Unter Ultras

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Zu definieren, was Ultras eigentlich sind, erwies sich als mühseliger als erwartet. So gut wie jedem meiner Gesprächspartner in aller Welt habe ich diese Frage gestellt. Und jeder gab mir eine andere Antwort. Selbst die capos der Ultra-Gruppen stutzten erst einmal, atmeten dann tief durch und quälten sich mit einer Definition ab. Jeder Versuch, die Ultras definieren und verstehen zu wollen, erwies sich als ebenso kompliziert und vielschichtig wie das Land Italien selbst. Für viele Dinge dort gibt es im Grunde keine allgemeingültige Erklärung. So auch nicht für die Ultras.

Der Journalist Pierluigi Spagnolo von der Mailänder Gazzetta dello Sport erklärte: »Die Ultras sind Menschen, die sieben Tage die Woche ihrer Leidenschaft folgen. Das ist eine Rund-um-die-Uhr-Nummer; die Gruppe wird zum Inhalt deines Lebens, zu deiner Struktur, deiner sozialen Welt.« Spagnolo hatte kurz zuvor einen Bestseller zur Geschichte der italienischen Ultras herausgebracht, I ribelli degli stadi (deutsch unter dem Titel Stadionrebellen – eine Geschichte der italienischen Ultrabewegung). Er war als Bari-Fan in der curva großgeworden. Die Fans hatten ihn schon immer mehr interessiert als das eigentliche Spiel, und an einem gewissen Punkt seines Berufslebens reifte in ihm der Entschluss, aus Anlass des 50-jährigen Gründungstages von Milans Fossa dei Leoni die wahre Geschichte der Ultras zu erzählen. Ja, natürlich gab es die Gewalt und später auch die Verbindungen zum organisierten Verbrechen, doch es gab auch den Zusammenhalt, einen Wertekanon und eine gewisse Gleichheit. Die curva war ein klassenloser Ort, wo der Kellner neben dem Anwalt stand, und sie war durch und durch nonkonformistisch. Die Geschichte jener 50 Jahre war zugleich eine Geschichte Italiens.

Eine Schwierigkeit bestand darin, Zugang zur Szene zu finden. Die Ultras verstanden sich als edle Gesetzlose, die außerhalb des Kontrollsystems lebten. Journalisten waren für sie ein Teil dieses Systems, und sie behaupteten, diese würden sie auf negative und unfaire Weise darstellen, einerseits, um die Gewalt aufzubauschen (und damit Zeitungen zu verkaufen oder Klicks zu generieren), andererseits, um ein System aufrechtzuerhalten, dem sie letztlich verpflichtet waren. Das führte nicht selten zu inneren Konflikten bei Pressevertretern, die sich wie Spagnolo in der curva die Hörner abgestoßen hatten, doch inzwischen bei einer Zeitung arbeiteten. Sobald sie erst einmal auf der Pressetribüne im schickeren Teil des Stadions saßen, waren sie keine Ultras mehr. Journalisten wurden genauso als Feinde angesehen wie Polizisten. Doch eben das provozierte laut Spagnolo eine einseitige Berichterstattung, die sich ausschließlich auf die schlimmsten Aspekte der italienischen Ultra-Kultur stürzte. Die Journalisten tauchten nur auf, wenn es einen Toten gab, ohne jedes tiefere Verständnis der Szene.

Glücklicherweise bekam ich Unterstützung. Wie Spagnolo war auch Martino Simcik Arese als Heranwachsender mehr von dem Geschehen in der curva als dem auf dem Platz in den Bann geschlagen worden. Der junge Italo-Amerikaner hatte in seinen Zwanzigern als Reporter für den YouTube-Kanal Copa90 gearbeitet. Angesichts seiner römischen Wurzeln war er gewissermaßen zwangsläufig von der italienischen Ultra-Szene angezogen worden und hatte sie dokumentiert und ihr Evangelium in die Welt getragen. Das war nicht immer ganz einfach gewesen angesichts eines komplizierten Geflechts aus Werten, Rivalitäten und gelegentlich unergründlichen Feindschaften, das kaum zu durchdringen war. Im Italienischen sprechen die Ultras von »gemellaggi« (»Partnerschaften«), als deren Anfänge die losen Bündnisse von Gruppen mit ähnlichen politischen Ansichten zu sehen sind. International spricht man heute allgemeiner von »Freundschaften«, wenn sich Ultras mit gleicher Weltanschauung oder schlicht den gleichen Farben verbünden. Im Regelfall übernimmt man bei diesen Freundschaften auch die Feinde seiner Freunde und die Freunde seiner Freunde. Diesen Aspekt der Ultra-Bewegung erhellte der italienische Soziologe Antonio Roversi bereits 1991 mit dem anthropologischen Konzept des Beduinensyndroms.62

Gelegentlich steht am Beginn einer Freundschaft zweier Gruppen auch eine besonders geschätzte Geste oder eine Tragödie. Die vermutlich engste Freundschaft der europäischen Ultra-Szene zwischen Hajduk Splits Torcida und den geheimnisumwitterten No Name Boys bei Benfica nahm ihren Anfang, als 1994 drei der No Name Boys auf dem Rückweg aus Split von einem Unentschieden in der Champions League bei einem Autounfall das Leben verloren. Zum Rückspiel in Lissabon erschien die Torcida mit Blumen. Diese Geste blieb unvergessen. Als 25 Jahre danach Dinamo Zagreb bei Benfica antreten musste, machte sich auch die Torcida auf den Weg. Die Menge bereitete Dinamo einen derart feindseligen Empfang, als wäre es für Benfica gegen den Erzrivalen Sporting Lissabon gegangen. Der Feind meines Freundes ist auch mein Feind.

Die Ursachen der extremen Rivalität einiger italienischer Teams reichen teils vor die Staatsgründung im sogenannten risorgimento 1871 zurück (diesen Begriff der »Wiedergeburt« sollten ein halbes Jahrhundert darauf Mussolini und sein faschistisches Regime für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren). Der Fußball, oder besser gesagt dessen von den Briten kodifizierte Version, gelangte erst 16 Jahre nach der Staatsgründung nach Italien, zunächst nach Turin und dann nach Genua, wo 1893 mit dem Genoa Cricket and Football Club der älteste noch existierende Verein Italiens gegründet wurde. Die italienische Halbinsel hatte vor der Einigung einem Flickenteppich sich bekriegender Stadtstaaten und Regionen geglichen, die teils jahrhundertelang von verschiedenen ausländischen Reichen besetzt gewesen waren, und auch wenn durch den Einigungsprozess ein italienischer Staat entstanden war, hatte dieser weiterhin keine gemeinsame Identität oder auch nur eine Sprache, die überall verstanden worden wäre. Von Massimo d’Azeglio, neben Giuseppe Mazzini und Giuseppe Garibaldi einer der Vorkämpfer der italienischen Einheit, ist der berühmte Ausspruch überliefert: »Italien haben wir geschaffen. Jetzt müssen wir die Italiener schaffen.«

Das führte dazu, dass die meisten Italiener sich eher mit ihrer Stadt oder ihrer Region identifizierten als mit Rom, ein Phänomen, das als campanilismo bekannt ist, abgeleitet vom italienischen Wort für »Kirchturm«, da im Zentrum jeder Stadt die Kirche steht. Bis heute zeigen sich die Unterschiede zwischen den »Kirchtürmen« in den diversen Regionalküchen und den höchst unterschiedlichen Dialekten und Sprachen, die Martino zufolge »beinahe so weit voneinander abweichen wie das Walisische und das Englische«. So weist etwas das Sizilianische aufgrund von 400 Jahren arabischer Herrschaft nach wie vor viele arabische Einsprengsel auf. »Heute zeigt sich der campanilismo am deutlichsten in den Fußballstadien. Das verleiht den Spannungen im italienischen Fußball selbstverständlich eine besondere Note.«

Mailand, wo der Journalist Spagnolo inzwischen lebt und arbeitet, war maßgeblich an der Entwicklung der Ultra-Bewegung beteiligt, und das nicht nur, weil dort 1968 die erste bekannte Gruppierung gegründet wurde. Im Jahr 1960 kam der berühmte argentinische Trainer Helenio Herrera zu Inter Mailand in die Serie A und revolutionierte das Spiel. Zwar war er nicht der Erfinder des Catenaccio-Stils mit einer festen Verteidigerkette und dem Libero als Ausputzer dahinter, doch er setzte ihn am erfolgreichsten ein und gewann mit den Nerazzurri zweimal in Folge den Europapokal und drei Scudetti. Herrera galt als schroffer, pragmatischer Trainer, aber auch als Visionär. Er führte Ernährungspläne ein, verbot seinen Spielern das Rauchen und Trinken und bezog erstmals psychologische Aspekte bei der Vorbereitung seiner Mannschaft ein. Er suchte derart besessen nach dem winzigsten Vorteil, dass er sich schließlich auch an die curva wandte. Der in Argentinien geborene Herrera war in den 1950er-Jahren als erfolgreicher Coach in Spanien tätig gewesen, wo er in La Liga das unorganisierte, jedoch lautstarke Publikum erlebt hatte. Und nun wollte Herrera den »Zwölften Mann« im Stadion für seine Zwecke einsetzen. Also stellte Inter-Präsident Angelo Moratti auf Herreras Drängen die Mittel zur Gründung der organisierten Fangruppe I Moschettieri (»Die Musketiere«) zur Verfügung, die das Team zu den Auswärtsspielen begleitete und zum Vorläufer der nachfolgenden Ultras werden sollte.63 Ende der 1960er-Jahre entstanden die Boys S.A.N. (Squadre d’Azione Nerazzurre), eine rechtsgerichtete Ultra-Gruppierung, die seither die curva nord des San Siro beherrscht.

Andernorts in Italien dominierte in der curva jeweils dieselbe politische Farbe wie in der Stadt oder der Region. Bologna war lange eine Festung der italienischen Kommunisten von der PCI. Ebenso Livorno – wenig erstaunlich, da die Partei hier 1921 gegründet worden war. Die politischen Einstellungen der curve wandelten sich, so wie auch die Gesellschaft sich wandelte. Als die Linke allmählich an politischem Einfluss verlor, verschwanden auch immer mehr linksgerichtete Ultra-Gruppen. Durch den Generationenwechsel, die Absetzung von capos oder die Auflösung von Gruppen erlebte die Ultra-Szene eine hohe Fluktuation. Spagnolo erklärte: »In den 1960er- und 1970er-Jahren fühlte die Jugend sich zur radikalen Linken hingezogen. Heute dagegen zur radikalen Rechten.«

Die Zahl der Ultras explodierte in den 1980er- und 1990er-Jahren, zugleich kam es zu einem Generationenwechsel. Die neue Generation war jung und unzufrieden. Die beschränkte städtische und kulturelle Identität rückte noch stärker in den Vordergrund und damit auch die Vorstellung, »sein« Revier verteidigen zu müssen – eine Überzeugung, die eher zu einer faschistischen Weltsicht als zu der Idee einer internationalen sozialistischen Bruderschaft passt. Der Rassismus griff um sich. Als Vorbild diente nicht länger »der großstädtische Straßenguerillero, sondern Alex, der junge fiese Schläger aus A Clockwork Orange, dessen Bild nun in einigen curve auftauchte und das Che-Guevara-Porträt verdrängte«, stellten Carlo Balestri und Carlo Podaliri in ihrem einflussreichen Aufsatz »Razzismo e cultura del calcio in Italia« von 1996 fest. »Die neuen Gruppierungen waren das Ergebnis einer Zeit, in der Hedonismus und Exhibitionismus sowie Gleichgültigkeit gegenüber politischem und gesellschaftlichem Engagement herrschten. Stilistisch orientierten sich zahlreiche neue ›Ultra‹-Mitglieder an einem überwiegend chauvinistischen, gewalttätigen und intoleranten Modell.«64

 

Die Szene fasste in sämtlichen Winkeln Italiens und schließlich auch jenseits der Landesgrenzen Fuß. Die aufwändige Kunst der coreografia wurde im Ausland ebenso kopiert wie der corteo (»Umzug«), bei dem die Ultras als Demonstration der Stärke mit ihren Bannern und Fahnen zum Stadion ziehen. Diese Symbole der Gruppe versuchten wiederum die gegnerischen Ultras zu stehlen, um sie anschließend als ultimative Demütigung verkehrt herum in ihren Blöcken zu präsentieren. Die Botschaften auf den Bannern richteten sich an den Gegner und die Welt im Allgemeinen, mit Ehrungen gefallener Ultras, Gedichten, Solidaritätsadressen und gelegentlich auch Bekundungen der Wut und Unzufriedenheit mit der Klubführung und der Welt im Allgemeinen. Die Ultras wurden zu einer Macht in ihren Klubs, nahmen Einfluss auf die Vereinspolitik und verhinderten ungewollte Transfers. Sie stellten sich gegen jede Form des calcio moderno (»modernen Fußballs«) und beschworen eine mehr oder weniger mythisch verbrämte Vergangenheit, in der die Schönheit des Spiels noch nicht vom Geld korrumpiert gewesen sei. Die Vereinsführungen begannen, sie zu bestechen, zunächst mit Freikarten, dann mit einer Reihe anderer Vergünstigungen wie etwa Jobs (insbesondere als Ordner bei den Spielen) oder Zugangsprivilegien. Die Ultras wussten genauso wie das Management, dass sie für das Produkt und die Show unverzichtbar waren. Die Gewalt war ein hingenommenes Nebenprodukt des Deals. Spagnolo sagte: »Das ist eine Subkultur, die sich zu verteidigen weiß. Sonst würde sie einfach hinweggefegt.«

Bis Ende der 1990er-Jahre war der Feind klar. Die gegnerische curva. Der fremde Kirchturm. Doch das änderte sich 2001 in Genua. Die Stadt hat offenkundig eine unverhältnismäßige Rolle gespielt bei der Entwicklung der Fußballkultur in Italien, aber auch anderswo, wie das Beispiel Argentinien gezeigt hat. Im Hafen von Genua waren auch einst die britischen Seeleute, die den Sport nach Italien gebracht haben, an Land gegangen, wenngleich die ersten Fußballvereine des Landes in Turin gegründet worden waren.

Im Juli 2001 erschütterten heftige Proteste gegen den G8-Gipfel die Stadt. Die Gipfeltreffen waren zum Brennpunkt globalisierungskritischer Demonstrationen geworden, und 200.000 Teilnehmer überfluteten die Stadt. Als einige der Protestaktionen aus dem Ruder liefen, schlugen die Polizisten wahllos auf Demonstranten ein. Zu einem besonders brutalen Zwischenfall kam es, als 150 Polizisten in die Diaz-Pertini-Schule eindrangen und unter faschistischen und Mussolini verherrlichenden Parolen friedliche, großenteils schlafende Demonstranten zusammenschlugen, Männer wie Frauen, Alte wie Junge.65 Einen Tag zuvor war der 23-jährige Demonstrant Carlo Giuliani von der Polizei erschossen worden. Laut Spagnolo war das ein Schlüsselmoment, der die Stimmung gegen die Polizei kippen ließ. »Bis dahin ging man nicht ins Stadion, um sich mit der Polizei zu prügeln. Das begann mehr oder weniger erst mit dem G8 in Genua, als die Polizei ihre hässliche Fratze zeigte.« Wenn er nun in seine süditalienische Heimat zurückkehrte, sah er weit mehr Lecce-Fans mit »All Cops Are Bastards«-Stickern als mit Hassbotschaften gegen den Erzrivalen Bari.

Drei Jahre darauf, 2004, wurde das Derby Roma gegen Lazio abgebrochen, nachdem unter den Zuschauern das (falsche) Gerücht die Runde gemacht hatte, vor dem Stadio Olimpico sei ein Kind von einem Polizeibus überfahren und getötet worden. Drei capotifosi der Roma enterten in der zweiten Halbzeit das Spielfeld und setzten ihrem Kapitän Francesco Totti auseinander, dass das Spiel nicht weitergehen könne. Und das tat es auch nicht.66 Vor dem Stadion kam es anschließend zu Gewaltausbrüchen der Ultras beider Vereine. Nicht gegeneinander, sondern gegen die Polizei. 150 Polizisten wurden verletzt. Im Jahr 2007 heizten zwei Todesfälle und die gegensätzlichen Reaktionen darauf den Konflikt weiter an. Im Februar starb auf Sizilien der Polizist Filippo Raciti bei Zusammenstößen der Ultras von Catania und Palermo.67 Sein Tod sorgte für einen Aufschrei, und sämtliche Partien der Liga und der Nationalmannschaft wurden ausgesetzt. Racitis Tod führte zu einem harten Durchgreifen gegen die Ultras. Mit dem 2005 ursprünglich gegen den Terrorismus verabschiedeten Pisanu-Gesetz68 wurde ihre Macht beschränkt, außerdem wurde nach dem Todesfall mit der Tessera del Tifoso eine Art Fanausweis eingeführt. Die meisten Ultra-Gruppierungen boykottierten die Tessera und durften deswegen nicht mehr zu Auswärtsspielen fahren. Im November desselben Jahres kam es dann zu einem weiteren Todesfall. Gabriele Sandri, Mitglied von Lazios Irriducibili, wurde von einem Polizisten erschossen, nachdem es auf einer Raststätte an der Autobahn nach Mailand zu einer Auseinandersetzung zwischen Ultras von Juventus und Lazio gekommen war. Ein Polizist gab einen Warnschuss in die Luft ab und traf mit einem weiteren Schuss das Auto mit Sandri darin (Letzteres, so behauptete er, versehentlich, nachdem er gestolpert sei). Doch an jenem Wochenende wurden die Spiele der Serie A nicht abgesagt. Daraufhin taten sich in ganz Italien die Ultras zusammen und kämpften gegen den gemeinsamen Feind. Lazios Spiel gegen Inter wurde verschoben, und die Partie Atalanta gegen Milan musste nach sieben Minuten abgebrochen werden, als die Ultras der Curva Nord 1907 versuchten, die Plexiglasscheibe zum Spielfeld hin zu durchbrechen.69

Die drei Ereignisse – und die unterschiedlichen Reaktionen auf den Tod von Raciti und Sandri – führten laut Spagnolo zu einer »Triangulierung des Konflikts«. Zum Hauptfeind war der Staat mit seinen erlebten Repressionswerkzeugen geworden, verkörpert durch die Polizei. Spagnolo erklärte: »Raciti stirbt, und sie unterbrechen die Liga. Sandri, ein Fußballfan, stirbt, und sie lassen weiterspielen. Das wurde zu einem Symbol: ›Eure Toten sind wertvoller als unsere. Der Krieg hat begonnen.‹«

Die Arme von Gianvittori de Gennaro waren von Roma-Tattoos übersät. Eines zeigte eine Figur des Tischfußballspiels Subbuteo im giallorosso der Roma, ein anderes Agostino di Bartolomei, den verehrten früheren Roma-Kapitän. Di Bartolomei war gebürtiger Römer gewesen, ein Liebling der curva sud und das Herz der Mannschaft, die 1984 das Endspiel im Pokal der Landesmeister erreicht hatte, in dem sie Liverpool unterlegen war. Die Niederlage im Stadio Olimpico konnte er nie vollständig überwinden. Zur folgenden Saison wechselte er zu Milan. Die Ultras waren über den Transfer aufgebracht und zeigten das mit einem riesigen Spruchband: »Ti hanno tolto La Roma ma non la tua curva« – »Sie haben dir deine Roma genommen, aber nicht deine Kurve.«70 Am 30. Mai 1994, dem zehnten Jahrestag des Endspiels, schoss di Bartolomei sich ins Herz. Gianvittorios drittes Tattoo war etwas weniger makaber: ein Bild von Andy Capp. »Er ist zu einem Symbol der Ultras geworden, weil er ständig Ärger mit der Polizei hat«, erklärte Gianvittorio, als wir auf der Terrasse eines Cafés in einer belebten römischen Straße die Herbstsonne genossen.

Gianvittorio hatte mehr oder weniger sein gesamtes Erwachsenenleben in der curva sud verbracht. Er war Ultra mit Leib und Seele. Sein Vater hatte Rugby gespielt und Fußball nicht gemocht, also war Gianvittorio mit 13 Jahren allein zu seinem ersten Spiel gegangen und über den Zaun in die curva sud geklettert, an Halloween 1998, beim Spiel Roma gegen Udinese. Von da an war er angefixt gewesen und hatte sich Cor Core Accceso (»Mit flammendem Herzen«) angeschlossen, deren Revier unterhalb der Tore 18 und 19 der curva sud lag. »Einen Ultra erkennt man daran, dass er dem Spielfeld den Rücken zukehrt. Roma hinter mir, Roma vor mir. So sind die Ultras«, erklärte er mir auf die Frage, was es für ihn bedeute, ein Ultra zu sein. »Es bedeutet, dass der Ultra sich umdreht, weil er totales Vertrauen in die Roma hat. Es bedeutet, dafür zu sorgen, dass die Tribüne der Roma zum Sieg verhilft. Es geht immer nur darum, die Mannschaft zu unterstützen. Das Spiel zu analysieren ist unwichtig. Hauptsache, du tust alles dafür, dass AS Roma das bessere Team ist.«

Inzwischen schreibt er für Il Romanista, eine ausschließlich der Roma gewidmete Tageszeitung. Als ich wissen wollte, wie er die Balance halte zwischen seinen Identitäten als Journalist und als Ultra, sagte er: »Unsere Perspektive ist die der Tribüne, insofern sind wir auch ein Sprachrohr für den aktuellen Frust in der italienischen Ultra-Bewegung.« Der Herausgeber von Il Romanista, Tonino Cagnucci, hatte mir gegenüber allerdings bekannt, dass diese Balance unmöglich zu halten sei: »In mir schlägt nach wie vor das Herz eines Ultras, doch als Journalist kannst du keiner mehr sein. Das wäre in etwa so wie ein jüdischer Nazi.« Allerdings beschäftigten sie sich mit wichtigen Themen, die andere Zeitungen ignorierten, den Eintrittspreisen, den Fanausweisen, den absurden Gefängnisstrafen für augenscheinlich mickrige Vergehen. Und nicht zu vergessen, mit den diffide. Gianvittorio erklärte mir, dass sie nicht einfach nur ein Stadionverbot seien. Vielmehr müsse man sich am Spieltag auf einem Polizeirevier melden, und zwar vor dem Spiel und erneut zur Halbzeitpause. Er sprach aus eigener Erfahrung, 2011 war gegen ihn eine diffida verhängt worden. Zwei Jahre lang hatte er nicht ins Stadion gedurft. »Pyro«, meinte er lapidar, als ich ihn nach dem Grund fragte. Ein Freund hatte in der Unterhose ein auf Zigarettenschachtellänge gekürztes Bengalo ins Stadion geschmuggelt. Doch den »Tausenden« Überwachungskameras im Stadio Olimpico war Gianvittorio nicht entkommen.

Die gegenwärtige curva sud hatte ihm zufolge nichts mehr gemein mit der curva sud zu Zeiten des CUCS. Sie sei politisch ebenso zerstritten wie das ganze Land. Die Rechtsextremen, insbesondere die Boys-Ultras, dominierten. Den Gruppen ging es in erster Linie um sich selbst, nicht um Rom. Zudem nahmen ihnen Vorschriften und Gesetze die Luft zum Atmen. Pyrotechnik und Rauchbomben waren verboten. Trommeln und Megafone durften nur mit besonderer Erlaubnis ins Stadion mitgebracht werden. Die Verantwortlichen des italienischen Fußballs und ihre Claqueure bei den großen Zeitungen sprachen vom »englischen Modell« als Vorbild. Doch während einst die Sprechchöre und der Stil der englischen Tribünen die curve geprägt hatten, wollten die Verantwortlichen nun das Vorgehen der britischen Regierung vom Beginn der 1990er-Jahre kopieren und den Fußball gentrifizieren, indem sie reine Sitzplatzstadien und strenge Strafen gegen jeden, der im oder um das Stadion auffiel, einführten.

In England war der Fußball dadurch sicherer und für ein breites Publikum zugänglicher geworden. Doch die alte Tribünenkultur, die sich als ausgesprochen langlebig und bis heute inspirierend erwiesen hatte, gab es nicht mehr. Die Ultras fürchteten, dass es ihnen als Nächstes an den Kragen ginge, sollten sie der Entwicklung nicht einen Schritt voraus bleiben. Auf jeden Fall hatten die Auseinandersetzungen unter den Ultra-Gruppen abgenommen. Gianvittorio bemerkte zur Rivalität von Roma und Lazio: »Ob das Verhältnis sich aus politischen Gründen gewandelt hat, lässt sich nur schwer sagen.« Inter und Milan haben bereits vor längerer Zeit einen »Nichtangriffspakt« geschlossen. Und die Roma- und Lazio-Ultras sind einander politisch sehr viel näher gerückt als früher.

Das Problem war, dass, wenn es zu gewalttätigen Ausschreitungen kam, diese oftmals weitaus extremer ausfielen. Erst kurz zuvor war ein Mitglied seiner Gruppe bewusstlos geschlagen worden und hatte einen Monat im Koma gelegen. Gianvittorio sagte: »Wegen der harten Repressionen treffen die beiden Fanlager kaum noch aufeinander. Daher lässt sich nicht sagen, ob sich ihr Verhältnis entspannt hat, weil sie sich politisch aufeinander zubewegt haben oder weil sie nicht einmal mehr in die Nähe des Stadions gelangen.« Mittlerweile war eher die Polizei der Feind, nicht das gegnerische Team, mit Ausnahme vielleicht von Napoli. »Die letzten Jahre ging es ganz schön zur Sache mit unseren Freunden von Napoli, nachdem dieser Junge aus Neapel die Kugel abgekriegt hat.«

 

»Dieser Junge aus Neapel« war Ciro Esposito, ein 29-jähriger Ultra, der 2014 zum Endspiel der Coppa Italia zwischen Napoli und der Fiorentina nach Rom gekommen war. Vor dem Stadio Olimpico gerieten Roma-Ultras mit ankommenden Napoli-Fans aneinander, und Esposito wurde in die Brust geschossen. Er kam ins Krankenhaus, doch als im Stadion die Nachricht von dem Schuss die Runde machte, drohten Napolis Ultras, den Platz zu stürmen. Erst Napolis Kapitän Marek Hamšík konnte im Gespräch mit den capotifosi weitere Gewalt abwenden. Napoli gewann 3:1, die Fans stürmten im Siegestaumel doch noch den Platz, und Klubbesitzer Aurelio De Laurentiis widmete den Sieg dem angeschossenen Fan. Esposito starb nach 50 Tagen. Der ehemalige Roma-Ultra und »militante Rechtsextreme« Daniele De Santis wurde für den Mord zu 16 Jahren Haft verurteilt.71 Die Schießerei schlug in Neapel enorme Wellen. Der vom lateinischen »exposito« (»ausgesetzt«) abgeleitete Name Esposito ist einer der häufigsten italienischen Familiennamen, zurückzuführen auf die italienischen Waisenhäuser insbesondere in Neapel und Umgebung, wo die Babys diesen Namen erhielten (eine Praxis, die nach der Einigung Italiens verboten wurde). Martino sagte: »Und Ciro ist ein derart beliebter Name, dass im Stadion vermutlich hundert Typen Ciro Esposito hießen. Die gesamte Stadt Neapel hatte das Gefühl, einen Sohn verloren zu haben.«

Auch wenn der Großteil der Ultras es inzwischen auf die Polizei abgesehen hatte, wurde Napoli nach wie vor mit rassistischen Beleidigungen überzogen, ein deutliches Zeichen für die Spaltung zwischen dem wohlhabenden Norden und dem armen Süden des Landes. Ein bekanntes Beispiel hierfür sind Banner, für die Inter Mailand bestraft wurde und die auf einen Choleraausbruch in Neapel 1973 anspielten: »Ciao, Cholerakranke«.72 Das hielt Napolis Ultras fünf Jahre später nicht davon ab, Solidarität mit Milans Ultras zu demonstrieren, als diese für ein ähnliches Schmähbanner bestraft wurden – ein Beispiel für die komplizierte und gelegentlich widersprüchliche Moral der Szene. Als die Milan-Fans ein Stadionverbot von einem Spiel erhielten, präsentierten Napolis Ultras ein Transparent mit der Aufschrift: »Neapel Cholera. Und nun schließt unsere curva!« – eine Verteidigung des Rechts der italienischen Fans einander zu beleidigen. Im Dezember 2018 wurde ein capo der Ultras des unterklassigen Teams aus Varese, die aufgrund ihrer faschistischen Ideologie mit Inter Mailands Ultras befreundet sind, von einem Transporter überfahren, als er vor dem San Siro einen Bus mit Napoli-Fans attackierte.73

Doch Gianvittorio hatte trotz allem nicht seinen Glauben an die Ultras verloren. Ultra-Gruppierungen engagierten sich in unzähligen Sozialprojekten, spendeten Lebensmittel für die Armen, halfen Behinderten und sammelten Geld für die Hinterbliebenen von Ultras, auch wenn die dem feindlichen Lager angehört hatten. Tatsächlich offenbarte sich ihr Wertekodex insbesondere bei Todesfällen und dem Gedenken an Tote. Pierluigi Spagnola, der Gazetta-Redakteur, erklärte: »Wenn (der Rechtsaußen-Politiker Matteo) Salvini sterben würde, sagen wir, er würde von einem Auto überfahren, würde halb Italien eine Party feiern. Als Gabriele Sandri, der bekanntermaßen Mitglied einer rechtsextremen Partei und der Irriducibili war, starb, gedachten auch die [linksradikalen] Livorno-Fans seiner. Die Ultra-Bewegung kann weitaus subtiler und tiefgründiger sein als ihr Image.« Laut Gianvittorio waren die Ultras zudem für das wirtschaftliche Überleben des Fußballs unverzichtbar. »Das Produkt ›italienischer Fußball‹ lässt sich nicht verkaufen, wenn die Stadien leer und tot sind. Sky verwendet die Pyroshows sogar in der Werbung für die Serie A. Die Menschen weltweit wollen die Choreografien und das Feuerwerk sehen, nicht nur das Geschehen auf dem Rasen. Nicht einfach nur 22 Spieler.«

Um das zu bewahren, mussten die Ultras ihre Kräfte bündeln: gegen den calcio moderno, gegen die Autoritäten und vor allem gegen die Polizei. Selbst um den Preis von etwas zuvor Unvorstellbarem, nämlich dass sich die Ultras von Roma und Lazio auf derselben Seite wiederfanden. »Der Feind meines Feindes ist mein Freund, verstehst du?«

Ich befand mich in einem Tätowierstudio in einem vornehmen römischen Viertel. Den Wartebereich dominierte ein riesiges Gemälde von Augustus, dem ersten römischen Kaiser, der in seiner mehr als 40-jährigen Alleinherrschaft jeglichen Widerspruch zum Verstummen gebracht, für Ordnung in der Stadt gesorgt und eine 200-jährige Friedensperiode eingeläutet hatte. Unter dem Bild saßen mehrere junge amerikanische Touristinnen, die lautstark beratschlagten, was sie sich an jenem Morgen stechen lassen sollten. Andrea, der Tätowierer, nickte, als Martino ihm erzählte, wer wir waren und was wir wollten. Er tupfte das Blut und die überflüssige Tinte weg, indes seine Nadel die Haut seines Kunden schwarz färbte. Er konnte nicht vorsichtig genug sein. Als einer der Anführer der Irriducibili, Lazios berühmtester Ultra-Gruppierung, war er es gewohnt, dass sich Außenstehende für ihn interessierten, allerdings wurden diese normalerweise – und zwar mit Nachdruck – abgewehrt. Dabei mochte es sich um andere Ultra-Gruppen, Journalisten, die Polizei oder sogar den italienischen Geheimdienst handeln, der sie nach Überzeugung der Gruppe überwachte. Martino erzählte ihm, wieso wir gekommen waren: um den womöglich berüchtigsten capotifosi Italiens zu treffen.

Fabrizio Piscitelli war bekannter unter seinem Pseudonym Diabolik, den er einer berühmten italienischen Comicfigur entlehnt hatte. In den Comics führt Diabolik ausgeklügelte Raubzüge durch und ist als Meister der Verkleidung den seinen Weg kreuzenden Vertretern von Polizei und organisiertem Verbrechen stets einen Schritt voraus. Fabrizio war wie die übrigen Mitglieder der Irriducibili ein unbelehrbarer Faschist. Nachdem die Gruppe in die curva nord des Stadio Olimpico eingezogen war, hatte sie sich schon bald wegen ihrer Organisation und ihrer Stärke bei Schlägereien mit anderen Ultras einen furchtbaren Ruf erworben und schließlich das Kommando in der curva übernommen. Die Choreografien der Irriducibili waren überwältigend, innovativ und einflussreich. Sie schmückten sich mit den Insignien der faschistischen Vergangenheit Roms, um sich als deren legitime Nachfolger darzustellen, und zitierten etwa Mussolini, das keltische Kreuz und die Fasces (ein Rutenbündel mit Beil, das heute international als Herrschaftssymbol dient und von dem sich die Bezeichnung Faschismus herleitet). Die Gruppierung vertrat offen rassistische und antisemitische Positionen und verfügte über erhebliche Macht im Verein und bei den Spielern. Und der Drahtzieher hinter all dem war Fabrizio gewesen. Er hatte einen millionenschweren Fanartikelhandel aufgebaut und das Business auch auf andere, weniger legale Geschäftsfelder ausgeweitet. Nach seiner Verurteilung 2016 wegen Drogenhandels war er erst seit Kurzem wieder in Freiheit. Der italienische Staat hatte Bargeld und sonstige Vermögenswerte im Gesamtwert von mehr als zwei Millionen Euro beschlagnahmt. Vorläufig war er zurück bei den Irriducibili, allerdings nicht im Stadion. Wie gegen so gut wie jeden italienischen Ultra, mit dem ich mich unterhielt, war auch gegen ihn eine diffida, ein Stadionverbot, verhängt worden.

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