesustradition gekommen sei.111 Jesus sei von Haus unnomistisch; seine Wirksamkeit als Magier gipfele in der sakramental bewirkten Befreiung vom Gesetz. Die Taufe sei bei Jesus geheimer Ritus eines ekstatisch-visionären Eingangs in die himmlische βασιλεία, in der die Tora nicht gelte und von der der Aufsteigende somit befreit werde.112 Das Abendmahl bewirke magische Vereinigung der Teilnehmer mit dem Kultgott, mit dem der Magier sich identifiziere.113 Das Johannesevangelium enthalte wahrscheinlich in Sprüchen der Abschiedsreden über ‚Liebe‘ und ‚Einheit‘ esoterische Abendmahlsworte des Kultstifters.114 Die Vollmacht des Magiers bestehe in dem von ihm kontrollierten Umgang mit der Geisterwelt. Hierin, in der Spannung von Geistbesitz und Besessenheit, liege von Anfang an der Ausgangspunkt für Auseinandersetzungen, die sein Wirken als dämonische Besessenheit eines Magiers oder als theologisch legitime Begabung mit dem Gottesgeist deuten.115

Grundlage ist für Smith auf alle Fälle die magische Kategorie der Vergottung durch Gewinnung eines göttlichen Geistes als πάρεδρος, wie sie die Tauf- und Versuchungsgeschichte andeuten würden.116 Aus der frühen christlichen Tradition einer exorzistischen Benutzung des Jesusnamens werde deutlich: „Such use of the name of course depends on the supposition that the person named is a supernatural power. We have here another form of the notion of Jesus presupposed by the exorcism stories – the notion that he is, or is united with, a supernatural being, so that even his name is a power.“117

Als solches Wesen, das sich zu den κρείττονα γένη gehörig wisse, sei Jesus θεῖος, υἱὸς θεοῦ, θεός, hebr./aram. gehöre er zu den בני אלהים, sei im Sinne apokalyptischer Mythologie himmlischer בר נשא. Wie das geheime Taufsakrament nach Smith magisch eine halluzinatorische Himmelsreise erschließe, so sei Jesus selbst in seinem Geistbesitz/seiner Besessenheit zum magisch-ekstatischen Umgang mit der himmlischen Welt befähigt; diese historische Tatsache spreche noch aus den Überlieferungen des Joh.ev. (3,13), aus dem Hymnus Phil 2,5-11 und aus 2. Kor 12,2-5. „Jesus appears in the gospels as one who knows the world of spirits. This was the age old claim of the goetes, and shamans were also famous for their ascents into the heavens. It was also the claim of the Jewish magician who put together The Book of Secrets (SHR).“118 Die nachösterliche Verehrung des Auferstandenen und Erhöhten bedeute eine Fortsetzung des halluzinatorischen Umgangs der Jünger mit ihrem nun ganz in die Welt des πνεῦμα eingegangenen Meisters, also eine Fortsetzung der spirituellen Übungen, die sie der Irdische gelehrt habe.119