Jesus und die himmlische Welt

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Traditionsgeschichtlich sehr viel differenzierter und damit in der historischen Analyse überzeugender ist die Untersuchung von O.H. Steck136, der der Abfolge der in der Perserzeit entstandenen aramäischen Danielerzählung (Dan 2-6), über das aramäische Danielbuch der Ptolemäerzeit (+ Dan 2+ und 7+), bis zum makkabäischen Danielbuch (Zufügung von 1 und 8-12; Umarbeitung von 2 und 7) unter dem Aspekt der darin jeweils enthaltenen Geschichtskonzeptionen nachgeht.

Die aramäischen Erzählungen sehen Gottes Weltherrschaft in der irdischen Konkretion des persischen Großreiches: „Diese von der Erzählung repräsentierte Position ist an dem Israel konstituierenden Tempelkult des nachexilischen Jerusalem orientiert …“137. Und das bedeutet nach Steck: „Die Geschichte Israels ist in dieser ganz uneschatologischen, von einem Wiederaufleben der vorexilischen Jerusalemer Kulttradition geprägten Sicht kein konstitutiver Rahmen theologischer Wahrnehmung, weil sie in der nachexilischen Kultgemeinschaft und ihren Heilsqualifikationen schon zum Ziel gekommen ist.“138 Mit der kurzen Blüte der Alexanderzeit und dem Verfall des Großreiches in die Diadochenländer befasst sich das ptolemäische Danielbuch: Nicht ein Großreich repräsentiert irdisch Gottes Himmelsherrschaft, sondern erst am Ende der Tage wird Gottes Himmelsherrschaft sich in einem andersartigen Reich offenbaren.139 Die kultische Kategorie der vom Himmel ausgehenden Herrschaft Gottes schlägt angesichts der geschichtlich erfahrenen Zersprengung des Entsprechungsgedankens von ‚oben‘ und ‚unten‘ um in eine rein eschatologische Lösung.140 „Die Aussagen über das eschatologische Reich werden in Aufnahme der Aussagen der Erzählungen und Hymnen als deren ungeminderte Verwirklichung in der Zukunft formuliert.“141

Steck spricht bei dieser Wandlung der kultisch-weisheitlichen Position ins Eschatologische von einem Einfluss „prophetisch geprägter Strömungen der Zeit.“142 Dennoch bleibt traditionsgeschichtlich konstitutiv auch in dieser Wandlung das Bild des theokratischen Israel: Es ist das Israel der Kultgemeinde, welches in dem ewigen Reich leben wird.143 Es ist dies das Reich des Menschensohnes und der Heiligen des Höchsten.144 Diese eschatologische Erwartung scheint getragen zu sein durch das Wissen darum, dass die himmlischen Engel jetzt schon um den Thron Gottes herum eine himmlische Gemeinde bilden, zu der dann die Gerechten der Endzeit hinzugenommen werden.145 Die durch die Qumran-Schriften im Besonderen bekannt gewordene Heilsaussage der Engelgemeinschaft erwüchse dann auch hier aus einer kultischen Grundaussage.146

Sehr kompliziert werden nach Steck die geschichtlichen und traditionsgeschichtlichen Abläufe in der syrischen und frühmakkabäischen Zeit. Die Sistierung des Tempeldienstes brachte zunächst die eschatologische Ausweitung der kultisch-theokratischen Grundposition in einen entscheidenden Bruch: Die Gegenwart erscheint nur noch als Unheilszeit. Steck meint, dass der Katastropheneindruck nicht mehr kultisch-theokratisch bewältigt werden konnte. Die Deutung der Vorgänge gehe in Dan 8 zwar auf die Vernichtung des Antiochus und die Wiederaufnahme des Tempeldienstes,147 jedoch werde die nachexilische Zeit insgesamt als Zorneszeit gesehen, was prophetischer, nicht jedoch kultisch-theokratischer Position entspreche.148 Die Zorneszeit über Israel korrespondiert dem Frevel im Volk. Diese geschichtstheologische, näherhin deuteronomistische, Konzeption sei dem kultisch-theokratischen Denken von Haus aus fremd.149 Es entstehe die Blickrichtung auf einen eschatologischen Tempel, von der her Kritik am irdischen Tempel und der makkabäisch-hasmonäischen Tempel-Wiederweihe möglich werde. Steck scheint die Reserve der Daniel-Kreise gegenüber der hasmonäischen Theokratie jedoch nicht so sehr in ihrer himmlisch-eschatologischen Kultidee wurzeln zu sehen, als vielmehr in der deuteronomistischen Konzeption.150 Die nachexilische Zeit nicht als Zeit eines durch den Tempel bedeuteten Heils, sondern allein als Zeit des Zorns und der Schuld zu sehen, „… dies ist allein die der theokratischen entgegengesetzte Sicht der Strömung deuteronomistischer Prägung …“;151 dennoch steht letztlich diese „… komplexe Neuverbindung von weisheitlicher, prophetischer und deuteronomistischer Tradition auf kultisch-weisheitlichem Boden …“152 Hat sich traditionsgeschichtlich die Entwicklung der Daniel-Überlieferung über Jahrhunderte als Ausgestaltung der theokratischen Grundlage zur eschatologischen Erwartung des kommenden Reiches vollzogen, so setzt in den wenigen Jahren, die durch die Antiochus-Erfahrung geprägt sind, ein „theologischer Umbruch sondergleichen“ ein.153

Trotz mancher Bedenken gegen die Konstruktion gerade der letzten theologischen Entwicklung im Danielbuch154 können wir die Grundthese von Steck als bestätigende Ergänzung zu der im Anschluss zu erwähnenden Arbeit Hansons aufnehmen: Wesentliche Teile der langen Danielüberlieferung, einschließlich Kap. 7, sind als Wendungen der kultisch-theokratischen Position ins Eschatologische zu verstehen. Diese Wendung meint die Erwartung ungeminderter Verwirklichung des kultisch bedeuteten Heils in der Zukunft. Auch das makkabäische Danielbuch sieht die eschatologische Erlösung gerade in der Weihe des himmlisch-irdischen Zionstempels gipfeln (9,24). Das Heil des eschatologischen Umbruchs bleibt kultisch beschrieben.

Hanson sieht in der Apokalyptik geradezu das Produkt einer durch priesterliche Außenseiterkreise umgestalteten Kultfrömmigkeit. Nach Hanson155 ist in nachexilischer Zeit die Kultreform das zentrale Anliegen aller religiöser Gruppen des palästinischen Judentums. Hanson unterscheidet eine zadokidische und eine spätprophetisch-apokalyptische Gruppe, die vor allem an Tritojesaja und Deutero/Tritosacharja anknüpfe. Die zadokidische Gruppe scheint ihr Restaurationsprogramm eher aus P und Ez bezogen zu haben. Beide Gruppen fallen aber nicht so sehr aus Gründen einer verschiedenen traditionsgeschichtlichen Basis bei ihrer Bestimmung des wahren, gottgefälligen Kultus auseinander, sondern weil sie soziologisch immer mehr auseinanderdriften: Die levitischen156 Kreise, die vom tatsächlichen Kultbetrieb ausgeschlossen werden, können ein utopisches Bild bewahren und verstärken, während die im alltäglichen Kultbetrieb verschlissenen Priester desillusioniert zu Werke gehen; orientieren sich diese begreiflicherweise an einem mehr konservativen Kultverständnis, so radikalisieren die isolierten Außenseiterkreise nach Sektenmanier ihr Kultverständnis im utopischen, apokalyptischen und mythischen Sinne.157 Hierbei greifen die Außenseiter auf vorexilische Kulttraditionen zurück, nämlich die Gott-König-Mythologie und die Zionstheologie: “… it was a vision of a righteous and holy community restored to a glorified Zion, in which all would be priests of Yahweh possessing Israel as their inheritance and secure from the threat of enemies …”158 Diese kultische, zionstheologische Bestimmung der Endzeit ist nach Hanson geradezu die apokalyptische Grundvision.159

Religionssoziologisch arbeitet die Monographie zum Thema ‚Kultus und Eschatologie‘ von D. Aune.160 Aune geht davon aus, dass das Urchristentum von Anfang an, schon in der aramäisch sprechenden palästinischen Urgemeinde,161 für seine Christusverehrung auf kultische Ausdrucksformen gewiesen war.162 Im Gemeinde-Kult wurde Jesu eschatologische Herrschaft, die Teilhabe an seinem Reich, vorweggenommen. Im Kultus verwirklicht sich eschatologische Heilserwartung proleptisch, ohne die Erwartung einer zukünftigen Realisierung des Heils in toto aufzugeben.163 Dabei bringt nach Aune – hier liegt für ihn der wichtigste Gedanke – der kultische S.i.L. der Erfahrung eschatologischer Erfüllung einen Rückgriff auf die protologische Perspektive mit sich. Ende und Anfang entsprechen sich im kultischen Denken, so dass die Vorwegnahme des Endes ein kultisch vermitteltes Eingehen in das Paradies bedeutet.164 Da das Paradiesmotiv, die restitutio principii, Hauptmotiv der präsentischen Eschatologie in der Gemeindefrömmigkeit Qumrans und des Urchristentums sei, in diesem Motiv sich aber alte biblische Kulttradition zeigt, ist es für Aune keine Schwierigkeit, die Verbindung von Kultus und Eschatologie-Protologie schon im AT vorgeformt zu sehen.165 Allerdings arbeitet Aune nicht im engeren Sinne biblisch-traditionsgeschichtlich, sondern allgemein religionsgeschichtlich-phänomenologisch: “On the basis of this Judaeo-Christian conceptualization of the eschaton as the time for the restitutio principii, one might speak more accurately of ‚protology‘ than of eschatology. Actually, eschatology and protology function homologously, with the functionally insignificant difference that in eschatology the ideal conditions of the primal period are located not only at the beginning of time but also at its end.”166 Dabei kommt es bei Aune sogar zu einer bemerkenswerten Umkehrung: Während Kuhn die Präsentifizierungstendenz der Theologie der Qumrangemeinde von ihrem priesterlichen Selbstverständnis her, und d. h. aus dem Nachwirken bzw. der intensivierten Aufnahme der Jerusalemer Tempelsymbolik, deutet, sieht Aune in der priesterlichen Tempeltradition nicht den Grund und die historische Ermöglichung eines präsentisch-eschatologischen Heilsverständnisses, sondern nur eine Möglichkeit unter anderen, die Gegenwart der eschatologischen Erlösung auszusagen. Der Grund dafür liege woanders,167 nämlich in dem allgemein zu fassenden religionsgeschichtlichen Gesetz, Heil von der Rückkehr in den Urzustand zu erwarten und diese Rückkehr sich kultisch vermitteln zu lassen.168 Dieser Ansatz hat zur Folge, dass nach Aune jede religiöse Bewegung, die kultische Realisierung eschatologischen Heils anstrebt, zunächst sich allgemeinen religionssoziologischen Gesetzen unterwirft und erst sekundär auf dieser Grundlage ihre besonderen Traditionen ausformt. “The present study has attempted to examine select phases of early Christianity from the standpoint of the phenomenology of religions generally, and the religions movements in its environment in particular, all the while granting unique elements to the christian movement, elements, which are highlighted by a lack of continuity with the immediate religious and cultural background.”169 Dieses Ergebnis scheint methodisch präfiguriert: Vor dem Hintergrund zunächst und hauptsächlich allgemein religionsgeschichtlich-phänomenologisch erarbeiteter Gesetze zur Kulteschatologie erscheinen die einzelnen Ausprägungen des allgemeinen Gesetzes als jeweils unabhängige Realisierungen eines religionsphänomenologischen Schemas, so dass die eigentliche traditionsgeschichtliche Arbeit nur zu sekundär bedeutsamen Ergebnissen führen kann. Damit hängt wohl zusammen, dass Aune zwar mit dem Problem der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu einsetzt, jedoch mit seiner Methode zur Jesus-Frage nicht vordringen kann.

 

Wir fassen zwischenzeitlich zusammen:

Bevor wir uns der letzten der eingangs dieses Abschnitts 3. formulierten drei Fragen zuwenden, können wir jetzt eine Antwort geben auf die beiden ersten; wir stützen uns auf die Tendenz der Forschungsgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Die starre Trennung in zwei traditionsgeschichtliche Bereiche ‚palästinisch‘ und ‚hellenistisch‘ und ihnen entsprechende Grundaspekte eines jeweiligen Weltbildes, in der man die Kategorie des Räumlichen, Himmlischen, Kultischen ausschließlich dem Hellenismus zurechnete, hat sich zunehmend als unbrauchbar erwiesen. Die Wiederentdeckung des jüdischen Kultes hat einen traditionsgeschichtlichen Anknüpfungspunkt für das NT sichtbar werden lassen, durch den eine religiöse Orientierung sowohl in räumlichen als auch in geschichtlich-eschatologischen Kategorien als jüdisch-palästinisch vorgegeben ist. Der Kultus erschließt die himmlische Dimension der Schöpfung und mit ihr die Dimension, aus der die eschatologische Verklärung zur neuen Schöpfung anbricht. Offenbar kennt schon die Kultfrömmigkeit der Psalmen eine Spiritualität, ja eine Erfahrung des Anbruchs der Herrschaft Gottes, die man als proto-apokalyptisch bezeichnen kann. Schweitzers These von der mystischen Zuspitzung der apokalyptischen Naherwartung wird man umgekehrt auf die Füße zu stellen haben: Die „Mystik“ einer kultischen Erfahrung der Gottesherrschaft trägt eine apokalyptische Erwartung der Verklärung in der neuen Schöpfung. Die mehr motivgeschichtlich und theologisch-konstruktiven Ansätze bei Jeremias und Lohmeyer können nun an den Beobachtungen zur Theologie der Qumranschriften und einer daraus resultierenden neuen Beschäftigung mit der jüdischen Apokalyptik traditionsgeschichtlich ausgezogen werden. Wir stoßen auf eine jüdische Kultfrömmigkeit – die nicht immer identisch sein muss mit einer Zentrierung im Jerusalemer Kult-, welche die Gemeinschaft mit den Bewohnern des himmlischen Teils der traditionell kultisch verwalteten Schöpfung erfahrbar macht und daraus das Ziel der eschatologischen Erlösung ableitet.

Es besteht also offenbar kaum noch ein Grund, an dem das Himmlische, Räumliche und Kultische allein der hellenistischen Entwicklungs-Epoche des Urchristentums zuweisenden traditionsgeschichtlichen Schema der älteren Forschung festzuhalten. Dort, wo das Judentum als lebendige Kultreligion verstanden wird, begegnet man einem raum-zeitlichen Weltempfinden, in dem die aus Himmel und Erde bestehende Schöpfung in einer beide Schöpfungsräume umspannenden Geschichte zwischen Schöpfung und Neuschöpfung geschaut wird.

4. Kultgeschichtliche Betrachtung und die Frage nach dem irdischen Jesus

Das Jesusbild der „konsequenten Eschatologie“ und die hermeneutische Umsetzung dieses Jesusbildes bei Bultmann und seinen Schülern hat die Kategorien des „Himmlischen“ und einer positiv qualifizierten Gegenwart als religiöse theologisch negativ gewertet. Sie entsprechen nicht der eschatologischen Krisensituation. Damit wird aber auch eine offene religionsgeschichtliche Einarbeitung Jesu in seine Umwelt erschwert. Die von der liberalen religionsgeschichtlichen Betrachtung ausgehende „kultgeschichtliche“ Arbeit konnte zwar ein relativ gefülltes Bild vom religiösen Leben der Gemeinde geben. Es blieb dabei aber die Schwierigkeit, von der Kultreligion der Urchristenheit zu Verkündigung und Gestalt des irdischen Jesus vorzustoßen.

Diese Schwierigkeit hat verschiedene Ursachen. Zunächst ist nochmals die Wirksamkeit des ‚doppelten Ansatzes‘ zu nennen, eines Programms, das, aus der älteren liberalen Tradition kommend (Baur, Harnack), in der kultgeschichtlichen Betrachtung von Bousset, Wetter, Arvedson und im Einflussbereich Bultmanns nachwirkt: Mit dem Gemeindekult komme etwas Neues auf, so dass, beispielsweise, aus der eschatologischen Passahfeier Jesu religionsgeschichtlich das Mysterienmahl der hellenistischen Gemeinde wurde.1

Auch noch in neueren Arbeiten stößt man auf das mehr oder weniger deutlich empfundene Problem des Brückenschlags von der Kultfrömmigkeit zum irdischen Jesus: Aune2 geht zwar von der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu aus, um das Problem der präsentischen Eschatologie zu beleuchten, kommt aber nach seinem Exkurs über den Gemeindekult als Sitz im Leben für die präsentische Eschatologie in Qumran, im Johannesevangelium, bei Ignatius, in den Oden Salomos und bei Marcion nicht mehr ausdrücklich auf diese Ausgangsfrage zurück. Stehen also die präsentisch-eschatologischen Züge der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu schon unter Einfluss eines protokultischen Denkens bei Jesus selbst oder sind in den Evangelien Jesustradition und Kulttradition der Gemeinde so unauflöslich miteinander verquickt, dass eine isolierte Betrachtung Jesu methodisch unmöglich ist? Aunes Schweigen zu diesen Fragen weist zurück auf das latente Problem der kultgeschichtlichen Betrachtung.

Auf der anderen Seite könnte man von weiteren Arbeiten aus dem Einflussbereich der ‚Kultgeschichtler‘ Böchers Monographien nennen, welche die magische Komponente des urchristlichen Kults, vor allem des Taufritus, untersuchen, christologisch den antidämonischen Einsatz der Sakramente aber aus der ἐξουsία des Erhöhten herleiten und damit ebenso die eigentliche Jesus-Frage von der kultgeschichtlichen Betrachtung mehr oder weniger ausklammern.3

Ferner muss der bei den ‚Kultgeschichtlern‘ häufig anzutreffende Einfluss des älteren liberalen Jesusbildes genannt werden, wonach Jesus unabhängig von Fragen nach Eschatologie und Kultus im Wesentlichen sittliche Persönlichkeit ist. Dieser Einfluss macht sich auch dort noch bemerkbar, wo man sich um ein ‚einheitliches‘ Verständnis der neutestamentlichen Traditionsgeschichte bemüht und damit das Programm des ‚doppelten Ansatzes‘ ausdrücklich ablehnt. So sprach der späte J. Weiss, der die Christologie aus dem Messiasbewusstsein Jesu4 ableiten wollte, in der Qualifizierung dieses Verhältnisses von der Sittlichkeit Jesu5 und der sittlichen Abhängigkeit der Jünger, die religiöse Verehrung mit sich bringe.6

Deissmann benutzte ein etwas anderes Vokabular: Er sprach vom gewaltigen ‚Ichbewußtsein‘ Jesu, welches gemeinschaftsbildend gewirkt habe. Deissmann setzt dabei ebenso die Kategorie des sittlichen Individuums voraus, wie er religionsgeschichtlich Jesus an die alttestamentlichen Propheten bindet.7 Obgleich Deissmann ausdrücklich gegen die Theorie eines ‚doppelten Ansatzes‘ protestierte,8 stellte er dennoch einen anderen Bruch heraus, den zwischen Jesus und der palästinischen Gemeinde: „Sie haben den Propheten des Gottesreiches zum Objekt der apostolischen Frömmigkeit gemacht, indem sie das Siegel unter seine messianische Selbstoffenbarung setzen.“9 „Jesus selbst hatte keinen neuen Kult gestiftet; er hatte die neue Zeit verkündet.“10 Religionsgeschichtlich stehe Jesus auf dem Boden seiner jüdischen Mutterreligion, während der apostolische Jesuskult heidnische Elemente aufnehme.11

Auch Lohmeyer sprach in den 20-er Jahren im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Theorie einer ‚Kultmystik‘ des Urchristentums unter Verwendung des liberalen Prophetenbegriffs von Jesu Gebundenheit an den Vatergott; er sei gottgesandter Prophet,12 der vorwiegend ethisch denke.13

In seiner Berliner Probevorlesung von 192214 hat G. Bertram die Probleme der kultgeschichtlichen Methode bei einer Einbeziehung des irdischen Jesus in die einheitliche Linie dargestellt: Bertram spricht von einer immanenten kultischen Bedeutung der Worte und Handlungen Jesu: „Wie weit hat Jesus bewusst so gehandelt, solche Forderungen an seine Gemeinde gerichtet (Bertram spricht allgemein von den die Evangelien formgeschichtlich prägenden Elementen der Wort- und Tatüberlieferung), dass Handlung und Forderung nicht in sich selbst ihr Ziel, ihren Sinn hatten, dass sie vielmehr zur Darstellung einer hinter ihnen liegenden Idee oder religiösen Wahrheit dienen sollten, also eine immanente kultische Bedeutung hatten?“15 Auffällig ist hier, dass Bertram den besonderen kosmischen Zeitaspekt des Kultus nicht religionsgeschichtlich, sondern allgemein idealistisch fasst; ebenso ungeschichtlich ist die Verbindung des Glaubens der Urgemeinde an Jesus als Kultheros mit dem irdischen Jesus über den Eindruck, den Jesu „Persönlichkeit“ ausgestrahlt habe.16 In und an Jesu Persönlichkeit werde etwas Unbedingtes erlebt. Daraus entstehe letztlich Jesu Verehrung als Kultheros.17 „Jesus selbst sind die Formen dieser Religion fremd. Trotzdem ist er ihr Stifter geworden, weil er in sich die Kraft alttestamentlicher Sittlichkeit mit dem Willen zum stellvertretenden Leiden vereinte. Er hat den Gedanken von Jes 53 in die Tat umgesetzt und damit die Heilsweissagung des Alten Testaments erfüllt.“18

Obgleich Bertram sich ausdrücklich vom Historismus und der liberalen Ethisierung des Christentums absetzt, ja ein streng religionsgeschichtliches Verständnis des Urchristentums fordert, welches den A-Historismus des kultischen Denkens der Zeit des NT ernst zu nehmen habe und ihn nicht unter der Hand in ein unhistorisches, aus der Moderne bezogenes Denken verwandeln dürfe; obgleich sich daraus für Bertram überlegenswerte Perspektiven einer Deutung von Kreuz und Ostern ergeben,19 ja sein Kampf um einen einheitlichen Ansatz betont werden muss, so bleibt doch bei Bertram ein Jesusbild, das den bekämpften Kategorien des sittlichen Vorbilds, des persönlichen Eindrucks, des prophetischen Gottesbewusstseins und damit den ungeschichtlichen Kategorien des Liberalismus verpflichtet ist.

So weist Bertram auf die notwendige religionsgeschichtliche Arbeit an einem dem Ansatz der einheitlichen kultgeschichtlichen Betrachtung entsprechenden Jesusbild. Bertram nennt auch Zielpunkte, auf die eine solche Betrachtung hinführen müsse: ausgeprägte Christologie bei Jesu selbst, seine Teilhabe an der himmlischen Welt, Einbeziehung der besonderen Zeiterfahrung kultischen Denkens; Bertram vermag diesen Schritt jedoch religionsgeschichtlich nicht zu gehen, sondern bleibt bei der Verwendung platonisierender Begriffe.

Etwas weiter führt K.L. Schmidts Beitrag ‚Eschatologie und Mystik‘20, der ebenso um einen einheitlichen Ansatz der kultgeschichtlichen Betrachtung ringt. Religionsgeschichtlich setzt er bei Jesus die Kategorie der Vision als Vorstufe der späteren Kultmystik ein. Die Vision himmlischer Ereignisse löse die eschatologische Spannung und sei Vorstufe der Kult-Mystik.21 Da Jesus zumindest nach einigen Texten der Evangelien Visionär sei, könne man sagen, dass seine Eschatologie eine visionäre Komponente hatte und somit offen war für die im Rahmen des urchristlichen Kultus sich einstellende Beziehung zur himmlischen Welt. Bei Schmidt wird erstmals religionsgeschichtlich die Kategorie der Vision mit dem Kultischen und seinen besonderen, auf das Himmlische bezogenen und die irdische Zeitlinie überholenden Ausdrucksformen verbunden. Noch deutlicher bezog K.L. Schmidt die Jesus-Tradition ein in die kultgeschichtliche Betrachtung der Evangelien in seinem Aufsatz von 1923 über die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte.22

Schmidt bezeichnet die Evangelien als Kultlegenden; sie partizipierten an den für diese Gattung wesentlichen Kennzeichen: Die Geschichte des Kultheros sei hier zum Übergeschichtlichen hin verdichtet. Diese Verdichtung bemächtige sich aber nicht sekundär einer davorliegenden, schlichteren und ‚irdischeren‘ Überlieferungsstufe, ja vor dem Kultheros liege nirgends die an sich, historistisch, positivistisch greifbare irdische Person, sondern schon im Schülerkreis um den irdischen Lehrer herum werde dieser zur mystisch geschauten, legendarischen Gestalt.

Schmidt sieht die nächsten Analogien zum Jesusbild der Evangelien im sehr viel späteren jüdischen Chasidismus, wo sich die Chasidim um den Zaddiq scharen und in diesem Gemeindekreis die Geschichtlichkeit erfahren, die in der Überlieferung sich in der vom Heros berichtenden Kultlegende ausdrückt.

 

„Die chassidische Legende ist geradezu gesättigt mit kultischem und auch mythischem Gehalt. In ihm liegt ihre eigentümliche Kraft, wie auch beim Urchristentum die Frage nach seiner Kraft die wesentliche ist. Der Zaddik, der aus der Menge der Chassidim herausragt, ist der besondere Liebling des Himmels; durch ihn schenkt Gott der Welt seine Gnadengaben. Ihn zu lieben und zu hören ist die Pflicht jedes Chassid. Der Zaddik ist also der Mittler zwischen Gott und den Menschen.“23

Alles kommt an auf die Verbindung zwischen Zaddik und Gemeinde, wie sie sich kundtut im gemeinsamen Beten. Und wenn auch der Zaddik in einem abgesonderten Raum betet, kann er doch mit seiner Gemeinde verbunden sein. Solche Verbindung geht über die einzelnen Örtlichkeiten hinaus: Es schließt sich ein Ring. In einer jüdischen Schilderung24 heißt es: ‚An Sabbaten und Feiertagen nehmen die Chassidim die ‚heilige Mahlzeit‘ am Tische des Zaddik ein. Während des Essens herrscht Schweigen. Zuweilen ‚sagt‘ der Zaddik ‚Tora‘; d. h. er erklärt Bibelstellen, die dem Tage entsprechen. Der Zaddik kostet wenig von jedem Gange. Die ‚Scherajim‘ (Reste) werden unter die Gäste verteilt. Den Tisch des Zaddik nennen die Chassidim ‚Altar Gottes‘, das Mahl ‚Opfer Gottes‘. Indem der Zaddik von den Speisen genießt, ist er der Hohepriester, der Gott das Opfer darbringt. Nach dem Mahle versammeln sich die Chassidim und verweilen in Gesprächen über ihren Zaddik. Sie wägen jedes Wort, deuten jeden Wink, jeden Augenaufschlag, den sie bemerkten, und suchen den ganzen geheimnisvollen Inhalt ihrer Beobachtungen zu ergründen. Während dieser Aussprache sitzen alle dicht beieinander; einer spricht, die andern lauschen. Jeder Unterschied zwischen Groß und Klein, Arm und Reich ist ausgelöscht. Das gesprochene Wort ist dabei von Seiten des Zaddik gar nicht das Wesentliche; dieser achtet gar nicht auf die schöne, die absichtsvolle Menschenrede. Vielmehr wird im chassidischen Schrifttum immer wieder verlangt, man solle ‚von allen Gliedern des Zaddiks lernen.‘ Man achte auf den Eindruck, den der Zaddik auf seinen Kreis macht. Er ist eine kultische Persönlichkeit schon zu seinen Lebzeiten.25

Schmidt verwies dazu auf R. Otto, der vom „numionse(n) Eindruck Jesu auf seine Schüler“26 und davon sprach, Jesus sei entsprechend analogen Phänomenen der religiösen Gruppenbildung „… ein Heros bei Lebzeit …“27 gewesen. Schmidt fasst zusammen: „Wie der Zaddik seiner Gemeinde, seinen Jüngern, so ist auch Jesus zu seinen Lebzeiten, aber auch als der Erhöhte, der pneumatische, das πνεῦμα seiner Gemeinde, seinen Jüngern gegenwärtig gewesen.“28

Konsequenterweise spricht Schmidt von Jesus als dem Kultstifter des Urchristentums.29 Diese bestechende These, die die dem Kultus eigene Mittlerschaft zum Himmel auf den irdischen Jesus zurückführen will, hat in der Forschung kaum Anklang gefunden: Sie ist zu strukturalistisch und zu sehr allgemein religionsphänomenologisch gehalten – um den romantischen Beigeschmack nicht zu betonen – und arbeitet weder religions- noch traditionsgeschichtlich. Der Sprung von der formgeschichtlichen Gattungsbestimmung ‚Kultlegende‘ in das dafür vorausgesetzte Milieu der Tradenten bleibt ein Postulat, das durch die Analogisierung mit dem Chasidismus des 18. Jahrhunderts keine ausreichende Basis erhält.

Dennoch enthält Schmidts Arbeit Hinweise, wie religions- und traditionsgeschichtlich weitergearbeitet werden könnte: Die kultischen Denkformen mit ihren mythischen, über die innerweltliche Geschichte hinausweisenden himmlischen Komponenten sind ja offenbar noch im späten Chasidismus in Analogie zum kultischen Ritual des Jerusalemer Tempels verstanden worden. Dies führt zur Frage nach einer möglichen traditionsgeschichtlichen Rückbindung der chasidischen Kultrezeption an die frühjüdische Zeit. Die Qumran-Texte haben grundsätzlich auf das Recht dieser Fragestellung hingewiesen: Die Ideologie des Kultes ist schon in vor-neutestamentlicher Zeit umgesetzt worden in eine nicht mehr am Tempel hängende, pneumatische Gemeindelehre.

Damit entsteht die den Ansatz von Schmidt traditionsgeschichtlich tragende Frage, ob Jesu Eschatologie und seine Beziehung zum Himmel in eine Tradition der Rezeption und Umsetzung des schöpfungsordnenden Anspruchs des Jerusalemer Kultes gehören.

In Fortsetzung seiner Untersuchung zum traditionsgeschichtlichen Zusammenhang neutestamentlicher und frühkirchlicher Kultmotive mit der Tempelideologie des Judentums hat J. Jeremias in seinem Beitrag ‚Jesus als Weltvollender‘, 1930, diese kultgeschichtlichen Zusammenhänge auf die Frage nach den theologischen Leitmotiven Jesu zugespitzt.30 Jeremias kontrastiert, ganz im Sinne der ‚Kultgeschichtler‘, den abendländischen Rationalismus und seinen auf Entwicklung bedachten Geschichtsbegriff mit dem zyklischen des Alten Orients und der Bibel: Geschichte beruhe auf dem Wissen um eine Schöpfungsordnung und den zyklischen Versuchen, durch kultische Vermittlung zu ihr zurückzukommen.31 Jesu Auftreten stehe so unter dem Anspruch, die eschatologische Rückkehr zum Urstand der reinen, himmlisch-irdisch verbundenen, einen Schöpfung einzuleiten.32

Jeremias orientiert sich zunächst am Rahmengerüst des triplex munus, wobei er eine Steigerung mit Kulmination im königlichen Amt sieht.33 Auffällig und interessant ist freilich, dass Jeremias den Anspruch Jesu auf Weltvollendung stark als quasi hochpriesterliches Wirken zeichnet. Er nehme die vielfältigen, kultisch tradierten Kosmos-Symbole auf; er beziehe sein Auftreten auf das Bild vom Mantel des Hohenpriesters mitsamt seiner kosmischen Symbolik,34 er sei Baumeister des himmlisch-eschatologischen Heiligtums;35 er beziehe auf sich die Kultmotive, die kosmische Ernährung und Versorgung anzeigen;36 er dränge, stärker als dies je der Tempel konnte, Sünde, Tod und Teufel zurück;37 ja sein Vollmachtsanspruch münde in seinem jenseits allen Davidismus liegenden Menschensohn-Amt. Als dieser sei er Herr der himmlischen, eschatologischen Kultordnung.38

Der Anspruch auf Weltvollendung, die Jesus einleitet, äußert sich nach Jeremias also in einer Übernahme orientalischer und jüdischer Kultsymbolik. Der königliche, auf die ganze Schöpfung zielende Herrschaftsanspruch Jesu ziehe deshalb eine hochpriesterliche Vollmacht auf sich, weil er die kultisch verwaltete und erschlossene Schöpfungsordnung, am Tempel Jerusalems vorbei, in den eschatologischen Urzustand der gereinigten Einheit von Himmel und Erde bringen wolle.

Jeremias verzichtet auf ein Auszeichnen kultgeschichtlicher Zusammenhänge, sondern verbleibt stärker auf der motivgeschichtlichen Ebene. Zusammenhänge bestehen vor allem mit dem unten zu referierenden Buch Lohmeyers über ‚Kultus und Evangelium‘. Die bei Jeremias und Lohmeyer – durch eine Betonung der gemeinsamen, Jesus und Urgemeinde, Bibel und Alten Orient verbindenden Motive – mögliche Betrachtung auch der Jesus-Tradition im einheitlich – kultgeschichtlichen Sinne hat in der weiteren Forschungsgeschichte dennoch immer wieder dem mit der Kultgeschichte in ihrer hellenistischen Anfangsphase verbundenen Ausweichen auf einen doppelten Ansatz Platz machen müssen. Von diesem Trend sind auch spätere Arbeiten geprägt, die die Kultfrömmigkeit der Qumran-Gemeinde in Hinsicht auf das Neue Testament untersuchen.