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Melusine: Ein Liebesroman

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IV

Es war Nacht, als sie die Wohnung des Obersts verließ. Sie mußte gegen den Wind ankämpfen, der ihren Schleier aufblies. Fest schloß sie den Mund, und mit weit vorgebeugtem Kopf ging sie. Sie hatte die Begleitung des Obersts ausgeschlagen. „Nie mehr werde ich dies Haus betreten, nie mehr,“ flüsterte sie verzweifelt, „ich Elende, ich Elende.“

Ganz belanglose Dinge fuhren ihr durch den Kopf. Es wäre schön, dachte sie, wenn ich jetzt mitten durch den Wind reiten könnte auf einem wilden Gaul, wie neulich draußen am See.

In der Pension saß man beim Thee. Fräulein von Erdmann, ein polnischer Adliger, Doktor Brosam, Frau Bender und Helene waren da. Die Herren erhoben sich, als Mely eintrat. Sie atmete noch heftig vom Treppensteigen und preßte eine Hand auf die Brust. Zerstreut nickte sie, wobei sie keinen der Anwesenden ansah, und die Zähne schauten unter den schwellenden Lippen hervor, ohne daß sie jedoch lächelte.

„Nehmen Sie vielleicht noch eine Tasse Thee, Fräulein Mirbeth?“ fragte Frau Bender, und ihre großen, blauen Augen leuchteten dabei. Sie lachte fröhlich, als Mely bejahte und zeigte ihre prachtvollen Zähne.

Es entstand eine peinliche Pause, so daß Mely den Argwohn faßte, man habe sich über sie unterhalten. Darüber erschrak sie; denn nichts fürchtete sie so sehr, als das, was man hinter ihrem Rücken über sie sprach.

„Nein, welcher Sturm heute!“ sagte sie endlich zögernd. Sie fing den spöttischen Blick auf, den die Erdmann mit dem Doktor wechselte, und ihr Argwohn wurde bestärkt. Wie sie in den Doktor verliebt ist, die alte Schachtel, dachte sie. Wie sie sich herausgeputzt hat über ihrem Schmutz. Sie lächelte Helene verständnisinnig zu, die, als begriffe sie nicht, mit einem kaum sichtbaren, verwunderten Kopfschütteln antwortete.

„Das ist noch gar nichts, – der Wind genügt nicht,“ erwiderte der Doktor, behaglich schlürfend. „Um die ungesunde Sumpfluft unserer Zustände zu vernichten, müßte ein ganz anderer Sturm gehen.“

„Sie Socialist!“ seufzte Fräulein von Erdmann heiß und näherte ihre Hand dem Arm des Doktors.

„Sie habben abber garr keine Kälte hier,“ sagte der Pole wichtig. „In Rußland – ooh! Was für Kälte, was für Kälte! Werde ick Ihnen eine Geschichte erzählen. Vorikes Jahr fahrt ein Pfarrer russischer in ein village Umgegend von Kiew. War serr kalt, Schnee so hoch und Wind eisiker. Und wie Abbend kommt, laufen, – wie sakt man: loup, des loups? –“

„Wölfe –“

„Richtik, kommen Wölfe, heulen und laufen hinter Troika herr. Wölfen werden immer gieriker und Pfarrer – was thun? Kann sich nicht helfen, was thut, wirft seine Kinder die Wölfe vor. Eins, zwei, drei Kinder, immer in große Wekstrecke, bis am Ziel war.“ Der Pole sah sich herausfordernd um. „Das ist wahr, bei meine Seel,“ beteuerte er, als ein Gelächter, das vom Doktor ausging und alle anderen ansteckte, ihn unterbrach. Nur Mely lachte nicht.

„Was will das heißen,“ keuchte Dr. Brosam in verhaltenem Lachen. „Die Chinesen werfen ihre Kinder den Schweinen vor. Allerdings neugeboren, da sind sie zarter.“

„Nun, bei uns werden die Schweine den Kindern vorgeworfen,“ meinte Helene trocken und freute sich, als das Gelächter von neuem begann.

„Da giebt es noch viel merkwürdigere Sachen,“ hob der Doktor wieder an, und sein schönes, bleiches Gesicht wurde sehr ernst. „Ich weiß nicht, ob Sie die Geschichte von dem normannischen Fischer kennen, dessen Großmutter ins Wasser gefallen war. Als er die Leiche auffand, sah er, daß sich Krebse daran festgesetzt hatten. Seitdem benutzt er seine tote Großmutter zum Krebsfang.“

„Entsetzlich – pfui! Wie können Sie so etwas erzählen!“ stöhnte Fräulein von Erdmann.

Der Pole war wütend und empfahl sich bald. Mely entging es nicht, daß er einen glühenden, fragenden Blick auf sie gerichtet hatte und sie zog die Brauen zusammen. Schutzlos bin ich diesen Leuten preisgegeben, dachte sie.

„Was haben Sie denn,“ wandte sich Frau Bender an sie. „Sie sind so beklommen heute, so ganz abwesend, so verstört –“ Die kleine Dame hatte etwas Kindliches und Bestechendes in ihrem Wesen, das Jeden gefangen nahm.

Mely errötete tief. Sie wollte antworten, doch Dr. Brosam nahm für sie das Wort. „Ja, ich glaube, das gnädige Fräulein ist sehr launisch. Die meisten Damen sind so. Meine verstorbene Braut hatte nichts von dieser modernen Sucht, möglichst wetterwendisch zu scheinen.“

Mely lachte so hart, daß sie selbst darüber erschrak. „Ihre verstorbene Braut war halt ein Tugendspiegel,“ entgegnete sie achselzuckend.

„Ja, allerdings,“ rief der Doktor heftig und mit flammenden Augen. Er richtete sich würdevoll auf und ließ seine kostbaren Brillanten in den Strahlen der Lampe spielen. Die Erdmann blickte entzückt an dem Hünen empor.

„Das ist ja schön,“ spottete Mely. „Aber weshalb erzählen Sie das immer wieder? Das interessirt uns ja gar nicht. Wir fühlen uns ganz wohl, wenn wir auch nicht so tugendhaft sind.“

„Bitte sehr!“ rief Fräulein von Erdmann entrüstet und warf giftig den Kopf zurück.

Mely verlor alle Zurückhaltung, alle Fassung. „War sie vielleicht auch eine Demokratin, diese verstorbene Braut? War sie auch für die Vermögensteilung?“ Sie sprach rasch, voll Haß und Wildheit. Wie sehr mußte sie im Grund ihrer Seele verzweifelt sein, um so leidenschaftlich zu disputiren.

„Wie Sie sagen, genau wie ich!“ antwortete der Doktor sanft. Er preßte seine Lippen zusammen, daß sie nur eine einzige gerade Linie bildeten.

Mely lachte wieder. „Dann trug sie vielleicht auch einen Brillantring für achtzehnhundert Mark? So viel kostet er doch, haben Sie gesagt. Und ging sie auch zu Schleich, um für sieben Mark zu frühstücken, wie Sie immer von sich erzählen –? Wie kann jemand, der so prahlt mit dem, was er hat, Demokrat sein wollen!“

Noch viel sanfter als vorhin erwiderte der Doktor: „Ich bitte Sie, gnädiges Fräulein, meine verstorbene Braut nicht mehr zu erwähnen. Ich will diesen trauten Namen von solchen Lippen nicht nennen hören. Sie mögen wohl vorhin recht gehabt haben mit der Tugend – ja! Man kann gesund sein ohne Tugend, jawohl! Aber gerade Sie wissen ja auch, wie die Welt dann urteilt!“

„Herr Doktor!“ schrie Frau Bender empört und schlug mit der Faust auf den Tisch. Helene erhob sich und ging zum Fenster. Der Doktor saß leichenblaß da und strich sich unaufhörlich das reiche Künstlerhaar zurück.

Mely sah ihm entsetzt in die Augen, – so sehr fassungslos, daß Fräulein von Erdmann eine mitleidige Handbewegung machte. Dann stand sie auf und sagte mit erstickter Stimme: „Frau Bender –.“ Es war ein Hilferuf. Aber ohne sich umzublicken, eilte sie aus dem Zimmer.

Im Korridor saß die Hauskatze auf einem Stuhl und putzte sich. Dann begegnete Mely Vidl Falk, der an seiner Thür stehen blieb, um sie vorbeizulassen. Er grüßte, doch beachtete sie ihn nicht, und er schaute ihr nach mit einem zweifelnden und verwunderten Blick.

In ihrem Zimmer setzte sie sich ans Fenster und blieb unbeweglich sitzen. Sie sah hinaus in die dunkle Novembernacht, auf die regenglänzende Straße und auf die sturmgepeitschten Bäume des Gartens. Sie schauerte zusammen und dachte: wenn ich doch meinen Shawl hätte. Dabei hätte sie nur aufstehen und zum Sofa gehen brauchen, wo er lag. Wie schön haben es andere Mädchen, sinnirte sie; sie verlieben sich und verheiraten sich. Dann sind sie glücklich. Aber sie sehnte sich durchaus nicht nach dem, was man Liebe nennt, – ganz im Gegenteil. Dies Gefühl hatte sie bisher in so abschreckender Gestalt auftreten sehen, daß sie nur Geringschätzung dafür hatte. Nur der Wunsch, beschützt zu werden, lebte in ihr, und dann zwei Empfindungen: die der Verlassenheit und eine nagende Reue.

Es klopfte und Frau Bender trat ein. „Warum machen Sie denn kein Licht, Fräulein Mirbeth?“ rief sie erschrocken. Sie sah nur einen regungslosen Schatten am Fenster und ging darauf zu. Sie nahm Melys Hand und sagte herzlich: „Es thut mir so leid, Sie können mir’s gar nicht glauben. Nein, so gemein, so gemein! Regen Sie sich nur nicht auf. Ich habe ihm schon gekündigt, und morgen wird er ausziehen. Jetzt kommen Sie mit und trinken noch ein Glas Punsch mit mir und Helene.“

Mely schüttelte den Kopf. „Nein, ach nein, heute nicht.“ Dann sagte sie leise und preßte die Hand der vor ihr Stehenden: „Frau Bender, es ist schrecklich, daß er das gesagt hat. O, ich schäme mich so sehr, ich schäme mich. Alle Leute glauben es, ich weiß. Aber es ist mir egal, alles ist mir jetzt gleich. Raten Sie mir, Frau Bender, was soll ich thun? Ich – –“ Sie stockte, und trotz der Dunkelheit wandte sie sich ab.

Frau Bender tröstete in ihrer weichen, hinreißenden Art. Sie mußte nicht nach Worten suchen, sondern sie flossen natürlich und eindringlich von ihren Lippen. Doch Mely wurde dadurch nicht beruhigt. Je mehr die kleine Frau sprach, desto erregter wurde Mely. Die Leiden, die sie in sich verschlossen halten mußte, drückten ihr das Herz ab; denn sie hatte den Trieb, sich mitzuteilen. Frau Bender irrte auf ihr eigenes Leben ab, ja, sie verlor sich in Jugenderinnerungen. Sie vergaß, wo sie war, und berichtete mit feuriger Hingabe von ihrem Elternhaus, von ihrer Heirat und von der Flucht ihres Mannes nach Amerika. Schließlich erging sie sich in so heftigen Klagen, daß sich nun Mely genötigt sah, zu trösten und zu ermutigen. „Kommen Sie, Frau Bender, wir wollen vorgehen. Ich will noch bei Ihnen bleiben,“ sagte sie, ihren Vorsatz vergessend.

„Ja, ja, trinken wir, ich werde einen famosen Punsch brauen,“ entgegnete die kleine zapplige Dame, plötzlich heiter werdend.

Als sie im Korridor vor der Thüre des Fräuleins von Erdmann vorbeigingen, hörten sie pathetische Worte: „Ja, lieber Doktor, das ist der blutige Hohn meines Lebens! Er schleicht hinter mir her und wird mich verschlingen. Bitte, – nein, bleiben Sie noch, Sie wissen ja, wie Sie mich beglücken, mit diesen Genieaugen, Sie Abscheulicher!“

 

Die Lauscherinnen verschlossen beide den Mund mit den Händen, um nicht herauszuplatzen. Dann flohen sie auf den Zehen.

Mely lachte viel und übermäßig in den zwei Stunden, die sie noch mit den Damen vom Haus verbrachte. Ja, sie trieb zum Schluß Narrenspossen, und sie schien alles vergessen zu haben, was über sie ergangen war. Sie war begeistert für diese gewinnende, gutherzige Frau Bender und diese zutrauliche, kluge Helene. Bessere Menschen giebt es gar nicht, dachte sie sich.

V

Am andern Morgen, es war ein Samstag, erhielt Mely ein Billet vom Oberst. Mit zitternden Händen erbrach sie das Couvert. „Liebe Melusine,“ schrieb er. „Ich bitte Dich heute zum Abendessen, da ich mittags durch den Direktor Skolny verhindert bin. Ich erwarte von Dir, daß Du auch weiterhin ein gutes Kind sein wirst. Beifolgendes Epheublatt erhielt ich einst aus Genf. Erinnerst Du Dich? Herzlichen Gruß. Wolfgang.“

Der Regen fiel in Strömen, und in den Zimmern hatte man zum ersten Mal geheizt. Als um elf Uhr die kleine Dele, Frau Benders sechsjähriges Töchterchen, aus der Schule kam, hatte sie Wangen rot wie Kirschen.

„Na, du siehst schön zerzaust aus,“ sagte Mely, nahm sie bei den Armen und küßte sie ab.

„Ja, die dummen Buben laufen uns immer nach und lassen uns net in Ruh’,“ entgegnete das Kind und schob die Unterlippe noch weiter heraus, als sie von Natur schon vorhing. „Ich werd’s jetzt meiner Lehrerin sagen.“

„Recht so, Schatz,“ pflichtete Mely bei, die mit dem Mädchen völlig zum Kind wurde. Dele sagte auch du zu ihr.

„Ich möchte nur wissen, was sie von uns wollen,“ fuhr die Kleine fort. Sie runzelte klug die Stirn. „Du,“ sprang sie plötzlich ab, „heut früh hat die Puzzi Junge bekommen, hast es gesehen?“

Mely verneinte. Dele zog einen Zettel aus der Tasche, der mit den steilen, zurückgebogenen Schriftzügen Helenes beschrieben war. Es stand darauf: Die Geburt von vier gesunden Jungen zeigen hocherfreut an: Frau Puzzi, Kater Jonas. Mely lachte.

„Wundernette Katzerln sind’s,“ sagte Dele und setzte sich der großen Kameradin auf den Schoß. „Viere. Ich war dabei. Ich hab’s ganz genau gesehn.“ Sie kicherte geheimnisvoll und fragte dann flüsternd: „Du (sie begann fast triumphirend jeden Satz mit diesem du), kommt zu den Katzen auch der Storch?“

„Natürlich,“ gab Mely zur Antwort.

„Gell, zu denen kommt der Katzenstorch?“

Als Mely laut lachte, wußte das Kind nicht, was es vor Verlegenheit anfangen sollte, und feuerrot werdend, gab es dem durch diese Fragen verblüfften jungen Mädchen einen schallenden Kuß.

Gegen Mittag wurde vor der Korridorthüre ein ungestümes Bellen laut. „Jetzt kommt Pitt!“ rief Mely freudig und sprang hinaus, um dem Hund zu öffnen. Es war ein Foxterrier, der dem Oberst gehörte, aber fast nur Mely gehorchte. Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten groß. Pitt wollte gar nicht aufhören, mit seinem Schwanzrestchen hin- und herzupendeln. –

Drei Tage vergingen. Mely hatte alles unterlassen, um ihre Lage irgendwie zu klären. Nicht einmal nachgedacht hatte sie darüber. „Nicht daran denken“ war in solchen Fällen ihr ganzes Nachdenken, und immerfort war sie geschäftig, um sich zu betäuben. Unstät, beklommen und furchtsam verbrachte sie diese Tage.

Am Mittwoch schrieb der Oberst wieder, aber an Frau Bender. Er schrieb, daß sich Fräulein Mirbeth von ihm losgesagt habe, und daß er ihr dies mitteile, um spätere Gelddifferenzen zu vermeiden; für diesen Monat wolle er noch bezahlen, doch lehne er für die Zukunft jede Verbindlichkeit im Voraus ab.

Als Mely dies erfuhr, lächelte sie verächtlich, aber in Wirklichkeit fühlte sie sich zum Tod elend. Nun steh’ ich da und habe niemand auf der Welt, dachte sie. Kein Mensch wird sich um mich kümmern, und ich werde zu Grund gehen. Diese Frau Bender macht schon ein recht langes Gesicht. Ja, so sind eben die Leute. Dies alles dachte sie in einem Augenblick, während Frau Bender mit dem Brief vor ihr stand und sie etwas dumm anlächelte. „Losgesagt – losgesagt,“ murmelte sie finster. „Ich bin halt nimmer hinüber, das ist alles.“ Eine dumpfe Wut wachte in ihr auf. „Sehn Sie, Frau Bender, so werd’ ich behandelt,“ sagte sie weich, als ob sie Vertrauen und Glauben suche. Aber dabei überlegte sie im Innern: lauter Feinde sind das. Diese Frau, dann Helene, ja sogar das Kind, – lauter Feinde. Einem Funken gleich fiel ein verzweifelter Entschluß in ihre Seele. Ich werde schon etwas thun, schloß sie ihre Betrachtungen. Heute nachmittag, – oder nein, morgen …

Dies „Morgen“ tröstete sie. Welch eine Ewigkeit, bis morgen!

Aber der nächste Tag kam und verging, auch der zweite Tag und die ganze Woche verging mit dem Trost für morgen. Sie wußte selbst nicht, wie die Stunden verflogen, so langweilig einzeln und so flüchtig im ganzen. Spät stand sie vormittags auf; dann tändelte sie mit dem Kind. Zum Lesen hatte sie keine Lust, und so nähte sie an ihren Kleidern in den langen Nachmittagsstunden. Die halben Nächte verwachte sie und träumte mit offenen Augen. Sie komponirte ganze Romane, wie sie, reich geworden, in Ansehen und Luxus lebte, eine Sklavenschar um sich. Aber für diese glücklichen Phantasieen rächte sich der Schlaf durch böse Träume, die wie Alp auf ihr lagen, – tagelang. Es waren immer Träume, in denen sie bedroht war, in denen sie sich allein sah auf einem weiten Plan, in einem Wald, in Schluchten. Und da wurde sie verfolgt, bis sie zu müde war, um weiterfliehen zu können. –

„Nun, was wollen Sie denn jetzt beginnen, Fräulein Mirbeth?“ fragte einmal Frau Bender mit demselben dummverlegenen Lächeln, mit dem sie stets von dieser Angelegenheit sprach.

„Ja was denn, was denn!“ flüsterte Mely bestürzt wie ein Schuldner, der sich gemahnt und bedrängt sieht. Heute, – gewiß heute thu’ ich’s, dachte sie im Stillen. „Ach Helene,“ fügte sie verzweifelt hinzu, und lehnte sich in den Fauteuil zurück, den Kopf in die gefalteten Hände legend.

Helene sah verständnislos über Melys Schulter hinweg und lächelte ebenso einfältig, wie ihre Mutter. Sie wissen alle beide, daß ich nichts habe, dachte Mely. Wo ist jetzt diese ganze Liebenswürdigkeit und Freundschaft? Sie redete sich in einen bitteren Menschenhaß hinein. „Sie brauchen keine Angst zu haben, Frau Bender,“ sagte sie kühl. „Sie werden durch mich um nichts kommen.“

„Fassen Sie das nicht so auf, Fräulein,“ entgegnete Frau Bender mit großer Herzlichkeit. „Ich bin nur besorgt um Sie. Wie schlecht sehen Sie aus, ganz mager sind Sie im Gesicht geworden. Sie müssen doch etwas thun, irgend etwas!“

Mely antwortete nichts. Sie nagte an ihrer Unterlippe, daß die Haut riß. Mit weitgeöffneten Augen saß sie da und blickte nach oben, ein Bild der Hülflosigkeit.

Kurze Zeit darauf kleidete sie sich an und ging fort. Bald überfiel sie die Müdigkeit, und ihr Gesicht hatte einen klagenden und bekümmerten Ausdruck. Das leuchtende Blaß ihrer Haut unter dem schwarzen Schleier hatte etwas Krankhaftes, und auch ihr lässiger Gang hatte gleichsam dies Klagende, Zielunbewußte. Sie fühlte Hunger und suchte ein vornehmes Restaurant im Innern der Stadt auf. Aber als das Essen vor ihr stand, sah sie, daß sie sich getäuscht hatte, denn sie brachte keinen Bissen hinunter. Sie bemerkte mit Schrecken, daß sie fieberte; es fror sie. Rasch zahlte sie und ging, von zahlreichen, bewundernden Männerblicken verfolgt.

Sie betrat ein Waffengeschäft und kaufte einen sechsläufigen Revolver für fünfzehn Mark. Sie ließ sich den Mechanismus erläutern, und dann bestieg sie eine Droschke. Es hatte zu regnen begonnen, und der Regen war mit Schneeflocken vermischt. Sie hatte Kopfschmerz, und ihre Zähne klapperten. „Ich habe nichts mehr zu leben,“ sagte sie sich, während sie wie erstarrt im Wagen lehnte und die Beine ausstreckte. „Was soll ich noch leben, das hat ja gar keinen Wert.“

Sie stand in ihrem Zimmer, ohne daß sie wußte, wie sie heraufgekommen war. Sie erinnerte sich nicht, den Kutscher bezahlt zu haben. Lange Zeit hindurch – länger als eine Viertelstunde blickte sie in den Spiegel. Da lächelte sie bisweilen hochmütig, aber sie erschien sich fremd. Sie hatte das Gefühl, als könne sie nicht mehr das denken, was sie denken wollte. Sie dachte nicht an den Tod, den sie doch suchte, und den sie doch mehr als jeder andere Mensch fürchtete, sondern sie dachte: das Roastbeef, das ich mir da im Restaurant geben ließ, sah sehr schön aus. Schade, daß ich es nicht gegessen habe. Oder: mein Schleier hat ein großes Loch; man kann nicht mehr damit ausgehen. Oder sie hatte den Wunsch, ein Erdbeben möchte eintreten und das Haus, die Stadt möchten zerstört werden, nur damit dies langsam Erdrückende ihrer Lage ein Ende habe.

Es war dunkel geworden. Sie zündete die Kerze an. Der Regen klatschte an die Scheiben. Im Korridor machte Dele mit einer Spielgenossin großen Lärm. Die Hausfrau hantirte in der Küche. Alles war verstimmend, freudlos, hoffnungslos für die Sinne Melys. Sie glaubte jetzt ganz ruhig zu sein, und sie sagte sich das auch. Ja, sie sagte es leise vor sich hin und verwunderte sich noch im Stillen darüber. Bald aber schlug ihr das Herz wie ein Hammer so kräftig, es schlug zum Zerspringen. Sie wollte die Thür verriegeln, doch fand sie, daß sie es schon vorhin gethan hatte. Sie lachte einmal laut auf, ohne zu wissen weshalb. So eine Dunkelheit herrschte in ihren Gedanken.

Plötzlich nahm sie die Schußwaffe in die Hand und sagte dabei laut: „Es ist ja ein Unsinn, aber ich thu’s doch.“ Ihr Arm zitterte heftig; eigentlich war es kein Zittern, sondern ein Auf- und Niederfahren, genau im Takt der Herzschläge. Sie war wie besinnungslos. „Das Licht sollte ich auslöschen,“ flüsterte sie. „Aber nein, nein, nein,“ entschied sie dann trotzig, „es mag brennen bleiben.“ Und sie nickte der Flamme flüchtig zu.

Sie spannte den Hahn und drückte. Es knackte wohl, aber der Schuß ging nicht los. Sie wartete einige Sekunden. Sie war verstört, einer Ohnmacht nahe. Sie probirte am Schloß der Waffe, aber ihre Bemühungen waren erfolglos.

Sie setzte sich aufs Sofa. Die Füße waren bleischwer. Die alte Unruhe und die alte Angst kamen wieder. „Nun, ich werde morgen zu dem Verkäufer gehen und den Revolver untersuchen lassen,“ beschloß sie achselzuckend. Sie wußte genau, daß sie diesen Vorsatz nicht ausführen würde.

Man klopfte an die Thür. Die Magd bat zum Abendessen. Mely, froh, daß ihr Alleinsein ein Ende habe, kleidete sich rasch um, verlöschte die Kerze und ging hinaus.

Als sie das Eßzimmer betrat, sah sie einen jungen Mann am Tisch sitzen. Frau Bender stellte vor: „Herr Falk – Fräulein Mirbeth.“