Unter Ultras

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Pepes Arbeiten waren weltweit bereits in den Kurven und auf den Rängen der größten Stadien zu sehen gewesen: in Kolumbien und Chile, in Italien bei Napoli, Inter, Lazio, Torino und der Fiorentina, in Spanien bei Barcelona und Atlético Madrid. In Argentinien hatte er für unzählige unvergessliche Momente gesorgt, etwa durch seinen berühmten telon zu Ehren von Sergio Agüero kurz vor dessen Wechsel von Independiente zu Atlético Madrid oder einen telon von 350 Meter Länge, der annähernd das gesamte Racing-Club-Stadion verhüllt hatte. Gerade hatte er mit Saudi-Arabien telefoniert, für das er eine 500-Meter-Flagge schaffen sollte, ein neuer Weltrekord. Begonnen hatte alles 2006, nicht zuletzt dank La Doce. Als Biker hatte Pepe zunächst vor allem Helme und Tanks mit seinen Kunstwerken verziert. Gelegentlich hatte er auch Ladenfassaden bemalt, wenngleich sein Vater seinen künstlerischen Ambitionen kritisch gegenübergestanden hatte. Doch eines Tages war La Doce auf Pepe zugekommen und hatte bei ihm ein Banner mit dem Boca-Trikot und einer Zwölf in einem Kreis in Auftrag gegeben.

Das Werk wurde unter großem Brimborium enthüllt, und Pepe konnte sich vor Anfragen anderer barras nicht mehr retten. Sie alle wollten ebenfalls ihre eigenen unverwechselbaren Fahnen und Banner. Oftmals brachten sie bereits Entwürfe mit, die Pepe anschließend überarbeitete. Er wusste, was funktionierte und was nicht. Laut eigener Auskunft malte er, was seine Auftraggeber wollten. Politische oder religiöse Tabus kannte er nicht. Das berühmte telon für Godoy Cruz beispielsweise enthielt eine Karte der Malvinas (Falklandinseln). Die Arbeit an einem Stück dauerte zwischen fünf und 15 Tagen, nicht selten unter gewissen Sicherheitsvorkehrungen, falls gegnerische barras die Flagge als Machtdemonstration zu stehlen versuchen sollten. Gelegentlich beschützten ihn bei der Arbeit Dutzende Personen des jeweiligen Vereins. »Ich lege all mein Herzblut in die Arbeit. Denn genau das stelle ich dar: das Herzblut der barras.« Bis zu jenem Tag war Pepe noch nie ein Banner gestohlen worden, nicht zuletzt, weil ihm gelingt, was niemand anderem gelingt: zwischen den barras hin und her zu wechseln, ohne dass Rivalitäten oder Stammesdenken ihm in die Quere kommen – allein wegen seiner Arbeit.

Dass Pepe von allen rivalisierenden barras gleichermaßen geschätzt wird, verdankt er in erster Linie dem einzigen Prinzip seiner Arbeit: Er hat noch nie ein Werk geschaffen, das sich gegen irgendjemanden gerichtet hätte. Boca-Fans hatten von ihm Schmähbanner gegen River gewollt, doch »ich male ausschließlich für eine barra, nicht gegen einen anderen Klub«. Ein einziges Mal führte seine Bereitschaft, telones für jeden zu gestalten, dazu, dass sich eine barra von ihm abwandte. Pepe hatte von River Plate den Auftrag für ein riesiges Banner erhalten. Sein Vater, der seiner Kunst stets skeptisch gegenübergestanden hatte, war ein Fan des Vereins gewesen, dennoch hatte Pepe ihm nichts von dem Auftrag erzählt. Sie waren gemeinsam ins Monumental gegangen, wo der Vater miterlebt hatte, wie die Kunst seines Sohnes vor einem frenetischen Publikum entrollt worden war. Kurz darauf war er gestorben, doch nicht ohne verstanden zu haben, wofür sein Sohn lebte. Allerdings hatte das Banner Folgen gehabt. La Doce hatte sich nie wieder bei Pepe gemeldet.

Auf den ersten Blick ergeben die trapos, die telones und die Zettel-Choreos nur wenig Sinn. Es sind hochdekorative, technisch anspruchsvolle und kostspielige Kunstwerke, deren an die eigene Mannschaft oder die Welt gerichtete Botschaft – sei es ein Gedenken, eine Warnung oder auch eine politische Aussage – nur wenige Sekunden zu sehen ist und dann auf immer verschwindet. Häufig werden die Banner im Anschluss verbrannt, damit sie nicht den gegnerischen Fans in die Hände fallen können. Für Pepe jedoch ergibt das alles vollkommen Sinn. Dank der modernen Technik und den sozialen Netzwerken werden seine Schöpfungen auf ewig bewahrt. Vor allem jedoch drücken sich in ihnen Stolz und Support aus, sodass sie ohnehin stets nur für einen bestimmten Moment und einen engen Kreis gedacht sind. Pepe erklärte: »Ursprünglich sollte die Fahne bei einem Fußballspiel nur die Verbundenheit mit dem eigenen Viertel zeigen. Für mich war das immer so eine heraldische oder mittelalterliche Sache. So etwas wie das eigene Abzeichen auf dem Schlachtfeld.«

»Gibt es noch einen Klub, für den du gern arbeiten würdest?«, fragte ich ihn.

»Nein, da gibt es keinen Klub für mich!«, erwiderte er, und genau so war es. Ihm ging es nicht um Klubs oder Mannschaften. Sondern um Stadien. Er sprach nicht von Real Madrid, sondern vom Bernabeu. Er sprach nicht von der barra des Club América oder den hinchas der mexikanischen Nationalmannschaft. Er sprach von dem Estadio Azteca. »Meine Museen sind die Zäune und Tribünen der Stadien«, stellte er fest. »Der beste Rahmen für meine Kunst sind die besten Stadien. Will man Gemälde und Skulpturen sehen, geht man in ein Museum. Und mein Museum sind die Stadien.«

Mikael gab eine kleine Fahne für Hammarby in Auftrag, bevor Pepe auf den Computer schaute und sah, dass er schon spät dran war. Im Stadion von Vélez Sarsfield wartete ein wichtiger Job auf ihn. Er sprang mit einer Zigarette im Mundwinkel auf seine Harley Davidson und bretterte Richtung Schnellstraße. Fünfzehn Minuten darauf kam er – mit uns im Schlepptau – am Estadio José Amalfitani an. Pedro Paz erwartete uns bereits. Pedro war ein Hüne von einem Mann, mehr als zwei Meter groß und mit schulterlangen dunklen Haaren.

»Jefe Ultra«, begrüßte Pepe ihn. Pedro war der »jefe« oder Boss der barra von Velez Sarsfield, La Pandilla. Der Sicherheitsmann am Stadiontor sprang auf und zückte seine Schlüsselkarte, als er ihn kommen sah. Pedro sagte: »Wir wollen etwas ganz Besonderes für unser Klubheim.« Es ging um ein Wandbild für das Hauptquartier der barra. Freundlich und charismatisch geleitete Pedro uns durch die Klubgeschichte und zeigte uns etwa die Statue des jungen Carlos Bianchi, der als erfolgreicher Torjäger bei dem Klub gespielt und ihn 1994 als Trainer zu den Triumphen in der Copa Libertadores und dem Weltpokal geführt hatte, oder den Pokalraum mit den Trophäen aus Bianchis erfolgreicher Trainerzeit. Alle paar Schritte wurde er wie ein heimgekehrter Held begrüßt. Ältere und jüngere Frauen verließen ihre Schreibtische und Tresen, um ihn zu umarmen. Pedro kannte jede beim Namen. Als wir am Schwimmbad vorbeikamen, das nach dem 2011 verstorbenen ehemaligen barracapo Marcos »Marquitos« Lencina benannt war, scharten sich die Kinder um ihn und hüpften hoch, um ihn abzuklatschen. Er erinnerte an Arnold Schwarzenegger an seinem zweiten Undercover-Tag in Kindergarten Cop.

Bei dieser Gelegenheit sah ich erstmals mit eigenen Augen den Einfluss der barras in den argentinischen Vereinen. Der Ex-Präsident von Vélez, Raul Gamez, hatte zuvor sogar als Anführer der barra wegen polizeifeindlicher Ausschreitungen sechs Monate im Gefängnis gesessen. Anschließend hatte er sich bei den Gremien des Vereins eingeschmeichelt und war letztlich gewählt worden. Doch wie ein Rockabilly-Opa, der über die K-Pop hörende Jugend von heute lamentiert, hatte er zuletzt die nachwachsende Generation der barra kritisch beäugt und erklärt: »Wir sind vor 50 Jahren ›gute Jungs‹ gewesen, als die Gesellschaft noch eine andere war. Damals herrschten noch andere Sitten, und Drogen waren für uns kein Thema.«31 Besonders kritisch sah er die zunehmende Politisierung der barra. Mit der Formulierung »gute Jungs« griff er eine Äußerung der ehemaligen argentinischen Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner auf, die kurz vor dem aus Steuergeldern finanzierten Trip der Anführer der bedeutendsten Gruppierungen zur WM 2010 in Südafrika die barras so genannt hatte. Doch die politischen Beziehungen reichten noch tiefer. Gewerkschaften, Unternehmen und sogar Parteien engagierten die barras häufig für Aktionen gegen ihre jeweiligen Gegner. Gamez sagte: »Die Politiker brauchen [die barras] und setzen sie als gewaltbereite Handlanger ein. Die Vereinsspitzen wollen kein Problem mit den barras, also schließen wir Pakte mit ihnen. Wir haben keine andere Wahl, denn es gibt keine Garantien [für unsere Sicherheit].«32

Pedro erklärte im Dämmerlicht ihrer Turnhalle, was er sich vorstellte: ein wandfüllendes Gemälde zu Ehren seines Vorgängers Marquitos. Auf der gegenüberliegenden Wand trocknete das frische Bild einer Cartoon-Bulldogge. Pedro zückte zur Erklärung sein Handy und spielte ein YouTube-Video ab, auf dem sein Held zu sehen war, der frühere, für seine Freistöße berühmte Vélez-Torwart José Luis Chilavert (Spitzname »El Bulldog«). Chilavert hatte 1996 gegen River Plate einen Freistoß von der Mittellinie verwandelt und 1994 im Finale der Copa Libertadores nicht nur einen Elfmeter gehalten, sondern auch selbst einen versenkt.

Es war Zeit zum Aufbruch. Wir mussten nach Bajo Flores, um Mauro zu treffen, einen der mächtigsten Männer von La Doce. Doch gerade, als wir aufbrechen wollten, klingelte Mikaels Handy. Einer seiner Kontaktmänner, ein Vertrauter von Rafa. Juan, eines der ältesten Mitglieder von La Doce, hatte von dem Treffen erfahren und war misstrauisch geworden. »Er meint, wir sollten nicht hingehen. Es könnte eine Falle sein«, berichtete Mikael ein wenig geknickt. Gegen das Treffen selbst war nichts einzuwenden, doch bei dem Ort, an den Mauro uns bestellt hatte, hatten bei Juan die Alarmglocken geklingelt.

Mikael schrieb seinem Kontakt, dass er Magenprobleme habe.

Juans Büro war ein den Boca Juniors geweihter Tempel. Hinter seinem Schreibtisch befand sich eine chaotische Collage seines Lebens. Ein gerahmtes signiertes Trikot. Fotografien von alten Spielen, Stadien und lange verstorbenen Freunden aus der barra. »Als ich Rafa gestern von eurem Treffen mit Mauro in Baja Flores erzählt habe, hat er gemeint: ›Vorsicht, die werden sie überfallen‹«, berichtete der muskulöse mittelalte Mann mit dem vollen grauen Haar, der womöglich Mikael und mir das Leben gerettet hatte. Sein Handschlag fühlte sich an, als könne er mühelos meine Finger zerquetschen. In der Ecke lehnte eine geladene Schrotflinte, auf dem Regal daneben stand ein von einem Gummiband zusammengehaltenes Patronenbündel. Juan erklärte, dass das ein Geschenk von Aldo Rico sei, einem ehemaligen Offizier, der in den 1980er-Jahren zwei fehlgeschlagene Putschversuche unternommen hatte.

 

»Was genau soll ›überfallen‹ heißen?«, fragte ich.

»Sie können euch zusammenschlagen, sie können alles machen, was sie wollen, denn sie sind wie eine Mafia«, sagte er. »Vielleicht geht ihr ganz nett und höflich dorthin und nichts passiert. Vielleicht aber doch.«

Als einer der La-Doce-Granden kannte Juan Rafa und Mauro seit Jahren. Mit acht Jahren hatte er seinen Vater erstmals in die Bombonera begleitet. Schon beim Betreten des Stadions hatte ihn das Geschehen in der Nordkurve hinter dem Tor – der sogenannten popular – in den Bann gezogen. Das Revier der barra. Sein Vater hatte ihm verboten, dorthin zu gehen. Es sei zu gefährlich. Doch Juan hatte nicht auf ihn gehört. Er hatte sich daheim fortgeschlichen, war heimlich zu den Spielen gegangen und hatte sich der barra angeschlossen. Zu jener Zeit war ein Mann namens Enrique »Quique« Ocampo der Boss von La Doce. Seinen Spitznamen »El Carnicero« (»der Schlachter«) hatte er nicht etwa der Tatsache zu verdanken gehabt, dass er besonders gut Menschen hatte aufschlitzen können. Vielmehr war er tatsächlich Schlachter gewesen. Sein Laden hatte um die Ecke von La Bombonera gelegen. Der Verein hatte ihm Eintrittskarten überlassen, die er weiterverkauft hatte, um die trapos der Truppe zu finanzieren und sich selbst einen kleinen Nebenverdienst zu verschaffen. In dieser Zeit hatte Juan Rafael di Zeo – Rafa – kennengelernt, der schließlich selbst zum Boss von La Doce aufsteigen sollte.

Ocampo blieb mehr oder weniger die gesamten 1970er-Jahre hindurch an der Spitze von La Doce. Zu jener Zeit ging es vor allem darum, das eigene Team zu unterstützen und, natürlich, die gegnerischen Fahnen zu stehlen. Juan sagte: »Ohne La Doce wäre ich nicht zum Boca-Fan geworden. Die Gemeinschaft von Freunden war das Entscheidende. Es war so etwas wie Brauchtum, den Gegnern die Fahnen oder T-Shirts abzunehmen. Damit begann es. Und dann kam immer mehr Gewalt ins Spiel, Ketten, Steine. Die Sache artete aus.« Wieso, das vermochte Juan nicht zu sagen. Möglicherweise wegen der Drogen. Oder weil immer mehr Geld im Spiel war und die Einsätze stiegen. Vielleicht war die Gewalt auch ein Kollateralschaden des Lebens unter einer in den letzten Zügen liegenden Diktatur. Die Regentschaft des Schlachters endete nach der Partie der Boca Juniors gegen Rosario Central 1981. Rosario gewann mit 1:0. Juan konnte sich noch erinnern, dass Maradona einen Elfmeter verschoss. Vor dem Spiel hatte der Schlachter dem krawallbereiten Teil von La Doce erzählt, dass er keine Karten mehr für das Spiel habe. Sie fuhren dennoch nach Rosario und wurden geschlossen verhaftet. Zu jener Zeit tobte der Machtkampf bereits zwei Jahre, doch diese Kränkung durch den Schlachter brachte das Fass zum Überlaufen.

»Wir haben sein Haus in La Boca angezündet«, berichtete Juan. »Daraufhin sagte er: ›Mit so etwas will ich nichts zu tun haben.‹« Der Schlachter zog sich zurück, und eine neue Generation übernahm das Ruder.

Juan holte ein Foto von der Wand. Die Farbaufnahme zeigte eine sehr viel jüngere Version von ihm, den Arm um die Schultern von José Barrita gelegt. Wegen seiner grauen Haare war Barrita gemeinhin nur »El Abuelo« genannt worden, der Großvater. Er war dem Schlachter auf dem Posten des barracapo gefolgt und so etwas wie ein Bohémien gewesen. »In gewisser Hinsicht war José ein Hippie. Er machte sich nichts aus Geld«, sagte Juan. Dem Großvater ging aller Protz ab, und er schien nie Geld in der Tasche zu haben. Er fuhr einen alten verbeulten Ford Falcon Ranchero und lebte für die barra. Ihn reizten das Leben als Außenseiter und das Adrenalin bei Auseinandersetzungen. In seiner Zeit wurden die Weichen für die weitere Entwicklung von La Doce gestellt. Die barra forderte mehr Geld vom Verein. Die Spieler mussten einen Teil ihres Gehalts abführen, damit die barra weiterhin ihre Namen rief. Eine Stiftung wurde gegründet, durch die La Doce ihre Einnahmen laufen lassen konnte. Der Klub wiederum begann, La Doce als seine Augen und Ohren zu nutzen, insbesondere, um seine Stars vor heiklen Situationen zu schützen. Ein berühmtes Beispiel war laut Juan die Ankunft von Maradona und Claudio Caniggia 1995. Beide wollten nach längeren Dopingsperren ihre Karriere wiederbeleben. Maradonas Kokainkonsum hatte ihm bereits bei Napoli eine 15-monatige Sperre eingetragen, bevor er bei der WM 1994 erneut durch einen Dopingtest fiel, diesmal wegen Ephedrin.33 Caniggia genoss einen Ruf als Partylöwe und hatte bei der Roma eine 13-monatige Sperre wegen Kokainmissbrauchs abgesessen.34 Die beiden waren die ersten Neuverpflichtungen unter Macri, der mit seinem Image als zaghafter Playboy kämpfte. Mit den beiden wollte er die Boca-Anhänger für sich gewinnen und für rasche Erfolge sorgen. Doch laut Juan schlugen die beiden Spieler sich die Nächte um die Ohren und fielen anschließend bei vereinsinternen Drogentests durch. Also bat Boca die barra, die beiden zu zähmen. Juan sagte: »Wenn einer von uns Caniggia oder Maradona auf ihrer nächtlichen Tour traf, sollte er sie aufhalten und warnen. Man würde sie schlagen!«

Die 1980er- und 1990er-Jahre waren eine Ära der Gewalt. Juan wurde zweimal angeschossen und viermal niedergestochen. Er holte ein Röntgenbild von der Wand. Es war gemacht worden, nachdem die Kugel eines River-Plate-Fans seine Hüfte zertrümmert hatte und ihm eine künstliche hatte eingesetzt werden müssen. Rafa und sein Bruder Fernando drängten den Großvater hinter den Kulissen angesichts der erwirtschafteten Profite zu einer Professionalisierung. Die beiden wurden immer mächtiger, und das Ende der Amtszeit des Großvaters rückte näher. Als 1994 beim superclásico zwei Anhänger von River Plate erschossen wurden, kam es zu unzähligen Gerichtsverfahren. Dem Großvater konnte nicht nachgewiesen werden, dass er vor Ort gewesen war, doch wegen einer Reihe anderer Anklagepunkte wie etwa Erpressung wurde er schließlich zu neun Jahren Haft verurteilt. Als Rafa den Großvater im Gefängnis besuchte, explodierte der Streit.

»Der Großvater hielt Rafa vor, dass er nur an die Spitze wolle, also dorthin, wo er nun ist«, erklärte Juan. José Barrita starb 2001 an einer Lungenentzündung, 20 Tage nach seiner Entlassung. Rafas La Doce unterschied sich grundlegend von Barritas La Doce. Juan sagte: »Rafa ging es ums Geschäft. Er sah, dass sich mit den barras und der Politik und all dem Geld machen ließ. Macri, unser heutiger Präsident, war zu der Zeit noch Chef von Boca, also haben Rafa und ich ihn aufgesucht und ihn beraten, wie er seine Macht festigen könne und den Klub führen sollte.«

Er erwähnte das so beiläufig, als schildere er ein Treffen in einem Golfklub. Zugleich offenbarte er damit das Geflecht aus Macht, Geld und Einfluss, das zwischen den barras, den Vereinen und der politischen Elite Argentiniens bestand. Mauricio Macri wurde 1995 zum Präsidenten der Boca Juniors gewählt, doch wie Juan unmissverständlich klarmachte, hatte er sich dafür zunächst La Doces Wohlwollen sichern müssen. Ihm zufolge waren die Zahlungen der Politiker die größte Einnahmequelle von La Doce. Im Gegenzug erwarteten die Politiker eine Menge von ihrem, in Juans Worten, »angeheuerten Personal«: Es sollte an Kundgebungen teilnehmen, Protestveranstaltungen auflösen, für bestellte Krawalle sorgen und sie schützen. Wenn der Preis stimmte, ließ sich alles arrangieren. Juan schilderte, wie im Jahr 2003 mehrere Mitglieder der Gruppierung eine Solidaritätsdemonstration für die Arbeiterinnen der Brukman-Fabrik zerschlagen hatten. Fünfzig Frauen hatten die Textilfabrik besetzt und dafür international viel Beifall erhalten.35 Die Aktion hatte nicht mehr als 20.000 Dollar und 20 Pizzen gekostet – und einen Bus, der groß genug war, um alle hin und wieder zurück zu bringen. Juan hielt es sogar für möglich, dass der Zeitpunkt der Aktion den Ausgang der Präsidentschaftswahl 2003 beeinflusst haben könnte. Das nächste Mal würde La Doce sehr viel mehr verlangen.

Und es gab immer ein nächstes Mal. In Juans Augen war Macri nicht anders als jeder andere argentinische Politiker. Selbstverständlich stritt er ab, La Doce jemals unterstützt zu haben. Die Folge »Foreign Fields« der BBC-Reihe Hooligans von 2002 über die Krawallmacher des Fußballs in Großbritannien und anderswo widmete sich ausgiebig La Doce und den argentinischen barras im Vorfeld eines superclásico. Neben Rafa kam auch der noch jüngere, dennoch bereits ergrauende Macri – noch mit Menjou-Bärtchen – zu Wort und erklärte: »Über die Beziehung zwischen Vereinspräsidenten und Hooligans wurde immer schon viel spekuliert. Und es gab Klubpräsidenten, aber auch Politiker, die Hooligans für ihre Zwecke eingespannt haben. Doch es ist ein Teil unserer neuen Politik, jeglichen Kontakt zu diesen Menschen, deren Macht auf Gewalt gründet, abzubrechen.« Er bestritt, La Doce jemals direkt finanziell unterstützt zu haben oder ihnen wissentlich Eintrittskarten überlassen zu haben, die dann mit beträchtlichem Gewinn weiterverkauft wurden. »Vielleicht sollte ich noch einmal auf Englisch wiederholen, was ich schon unzählige Male gesagt habe: Wir geben den Hooligans keine Tickets.«

In Argentinien nahm ihm das niemand ab. Macri ist der Sohn eines der reichsten Geschäftsleute des Landes. Er lebt in einer geschlossenen Wohnanlage und war laut Juan jämmerlich ungeeignet, Kontakt zu Boca Juniors Fanbasis aus der Arbeiterschaft aufzubauen. Juan sagte: »Als ich ihn das erste Mal traf, lebte er in einer Blase, in einem privaten Wohnviertel, in einer anderen Welt. Wir brachten ihm das kleine Einmaleins bei, etwa, dass er seine Bodyguards zuhause lassen sollte. Wir sagten ihm, er solle sich in der popular sehen lassen, nicht in den platea [Logen]. Wir halfen ihm bei seinem Wahlkampf. Er gewann … und wurde zum Hardliner.«

Rafa stand im Zentrum von allem. »Rafa war schon immer verrückt danach, Geld zu verdienen. Er hatte ein gutes Auge für die zukünftigen Entwicklungen und sah, wo überall Geld zu machen war.« Wie viel Geld La Doce tatsächlich umsetzt, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Laut einem Bericht der Zeitung La Nación von 2013 betrugen allein die Einnahmen der trapitos, die die Parkplätze rund um La Bombonera kontrollieren, 300.000 Pesos pro Spieltag.36 (2013 entsprachen 300.000 Pesos noch knapp 60.000 Dollar, doch inzwischen, nach dem Kollaps der argentinischen Währung, nur noch gut 5.000 Dollar.) Der Journalist Gustavo Grabia schätzte, dass die Organisation jeden Monat rund 400.000 Dollar umsetzte.

Juan geht allerdings von einer sehr viel höheren Summe aus. Die Einnahmen aus Tickets, Parkplätzen, Imbissständen und Merchandisingartikeln würden nur den geringsten Teil ausmachen. »Der [Rest] kommt von Politikern und Gewerkschaften, die ›Personal‹ für Demonstrationen oder den Kampf gegen die Polizei anheuern. Und nicht zuletzt von den Narcos.« Ihm zufolge streicht La Doce monatlich im Durchschnitt mindestens drei Millionen Dollar ein, bei gut laufenden Geschäften aber auch oft mehr. »Und das ist noch nichts. Normalerweise sind es immer mehr als drei Millionen im Monat. Nur bei dieser barra. Nur bei Boca. Manchmal sind es sechs, manchmal zehn. Sie können verlangen, was sie wollen. Und kriegen es.«

Um die Jahrtausendwende florierte La Doce und hatte laut Rafa 2.000 Mitglieder. Er zählte die besten argentinischen Spieler zu seinen Freunden, auch Maradona, mit dem er immer wieder fotografiert wurde. Alles geschah in aller Öffentlichkeit. La Doce veranstaltete »Adrenalintouren« für ausländische Touristen – in Gruppen von 40 Teilnehmern –, die es sich einiges kosten ließen, auf der popular von La Bombonera inmitten der Gruppe ein Spiel zu verfolgen.37 La Doces Geschäftsmodell war derart erfolgreich, dass die Gruppe sogar eine Art »Ultra-Universität« für Fans aus aller Welt gründete. Für 5.000 Dollar lernten andere Gruppierungen, ein Business wie La Doces aufzuziehen: vom Ticket-Schwarzhandel über das Verfassen von Tribünengesängen bis zum Herstellen eigener Banner. Am Ende erhielt jeder Teilnehmer eine CD mit Gesängen aus La Bombonera, die anschließend vervielfältigt wurden und in ganz Europa kursierten. In einer Dokumentation des argentinischen Fernsehsenders Canal 9 erklärte Rafa 2006: »La Doce ist wie Harvard, eine Universität, auf der man lernt, wie man eine barra wird.«38 Doch schließlich kamen die Gesetzeshüter auch Rafa bei. 2007 wanderte er wegen der mutmaßlichen Beteiligung an Krawallen ins Gefängnis. Mauro übernahm Teile des Geschäfts, und bei einem Besuch bei Rafa im Gefängnis brach zwischen den beiden offener Streit aus.

 

Als Rafa 2009 entlassen wurde, hatte der Konflikt die Anhängerschaft gespalten. Bei Spielen verteilten sich die beiden Lager häufig auf gegenüberliegende Seiten der Tribüne und überzogen sich gegenseitig mit Schmährufen. Ein Stellvertreterkrieg brach aus, in dem die Unterstützer der beiden für ihren jeweiligen Anführer kämpften und starben. Juan zufolge wurde sogar Mauros Mutter zum Ziel eines Angriffs. Neun Monate darauf wurde Mauros Truppe auf dem Weg nach Rosario in einen Hinterhalt gelockt und ihm selbst in den Magen geschossen. Er überlebte, und so war es letztlich einem Pekinesen vorbehalten, Rafa wieder zum unumstrittenen Boss von La Doce zu machen. Das Hündchen gehörte Ernesto Cirino, und der ließ es vor die Tür seines Nachbarn pinkeln. Leider war dieser der Schwager von Mauros Stellvertreter Maximiliano Mazzaro, den er sogleich anrief. Cirino wurde totgeprügelt, und Mazzaro und Mauro wurden festgenommen.39 Obwohl sie später freigesprochen wurden, kehrte Rafa an die Spitze zurück und die beiden Männer begruben das Kriegsbeil.

Der brüchige Waffenstillstand hatte in der Folge trotz des harten staatlichen Vorgehens gegen die barras gehalten. Im Jahr 2015 war Mauricio Macri zum argentinischen Präsidenten gewählt worden. Er hatte es sich auf die Fahnen geschrieben, die Macht der barras durch eine nach dem Vorbild des FBI neugeschaffene Eliteeinheit gegen Fußballgewalt zu durchbrechen. Rafa war mehr oder weniger aus La Bombonera verbannt worden. Juan holte aus seinem Aktenschrank einen dicken Ordner mit Zeitungsausschnitten und Titelblättern von Zeitschriften der vergangenen Jahrzehnte: Berichte über La Doce, den Großvater und »den Krieg« (zwischen Mauro und Rafa). Das Interessanteste an seiner Sammlung war die Berichterstattung über Rafa. Viele Hochglanzmagazine hievten ihn aufs Cover. Die erste Ausgabe des argentinischen Playboys brachte ein Interview mit ihm: »Unter Männern mit dem Kopf von Bocas Barra«. Auf einem anderen Cover trug Rafa Boxhandschuhe und machte Schattenboxen mit der Kamera. Die Titelzeile lautete: »Botschafter der Angst.« Er wurde wie ein Rockstar behandelt. Juan sagte dazu: »Rafa ist einerseits ausgesprochen beliebt, eine Berühmtheit. Andererseits sehen manche Leute in ihm so etwas wie einen Terroristen. Ihm öffnen sich also viele Türen, aber genauso viele schließen sich auch.« Ich hatte gehofft, ihn nach Bocas anstehendem Spiel zu treffen, doch nach der Episode mit Mauro erschien das kaum wahrscheinlich.

Der Einfluss der barras ist augenscheinlich ein unlösbares Problem. Sie verdienen zu viel Geld und kennen zu viele schmutzige Geheimnisse der Machtelite, wenn nicht sogar der obersten politischen Führungsschicht des Landes. Darüber hinaus werden sie als Volkshelden verehrt, und La Doce ist als ständige und verführerische Macht in La Bombonera allgegenwärtig. Spieler kommen und gehen. Vereinspräsidenten machen Versprechen, brechen sie und verschwinden wieder. Und La Doce? Die Gruppe und ihre Gesänge bleiben. Anscheinend könnten höchstens die barras selbst die barras zu Fall bringen. Juan sagte: »Wir fragen uns selbst die ganze Zeit, was in Zukunft sein wird. Denn auch wenn im Moment alles okay ist, kann schon morgen oder übermorgen alles in Chaos und Schießereien enden.« Er war überzeugt, dass »der Krieg« erneut ausbrechen würde. »Die Lage droht hochzugehen wie eine Granate.«

Das Gruppenspiel gegen Athletico Paranaense aus Brasilien in der Copa Libertadores stand kurz vor dem Anpfiff, und La Bombonera schimmerte blau und goldfarben im Flutlicht. Das Stadion war ausverkauft, wie bei jedem Spiel. 50.000 Zuschauer wurden erwartet. Die Polizei hatte sämtliche Zufahrtswege zum Stadion engmaschig kontrolliert, Straßen abgeriegelt und den Verkehr umgeleitet. Doch im Moment sah es so aus, als würde ich das Spiel verpassen. Ein Ticket für ein Boca-Spiel zu ergattern war kompliziert. La Doce kontrollierte das Geschäft, insbesondere dessen lukrativsten Teil: die ausländischen Touristen. Für ein Ticket oder die »Leihgebühr« für eine offizielle Dauerkarte wurden schon mal mehr als 400 Dollar fällig. Eigentlich hatte Mikael über seine La-Doce-Kontakte Karten für uns beide besorgen sollen, doch nach der Geschichte mit Mauro hatten wir bislang nur eine. Und so sehr Mikael mir auch behilflich sein wollte: Genau für diesen Moment war er hierhergekommen. Unter keinen Umständen wollte er ihn verpassen, und ich würde ihm gewiss nicht im Weg stehen. Er stapfte zur Eingangsschleuse und versprach, mich nach dem Spiel zu treffen.

Einen Pfeil hatte ich noch im Köcher: meinen Presseausweis. Ich zeigte ihn am Ticketschalter vor. Der Mann lachte, ließ den Rollladen herunter, verriegelte ihn und schlenderte kichernd davon. Ich machte mich zu einem anderen Tor auf und flehte die Sicherheitsleute inbrünstig an. Schließlich öffnete ein zermürbter Wachmann das Tor, um mich loszuwerden.

Das Estadio Alberto J. Armando verdankt seinen Spitznamen seiner ungewöhnlichen Form. Der in Slowenien geborene Architekt Viktor Sulčič ließ sich bei seinem Entwurf Mitte der 1930er-Jahre von einer Bombonera, einer Pralinenschachtel, inspirieren. Daraus resultierte eine kompakte, steil ansteigende Form, die auf jedem Platz das Gefühl vermittelt, in den oberen Rängen eines Opernhauses zu sitzen. Angesichts der Top-Lage mitten im dicht besiedelten Stadtteil La Boca stand es nicht zur Debatte, dass das Stadion jemals seinen angestammten Platz verlassen würde, im Gegensatz zu River Plate, das 1926 mit seinem Stadion in das vornehme barrio Núñez gezogen war. Stattdessen machte man das Beste aus den Gegebenheiten, errichtete das Stadion, baute es um und passte es den Erfordernissen an. Angesichts des beschränkten Platzes baute man eben in die Höhe. Es entstand eine beeindruckende Hufeisenform mit jeweils drei Rängen, die an drei Seiten förmlich in das Spielfeld hinabzustechen scheinen; an der vierten Seite schließt ein schmaler Block mit Logen das Stadion ab. Von oben gleicht es allerdings weniger einer Pralinenschachtel als einer in der Mitte durchgeschnittenen Torte.

La Bombonera nach dem Anpfiff zu betreten war eine schwindelerregende Erfahrung. Die ununterbrochenen Gesänge und treibenden argentinischen Trommeln zusammen mit den zum Rasen steil abfallenden Tribünen führten dazu, dass mir schwummrig zumute wurde. Man begriff sofort, weshalb die argentinischen Fangesänge – schnell, kompliziert und tatsächlich eher Gesänge, kein Gebrüll – und die telones einen weltweit unvergleichbaren Einfluss gewinnen konnten und in Stadien von Madrid bis Jakarta zunächst nur vom Hörensagen, später auch mithilfe des Internets kopiert und weiterentwickelt worden waren. Doch dann ereignete sich etwas Außergewöhnliches. Athletico ging in Führung, und die Gesänge schwollen nur noch weiter an. Wie Mikael mir hinterher berichtete, war das immer so. Unmittelbar nach dem Gegentreffer sangen Bocas hinchas derart lautstark, als hätte gerade ihr Team getroffen. Sie stimmten das berühmte Lied »Si, Señor« an, ihre Version des argentinischen Rocksongs »Y Dale Alegría a mi Corazon« von Fito Páez aus dem Jahr 1990, auch wenn River Plate und San Lorenzo jeweils für sich beanspruchen, den Song als Erste aufgegriffen zu haben. Eine Frage, die für immer offenbleiben wird.