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Engelhart Ratgeber

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Engelhart fragte, wie es Abel ergehe; Herr Ratgeber antwortete stolz, der bringe sich durch, der sei tüchtig und werde offenbar ein großer Mann. Doch wenige Tage darauf kam über Abel furchtbare Nachricht aus Amerika. Er hatte wieder einmal Dummheiten gemacht und war entlassen worden; dann war er irgendwohin ins Innere des Landes gefahren, hatte Schweinfurter Grün genommen und sich zum Überfluß ins Wasser gestürzt. Ein Farmer hatte ihn aufgefischt, und jetzt lag er in einem Hospital in Ohio und mußte außerdem, wie dort üblich, wegen des versuchten Selbstmords Strafe gewärtigen. Herr Ratgeber war gerade beschäftigt, sich zu rasieren, als der Unglücksbrief kam. Die Frau las ihn weinend vor, Herr Ratgeber legte zitternd das Messer beiseite und stieß, immer jenes entsetzliche Schmunzeln um den Mund, dumpf klagende Töne aus. Mit der halbbarbierten Wange setzte er sich an den Tisch und schrieb sogleich einen langen Brief. Fast feindselig beobachtete Engelhart die flink über das Papier sich bewegende Hand. ›Wenn er nur seine hochtrabenden Worte setzen kann,‹ dachte er; ›wahrscheinlich jammert er wieder über das Schicksal und die Undankbarkeit der Kinder, und nie scheint er zu ahnen, daß er bloß erntet, was er selber gesät.‹

Es half nichts, Herr Ratgeber mußte Geld nach Amerika schicken, aber von diesem Tag an war seine beste Hoffnung dahin und er wurde ein wenig stiller und schweigsamer als bisher. Zu vielem Nachdenken ließ ihm sein Beruf keine Zeit. Er war beständig auf den Beinen, gönnte sich kaum die Ausgabe für die Pferdebahn und kam oft so abgeschlagen heim, daß er sich gleich nach der Mahlzeit zum Schlafen hinlegte. Die Gesellschaft, für die er arbeitete, wußte ihm wenig Dank und glaubte wie die schlechten Erzieher, durch Aufmunterung ihren Vorteil zu versäumen. Es war nur ein beständiges Hetzen und Stacheln, um jede gerechte Entschädigung mußte er feilschen, und in seinem Ärger über solche Unbill konnte sein Auge einen irren und hilflosen Ausdruck annehmen. Seine Sprache gegenüber Engelhart war bitter und gereizt; er schämte sich vor seinen Bekannten, daß er einen erwachsenen Sohn zu Hause sitzen hatte, der nichts war, kein Amt bekleidete und es darauf anzulegen schien, den Seinen zur Last zu fallen. Vergeblich suchte er ein Unterkommen für ihn, und so oft er Engelhart antrieb, daß er selber etwas tun solle, setzte ihm dieser eine unbegreifliche Verstocktheit entgegen. »Ich kann dich nicht ernähren,« sagte Herr Ratgeber dann, und dunkler Zorn machte sein Auge wild; Engelhart aber hörte nur: ich will dir nicht helfen. Ein Wort gab das andre, und schließlich forderte der Vater mit leidenschaftlicher Heftigkeit jene fünfzig Mark zurück, die er damals nach Freiburg geschickt. Er forderte sie in einem Ton zurück, als wolle er sagen: gib mir die Träume wieder, die Erwartungen, die ich einst von dir gehegt. Engelhart war erstaunt und entgegnete verzweifelt, ob man ihm denn das Fleisch aus dem Leibe zu schneiden gedenke. Er redete mit wunderlicher Glut von der Zukunft, so wie Leute sprechen, die mit den eignen Worten ihre Zweifel ersticken wollen, aber Herr Ratgeber antwortete mit einem höhnischen Lachen. »Du bist nur da, um Herzen zu zertreten,« sagte er zitternd. »Ein Prahler warst du von je; was soll dies Nichtstun bedeuten? Glaubst du denn, wenn du in der Nacht vor deinem Schreibpapier sitzest und sinnloses Zeug malst, glaubst du denn, daß du damit je einen Bissen Brot erwirbst? Es ist ein Betrug an dir und an uns.« Und Engelhart erwiderte unbesonnen: »Ja, Vater, warum hast du mich denn auf die Welt gesetzt?« Da schwieg Herr Ratgeber und war, ohne daß er es zeigte, im Tiefsten beleidigt und verwundet; ›ein Kind, das seinen Vater schlägt,‹ dachte er. Doch immer fing der böse Streit über jene fünfzig Mark von neuem an, so daß Engelhart keine größere Sehnsucht kannte, als dies Geld zu besitzen, es ihnen vor die Füße zu werfen und ihnen Liebe und Achtung zu kündigen für immer. Eine stille und unaufhörlich wachsende Erregung ergriff wie eine geheimnisvolle Krankheit Geist und Leib. Nun kam es aber bisweilen vor, daß Herr Ratgeber von dem Verlangen gepeinigt wurde, den Grund dieses zerstückten und schwelenden Wesens zu erforschen; nicht selten stand er des Nachts an der Kammertür und lauschte, was Engelhart wohl drinnen treiben mochte; offen zu fragen getraute er sich nicht, glaubte auch seinen Stolz und seine Autorität dadurch zu gefährden; bei Tisch geschah es, daß er einen schüchtern fragenden Blick auf den Sohn warf, wenn er annahm, daß seine Frau es nicht bemerken konnte. Oder er begann von den Männern des Geistes zu reden, denen er noch immer einen ungeschmälerten, beinahe abergläubischen Respekt entgegenbrachte; von denen, die im öffentlichen Leben standen, von denen, die es so weit gebracht hatten, daß eine Zeitung ihre Feder in Dienst nahm. Er erzählte, wie schon so oft, daß er im Jahre siebzig an der Wirtstafel eines thüringischen Städtchens neben dem großen Karl Gutzkow gesessen sei, und fügte hinzu: »Ja, das waren eben lauter hochstudierte Männer.« Engelhart schwieg. Sein Sinn war verhärtet und voll Hohn. Wähnte er doch weit über den Götzen zu stehen, die seines Vaters Ehrfurcht genossen. Und er haßte die Schrift, die schamlose Entblößung der Seele durch die Schrift, fürchtete jenes Siegel zu brechen, mit dem der Schöpfer das Mysterium des Schaffens versiegelt hat. Es war ihm noch alles Leben, bloßes, einfaches Leben, angefüllt mit unentweihten Gesichten, grenzenlosen Möglichkeiten. Scham hätte seine Lippen verbrannt, wenn sie davon gesprochen hätten. So mag es Adam in der ersten Paradiesesnacht zumute gewesen sein; der Baum, der Fels, die Wolke, die Dunkelheit selbst, nichts war ihm Wirklichkeit, alles Symbole seiner Angst, seines Zagens und seiner Hoffnung, und mehr als Weib und Schlange brachte ihn der Tag zu Fall.

Indessen verging die Zeit, und Engelhart mußte allgemach auf irgendeine Verbesserung seiner Lage sinnen. Es schmeckte ihm der Bissen nicht mehr, mit dem sie seinen Hunger stillten. Zwischen ihm und der Stiefmutter wuchs die Erbitterung bis ins Maßlose. Kaum daß er ihr des Morgens unter die Augen getreten war, begann sie sein Ohr mit Anklagen und Vorwürfen zu füllen, und sie verstand es, mit vergifteten Pfeilen die empfindlichsten Stellen zu treffen. »Von je warst du ein Taugenichts,« hieß es, »schon in der Schule hast du nicht lernen wollen; geh nur mit deinen Luftschlössern, es sind lauter Lügen, du bist ja ein geborener Lügner; natürlich, davon willst du nichts wissen, aber seit ich dich kenne, lügst und betrügst du; damals mit den Äpfeln, was war das doch für eine Niedertracht, und später hast du mich beim Vater verleumdet, du wirst’s noch weit bringen, du wirst deinen Vater ins Grab bringen;« in solchem Ton steigerte sich die Rede, und Engelharts Blut lief schwer und brennend durch die Adern. Die endlosen Beleidigungen verursachten ihm körperliche Übelkeit und Ermattung, er verlor den Schlaf und sann in seinem schlechten Bett mit beklommenem Herzen vor sich hin. An einem heißen Mittag im August kam er, nach mancherlei fruchtlosen Gängen aufs tiefste entmutigt, aus der Stadt zurück und setzte sich in Erwartung des Mittagbrotes an den schmalen Tisch in der Küche. Der Vater war in Geschäften nach Landshut gefahren und sollte drei Tage fortbleiben. Nachdem er eine Weile gesessen und in den düstern und schwülen Lichthof gestarrt hatte, sagte Frau Ratgeber, heute habe sie nichts gekocht, und damit warf sie ihm ein Stück Brot hin. »Wie? ist dir’s vielleicht nicht recht?« fuhr sie auf, als er die Lippen verzog. Sein Schweigen reizte sie, wie jede Antwort sie gereizt hätte. »So ein Lump,« grollte sie vor sich hin, »will nicht arbeiten, stiehlt dem Herrgott die Tage und seinem Vater den letzten Groschen.« Engelhart stand auf und wiederholte mit zitternden Lippen: »Lump?« Die Frau stellte sich ihm gegenüber, und ihre glanzlosen Brombeeraugen drehten sich konvulsivisch: »Ja!« fauchte sie, »Lump! Lump! Lump! Glaubst du, wir wissen nicht, was du für schlechte Streiche in Freiburg gemacht hast? Steh nur da wie ein Herr, glaubst du, man weiß nicht, daß du ins Zuchthaus gehörst?« Engelhart schrie auf; der ganze Raum verschwand und nichts blieb übrig als ein großes blankes Küchenmesser, das am Herdrande lag. Dorthin griff er, schwang die Klinge in die Luft, schrie abermals, die Frau stürzte mit vors Gesicht geschlagenen Händen zurück, er folgte ihr, aber dann kam die Hemmung, jenes unbegreifliche Etwas, das den Menschen solcher Art zu keiner sich selbst vollendenden Handlung gelangen läßt, das in die dunkelste Nacht ihrer Leidenschaft wie ein Funke fällt oder wie eine unüberhörbare Stimme tönt. Er verlor das Bewußtsein und fiel nieder. Als er erwachte, wusch ihm Frau Ratgeber das Gesicht mit Essig. Sie weinte, war aufgelöst in Tränen. Nach einigen Minuten hatte er sich so weit erholt, daß er aufstehen und sich zum Fortgehen anschicken konnte. Die Frau erbot sich, Kaffee zu bereiten, er schüttelte den Kopf und verließ die Wohnung.

In einer nahegelegenen Straße wanderte er von einem Eck zum andern bis gegen Abend beständig hin und zurück. Dann war er einigermaßen gesammelt, las die Vermietezettel vor den Haustoren, stieg in einem weitläufigen Gebäude bis unter das Dach, mietete die ausgeschriebene Mansarde und schickte sich gleich an, die Nacht hier zu verbringen. Am andern Morgen überlegte er lange hin und her, wie er zu seinen Habseligkeiten kommen könne; endlich entschloß er sich doch, selbst in die väterliche Wohnung zu gehen. Glücklicherweise war Frau Ratgeber auf dem Markt, und eine Zuspringerin, welche die Böden fegte, behütete das Haus. Er packte eilig seine Sachen in den Koffer und stellte Betrachtungen darüber an, was er von all dem verkaufen könne, um sich ein wenig Geld zu verschaffen. Es war nichts, er besaß lauter ärmliches Zeug, das ihm noch dazu unentbehrlich war. Da fiel sein Blick auf das Bücherregal des Vaters; die Bände standen noch immer in derselben Reihenfolge wie vor vielen Jahren, als ob keine Hand inzwischen sie berührt hätte. Er suchte drei oder vier Bände heraus, von deren Erlös er sich etwas versprechen konnte, schrieb einen Zettel an den Vater, worin er die Tat bekannte, fügte seine Adresse bei und legte den Zettel an eine Stelle, wo ihn der Vater, und nur er allein, finden mußte, nämlich in die Schublade, wo sich das Rasiergeräte befand. Die Bücher verkaufte er am selben Tag und erhielt zwei Mark dafür.

 

Das war an einem Donnerstag. Am Samstag in der Frühe erhielt er einen Brief vom Vater. »Lieber Engelhart,« begann das Schreiben, »zwischen uns ist von heute an jedes Band zerschnitten. Über den Vorfall mit der Mutter will ich kein Wort verlieren, darüber zu sprechen, verbietet sich von selbst. Gott verzeihe mir, daß ich Dich nicht zu einem besseren Sohn und brauchbaren Menschen herangebildet habe. Außerdem hast Du, um es ganz frei herauszusagen, ordinär gegen mich gehandelt, indem Du hinter meinem Rücken die Bücher verkauft hast, für die Du doch nur ein paar elende Pfennige erhalten konntest. Es fehlt mir mein französisches Wörterbuch, dann das Werk ›Kraft und Stoff‹ und Freytags ›Verlorne Handschrift‹. Ich hatte diese Bücher lieb, sie waren mir wie Freunde, sie haben mich über den größten Teil meines Lebensweges treulich begleitet, und ich misse sie mit schwerem Herzen. Handelt man so gegen den Vater, der es doch stets gut mit Dir gemeint hat? Das hätte ich nie und nimmer von Dir gedacht, und zur Erklärung kann ich nur annehmen, daß Dein sittliches Gefühl getrübt ist. Doch genug, ich habe mich über die Geschichte so alteriert, daß ich es nicht in Worte bringen kann, und deshalb lege ich auch die Angelegenheit ad acta

So weit der Brief. Aber es war auch eine kleine Nachschrift dabei, ein unerwartetes und rührendes Anhängsel: »Hierbei schicke ich Dir, obwohl ich es hart entbehre, fünf Mark in Briefmarken, damit Du nicht hungern mußt.« Und wie ein bunt kariertes Fähnchen hingen die angeklebten Marken vom Rand des Briefblattes herab. ›Er will sich einschmeicheln,‹ dachte Engelhart, und sein Sinn blieb starr.

Von seiner Mansarde aus konnte er über die meisten Häuser der Umgebung hinwegblicken, und bei Nacht hatte er ein großes Stück Sternenhimmel vor sich, während aus den Höfen die beleuchteten Fenster heraufglühten und mit dem Vorrücken der Stunden nach und nach erloschen. In den ersten Tagen war der Morgen eine goldene Zeit, denn die Sonne schien geradeswegs ins Fenster, keine unwirsche Hand drohte an die Tür zu klopfen und zur Tätigkeit zu mahnen, und die Gewißheit, daß die bösen Träume der Nacht etwas Bestandloses und Unwirkliches waren, genoß sich wie eine herrliche Speise. Der jähe Frieden inmitten einer bewegten Stadt hatte etwas seltsam Betäubendes. Zunächst galt es, das winzige Kapital möglichst praktisch auszunutzen, es gleichsam dünn und breit zu schlagen. Von der Vermieterin verschaffte er sich einen Kochtopf und einen Spiritusapparat, dann kaufte er einen kleinen Sack Äpfel, ferner einen Vorrat von Käse, Kaffee und Zucker. Die Äpfel schälte er und kochte sie zu Mus, und das gab eine Mittagsmahlzeit, morgens und abends nahm er den eigengebrauten Kaffee zu sich und hatte bald die Kunst entdeckt, wie man ihn auf die einfachste Weise schwarz und stark werden läßt. Aber die zwei Taler waren bald dahin, und die Vorräte im Schrank dauerten auch nicht gar lange. Was war zu tun, um dem schmerzhaften Hunger zu entgehen? Engelhart studierte die Stellenangebote in den Zeitungen, und da er das teure Geld nicht für Briefmarken ausgeben konnte, lief er selber überall hin und stand oft in der Frühe mit hundert andern vor dem Ausgabeort der Zeitungen. Dann fing das Marschieren an, straßauf, straßunter, immer mit einem Keimchen von Hoffnung in der Brust; schüchtern trat man vor irgendeinen Herrn hin, der in einem muffigen Schreibzimmer saß wie eine Spinne im Mauerwinkel, aber jedesmal war schon ein andrer dagewesen, der es wahrscheinlich noch billiger machte und auch einschmeichelndere Manieren gezeigt hatte. Mit heiß und kaltem Körper schlich dann der Bittsteller demütig wieder heimwärts und kaufte für das letzte Restchen Mammon ein paar Gramm Tabak. Es war ein Glück, daß sich der Herbst mit schönem Wetter anließ, da brauchte man wenigstens keinen Regenschirm, und die defekt gewordenen Stiefel schluckten statt Wasser bloß Staub. Einmal nun hatte Engelhart einen wunderbaren Einfall. In einer Stadt, sagte er sich, wo so viel hunderttausend Menschen leben und unter ihnen so viel reiche Menschen, zugereiste Fremde, ja sogar Fürstlichkeiten und der königliche Hof, in einer solchen Stadt muß doch notwendigerweise auch einiges Geld auf der Straße verloren werden; wenn also einer es unternimmt, zu suchen, geschickt zu suchen, und besitzt Instinkt zu dergleichen, so kann es am Erfolg nicht mangeln; angenommen, ich entdeckte auf solche Manier einen Brillantschmuck im Werte von soundsoviel tausend Mark, so steht mir als Finderlohn der zehnte Teil zu, und ich bin aus der Patsche. Die Logik dieser Überlegungen entzückte ihn in so hohem Maß, daß er sich ungesäumt ans Werk begab. Mit gesenktem Kopf und aufmerksam auf das Pflaster gerichtetem Blick strich er langsam durch die Hauptstraßen und die vornehmen Quartiere. Vor den Gasthöfen, wo die Fremden abstiegen, stand er wie ein Wachtposten, blickte in kein Gesicht, sondern starr und begehrlich zu Boden. Sah er von fern etwas schimmern, so eilte er mit klopfender Brust darauf zu und erblaßte, wenn es nur ein Fetzen Stanniolpapier oder ein Messingknopf war. Stundenlang ging er in der Bahnhofshalle umher, dachte sehnsüchtig an das viele Geld, das dort an den Schaltern ausgewechselt wurde, und wünschte sich nur ein Tröpfchen von dem Überfluß. Er wurde zornig, wenn seine Gedanken abschweifen wollten von der Erde, wenn sie in der Luft suchten, was doch zweifellos unten im Schmutze lag, aber es half alles nichts, er fand nie auch bloß eine Kupfermünze, viel weniger den besagten Brillantschmuck.

Es nahte die Zeit, wo die Miete fällig war, es mußte etwas geschehen, auch der Magen ertrug es nicht länger. Die Frau, bei der er wohnte, war eine gutmütige Person, sie drängte nicht und schien Mitleid zu haben, obwohl er nie mit ihr über seine Lage sprach, sondern im Gegenteil unbekümmert drauflos prahlte von steinreichen Verwandten, hochgestellten Freunden und illustren Beziehungen jeder Art. Aber er war doch froh, wenn die Alte am Abend eine Schüssel mit Salat, ein paar Kartoffeln oder eine halbe Wurst auf seinen Tisch gebracht hatte, und kam zu dem wehmütigen Schluß: ohne Menschen geht’s eben nicht. Eines Tages fragte er in einem Warenbazar um eine Stellung an, und sie nahmen ihn, ohne viel nach seinen Kenntnissen zu fragen. Kenntnisse waren auch nicht erforderlich, er mußte des Morgens die Fußböden ausspritzen und kehren und den ganzen übrigen Tag, mit einer Schildmütze versehen, durch die Stadt rennen und Lieferungszettel austragen. Dafür bekam er fünfzig Pfennig jeden Abend. Vielleicht hätte er dies noch erduldet, aber mit dem groben und perfiden Wesen, das da herrschte, konnte er sich nicht befreunden, und er beschloß, lieber elend zugrunde zu gehen, als jeden Stolz zu vergessen und der getretene Knecht von Knechten zu sein. Sieben Tage hatte die Herrlichkeit gedauert, dann kroch er wieder in sein einsames Loch. Darauf fand er Arbeit bei einem sonderbaren Mann, dem Redakteur eines patriotischen Winkelblättchens. Der Mann hieß Saffran und hatte eine bläuliche Nase. Er verfaßte Lobesartikel über den Regenten und die Häupter des Adels. Engelhart mußte nach dem Diktat stenographieren und zu Hause das Schriftstück ins reine bringen. Für die Großquartseite war der Preis von zehn Pfennig vereinbart worden, und Engelhart schrieb ganze Nächte hindurch, um eine lumpige Mark herauszuschinden. Nun war es aber des Teufels mit Herrn Saffran; erstens stellte er sich taub, wenn man Geld haben wollte, gebrauchte Ausflüchte, tat, als habe er schon Vorschuß gegeben, oder rannte plötzlich davon mit den Worten: »Ach Gott, ach Gott, Seine Königliche Hoheit haben mich ja zur Audienz befohlen;« zweitens aber zählte er die Silben, untersuchte, ob auf jeder Seite gleich viel Worte standen, und wenn die Sache nicht in Ordnung war, schlug er die Hände zusammen und jammerte laut über die Niedertracht der Welt. Er besaß den Orden für Wissenschaft und Kunst, und als Engelhart einmal mit düsterer Entschlossenheit seinen Lohn begehrte, nahm er das Ehrenzeichen und steckte es vor die Brust wie einer, der einen Stern vom Himmel gepflückt hat und sich damit böse Geister vom Leibe halten will, dann gab er noch allerlei sublime Redensarten von sich, bevor er endlich den Geldbeutel öffnete.

Auch diese Erwerbsquelle versiegte mit der dritten Woche. Um das Unheil voll zu machen, wurde die Mietsfrau sehr krank; sie wurde ins Spital geschafft, und Engelhart mußte ein andres Asyl suchen. Er fand ein Zimmer in der Heßgasse über eine Stiege, größer und freundlicher, aber auch teurer als das bisherige. Es war ihm selbst unerklärlich, weshalb er dies tat; aber er hatte das Gefühl, als müßten die Umstände sich bessern, weil er ein besseres Bett gefunden. Die Not, die er litt, machte ihn entschieden traurig und ratlos, aber es war, als könne sie nicht ganz in die Tiefe seines Herzens dringen, wie auch der Sturm nicht bis auf den Grund des Meeres dringen kann. Doch rückte ihm das Ungemach bitter zuleibe. Alles, was er nur im geringsten entbehren konnte, trug er zum Trödler, sogar den alten Reisekoffer, der ihn seit dem ersten Verlassen der Heimat begleitet. Schließlich entäußerte er sich auch des Ringleins, das er einst beim Abschied von Ernestine erhalten. In den ersten Oktobertagen wurde es kalt. In seinem Tagebuch gab Engelhart der Sehnsucht nach einem Ofenfeuer Ausdruck, indem er züngelnde Flammen um ein nacktes Männchen zeichnete. Alles Papier und die alten Zeitungen, deren er habhaft werden konnte, warf er ins Ofenloch und freute sich, wenn es prasselte, an der bloßen Illusion von Wärme. Seine Einsamkeit weckte seltsame Gelüste und Gewohnheiten in ihm. Etwa eine Viertelstunde vom Haus entfernt lag ein Kirchhof. Dorthin war bald sein täglicher Spaziergang gerichtet, und täglich stand er um dieselbe Nachmittagszeit vor dem Fenster des Leichenhauses, um die drinnen aufgebahrten Toten zu betrachten. Die Särge lagen offen nebeneinander, schräg gegen die Erde gestellt, so daß es aussah, als ob sich die starren Körper, wenn nur noch ein Fünkchen Wille in ihnen brannte, mühelos erheben könnten, oder als ob sie auch von selbst diesen Ort aufsuchten und verließen, um über Nacht wieder andern den Platz zu räumen. Engelhart war jedesmal neugierig, welche Gesichter er heute sehen würde, und er studierte in den des Lebens beraubten Zügen alle Offenbarungen des Leidens. Die niedrigen Begierden hatte der Tod nicht auszulöschen vermocht, manche faltenvolle Stirne war von Habsucht und Bosheit zerpflügt, mancher Mund schien von Wut zusammengepreßt, daß er verstummen gemußt, ehe das Ziel eines gemeinen Ehrgeizes erreicht war. Engelhart konnte sich oft kaum trennen von dem Anblick der Leichengesichter, er erschien sich wie ein Wächter, hingestellt auf die Brücke zwischen Lebenden und Toten, mit heimlichem Triumph und befriedigter Rache Zeugnisse der Vergänglichkeit sammelnd. War ein Antlitz unter den Toten, das in besonderer Weise auf ein Leben der Tücke, Trägheit und Lüge hinwies, so forschte er nach dem Namen und der Stunde der Beerdigung, folgte als letzter Gast dem Leichenzug und lauschte mit wunderlich glänzenden Augen den Lobpreisungen des Geistlichen und der Freunde. An den Fenstern des Leichenhauses schärfte er seinen Blick für die Eigenschaften des menschlichen Herzens, und es ging so weit, daß er auf den Gesichtern der Lebenden, die an ihm vorüberwandelten, die Züge seiner Toten wiederzuerkennen suchte und mit grausamer Lust alles erstickte, was von Liebeswünschen in seiner Seele wohnte. Dies Treiben setzte er so lange fort, bis er eines Tages ein junges Mädchen aufgebahrt sah, dessen Anblick ihm Tränen in die Augen trieb. Es war ein herrlich schönes Kind von gleichsam nur hingeträumter Gestalt, und die Wangen waren wie aus Abendröte geformt; die Haare schienen noch lebendig und flossen unruhevoll unter dem Myrtenkränzchen hervor. Engelhart blickte mit Liebe auf das fremde Wesen, plötzlich erwachte eine stürmische Begierde nach Musik und trieb ihn am Abend vor das Odeonsgebäude, aber sein Ohr fing nur ein paar matt verschwebende Harmonien auf.

In den Nächten war es nun so, daß er vor Hunger nicht schlafen konnte und in das Kissen biß; daß er aufstand und das Fenster öffnete, um den Frost zu spüren, um durch die heftige neue Empfindung die alte schleichende zu betäuben. Zwar dachte er jeden Morgen: ›Jetzt bist du der Wandlung um einen Tag näher, schlimmer darf es nicht werden, und zugrunde gehen wirst du nicht,‹ doch es war, als verdopple sich seine Verlassenheit, und es kam vor, daß er, in seinem Zimmer sitzend, die Türe nicht zuschloß, damit ein zufällig Vorbeigehender hereinschauen konnte. Plötzlich setzte er sich hin und schrieb an Schildknecht nach Zürich, zerriß den Brief, schrieb wieder, versteckte fast gauklerisch seine Not hinter den Zeilen, und während die Feder über das Papier lief, sammelte sich unter dem Gaumen Bitterkeit. Es war hauptsächlich von den Tränen am See die Rede und von dem, was damit zusammenhing und was nun ein melancholisches Bildchen wurde mit Blitzen, die über den Nachthimmel zuckten und einer Walzermusik vom Hause her.

 

Den Brief warf er unfrankiert in den Kasten, und er wußte jetzt, daß er seine einzige und letzte Hoffnung trug. Zwei Tage später kam Schildknechts eilige Antwort und zugleich eine Summe von fünfundsechzig Franken bar. Der gute Mensch hatte alles begriffen, und der Schreck war ihm in die Glieder gefahren. Es war auch höchste Zeit; Engelhart lief nach Brot, der Krämer borgte schon seit einer halben Woche nicht mehr. Erst als er sich gesättigt hatte las er Schildknechts Brief – ohne eigentliche Dankgefühle, eher staunend, daß noch eine Hand in der Welt sich für ihn regte. Schildknecht schrieb, daß er nun wieder eine auskömmliche Stellung gefunden habe, auch in der Heimat stünden seine Angelegenheiten gut, und er werde wohl demnächst heiraten. Den Vorwurf bösen Trotzes könne er Engelhart nicht ersparen, denn daß er keinen besseren Freund auf Erden habe als ihn, Justin Schildknecht, hätte er wissen und nie vergessen dürfen, auch wenn er ihm in desperater Laune einmal den Kopf gewaschen habe. Und was die Tränen am See anlange, so hoffe er dafür noch etwas recht Großes für Engelhart zu tun, er möge daher nicht danken für die erbärmlichen paar Goldstücke, sondern seinerseits sich weiterhin als Gläubiger betrachten. »Ich habe kein Talent zum Judas,« schloß der herzliche und ehrliche Brief, »und wenn ich auch nicht leugne, daß einer, der den Gott in sich spürt, einmal beim Satan gewesen sein muß, so möchte ich doch lieber selbst im Fegefeuer braten, als nur ein einziges Scheit Holz für einen Freund dazu herschleppen. Ihnen, lieber Ratgeber, wird sich eines Tages jählings dieselbe Welt zu Diensten geben, die sich jetzt so grausam verschließt. Dann werden Ihre jetzigen Leiden die bunten Gläser sein, durch welche Sie zurückblicken auf die Zeit, in der Sie sich noch ganz und gar besaßen, vielleicht sehnsüchtig werden Sie zurückblicken und werden ein wenig Dämmerung begehren, wenn überall das grelle Licht Ihrem Inneren nicht mehr mühelos zu träumen erlaubt. Sie werden gezwungen sein, aus dem Blut Ihrer Wunden Bilder zu malen, die man auf den Markt schickt, und das wird weh tun, und schließlich werden Sie das eigne Herz zu einem Marktplatz machen, wo Freundschaft und Liebe feilgeboten wird, und auch das wird weh tun, nicht Ihnen, sondern uns, mir, dem Freund.«

Engelhart ließ einige Tage verstreichen, in denen er angelegentlich über Schildknechts Worte nachdachte. Dann antwortete er folgendes: »Im Augenblick der größten Bedrängnis haben Sie ihre Hand nach mir ausgestreckt, lieber Freund, ich konnte Ihre Hand ergreifen und war gerettet. Die Tat soll Ihnen unvergessen bleiben, denn sie ist die Brücke, die mich wieder zu den Menschen führt. Wahrhaftig, ich habe schon verlernt, wie man mit Menschen spricht und wie man ihnen in die Augen sehen soll. Sie geben mir Hoffnung, daß alles, was ich jetzt erlebe, einst eine köstliche Speise für meine Erinnerung sein und daß dieses nun so Bittere dann süß schmecken wird. Aber was hilft es dem zum Krüppel geschlagenen Soldaten, wenn ihm später die Aufregungen der Schlacht herrlich dünken? Und daß ich zum Krüppel gemacht werde, zum Krüppel an Herz und Seele, das fürchte ich. Wir wollen uns doch nicht mit Redensarten trösten und jede Not zur Notwendigkeit stempeln. Einer Bestimmung zu leben ist ja schön, aber wo ist meine Bestimmung? Ich sehe sie nicht, ich fühle sie nicht. Jeder Straßenkehrer scheint mir mehr Bestimmung in sich zu tragen als ich, der ich ein von allen andern gemiedenes und wahrscheinlich mit Recht gemiedenes Zufallsgeschöpf bin. Was mich oft in seltenen Stunden beseligt, scheint mir widersinnig und haltlos, als ob man Nebeldunst an eine Spindel heften wollte, um Faden daraus zu drehen. Es ist ein treuloses Spuk- und Phantasietreiben, mit dem man sich selber um den besten Teil der Menschlichkeit betrügt. Doch ich kann nicht anders! Jetzt bin ich schon so weit verschlagen, daß ich nicht mehr weiß, wo es nach vorwärts und wo es nach rückwärts geht. Es ist ja auch gleich, denn die Welt ist rund. Wie dem aber sei, Sie haben redlich an mir gehandelt, teurer Schildknecht, als ein wirklicher Schildknecht haben Sie sich gezeigt, und von den bewußten Tränen am See soll nun nicht mehr die Rede sein. Ich war zu angespannt damals und zu sehr auf Ihr Wohlwollen angewiesen, ich hatte die übertriebensten und ungesundesten Vorstellungen von Freundschaft. Das ist nun vorüber. Was soll es auch heißen, sich an einen einzelnen zu binden, den man doch verlieren muß? Freundeswege müssen sich immer dort trennen, wo Herz dem Herzen gar zu nahe kommt, vielleicht Menschenwege überhaupt. Gleichgesinnte Geister finden sich doch immer wieder und werden aus eigenstem Interesse gegeneinander und gegen die Welt wirken, das übrige scheint mir auf schwächliche Empfindsamkeit hinauszulaufen. Man kann ja nicht einander um den Hals fallen, und so wird der Freund allmählich zur Surrogatfigur und muß enttäuschen, weil er ein Geschöpf der Sehnsucht aus ganz andern Bezirken ist. Nicht so ist es mit den Frauen, aber darüber habe ich nie mit Ihnen zu sprechen gewagt und will es auch jetzt nicht. Immerhin sollen Sie wissen, daß sich oft mein Inneres in einer ungeheuren Erwartung preßt und weitet und daß es Stunden gibt, wo ich wie in einem feurigen Fieber meine ganze bisherige Existenz als ein dunkles Hinströmen gegen eine noch unsichtbare Gestalt empfinde, die zu mir gehört wie der Morgen zur Dämmerung. Das mag eine ebensolche Illusion sein wie die von der Freundschaft, und sicher wird man eines Tages auch aus diesem Lügengarn sich wickeln, um eben kurzweg und einfach seinen Mann zu stellen, aber eine gewisse Summe von Leben und Erleben, von Umfassen und Sichlösen ist wohl nötig, damit man zu sich selber erwachen kann. Mit meinem Vater bin ich nun vollends auseinander, und ich bin froh, daß dies beschwerende Verhältnis aus meinem Dasein hinausoperiert ist. Ich bin sein Fleisch und Blut, aber nicht sein Geist und Herz, und das hab’ ich stets sehr zu büßen gehabt. Nun leben Sie wohl, Freund, und bleiben Sie mir gut.«

In dieser Zeit begann Engelhart sehr unter nächtlichem Traumwesen zu leiden. Zumeist träumte er Landschaften, doch in so unheimlicher Beleuchtung und Farbe, daß ihm angst und bang dabei ward. Oder er träumte, daß er sich in einer großen Gesellschaft von Leuten befand, die er gut kannte, von denen ihn aber keiner beachtete; sie mieden ihn, und wenn er dicht vor jemand hintrat, so schlug dieser die Augen nieder. Schmerzlich schloß er die Demütigungen in sich ein, nahm sich aber vor, bei Tisch eine Rede zu halten und, in das Gewand einer Parabel gekleidet, den Leuten ihre Niedertracht zu bedenken zu geben. Während er noch an den Worten herumzupfte, die er wählen wollte, erhob sich ein andrer und sprach solch sinnlos-witzelndes Zeug, daß alle lachten und zugleich schadenfroh auf Engelhart starrten. Oder er träumte, sein Zimmer befinde sich über dem Hof eines gewaltigen Hammerwerks. Er sieht, hört, spürt den Hammer, während er schläft. Plötzlich erschallen furchtbare Rufe: ›Zu Hilfe! zu Hilfe!‹ Man trägt ein Mädchen mit zerschmetterten Gliedern herein. Eine seltsame Leidenschaft zu der Toten durchdringt ihn bis zu den Fingerspitzen. Auf einmal wird sie lebendig, zu gleicher Zeit wird aus dem Zimmer ein riesengroßer Saal. Er will mit dem Mädchen, das sehnsüchtig begehrend nach ihm blickt, allein sein und die Türen schließen. Aber während er eine Türe zumacht, springen immer fünf, sechs andre auf, und fremde Leute huschen schattenhaft vorüber. Sein Zorn, sein Gram, seine Ungeduld werden ins unerträgliche gesteigert, schließlich will er jenes Frauenzimmer liebkosen, da verschwindet sie hämisch lächelnd durch ein Loch in der Mauer.