Jesus und die himmlische Welt

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Diese Tendenz zur Überwindung des angeblichen Gegensatzes von Kultus und Eschatologie konnte aber solange nicht zu dem gewünschten Ziel kommen, als es nicht möglich war, für die kultischen Elemente des Urchristentums eine religionsgeschichtliche Basis zu finden, die nicht von vornherein mit dem Problem des ‚doppelten Ansatzes‘ belastet war.

In dieser Situation bedeutete es einen großen Fortschritt, die eigene kultische Tradition des palästinischen Judentums und damit auch des palästinischen Urchristentums wahrzunehmen, den Tempelkult Jerusalems. Auch der jüdische Kult enthält eine ausgesprochen räumliche, himmlische Dimension, die das Leben des Kultteilnehmers mit dem im Tempel anwesenden Herrn zu verbinden verspricht.

In dieser Geschlossenheit wohl als erster untersuchte J. Jeremias die mit der Kreuzigungsstätte verbundenen und aus der Jerusalemer Tempeltheologie stammenden und teilweise bereits in der Jesustradition wirksamen Kultsymbole.28 Jeremias wies auf die Tradition, wonach Adam, der Urmensch, vom Tempel aus erschaffen, in ihm auch beerdigt sei und man nunmehr seinen Schädel unter dem Kreuz Jesu begraben denke.29 Der Kultort bilde in der Tempeltheologie die Mitte der Erde, zugleich ihren höchsten Punkt, der in den Himmel hineinrage, ja zugleich Eingang in das Erdinnere sei: Golgatha als Nachfolgegröße des Zentralheiligtums übernimmt nach Jeremias diese kosmischen Kennzeichen.30 Auf Golgatha übertragen werde auch die jüdische Tradition, wonach am Brandopferaltar des Tempels die ‚Opferung Isaaks‘ stattgefunden habe, an dem Ort, wo zuvor der Hohepriester Melchisedek amtete.31 Am heiligen Felsen als der kosmischen Mitte liege danach der Ausgangspunkt der kosmischen und geschichtlichen Entwicklung. Er ist der Punkt, von dem her die creatio continua sich vollziehe und auf den hin die Geschichte ihren eschatologischen Zielpunkt nehme.32 Es sei klar, dass von diesem einzigartig qualifizierten Ort her Offenbarung geschehe, ja, dass Aufsteigen auf den Stufen des Altars am heiligen Felsen Aufstieg in den Himmel bedeute. Dieser kosmische Punkt sei zugleich himmlischer und irdischer Ort.33 Insonderheit die Opferung im Tempel sei Offenbarungszeit.34 Beim Felsen beginne die Wohnung der Himmlischen, beginne der Thron Gottes, unter dem das Paradies liege.35 Als Offenbarungsort und Stätte der kosmischen Erhaltung sei der heilige Fels der Möglichkeit und Gefahr magischer Einwirkung ausgesetzt, war doch auf ihm der heilige Gottesname eingeschrieben.36 Nach Jeremias darf betont werden, dass dies in gewissem Sinne statische Weltbild des durch den heiligen Felsen festgemachten Kosmos, an dem Himmel und Erde sich berühren und die Gemeinde mit den Himmlischen zum Gottesdienst zusammenkommt, gerade auch die Dimension der Geschichte aufnimmt, nämlich Protologie und Eschatologie, sowie die auf beide bezogene Offenbarung einer Neuschöpfung, vermittelt.37

Jeremias sieht in Lk 20,17f. Anklänge an diese Tempelsymbolik: Jesus sei der Schlussstein im himmlischen Heiligtum;38 nach Joh 7,37-40 sei Jesus Spender des kultischen Lebenswassers, das mit dem Heiligen Geist segnet. Das Laubhüttenfest mit seinem kosmisch-magischen Wassersegen habe sich in Christus gleichsam zum himmlischen Urbild und zur eschatologischen Vollendung erhoben.39 Schließlich sei nach Mt 16,16-18 Petrus zum unzerstörbaren Felsen der neuen, ganz im Einklang mit der himmlischen Gemeinde stehenden ἐκκλησία bestimmt, deren Halacha zugleich die der Himmlischen sei.40 Jeremias deutet so bestimmte Züge der Jesustradition als himmlische und eschatologische Vollendung der Kultsymbolik des Jerusalemer Heiligtums. Das Verdienst dieser Arbeit besteht nicht so sehr im christologischen Teil, sondern im Aufweis der Wirksamkeit der Kultsymbolik des Judentums, ja der Wirksamkeit eines gefestigten, kultischen Weltbildes und damit der im Judentum liegenden Möglichkeiten einer kultischen und, in gewisser Weise, ‚mystischen‘, ‚ekstatischen‘, ‚magischen‘ Erschließung des himmlischen Hintergrundes, ja der Möglichkeit einer intensiven religiösen Qualifizierung der Gegenwart.

Für die religionsgeschichtliche Neubestimmung der kultischen und ‚mystischen‘ Phänomene des Urchristentums weniger bedeutsam, jedoch wegen ihrer Geschlossenheit hier zu nennen, ist die 1932 erschienene Arbeit von H. Wenschkewitz über die Spiritualisierung der Kultbegriffe.41 Wenschkewitz geht von einem weiteren Kultbegriff der gesamten spätantiken Welt aus, für den das 'da ut des' Grundlage des Opferverständnisses sei.42 Hier liege ein Gegensatz zum ethischen Gottesbegriff, man denke grundsätzlich an eine Wirksamkeit ex opere operato.43 Im Judentum stünde dieses Opferverständnis im Gegensatz zum sittlich-religiösen Pathos der klassischen Propheten.44 Mystik könne wohl aus dem Kult herauswachsen, aber durch ihre spiritualisierende, freiere und direktere Gottesbeziehung nähme sie eine gebrochene Stellung zum Kultus.45 Mystik verinnerliche Religion: Der Gott der Mystik wohne nicht mehr im Tempel, sondern im Herzen. Mit der spiritualisierenden Tendenz der spätantiken Zeit hinge zusammen, dass der Kultus z. Zt. des Neuen Testaments nicht mehr zentrale Institution sei; im Judentum seien ja entsprechend die Essener tempellose Fromme.46

Diese hier zusammengestellten Einzelanschauungen über die Phänomene, deren Spiritualisierung Wenschkewitz untersucht, ja deren Bedeutung für ihn weitgehend an ihrer Spiritualisierungsfähigkeit hängt, sind, zumindest in der späteren Diskussion, kontrovers47 und weisen seinen Einsatz in eine bestimmte theologische Programmatik.48 Beachtlich ist jedoch, dass Wenschkewitz für das Neue Testament nicht einfach die ‚Propheten-Anschluss-Theorie‘49 aufnimmt, sondern den Kultus als Basis von Substitutionsmöglichkeiten ernst nimmt. Schon für die Zeit vor der Tempelzerstörung, erst recht danach, entdeckt Wenschkewitz verschiedene Versuche, das Anliegen des Kultus zu verdichten: Bei den Rabbinen ersetze das Tora-Studium den Kultus und schaffe so Gnade in der Welt,50 ein Gedanke, den auch Neusner zur Grundlage des Verständnisses der rabbinischen Tradierung der Kultgesetze gemacht hat.51 Dazu treten Gebet und andere fromme Leistungen an die Stelle des Opfers. Da Wenschkewitz Opfer hauptsächlich als menschliche Leistung versteht, entsteht durch diese Art der Substituierung kein Problem: Menschliche Leistung wird durch menschliche Leistung ersetzt, wenngleich Wenschkewitz andeutet, dass in beiden Gliedern sich Entsprechung zu einer göttlichen Offenbarung zeigen müsse.52

Diese rabbinische Art der Substituierung sei zu unterscheiden von echter Spiritualisierung, da die Rabbinen ja auch mit einem wunderbaren Wiederaufbau des Tempels rechneten.53 Spiritualisierung hebt nach Wenschkewitz auf eine religiös höherstehende Ebene, während Substitution das Fundament des Substituierten, die Tora, im Grund nicht verlässt.54 Die Spiritualisierung der Kulttradition zeige sich im Neuen Testament, im Gegensatz zur Zwischenschaltung der Tora bei den Rabbinen und einer stoischen Philosophie bei Philo, darin, dass Jesus aus seiner Gottunmittelbarkeit ordnend und vermittelnd in das Gottesverhältnis des Glaubenden eingreife. Seine Gottunmittelbarkeit trage seine geläuterte, in ethischem und sittlichem Sinne vertiefte Kultusfrömmigkeit. Es geht um eine Frömmigkeit, die Motive des Kultus – Vermittlung von Gnade – aufnehme und so prinzipiell den alten Kultus überwinde.55 Diese Gottunmittelbarkeit, die ἐξουsία Jesu, sei nicht weiter bestimmbar, äußere sich aber am ursprünglichsten darin, dass Jesus sich und sein Werk in das Licht von Jes 53 stelle.56 Jesus sei im Lichte von Jes 53 zwar kein Opfertier und sein Tod geschehe nicht rituell, aber der Sühnegedanke in seiner Objektivität verbindet Jesus nach Wenschkewitz mit dem Opferkult im Jerusalemer Tempel.57

Religionsgeschichtlich bzw. im engeren Sinne historisch untermauert Wenschkewitz diese These nicht. Jesu Beziehung zum Kult bleibt einerseits etwas Singuläres, entspricht aber anderseits dem Trend der Spätantike. Es geht um das Bemühen um Sittlichkeit und um eine von äußerlicher Ritualität befreiten Geistigkeit.58

Sah Jeremias den Zweck der Rezeption von Motiven der Kulttheologie in dem Anspruch, mit der Opferstätte Jesu nun den Himmel und Erde verbindenden kosmischen Knotenpunkt zu verwalten, stützt sich Wenschkewitz auf den geistesgeschichtlichen Trend der Spätantike, den kultischen Vollzug zu spiritualisieren. Das Kultverständnis des Neuen Testaments partizipiere daran.

Einen nochmals anderen methodischen Einsatz wählt E.O. James.59 Er arbeitet mit dem orientalischen ‚cult-pattern‘ der nordischen Schule, welches um die Figur des Königs als Mittler zwischen Gottheit und Menschheit kreist und in seinem Tod und Auferstehen rituell-magische Mitbegründung kosmischer Ordnung findet. “Thus, the dead and resurrection drama in its crudest form was a mystery play on the theme ‘Out with famine, in with health and wealth’, in which the king, or his heavenly counterpart, was the principal actor, and the story of creation was re-enacted as part of the ritual struggle.”60 Da das Judentum den unmittelbaren Hintergrund für das NT abgebe, seien die im nachexilischen Judentum mit der Figur des Königs verbundenen kultisch-kosmischen Traditionen für das Verständnis der neutestamentlichen Christologie heranzuziehen.61 Nachdem die Hoffnung auf die davidische Lösung sich mit der kultischen Restituierung nach dem Exil als unmöglich erwiesen habe, schaute man auf eine direkte Intervention vom Himmel, die sich in der makkabäischen Zeit in der Figur des Menschensohnes als des Urmenschen, darin alte Königsmythologie aufnehmend, verdichtet habe.62 Jesus setze mit dem anderen im Judentum nach dem alten cult-pattern entworfenen idealen Königsbild ein, dem deuterojesajanischen Gottesknecht.63 Er verbinde seine gegenwärtige königlich-kultische Opfer-Erniedrigung mit seiner zukünftigen himmlischen Erhöhung als Menschensohn.64 Die christliche Heidenmission stoße sofort auf andere Ausläufer des alten hero-pattern und ersetze die älteste Ebed-Menschensohn-Christologie durch den Kyrios-Begriff.65 James lenkt damit den Blick der kultgeschichtlichen Betrachtung des NT weg vom Fixpunkt der älteren Forschung in den hellenistischen Mysterien. Wie das palästinische Judenchristentum diese alte Jesustradition kultisch genutzt haben soll, kann man nur spekulativ folgern.66

 

Religionsgeschichtlich einen ähnlichen Weg wie James geht Arvedson.67 Die altorientalische kultische Gattung des Dankopfers (תודה) findet er auch im AT, vor allem jedoch in den hellenistischen Mysterien, die die älteren Vegetationsmythen des Ostens aufnähmen und die kultischen Ausdrucksformen des Ostens übernähmen.68 Die ältere kultisch-räumliche Dialektik von Leben und Tod schlüge in den Mysterien um in eine gnostische von himmlischer und irdischer Existenz.69 Da die Jesus-Tradition sich in Mt 11,25-30 formgeschichtlich an die Todah-Gattung anlehne, spreche Jesus im ersten Teil zwar scheinbar von seiner Würde analog der eines altorientalischen Königs; da er im Folgenden aber die Umsetzung der königlichen Inthronisation – ein angeblich klassischer Fall für die Darbringung einer Todah – in die Selbstverkündigung eines hellenistischen Mystagogen voraussetze, sei der ganze Zusammenhang Mt 11,25-30 als Liturgie eines hellenistischen Mysteriums der Inthronisation des erlösten und erlösenden Offenbarers zu verstehen.70

Den Fortschritt zu einer auch traditionsgeschichtlich abgesicherten, nicht nur religionsgeschichtlich konstruierten Einbindung des Neuen Testaments und der Jesustradition in die alttestamentlich-jüdische Kultgeschichte zeigen die Arbeiten von H. Gese. Wegen der starken Berührung mit Thesen von Arvedson fügen wir hier den Hinweis auf Geses grundlegenden Aufsatz über „Ps 22 und das Neue Testament“71 ein. Auch Gese rechnet mit einer kultgeschichtlichen Kontinuität zwischen Altem und Neuem Testament, insofern Jesus und der palästinischen Gemeinde Kultbräuche des zweiten Tempels selbstverständlich bekannt waren. Jesus deutete seinen ihm bevorstehenden Tod im Rahmen der Feier einer Todah, eines Dankopfers, und stiftete in diesem Rahmen das Abendmahl.

Wenn Gese das urchristliche Abendmahl kultgeschichtlich an die Todah anbindet und dann methodisch ein ‚kultätiologischer‘ Übergang zum Leben des Irdischen erschlossen wird, so ist von vornherein eine erst hellenistische Entstehung des Abendmahls und eine Deutung im Sinne der Mysterien ausgeschlossen.

Vom Alten Testament herkommend, bedarf es weder der schwer zu beweisenden ursprünglichen Identität des Herrenmahls mit dem Passa noch der Annahme, dass die vorpaulinische hellenistische Gemeinde das wesentliche, schöpferische Element der neutestamentlichen Traditionsbildung darstelle. Vielmehr musste nach alttestamentlichen Maßstäben auf die Erfahrung der Auferstehung hin notwendig die Feier der Todah vollzogen werden, ja, die Verkündigung der Auferstehung kann vollständig, d. h. als Erfahrung der Auferstehung, nur in dem Todah-Mahl vollzogen werden.72

Die Feier der Auferstehung gemeinsam mit dem Auferstandenen, die Erfahrung ihrer Wirklichkeit, vollzieht sich also nicht im Rahmen einer hellenistischen Kultmystik, sondern ist Kennzeichen alttestamentlich-jüdischen Verständnisses von kultisch vermittelter, himmlisch-irdischer Wirklichkeit. Bestimmte Psalmen, so der von Gese untersuchte 22., enthielten geradezu eine apokalyptische Theologie, die vom Einbruch der βασιλεία τοῦ θεοῦ als Errettung vom Tode wisse.73 Diese kult-apokalyptische Theologie einer βασιλεία-Frömmigkeit sei getragen vom Bekenntnis zur Teilhabe am Leben aus den Toten, die herrühre aus der Erfahrung des Einbruchs der βασιλεία aus dem Himmel in die vom Christus neu qualifizierte irdische Wirklichkeit der Gemeinde. Die apokalyptische Eschatologie der urchristlichen Kultgemeinschaft wurzele letztlich in alttestamentlicher Kultspiritualität, welche Jesus in seinem Tod am Kreuz an die Wirklichkeit eschatologischen Lebens aus den Toten gebunden habe. „Derjenige, der diese βασιλεία in seinem Leben verkündet hat, führt sie in seinem Tod herbei …“74

Wir stoßen auf den Versuch, Kultus und Eschatologie, ja Kultus und Apokalyptik, Erwartung eschatologischen und Erfahrung himmlischen Lebens als Einheit zu sehen. Die Differenzierungen der älteren Forschung zwischen Eschatologie und Kultus und die daraus resultierende Konstruktion eines doppelten Ansatzes werden hier grundsätzlich in Frage gestellt.

Ganz deutlich ist auch, dass in dieser von Gese beschriebenen kultischen βασιλεία-Verkündigung und -Erfahrung ein raum-zeitliches Konzept von Eschatologie entsteht: Sie ist himmlische Größe, deren kultische Vermittlung zugleich auf die eschatologische Totenauferstehung verweist.

Da nach Gese Jesus das Abendmahl als Erfahrungsrahmen und Vermittlung der Realität seiner Auferstehung gestiftet hat, wird von diesem kultgeschichtlichen Ansatz her ein Zugang zum Zentrum der Jesustradition sichtbar. Die βασιλεία-Verkündigung Jesu bildet gleichsam die Konstante in der Traditionsgeschichte; Jesus selbst rezipiert die kultisch-apokalyptische βασιλεία-Theologie der Psalmen und gibt sie seiner Gemeinde in der eschatologisch realisierten Form einer Feier seines Todes und seiner Auferstehung weiter.

In seiner auf akademische Vorträge in Schweden zurückgehenden Untersuchung ‚Kultus und Evangelium‘ legt E. Lohmeyer 1942 eine Programmschrift vor, die konsequent auf die Bedeutung der Kulttheologie des 2. Tempels für das Verständnis der Jesustradition hinweist.75 Lohmeyer geht aus von einem damals in Deutschland nicht häufig anzutreffenden, in der nordischen Schule entwickelten, positiven Kultusbegriff. Kultus gründe auf Offenbarung Gottes76, er sei Gnadeninstitution77, durch die sich Gott binde, eine Ordnung der Entsühnung und Neuschaffung78; wie Jeremias weist Lohmeyer dem Kultus eine Kosmos und Geschichte ordnende Funktion zu. In ihm laufen Protologie und Eschatologie zusammen;79 der Kultus als Tat Gottes am Menschen eröffne eine Spannung zur Lebenserfahrung des Einzelnen und zur Geschichtserfahrung Israels und treibe so die Geschichte in die Perspektive der eschatologischen Verwirklichung einer Befreiung von Sünde, Tod und Teufel.80 Lohmeyer stößt zu der forschungsgeschichtlich bemerkenswerten These vor, dass aus dem Kultus die Apokalyptik erwachse.81 Der Kult als Gnadenordnung und Zentrum der Geschichtsvermittlung stehe über dem Gesetz, welches ihm nur zudiene.82 Das „Spätjudentum“ sei nicht so sehr Religion des Gesetzes als vielmehr Religion des Kultes.83 Der Kultus erschließe Israel eine gegenwärtige, lebendige Beziehung zum Vater im Himmel,84 ja gewähre Gemeinschaft mit der himmlischen Gemeinde.85

Lohmeyer bringt zum Ausdruck, dass kultische Heiligkeit und sittliche Vollkommenheit nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern im Kultus immer auf einander bezogen sind. Es bleibe darin aber eine Spannung, in der der Kultus auf die eschatologische Neuschöpfung weise.86 Die ältere prophetische Kultkritik habe auch nicht auf sich selbst gestanden, sondern komme aus der eschatologischen Perspektive, in der der Kultus selbst seine Vollendung schaue.87 Z. Zt. des Neuen Testaments seien alle religiösen Bewegungen aus dem Kult selbst kommende Beerbungs- und Umsetzungsversuche.88 Lohmeyer macht vor diesem Hintergrund Ernst mit der alten exegetischen Beobachtung, dass die Aussage von Gottes Königtum eine kultische Tradition sei: Der Reich-Gottes-Begriff in Jesu Verkündigung ziele auf das himmlische Haus Gottes.89 Die christlichen Sakramente seien eschatologische ‚Aufhebungen‘ der Opfer, insofern sie eschatologisch wirksam von den zuvor kultisch angegangenen Negativ-Größen Sünde, Tod und Teufel befreiten.90 Lohmeyer kommt vor diesem Hintergrund zu einem stark hochpriesterliche Züge tragenden Jesusbild,91 wie wir unten entfalten werden.

Hier bleibt festzuhalten, dass Lohmeyer eine Programmschrift vorgelegt hat, die er leider selbst nicht mehr hat ausgestalten können. Er weist den Weg für eine konsequente kultgeschichtliche Betrachtung des NT – ja bereits der Jesustradition – vor dem Hintergrund der Kulttheologie des Alten Testaments und des Judentums. Lohmeyers These vom Kultus als Grundlage für die Ausbildung spezifischer Traditionen hat durch die spätere Entdeckung der Qumran-Texte eine grundsätzliche Bestätigung erfahren.

Noch vor der beginnenden Auswertung der Qumrantexte kam G. von Rad in einer Untersuchung zu ‚Gerechtigkeit und Leben in den Psalmen‘92 im Anschluss an Mowinckels kultgeschichtlicher Betrachtung der Psalmen93 zur Erhebung einer bestimmten Kultspiritualität. Der Kultus in Israel sei eingespannt in ein vertikal ausgerichtetes Weltbild, welches von dem der grundsätzlich geschichtlich denkenden Propheten letztlich unaufhebbar verschieden sei.94 ‚Leben‘ und ‚Tod‘ treten danach im kultisch erschlossenen Dasein als gegensätzliche Mächte auf, so dass gleichsam Scheol und Himmel im Griff nach dem Menschen sich gegenüberstehen.95 Der Kultus spreche in diesem Welt- und Daseinsgefüge Leben zu und dränge Scheol-Kräfte zurück. Teilhabe am Kultus bedeute deshalb, in der Sphäre himmlischen Lebens zu stehen. Zum Kultus gehört also eine von ihm erschlossene Lebensmystik, insofern der Fromme sein Leben unter dem Blick auf die himmlische Herrlichkeit zu führen vermag.96 Gelte dies nur potentiell von jedem Kultteilnehmer,97 so jedenfalls in gesteigertem Maße von dem, der ständig im Bereich des Tempels und seiner Symbolik zu Hause sei: „Die Kenntnis der Form kultischer Rede, das Umgehen mit sakralen Überlieferungen, ihre Bearbeitung und ständige Neugestaltung – das war Sache eines Berufes, einer bestimmten Vollmacht, ja auch eines Handwerks …“98 Die Lebendigkeit des Kultus, so könnte man sagen, hängt davon ab, dass bestimmte Kreise des Kultpersonals die Kulttheologie, die Ausdrucks- und Erlebnisformen des Kultus ständig neu interpretieren und verdichten. Daraus entsteht eine Spiritualisierung, die aus dem Kultbetrieb selbst erwächst. Der Kultus ist damit nach v. Rad grundsätzlich aus sich selbst und um seines zentralen Anliegens willen, die gnädige Gegenwart Gottes und seiner Heilsgüter erfahrbar zu machen, reformierbar, erneuerungsfähig. V. Rad denkt insonderheit an die Leviten, die, vom täglichen Dienstbetrieb des Opfers etwas entfernt, aus ihrer alten Priestertradition um die vertieften Dimensionen der Kultsymbolik wissen.99 Sie kennen das Geheimnis der Gottesschau im Kultus, sie wissen, dass die kultisch gewährte Gemeinschaft mit Gott über den Tod hinausreicht; die Hoffnung auf ein Entrücktwerden im Tod gehöre deshalb zur Kultanthropologie dieser levitischen Spiritualen.100

Der Einfluss der Kulttheologie mit der in ihr ermöglichten räumlich und präsentisch-eschatologisch ausgerichteten Frömmigkeit auf Bereiche des nachbiblischen Judentums wurde unübersehbar mit der Entdeckung der Qumran-Texte. Schon das 19. Jahrhundert entnahm den Darstellungen bei Josephus und Philo, dass es sich bei den Essenern um priesterliche Kreise handeln müsse.101 1955 folgerte L. Rost aus der im AT feststellbaren Gruppenbildung, dass die Gemeinschaft der am Tempel diensttuenden Priester dem inneren Kreis der Qumrangemeinde am ehesten entspreche.102 Den Einfluss der älteren Kulttheologie und ihre Übertragung auf den יחד von Qumran hat dann neben anderen J. Maier untersucht103: Die Qumrangemeinschaft, der יחד, ist der neue Tempel; der kultische Vollzug in vollkommener ritueller Reinheit ermögliche Gemeinschaft mit der himmlischen Gemeinde der Engel und eine starke Betonung der Gegenwart eschatologischen Heils in der Gemeinde.104 Religionsgeschichtlich sieht Maier eine Verbindung von kultisch-räumlich-vertikalem Denken mit dem eschatologischen Geschichtsbild prophetischer Tradition und der eschatologischen Bußbewegung der Makkabäerzeit.105 Allerdings führe die Verbindung zu einer Dominanz des räumlich-kosmologischen Denkens, einer Dominanz, die zur Gnosis hinführen könne, wie in der späteren Merkaba-Mystik des Judentums stärker sichtbar würde.106

Dem kultgeschichtlichen Thema ‚Enderwartung und gegenwärtiges Heil‘ widmete H.-W. Kuhn 1966 eine Monographie.107 Kuhn geht aus von der kultischen Gebundenheit vor allem der Gemeindelieder und der in ihnen präsentisch verstandenen Heilsaussagen: ‚Auferstehung‘, ‚Neuschöpfung‘, ‚Engelgemeinschaft‘, ‚Himmelsaufstieg‘.108 Mit Becker109 konstatiert Kuhn den Einfluss der Kultspiritualisierung in der ‚Mystik‘ bestimmter Psalmen.110 Vermutlich gehöre ein Teil der levitischen Tempelsängerschaft zu den Gründern des יחד.111

In folgendem Zitat kommt die Grundfrage zum Ausdruck, mit der Kuhn auf diesem Hintergrund zu tun hat: „Dass man in den atl. Psalmen noch keine direkte Parallele für den Satz, dass der Fromme schon in den Himmel versetzt ist, findet, liegt daran, dass erst in der Apokalyptik der Himmel in die Spekulationen und Wünsche der Frommen stärker einbezogen wird.“112 In der Anm. zu diesem Satz verweist Kuhn auf Ps 73,24f., wo שמים und ארץ für die Zeit nach dem Tod des Frommen, aber auch für die Gegenwart, so auf einander bezogen werden, dass der Bereich des Himmlischen das Irdische in sich aufnimmt.113 Kuhn hält trotz dieser vorsichtigen Einschränkungen durchgängig und grundlegend an einer Trennung von kultisch-räumlich-präsentischen und apokalyptisch-zukünftig-geschichtlichen Traditionen fest.114 Es handle sich bei ‚Kultus‘ und ‚Apokalyptik‘ um zwei Grundpfeiler der theologischen Struktur in der Gemeindefrömmigkeit Qumrans, die nebeneinander und in Spannung zueinander stünden. Für die Apokalyptik sei die Gegenwart heilsleer, insofern sie das Heil ausschließlich aus der Zukunft erwarte; für die Kultfrömmigkeit sei andererseits die Gegenwart eschatologischen Heils das Betonte.115 Ebenso unterscheidet Kuhn im Offenbarungs- und Wissens-Begriff eine apokalyptische und eine priesterliche Tradition, die eigentlich unvereinbar seien: Während sich in der priesterlichen Tradition aus der Gemeinschaft mit den Himmlischen ein Wissen um gegenwärtig erreichbares himmlisches Heil ergebe, kenne die Apokalyptik gegenwärtige Offenbarung nur als bloßes Wissen um rein zukünftiges Heil, welches gegenwärtige Heilserfahrung keineswegs erschließe.116 Da Eschatologie nach Kuhn im Judentum sonst unter diesem rein zukünftig ausgerichteten Begriff von Apokalyptik bestimmbar werde, ist es für ihn deutlich, dass die Qumran-Eschatologie gegen alle übrige jüdische Eschatologie stehe.117

 

Diese Analyse Kuhns scheint uns schematisch und konstruktiv zu sein.118 Der Apokalyptik-Begriff unter dem Stichwort der ‚heilsleeren Gegenwart‘ stammt nicht aus einem religionsgeschichtlichen, sondern systematisch geforderten Ansatz, der sich stark an Bultmann anlehnt. Hier wird die Apokalyptik als strenge Gesetzesreligion verstanden, in der das Heil nur aus dem Toragehorsam stamme und die Schau zukünftiger Erlösung eine nur über den Toragehorsam mit der Gegenwart vermittelte Kraft habe.119 Apokalyptik ist dann eine Form der jüdischen Religion, welche über die Schranken eines starren Gesetzesbegriffs nicht hinausführe – eine auffällig passende Folie für einen Entwurf der Offenbarung Gottes in Jesus aus souveräner Unmittelbarkeit und jenseits aller Schranken der religionsgeschichtlichen Umwelt. Dass auch Kuhn Jesus in dieser Art versteht, werden wir unten sehen.120 Demgegenüber ist zu betonen, dass gerade in der bei den Qumranfrommen sich findenden Synthese zwischen ‚Kultus‘ und ‚Apokalyptik‘ ein deutlicher Hinweis liegt, dass beide angeblich unvereinbaren Traditionsreihen offenbar doch aufeinander verwiesen.121 Wir sind der Meinung, dass dies nur deshalb möglich war, weil beide Traditionsreihen schon vor der Ausbildung der Qumran-Theologie miteinander in Verbindung standen: Die Apokalyptik setzt den Kultus als Heilsinstitution voraus, und der Kultus hat von Haus aus eine Offenheit zur Erfassung einer der Protologie entsprechenden eschatologischen Perspektive. Apokalyptische Offenbarung führt zu einer Begegnung mit dem Gott, der die Geschichte Israels und des Kosmos in Händen hat; von ihm Offenbarung über die Erhöhung der ‚Heiligen‘ zu erhalten, bedeutet eine schon die Gegenwart bestimmende Heilsaussage. Kuhn scheint für seine Qualifizierung apokalyptischen Offenbarens und Wissens Voraussetzungen hebräischen Denkens außer Acht zu lassen, die er anderorts ausdrücklich namhaft macht122: Hebräisches Denken kenne eigentlich den modernen, linearen Zeitbegriff nicht, sondern verstehe Gegenwart als Raum der Vergegenwärtigung vergangener und zukünftiger Ereignisse. Dass Kuhn dennoch die apokalyptische Offenbarung mit einem rein linearen Zeitbegriff zu verknüpfen sucht,123 entspricht dem Versuch, kultisches Denken vom Entwurf einer eschatologischen Dimension zu trennen und die Enthüllung des Himmlischen als eigentlich nicht im Kultus beheimateten Prozess hinzustellen.124 Dabei scheint uns nach allem, was die Jerusalemer Tempelsymbolik und allgemeiner die altorientalische Kultideologie ausmacht,125 deutlich zu sein, dass ein Himmel und Erde umfassendes, kultisch geordnetes Weltbild entsteht, in dem das Himmlische Raum Gottes und des Heils ist. Da in der biblischen Traditionsbildung auch das geschichtliche Credo im Rahmen kultischer Begehung, ja der geschichtlich verankerte Bundesschluss kultisch vergegenwärtigt wird und die letztlich den Rahmen bestimmenden Sammelwerke P, DtnGW und ChrGW auf kultischer Grundlage entstehen, scheint eine Gegenüberstellung gegensätzlicher Traditionen geschichtlicher und kultischer Prägung zweifelhaft. Angesichts der genannten Verbindungen, ferner der Verwobenheit von Kultus und Eschatologie in der Johannes-Apokalypse,126 in der jüdischen Mystik127 und religionsgeschichtlich entfernteren Analogiebildungen128, stellt sich die Frage, ob nicht zumindest ein Großteil jüdischer Apokalyptik speziell ‚Kultapokalyptik‘ ist, die aus der kultisch erschlossenen Möglichkeit, in das Himmlische vorzustoßen, die Offenbarung über die im Himmel schon vorhandenen eschatologischen Heilsgüter bezieht. Der himmlische Ort, von dem her im Kultus das göttliche Heil irdisch wird, sich inkarniert, ist ja der Ort der Erlösung. Das Himmlische, auf das der Kultus sich bezieht, ist also anscheinend eo ipso Ausdrucksform des eschatologischen Geheimnisses, ja im Himmlischen ist offenbar das eschatologische Geheimnis, welches auf der irdischen Geschichtslinie in der Zukunft liegt, schon präsent.

Kuhn scheint uns den Einfluss der Tempelsymbolik auf Teile des nachbiblischen Judentums überzeugend nachgewiesen zu haben, jedoch mit einem zu engen Apokalyptik-Begriff zu arbeiten. Da Kultfrömmigkeit und apokalyptische Offenbarung auch sonst im Judentum und der weiteren Religionsgeschichte zusammenkommen, erscheint die These einer einmaligen Synthese von Haus aus völlig verschiedener Denkformen unwahrscheinlich.

Man hat den Eindruck, als wirke auch dort, wo die religions- und traditions-geschichtlichen Voraussetzungen für eine Neubestimmung der Größen ‚Kultus‘ und ‚Eschatologie‘ grundsätzlich vorhanden sind, immer noch die ältere Trennung in Begriffsreihen, wie jüdisch-apokalyptisch-geschichtlich und hellenistisch-kultisch-räumlich, nach. Von einem Gegensatz zwischen Theokratie und Eschatologie spricht beispielsweise auch noch O. Plöger: Während die Apokalyptik sich aus der unkultischen Eschatologie der Propheten entwickelt habe, sei die ungeschichtliche Theokratie-Konzeption der Priester in hellenistisches Denken umgeschlagen.129 Systematisch-theologisch verbindet Plöger die eschatologische Erwartung mit der Existenz im Glauben, die Theokratie mit der Existenz der Sicherheit.130

Trotz trefflicher Bemerkungen zur Forschungssituation finden sich auch im TRE-Beitrag von Karlheinz Müller131 u.E. einseitige Zuspitzungen, die so nicht haltbar sind: Das strapazierte Stichwort der ‚heilsleeren Gegenwart‘ klingt nach wie vor an, wenn es heißt, dass Heil in der Apokalyptik nicht mehr als innerweltlich abgesicherte Erinnerung an Vergangenes, sondern ausschließlich aus der Zukunft erwartet werde;132 dass die Apokalyptik „das Grundaxiom der wesentlichen Beziehungslosigkeit zwischen Geschichte und Erlösung“133 vertrete, dass die Mitte der apokalyptischen Überzeugung auf die These einer „… absoluten Übergangslosigkeit zwischen Historie und der Erlösung“134 hinauslaufe; dass die asidäischen Apokalyptiker ein irreparabel gebrochenes Verhältnis zum theokratischen Grundwissen und damit zur alten Tradition geschichtlicher Erwählung haben.135