Unter Ultras

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Die meisten Darstellungen des uruguayischen Fußballs konzentrieren sich durchaus zurecht auf seine außerordentlichen Erfolge und auf die Stars, die er hervorgebracht hat. Weit weniger Platz wird der Suche nach Erklärungen für das Phänomen des Publikums eingeräumt, der Frage also, wieso in Uruguay eine derart unzweifelhafte Leidenschaft für das Spiel herrscht. Als Pou und die übrigen Mitglieder von Nacionals historischer Kommission sich vor einigen Jahren auf die Suche nach vergessenen Geschichten der Vereinshistorie machten, entdeckten sie Zeitungsausschnitte, Fotografien und Notizen zu Miguel Reyes’ Auftritten am Spielfeldrand. Auf einer berühmten Fotografie der aus elf Nacional-Spielern bestehenden Nationalmannschaft von 1914 ist nur eine weitere Person zu sehen – Miguel Reyes, buchstäblich der zwölfte Mann. Sigmund Freud stellte in seiner Abhandlung Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921 dar, dass in der Masse die unbewussten Triebe von Gruppen von Individuen mit ähnlichen Interessen, die durch ein Liebesobjekt zusammengehalten werden, freigesetzt werden können. Häufig ersetze ein charismatischer Führer die Fähigkeit des Individuums, sein Es – den niederen, instinktiven Teil der Persönlichkeit – zu regulieren. Reyes war Nacionals kollektives Es. Sein Auftreten war ansteckend, wie Pou erkannte. »Was uns stolz macht, ist die Tatsache, dass er der erste Fußballfan war, der so etwas gespürt hat, der vor Begeisterung gebebt hat. Der das Spiel gelebt hat.« Pou ergänzte, es mache »einen Riesenunterschied, ob man einen Film schaut oder in ihm mitspielt«.

Eine halbstündige Autofahrt brachte mich vom Stadion zu Ernesto Reyes. Auf einem alten, mit grünem Filz bezogenen Spieltisch breitete er die Handvoll braunstichiger Fotos aus, die er von seinem Urgroßvater besaß. »Hier, das ist er mit meiner Urgroßmutter. Sie hatten fünf Kinder«, sagte er. Das Foto war beinahe vollständig verblichen. Er legte ein anderes daneben: Miguel Reyes und seine Frau an ihrem Hochzeitstag. »Miguel war verwitwet, darum trug meine Urgroßmutter Schwarz«, kommentierte er. In dem kleinen Spielzimmer befand sich alles, was von Prudencio Miguel Reyes noch vorhanden war und was man über ihn wusste. Auch das Foto, das ich bereits aus dem Museo del Fútbol kannte, hing dort. Es gab Rechnungen seines Ledergeschäfts. Ein paar Briefe. Abgerissene Eintrittskarten von Nacional-Spielen. Ein Büchlein, in dem er die Ergebnisse sämtlicher Begegnungen von Nacional und Peñarol aufgelistet hatte, beginnend mit einem 2:0-Sieg von Peñarol am 15. Juli 1900. Eine Mate-Kalebasse mit seinem Monogramm. Das war alles. Alles, was man über Prudencio Miguel Reyes’ Leben weiß, passte in einen Schuhkarton.

Ernesto nannte Miguel Reyes’ Geschichte eine verschwindende Legende. Reyes war verhältnismäßig jung gestorben und hatte seine Witwe mit den fünf Kindern zurückgelassen. Doch niemand wusste, wie oder wo er gestorben war. Ernesto fragte mich: »Wie viel wissen Sie über Ihren Urgroßvater? Wir kannten nur die Geschichte unserer Urgroßmutter und dass sie es als Witwe irgendwie schaffte, ihre fünf Kinder durchzubringen.« Auch Ernesto und seine beiden Brüder waren mit einem leidenschaftlichen Fan in der Familie aufgewachsen. Ihr verstorbener Vater war besessen von Nacional gewesen. »Er war superfanatisch«, sagte Ernesto. Irgendwann hatten seine Söhne ihn nicht mehr ins Stadion begleiten können, da er andauernd Streit mit anderen Fans angefangen hatte. Eine Farbaufnahme des Vaters hing neben einem Bild von Miguel Reyes. Der Vater stand lächelnd und mit ausgebreiteten Armen in Nacionals Trophäenraum. Ernesto schilderte mir, wie er einmal mit seinem Vater ein Nacional-Spiel besucht hatte und der Vater in eine erbitterte Auseinandersetzung mit anderen hinchas geraten war. Die Sache sei eskaliert, und sein Vater habe die Uhr abgenommen, ein unmissverständliches Zeichen, dass es ernst wurde. »Das war bei einem Freundschaftsspiel zwischen Nacional A und Nacional B!« Ernesto lachte. »Und es endete mit einer Schlägerei zwischen meinem Vater und anderen Nacional-Fans.«

In der Familie hieß es, dass, was auch immer Prudencio Miguel Reyes gepackt hatte, auch Ernestos Vater befallen habe. Dass man es »im Blut« habe. Ernesto erklärte: »Es überspringt immer eine Generation.« Sein Großvater, Miguel Reyes’ Sohn, war ein zurückhaltender Mann gewesen, hatte Klarinette gespielt und sich kaum für Fußball interessiert. Doch Ernestos Vater war mit Leib und Seele hincha gewesen. Ernesto mochte Fußball und sympathisierte mit Nacional, doch der Sport war ihm und auch seinen beiden Brüdern nicht übermäßig wichtig. Ihre Kinder dagegen waren glühende Nacional-Fans. Über seinen Sohn sagte Ernesto: »Er ist Mitglied der barra, steht bei der Fahne. Sogar zum Basketball geht er. Er ist echt verrückt.« Auch seine älteste Tochter hatte das Virus erwischt. »Sie hat das Gen, aber wir haben dem ein Ende gesetzt, weil sie eine Frau ist«, sagte er und fügte rasch hinzu, dass das nichts mit Diskriminierung zu tun habe. Sie wüssten einfach, wie gefährlich es in der barra sein könne. »Ich weiß, dass das diskriminierend ist, ja, aber damals war eine Frau in einer barra einfach nicht gern gesehen. Heute ist das anders.«

Die Reyes hatten sich schon immer gefragt, wieso ihre Familie in jeder zweiten Generation von dieser unbezähmbaren Nacional-Leidenschaft befallen wurde. Prudencio Miguel Reyes war die Antwort gewesen. Über sein Leben wussten sie nach wie vor so gut wie nichts. Er war zu einer Sagengestalt geworden, dem Helden einer nicht belegten Ursprungslegende. Beim Abschied sagte Ernesto: »Wenn wir das Wort hincha hören, ist das für uns jedes Mal etwas Besonderes.« Ihm war zu Ohren gekommen, dass sich in Argentinien sogar zwei Vereine darüber stritten, wer den Begriff hincha ursprünglich aus Uruguay importiert habe, Huracán oder Racing. »Das macht uns stolz.« Die Nachfahren von Prudencio Miguel Reyes hatten seinen Mythos zum Teil ihrer Familiengeschichte gemacht, so wie La Banda del Parque ihn zum Teil ihrer Geschichte gemacht hatte.

Am folgenden Tag sollten Mikael und ich endlich La Banda del Parque treffen. Mikael erhielt eine Nachricht, dass ein Santino uns abholen werde. Er sei von kräftiger Statur, mit kurzgeschorenen Haaren und würde laut und schnell sprechen. Bis dahin war La Banda del Parque für uns nur eine Schimäre gewesen. Die Verhaftung ihres Anführers hatte ihnen zugesetzt, doch Mikael hatte ein wenig herumtelefoniert. Am Abend würde Nacional spielen, allerdings nicht Fußball, sondern Basketball, gegen Aguada in der brandneuen Antel Arena. Wie bei den europäischen Ultras spielte es keine Rolle, ob der eigene Verein im Fußball, Basketball, Wasserpolo oder Frauenvolleyball antrat: Die Farben waren dieselben, und ein Spiel war ein Spiel. Es würde eine entrada geben, also den traditionellen Umzug der barra zur Halle, auf dem sie zumeist unter Einsatz von Feuerwerkskörpern, Bengalos, Rauchbomben und Trommeln ihre Banner präsentierten. Am frühen Abend holte Santino uns mit dem Auto ab. Er trug einen blauen Nacional-Hoodie. Mit donnernder Stimme sagte er, dass er Anwalt sei. Er redete in einem Höllentempo und nahm die Kurven ein bisschen zu rasant. Die Reifen quietschten. Er war schon seit Langem bei La Banda del Parque aktiv, doch was genau er da machte, wurde nicht klar. »Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon«, sagte er. Er durfte sich auf dem Vereinsgelände und im Stadion frei bewegen, momentan konnte er allerdings bei Spielen seines Vereins nicht dabei sein, und zwar unabhängig von der Sportart. Durch seinen Beruf hatte er mehr als einmal den Kopf aus der Schlinge ziehen können, doch als bei einer Leibesvisitation eine Pistole bei ihm gefunden und er verhaftet worden war, hatte auch er nichts machen können. Er brachte uns zu einem über und über mit Nacional-Graffiti bemalten Skatepark in der Nähe des Parque Central. Rund 50 Mitglieder der barra bereiteten sich auf die entrada vor. Fast ausschließlich junge Männer. All die Gesichter und Namen verwirrten mich. Irgendjemand drückte mir Haschischkugeln in die Hand, offenbar das einzige, was es umsonst und im Übermaß gab. Marihuana war 2013 in Uruguay legalisiert worden, außerdem war ein Höchstpreis festgelegt worden, wodurch quasi über Nacht der illegale Markt trockengelegt worden war.

»Dies ist die barra, und etwas anderes gibt es nicht«, sagte Mateo, ein kräftig gebauter Mann mit einer Basecap mit der Aufschrift »Winner«. Er sei ein bekanntes Mitglied der Banda del Parque, erklärte er mir, und gerade aus dem Gefängnis entlassen worden.

»Wieso warst du im Gefängnis?«, wollte ich wissen.

»Ich habe auf zwei Peñarol-Fans geschossen«, erwiderte er und formte beide Hände zu Pistolen. Er holte sein Handy hervor und zeigte mir Fotos von sich in der Zelle. Auf den meisten hatte er die Finger lächelnd zum Victory-Zeichen gespreizt. Sein Freund Martin war ebenfalls gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden, nachdem er neun Jahre wegen bewaffneten Raubes gesessen hatte. Er hatte ein steifes Bein. Alle waren auf Crack oder Kokain. Einer aus der barra hielt mir mit starrem Blick aus tellergroßen Pupillen eine Plastiktüte mit einigen Papierstreifen hin. LSD. Vermutlich war das der denkbar schlechteste Ort der Welt, um LSD zu nehmen, daher lehnte ich höflich ab. »Holen wir jetzt die Pistolen?« fragte er. Santino versetzte ihm einen Wischer über den Kopf, als würde er einen Welpen maßregeln.

Hunderte weitere Fans strömten herbei, indessen Mikael in seinem gebrochenen Spanisch, das er in Argentinien aufgeschnappt hatte, Geschichten aus der schwedischen Ultra-Szene zum Besten gab. Bengalos wurden ausgeteilt, dazu tranken und rauchten die Mitglieder der barra und stimmten Gesänge an, in denen sie Nacional und die hinchas feierten und ihrem Hass auf Peñarol freien Lauf ließen. Ohne jegliche Vorwarnung enterte die Gruppe die Straße. Der Verkehr brach zusammen, als zunächst einige Dutzend Fans zur entrada Aufstellung nahmen und schließlich mehrere Hundert die Straße entlang marschierten. Die Fahnen und Banner wurden entrollt, und die lärmende Prozession blockierte die Schnellstraße, sodass sich hinter uns die Autos stauten. Der Asphalt verschwand im Nebel der Rauchbomben und Bengalos. Alle paar Sekunden erschütterte eine gewaltige Explosion die Gegend. Santino lief am Rand vor und zurück und behielt alles im Blick. Seine Aufgabe bestand offenkundig darin, dafür zu sorgen, dass die Banda del Parque so richtig auf Touren kam, ohne dabei allerdings komplett auszurasten.

 

Die Prozession traf an ihrem Ziel ein, der Antel Arena, einem brandneuen, modernistischen, hell erleuchteten Würfel. Die Gruppe trennte sich in zwei Hälften: Die eine machte sich auf zum Eingang, um ihre Plätze am Spielfeldrand einzunehmen und genauso viel Lärm wie bei einem Fußballspiel zu veranstalten. Die übrigen rund 50 Menschen verzogen sich in den Park oberhalb der Straße. Mateo sagte: »Wir nennen uns ›Die Schwarze Liste‹.« Sie alle hatten Hausverbot. Die Erben von Prudencio Miguel Reyes mussten sich damit begnügen, die Antel Arena in der Ferne strahlen zu sehen.

2
Argentinien
BUENOS AIRES

In den frühen Morgenstunden rissen Mikael und ich uns von Nacionals Banda del Parque los und brachen nach Argentinien auf. An einem schönen Tag bei günstigem Wind und ruhigem Wellengang schafft die Fähre es in gut zwei Stunden von Montevideo über den Río de la Plata nach Buenos Aires. Im Skatepark war die Feier immer weitergegangen, doch als irgendwann die Leuchtfeuer, das Kokain und das Geld ausgingen, wurde die Stimmung düsterer, auch wenn Mikael das nicht bemerkte. Ich zerrte ihn fort, bevor es zur unvermeidlichen Razzia kam, und wenige Stunden darauf nahmen wir die erste Fähre. Mikael erzählte mir aus seinem Leben, in dem sich alles um Fußball drehte. Zu Beginn der 1990er-Jahre hatte er Schwedens allererste Ultra-Gruppierung gegründet und in Stockholm einen Laden mit Fahnen, Schals und Shirts eröffnet, die er zehn Jahre lang auf seinen Reisen zusammengetragen hatte. »Ein Freund von mir hatte einen Eishockeyladen«, erzählte er. »Dort habe ich einen Fiorentina/ Inter-Schal ins Schaufenster gelegt, weil ich die Roma mag, und er war noch am selben Tag weg.« Irgendwann hatte er auch Videos und DVDs von Fanschlägereien in England, Deutschland, den Niederlanden, Griechenland, Brasilien und Argentinien ins Programm genommen und schließlich den Laden ganz übernommen. Eine Zeitlang war das Geschäft gut gelaufen, doch nach einigen Jahren war die Miete erhöht worden, und das war das Aus gewesen. Er hatte die unerwartete freie Zeit genutzt und war nach Argentinien geflogen, für ihn das Herz und die Seele der globalen Fankultur und der beste Ort der Welt, um live ein Fußballspiel zu erleben. Doch im Grunde hatte er nur eine Mannschaft unbedingt sehen wollen.

Die Boca Juniors, Argentiniens erfolgreichster Klub, wurden 1905 in dem Stadtteil La Boca von italienischen Einwanderern gegründet. Die meisten von ihnen kamen aus der nordwestitalienischen Hafenstadt Genua. Von den heutigen Argentiniern haben mehr als 60 Prozent in irgendeiner Form italienische Vorfahren. Wegen der starken italienischen Wurzeln des Vereins lautet Boca Juniors’ Spitzname Los Xeneizes, was im genuesischen Dialekt so viel wie »Bewohner Genuas« bedeutet. Beiderseits des Atlantiks entwickelten sich unabhängig voneinander zwei erstaunlich ähnliche Fankulturen: in Italien die Ultras und, zeitlich schon vorher, in Argentinien die barras bravas, was übersetzt so viel wie »wilde Horden« bedeutet. Als rauflustige, locker organisierte Fangruppen gab es sie bereits seit den 1920er-Jahren. Der Name von Bocas barra – La Doce (Die Zwölf) – geht auf das Jahr 1925 zurück, als Victoriano Caffarena, ein wohlhabender Bewohner des Viertels, Bocas erste Europatournee finanzierte. Auf der 22-tägigen Schiffsreise über den Atlantik machte er sich unentbehrlich. Er leitete das Training, massierte die Spieler und kümmerte sich um alles. Die Tournee wurde zum überwältigenden Erfolg, und am Ende der langen Reise war Caffarena im Grunde zu einem der Spieler geworden. Daher wurde ihm der Spitzname »der zwölfte Mann« verliehen, den er bis an sein Lebensende 1972 beibehielt23 – auch wenn zu jener Zeit der Name La Doce schon eine ganz andere Bedeutung angenommen hatte. Seit dem Ende der 1960er-Jahre und vollends im folgenden Jahrzehnt wurde die Organisation der barras zunehmend straffer und hierarchischer. Den Vereinen ging auf, dass sie auf dem Rasen von ihren leidenschaftlichen Unterstützern profitierten, also unterstützten sie die Fans mit Tickets, bei den Reisen und bei den Materialien der trapos (wörtlich übersetzt »Lumpen«, in Argentinien werden damit jedoch die Banner in den Fußballstadien bezeichnet). Laut dem Journalisten Gustavo Grabia, der sich in unzähligen Texten mit Argentiniens barras beschäftigt hat, stattete in den 1960er-Jahren der damalige Boca-Präsident Alberto J. Armando als Erster die barra La Doce mit ausreichenden Mitteln aus, damit sie vor dem Stadion und auf den Tribünen für eine den Gegner einschüchternde Atmosphäre sorgte. Mit Erfolg, glaubt man der Boca-Legende Antonio Rattín, berühmt geworden durch die Rote Karte, die er als argentinischer Kapitän bei der WM 1966 gegen England sah: »Ich weiß noch, wie unsere Gegner in der Bombonera ganz bleich wurden, wenn das ganze Stadion zu singen begann.«24

Der auf die Tribünen niedergehende Geldregen hatte jedoch unvorhergesehene Folgen. Zwar gewann die barra schlagartig an Popularität, doch auch die Gewalt breitete sich aus und wurde mit jedem Jahrzehnt schlimmer. Mikael hatte seine Erfahrungen mit der modernen barra gemacht. Sein erstes Boca-Spiel war 2008 eine Auswärtspartie gegen den Club Atlético Huracán im Estadio Diego Armando Maradona, eigentlich die Heimat der Argentinos Juniors. Dorthin war die Partie wegen einer Stadionsperre nach Zuschauerausschreitungen verlegt worden. Allerdings schaffte die Maßnahme das zugrundeliegende Problem keineswegs aus der Welt. Kurz zuvor war der Streit der beiden La-Doce-Anführer eskaliert, ein Ereignis, das als »der Krieg« bekannt wurde. Bei dem Spiel kam es zu Randalen, und Mikael landete im Gefängnis. Irgendein unbedeutendes Vergehen hatte einen Polizeieinsatz mit Gummigeschossen und Tränengas ausgelöst. Mikael war an dem Abend einer von 184 Verhafteten und wurde zu einer Polizeiwache transportiert. Niemand dort konnte Englisch, und Mikael sprach zu der Zeit auch noch kein Spanisch. Doch alle waren freundlich, insbesondere die Polizisten. Trotz Verhaftung wurde Cola und Pizza für alle bestellt. Um ein Uhr nachts wurde Mikael schließlich nach sechs Stunden in der Zelle freigelassen. Doch am darauffolgenden Morgen tauchte sein markantes Gesicht in allen Zeitungen auf. Die Ausschnitte hat er aufbewahrt. Das Boulevardblatt Crónica brachte das ganzseitige Foto eines demolierten Polizeibusses, an dem ein noch jüngerer Mikael – ohne Bart und mit ein paar Pfund weniger – schüchtern vorbeischleicht. Das Tattoo an seinem Hals ist deutlich zu erkennen. Die Überschrift lautete: »Ein neues Kapitel des ›internen‹ Krieges.«

Der Vorfall hatte für Mikael eine gute und eine schlechte Seite. Einerseits war er dadurch für die breite Öffentlichkeit zum Gesicht des zivilen Ungehorsams der argentinischen barras bravas geworden, insbesondere der barra bei den Boca Juniors, zum fleischgewordenen Symbol einer gewalttätigen, außer Kontrolle geratenen Fußballkultur. Andererseits kannte ihn nun jeder aus dem Umkreis von La Doce. »Die Leute sprachen mich auf der Straße an: ›Du bist doch dieser Schwede? Wir kennen dich!‹«, erzählte Mikael. Seit jener Zeit schmückt ein Boca-Juniors-Tattoo seine Brust.

Mikaels unverhofftem schlechtem Ruf haftete etwas Ironisches an, denn er hasst Gewalt, allerdings hielt er sich anscheinend ständig zu nah am Geschehen auf. Auch sein nächstes Spiel in Buenos Aires, eine Drittligapartie in einem nördlichen Außenbezirk, endete mit Auseinandersetzungen und Gummigeschossen der Polizei. Dabei war er nur dorthin gefahren, um ein Foto der Pyroshow zu schießen. Um seine Haut zu retten, verbarg Mikael sich hinter einem alten Mann, der von der Tribüne humpelte.

»Wie hinter einem menschlichen Schutzschild?«, fragte ich ihn.

»Nein!«, erwiderte er, offenkundig peinlich berührt, wie das klang. Doch seine Logik war bestechend gewesen. Auf einen alten Mann, so hatte er überlegt, würde kaum geschossen werden. »Aber direkt vor mir hat es eine junge Frau erwischt. Sie ist einfach zusammengesackt, und jemand hat sie rausgetragen. Da ist mir schon ein bisschen mulmig zumute geworden.« Mikael klaute höchstens einmal eine gegnerische Fahne, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. »Und wer hat daran nicht seinen Spaß?«, meinte er, als wäre es das normalste der Welt. »Ich bin oldschool. Ich will mich nicht mit jemandem prügeln. Alles, was ich will, ist hinterher in der Kneipe ein kühles Bier trinken und mit meinen Freunden quatschen.« Für ihn hatten die Jüngeren einen Irrweg eingeschlagen. An erster Stelle hatte immer und unter allen Umständen der Verein zu stehen. Er blieb ein Jahr in Argentinien, knüpfte Kontakte und tauchte tief in die örtliche Fankultur ein. Die Choreografien in den argentinischen Stadien suchten weltweit ihresgleichen. Die barras schufen riesige Banner, die ganze Ränge verhüllten. Die ausgesprochen kunstvollen telon (Vorhänge) waren beispiellos, und die großartigsten machten nicht selten weltweit Schlagzeilen, etwa als die barra des Zweitligisten Godoy Cruz einen riesigen, einhundert Meter breiten telon mit den Porträts von Maradona, Papst Franziskus (der übrigens ein großer San-Lorenzo-Fan ist) und Messi schuf, versehen mit der Aufschrift »Dios, el Papa y el Mesias« – »Gott, der Heilige Vater und der Messias«. Die argentinischen Gesänge wurden in ganz Südamerika kopiert und gelangten schließlich auch nach Europa, wo sie in die Landessprachen übertragen wurden, um die Lokalhelden zu feiern. Und irgendwann erinnerte sich niemand mehr an ihren Ursprung. Ultras aus ganz Europa pilgerten wie Mikael nach Argentinien, um von den barras zu lernen und das ein oder andere mit zurück in die Heimat zu nehmen.

Doch die Leidenschaft hat auch eine dunklere Seite. Seit den 1980er-Jahren kontrollieren die barras bravas die argentinischen Stadien – und noch einiges andere daneben. Die Gewalt im argentinischen Fußball hat weltweit nahezu beispiellose Ausmaße angenommen. Jedes Jahr sterben Dutzende Fans durch Gewalttaten, und seit 2013 sind keine Gästefans mehr in den Stadien zugelassen. Die nationale Initiative Salvemos al Fútbol führt eine Liste mit allen bei argentinischen Fußballspielen getöteten Menschen.25 Der erste derartige Todesfall datiert auf 1922. Der argentinische Soziologe Amílcar Romero, der bahnbrechende Studien zur Gewaltkultur im argentinischen Fußball durchführte, sieht als einen entscheidenden Wendepunkt den Tod eines Fans von River Plate 1958 vor dem Estadio Amalfitani von Vélez Sarsfield, nachdem ein Polizist eine Tränengasgranate abgefeuert hatte. In der Folge seien die Fußballfans zunehmend radikaler gegen die Autoritäten, insbesondere die Polizei, aber auch gegen die gegnerischen Fans vorgegangen.26 Laut Romero hat sich die Gewalt in den Jahren von 1958 bis 1983 verändert. Verantwortlich dafür macht er zum einen die gestiegenen finanziellen Mittel, die in die barras gepumpt wurden, zum anderen das aufgewühlte gesamtgesellschaftliche Klima mit Arbeiter- und Studentenprotesten, Staatsstreichen, Massakern und einer Diktatur, in deren sogenanntem »Schmutzigen Krieg« Tausende Linksaktivisten, Journalisten und Künstler »verschwanden«. Romero sah in den barras das Es einer unglücklichen und gespaltenen Gesellschaft. In den Jahren von 1922 bis 1958 wurden insgesamt 16 im Zusammenhang mit dem Fußball stehende Todesfälle verzeichnet. Für die Jahre von 1958 und 1983 kommt Romero auf durchschnittlich fünf Tote pro Jahr (allerdings einschließlich der 71 Opfer der Tor-12-Tragödie im Estádio Monumental im Anschluss an das Spiel Boca gegen River Plate 1968).

Bis heute sind seit 1922 in Argentinien insgesamt 332 Menschen durch fußballbezogene Gewalt gestorben, Zehntausende weitere wurden verletzt. Romero erklärte: »Bei uns hat die organisierte Gewalt aus dem Fußball auf die übrige Gesellschaft übergegriffen. In Europa war es genau andersherum.«27

 

Der bis dato letzte Todesfall ereignete sich am 9. Dezember 2018, als im Anschluss an das Finale der Copa Libertadores (dem südamerikanischen Gegenstück zur Champions League) der 21-jährige River-Plate-Fan Exequiel Neris von zwei Boca-Fans erstochen wurde. Der sogenannte superclásico zwischen River Plate und Boca ist Schauplatz einer der weltweit erbittertsten Rivalitäten, und in jenem Jahr standen sich die beiden Vereine erstmals im Finale der Copa Libertadores gegenüber. Als im Verlauf der Copa 2018 der super-superclásico immer wahrscheinlicher wurde, breitete sich Panik unter den Verantwortlichen aus. Im Halbfinale trafen beide Teams auf brasilianische Gegner, was den amtierenden argentinischen Präsidenten Mauricio Macri zu der Aussage verleitete: »Ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, dass sich ein brasilianischer Klub durchsetzt, als dass es zu diesem Finale kommt, das uns drei schlaflose Wochen bescheren würde. Ist Ihnen der Druck klar, der da entsteht? Der Verlierer würde sich erst in 20 Jahren davon erholt haben.«28 Macri wusste, wovon er sprach. Sein erstes größeres Amt war das des Boca-Juniors-Präsidenten gewesen. Im Jahr 1995 war er mit knapper Mehrheit von Bocas Mitgliedern – den socios – gewählt worden und hatte seine erfolgreiche zwölfjährige Amtszeit (unter anderem mit vier Copa-Libertadores-Titeln) als Sprungbrett zu einer politischen Karriere genutzt, die ihn zunächst zum Bürgermeister von Buenos Aires und 2015 zum argentinischen Präsidenten werden ließ. Eine vertrauliche, von Wikileaks veröffentlichte US-Geheimdienstdepesche von 2010 schildert, wie Macri als Bürgermeister bei einem Mittagessen gegenüber der damaligen US-Botschafterin Vilma Socorro Martínez ganz offen seine Präsidentschaftsambitionen und Bocas Bedeutung für seine politische Karriere darlegte:

Er [Macri] sprach von seiner Zeit als Präsident des Fußballklubs Boca Juniors als einer hervorragenden politischen Lehrzeit (hinsichtlich Themen wie der Regelung des Zugangs zu Presseräumen und der Umkleidekabine, der Besetzung von Posten und die Durchsetzung geschäftlicher Entscheidungen gegenüber 15.000 Mitgliedern). Er sagte, dass die landesweite Fanbasis des Vereins sein bedeutendster politischer Aktivposten sei: »Jegliche politische Unterstützung außerhalb von Buenos Aires verdanke ich zu 90 Prozent meiner Tätigkeit bei Boca und zu zehn Prozent meinem Posten als Bürgermeister von Buenos Aires.«29

Wie ihn die Erfahrungen aus seiner »politischen Lehrzeit« zurecht hatten vermuten lassen, wurde der super-superclásico 2018 in der Tat zu einem Desaster für Argentiniens Image. Das Rückspiel musste abgesagt werden, da der Boca-Mannschaftsbus auf dem Weg ins Estádio Monumental von River-Plate-Fans attackiert wurde und die Polizei Tränengas einsetzte, das mehrere Boca-Spieler einatmeten. Twitter-Videos des Klubs zeigten, wie sie sich in der Kabine übergaben. Wegen der angespannten Sicherheitslage wurde beschlossen, das Spiel an einem neutralen Ort auszutragen.30 Die Wahl fiel auf Madrid – eine gewaltige Demütigung für Südamerika, denn eigentlich ehrt der Name des Wettbewerbs die Kämpfer für die Unabhängigkeit von Spanien und Portugal. River Plate gewann den Titel, und der südamerikanische Fußballverband CONMEBOL beschloss anschließend, dass der Wettbewerb künftig stets durch ein einziges Finalspiel an einem neutralen Ort entschieden würde.

Seit einigen Jahren sinkt immerhin die Zahl der von gegnerischen Gruppen getöteten Fans. Inzwischen gehen die meisten Todesfälle auf Abrechnungen innerhalb einzelner barras zurück, vornehmlich, weil sie ihre geschäftlichen Tätigkeiten stark ausgeweitet haben – auf Ticketschwarzhandel, Parkgebühren, Schutzgeld und Drogen – und mittlerweile eher mafiösen Organisationen als Fanclubs gleichen. Bocas bedeutendste barra La Doce erlebte in den vergangenen zehn Jahren unzählige solcher Abrechnungen. Der Präsident Rafael di Zeo ist einerseits ein Showman, andererseits ein gefürchteter Boss. Seit Mitte der 1990er-Jahre hat er La Doce zu einer beeindruckenden und mächtigen Gelddruckmaschine mit weitreichenden Beziehungen zum politischen Establishment des Landes umgebaut. Doch Geld und Macht riefen Rivalen auf den Plan. Als Rafa, wie er gemeinhin genannt wird, wegen seiner mutmaßlichen Rolle bei den Krawallen von 1999 zwischen den Fans von Boca und Chacarita Juniors 2007 zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, nahm mit Mauro Martin einer seiner Unterbosse seinen Platz ein. Und dieser weigerte sich, den Posten zu räumen, als Rafa 2009 freikam.

Es folgte ein blutiger Kampf um die Macht – »Der Krieg« –, der Dutzende Opfer forderte. Mauro selbst wurde angeschossen, überlebte jedoch. Schließlich wurde ein Waffenstillstand geschlossen. Rafa kehrte an die Spitze zurück, und Mauro wurde als sein Stellvertreter eng eingebunden. In Mikaels Augen handelte es sich um einen wackeligen Waffenstillstand, der jeden Moment gebrochen werden konnte. Mikael hatte einen alten Kumpel bei La Doce angerufen, der sich noch an seinen kurzen Ruhm als bekanntester Hooligan von Buenos Aires erinnern konnte. Er hatte gesagt, dass Mauro sich bereiterklärt habe, uns am darauffolgenden Tag vor dem Boca-Spiel in Bajo Flores zu treffen. Im abschließenden Gruppenspiel der Copa Libertadores erwartete Boca zu Hause Athletico Paranaense. Boca hatte sich bereits für die K.-o.-Phase qualifiziert, doch für Mikael war es die Chance, in sein geliebtes Estadio Alberto L. Armando zurückzukehren, von allen zärtlich »La Bombonera« genannt. Und immerhin stand noch etwas nicht ganz Unwichtiges auf dem Spiel. Durch einen Sieg würde Boca Juniors in dieselbe Hälfte des Turnierfeldes wie River Plate gelangen, sodass die beiden im Halbfinale aufeinandertreffen konnten. Mauricio Macri lag falsch. Es musste nicht unbedingt 20 Jahre dauern, bis der Unterlegene sich von der Niederlage im superclásico-Finale der Copa Libertadores würde erholen können. Das Schicksal winkte Boca nach nicht einmal zwölf Monaten mit der Möglichkeit zur Vergeltung.

In einem westlichen Außenbezirk von Buenos Aires waren in beeindruckenden renovierten Räumlichkeiten drei Künstler an ihren Leinwänden beschäftigt. Aus dem Radio schallten System of a Down, und die Sprühdosen zischten. Der Geruch von Lösungsmitteln hing schwer in der Luft. An einer Wand widmete sich einer der Männer einem telon für San Lorenzo, einem riesigen weißen Banner, auf dem er gerade die Vorzeichnung von zwei Trommeln farbig ausarbeitete. Ein zweiter saß an dem Porträt von Eva Peron mit der argentinischen Flagge als Hintergrund, das für die hinchas der Nationalmannschaft bei der bevorstehenden Copa América in Brasilien bestimmt war. Der dritte verlieh für das anstehende Boca-Spiel einer kleineren Fahne in Blau und Gold mit dem Twitter-Hashtag der Boca-Juniors-Nachwuchsfans, @JuvenilXeneizes, den letzten Schliff. Pepe Perretta, der eine rote Truckermütze mit dem Aufdruck »Buenos Aires Aerografia« trug, erklärte: »Die ist nicht für La Doce, sondern für die normalen hinchas.« Er musterte die Arbeit seiner Leute mit einer unangezündeten Selbstgedrehten im Mund.

Die Frage nach dem Ursprung der riesigen Blockfahnen – der telon –, die bei Fußballspielen ganze Ränge verhüllen, ist bis heute ungeklärt. Doch über den momentan besten telon-Künstler der Welt besteht kein Zweifel. Pepe Perretta hat mehr als 100 dieser Monumentalwerke geschaffen, und jedes davon erzählt eine eigene Geschichte von den jeweiligen Auftraggebern. Die Wände in Pepes Büro im Obergeschoss waren übersät von signierten Trikots und Fotografien, die ihn mit argentinischen Legenden zeigten. Eine Ecke des Raums wurde durch ein Originalstück des mit Stacheldrahtkrone versehenen Zaungitters aus dem Stadion von Pepes Lieblingsklub Nueva Chicago abgetrennt. Hinter dem Zaunstück befanden sich neben Hunderten von Trikots und Schals auch Dutzende Bücher über seinen Helden Diego Maradona und etliche signierte Fotografien des Spielers. Auch Messi hatte Pepe ein Trikot geschickt. Jedes einzelne Stück hier war ein Geschenk von hinchas, Spielern oder auch Päpsten als Dankeschön für die beeindruckenden öffentlichen Kunstwerke, mit denen Pepe sie geehrt hatte. Auch der gigantische telon mit dem Papst, Messi und Maradona für die barra von Godoy Cruz war Pepes Werk gewesen.