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Engelhart Ratgeber

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Es waren schlimme Wochen. Schildknecht schrieb nicht hoffnungsvoll. Seine Briefe sprachen an durch Geist und einen Ton freier Paradoxie, aber der Grimm über die Gebundenheit eines Lohnarbeiterdaseins knirschte aus jeder Zeile. Engelhart, der die Gesellschaft Schildknechts hart entbehrte, sah ein, daß er sich in diesem Fall nicht auf den Freund verlassen dürfe, und er nahm sich einstweilen vor, bald einen Entschluß zu fassen. Als er zufällig auf der Straße Herrn Zittel traf, fragte ihn dieser nach seinen Lebensumständen aus. Er antwortete zuerst mit prahlerischer Sorglosigkeit, als sei er im Begriff, eine Millionenerbschaft anzutreten, gab aber schließlich zu, daß er zwar nicht gerade einen neuen Posten suche, jedoch nicht abgeneigt wäre, bei günstigen Bedingungen zuzugreifen. Herr Zittel durchschaute das kindische Spiel und sagte, er könne Engelhart vielleicht dienlich sein, er solle ihm seine Photographie und eine Abschrift des Zeugnisses senden. Immerhin kann ich mich ja photographieren lassen, dachte Engelhart gnädig, und eines Morgens scheitelte er säuberlich sein Haar, steckte ein Veilchensträußchen ins Knopfloch und ging, zum erstenmal in seinem Leben, mit klopfendem Herzen zum Photographen. Sein Gesicht im Spiegel kannte er zur Genüge, es auf dem Papier zu sehen, reizte ihn plötzlich über die Maßen.

Mittlerweile hatte er nach mancherlei Formalitäten die Reste seines Vermögens erhalten und obwohl er beinahe die Hälfte zur Begleichung der Schulden sofort aufbrauchte, erschien er sich doch als ein Krösus. Frau Schildknecht, die er oft besuchte und der er von seiner veränderten Lage in seligem Übermut erzählte, tippte mit der Fingerspitze auf seine Stirn und meinte, da drinnen sei anscheinend wenig Verstand, doch sei er der reichste arme Mann, der ihr je untergekommen. Zu seinem Schrecken nahm er wahr, daß das Geld schneller verschwand als Wasser aus einem zerlöcherten Tiegel. Bisweilen suchte ihn einer von den Kumpanen Peter Palms auf – Geld hat einen durchdringenden Geruch – und redete ihm so lange um den Bart, bis er gutmütig ein Goldstück gab. An einem stürmischen Frühlingstag begegnete er vor der Stadtmauer Amöna Siebert. Sie sah fahl und vernachlässigt aus, gleichsam gewürgt vom Unglück, von früherer Schönheit waren nur noch traurige Spuren in ihrem Antlitz. Engelhart, entsetzt über die Geschwindigkeit eines solchen Verfalls, ging ein Stück Wegs mit ihr; es rührte ihn die mühsame Schelmerei ihres Lächelns und ihre fieberisch kalte Hand. Zuerst wagte er nicht, ihr Hilfe anzubieten, als sie dann wie zufällig vor einem Wurstladen stehen blieb und geistesabwesend auf die appetitlich ausgelegten Fleischwaren starrte, fragte er leise und schüchtern, ob sie Geld wolle, und steckte ihr hastig ein Papierchen in die Hand, worauf er wie ein Verbrecher davonlief.

Er verstand nicht das Geld; er war töricht genug, es zu mißachten; er wußte nicht, daß Geld auch edel sein kann; er hatte nur einfache Bedürfnisse, aber diese befriedigte er unbedenklich, ohne zu überlegen; manchmal gelüstete es ihn, den vornehmen Herrn zu spielen, dann machte er eine sinnlose Ausgabe, die einem vornehmen Herrn nie eingefallen wäre; unter anderm kaufte er ganze Stöße von teuerstem Schreibpapier, als ob er ein Papiergeschäft einrichten wolle. Als endlich sein enormer Reichtum bis auf etwa hundert Mark zusammengeschmolzen war, kam er zur Besinnung. Schon eine Woche zuvor hatte ihm Herr Zittel mitgeteilt, daß im Bureau der Gesellschaft »Minerva« im breisgauischen Freiburg ein Posten offen sei, mit neunzig Mark im Monat dotiert, er möge sich ohne Verzug dorthin wenden, und zwar solle er an den Generalagenten, Herrn Lutterott, persönlich schreiben. Er solle den Brief sorgfältig stilisieren, denn Herr Lutterott sei ein Mann von feinsten Umgangsformen, Reserveoffizier, und halte viel von Äußerlichkeiten. In der Angst, daß es schon zu spät sein könnte, setzte sich Engelhart, trotzdem schon Mitternacht vorüber war, gleich hin und verfaßte eine meisterliche Epistel, der es weder an Amtsschnörkeln noch an einer gewissen fachmännischen Eleganz gebrach; sein Konterfei legte er ohne besonderen Hinweis bei. Der Erfolg blieb nicht aus. Herr Lutterott antwortete, die Stelle sei zwar schon vergeben, aber an einen Unwürdigen, dem er die Tür zu weisen genötigt sei. Er nehme die Offerte an, Engelhart solle sich am fünfzehnten April in seinem Bureau einfinden, die Reisekosten würden nach dreimonatlicher zufriedenstellender Dienstleistung zur Hälfte ersetzt. Aus diesem Schreiben spürte Engelhart ahnungsvoll eine widerwärtige Geschraubtheit heraus, doch er war froh, dem gefährlichen Herumtreiben entrissen zu sein, und außerdem ging die Fahrt gen Süden, wenn auch nicht zu Schildknecht selbst, so doch in seine größere Nähe.

Am Tag vor seiner Reise spazierte Engelhart am Kanal entlang nach Fürth. Dort machte er seinem Vormund einen Abschiedsbesuch und hörte bei dieser Gelegenheit, daß Tante Lina Curius wahnsinnig und in eine Irrenanstalt verbracht worden sei, während Peter Salomon im Verein mit der Kroner das Haus behüte, noch immer darauf warte, daß sein Bauplatz ihn zum Millionär mache und sich inzwischen von Michael Herz ernähren lasse. Auch zu Iduna Hopf ging er, die noch immer in dem alten Haus mit den knarrenden Stiegen wohnte, jetzt einsam, da ihr Mann gestorben war; sie sah alt und müde aus. Überhaupt waren so viele gestorben und hingegangen in den wenigen Jahren, alte und junge: der Vetter Zederholz, das Fräulein Holländer, der alte Herschkamm, der Doktor Federlein, der epileptische Lechner. Auf der Königstraße gewahrte Engelhart plötzlich ein Gesicht, das ihm bekannt, ja vertraut erschien: es war Ludwig Raimund, sein erster Gespiele und Kamerad. Auch er erkannte Engelhart und sprach ihn freudig an; er war Chemiker geworden und war in der großen Anilinfabrik draußen bei Doos angestellt. Seltsam dies Wiedererkennen, wie sich die Züge des Kindes bewahrt, doch nur in der allgemeinen Linie des Antlitzes, während alle Flächen sich gedehnt hatten, die eine zur Leblosigkeit erstarrt, die andre von verborgenen Leidenschaften und unedeln Trieben verwüstet war. Erst schien er Engelhart noch ganz der alte, noch ebenso heiter und graziös, doch bald bemerkte er eine Art gnädiger Herablassung an Raimund wie bei einem Vornehmen, der dem Geringeren gegenüber seine Vornehmheit taktvoll verbirgt, auch eine gewisse ängstliche Unsicherheit wie bei einem, der angepumpt zu werden fürchtet und sich innerlich eine Ausrede zurechtlegt. Sie sprachen über dies und jenes, Raimund hatte lauter fertige Urteile, die meisten Fragen waren für ihn endgültig erledigt, und wenn noch irgendwo ein Zweifel in ihm steckte, so zuckte er die Achseln, als wollte er sagen: was mich betrifft, ich habe ein festes Einkommen, mit dem übrigen wird man schon fertig. Schließlich gingen sie in eine Bierstube, wo noch fünf oder sechs frühere Schulkameraden saßen und Karten spielten. Es waren lauter wohlbestallte Leute, die ihre Sorglosigkeit wie ein Plakat an der Stirn trugen; ihre Gesichter waren aufgeschwemmt, frühverlebt, sie witzelten, sie spöttelten, und in ihrem Gebaren lag gleichfalls das schamlose Geständnis, daß sie nichts andres schätzten als das feste Einkommen. Wenn Engelhart etwas sagte, blinzelten sie mißtrauisch mit den Lidern, dann musterten sie heimlich schielend seinen Anzug und seine schlecht sitzende Krawatte. Am herzlichsten benahmen sie sich, als er sich verabschiedete.

Er ging gegen die Altstadt und befand sich auf einmal in stiller Gasse vor dem Tor des Friedhofs, in welchem seiner Mutter Grab war. Er öffnete die Pforte, schritt hinein und wanderte eine Weile sinnend zwischen den uralten Steinen umher. In welchem Teil des Friedhofs das Grab lag, wußte er nicht mehr, und er hätte leicht vergeblich suchen mögen, wäre nicht ein eigentümliches Hinziehen gewesen, das er nie in solcher Stärke an sich beobachtet hatte. Endlich stand er vor dem rötlichen Sandstein, auf dem in halbverwaschenen Goldlettern der Name von Frau Agathe Ratgeber leuchtete. Das Grab war vernachlässigt, der Hügel ganz platt, keine Blume wuchs, nur Gras. Ringsum in solcher Nähe, daß es wie das Gedränge auf einem Jahrmarkt wirkte, standen andre verwitterte Steine, zudem herrschte nicht einmal Frieden, denn draußen vor der Mauer erschallte das lebhafte Gehämmer der Goldschläger und auf der andern Seite, hügelabwärts in der Ebene, keuchte und klapperte eine Dampfmühle. Doch war es eigen, daß ihn diese Geräusche mit besonderer Macht in seine Jugend zurückzogen. Traurige Jugend. Wie furchtbar die Stunde, als er drüben im Leichenhaus gesessen und schwarze Gestalten wisperten um ihn herum. Damals konnte er noch keine Empfindung dafür haben, daß sie mit kaum zweiunddreißig Jahren davonging; die Mutter ist für ein Kind alterslos. Freilich, das Leben hätte ihr noch bitterböse Geschenke gemacht, und doch! Leben, nur leben! Was gäbe es sonst. Irgendeine äußere Stimme rief: »Bete!« Er begriff nicht, wie man in solchen Augenblicken beten könne, alles, was an Wort und Ausdruck streifte, war erstickt, er spürte nur ein warmes Aufkochen des Blutes vom Herzen aus durch den Körper, und er konnte den Begriff des Todes nur umfassen, indem er das Leben doppelt inbrünstig fühlte. Wozu beten? sich selbst ausweichen? die wahre Andacht abweisen? Bevor er ging, riß er einen Grashalm ab und bewahrte ihn auf mit dem Gedanken: vielleicht ist er aus dem Saft ihres Auges gebaut.

Seines Vaters dachte er nicht; dieser lebte ja noch.

An einem Mittwoch Abend kam er in Freiburg an. Seine Brust wurde von Traurigkeit umschnürt, als er durch die Straßen der unbekannten Stadt ging. Es regnete und er besaß keinen Schirm; für hundert Überflüssigkeiten hatte er Geld ausgegeben, aber das Notwendige anzuschaffen, hatte er sich nie entschließen können. Er trat also unter ein Tor und ließ die fremden Menschen an sich vorüberwandeln.

Die Generalagentur der »Minerva« lag im ersten Stock eines villenartigen Hauses vor der Stadt; im Erdgeschoß befand sich eine kleine Weinwirtschaft. Dunkelblauer Himmel strahlte über den Häusern, als Engelhart am Morgen hinauswanderte, dunkelbewaldete Berge schienen auf allen Seiten die Flucht der Straßen zu begrenzen. Der Flieder stand schon blühend, seine Düfte flossen in Wellen durch die Gitter der zahlreichen Gärten. Hoffnungsvoll gestimmt, voll Lust und Ernst zur Arbeit, trat Engelhart vor Herrn Lutterott und war nicht unzufrieden, als er erfuhr, daß er der einzige Beamte des Bureaus sein würde.

 

Herr Lutterott war ein Vierziger, klein, feist, geschniegelt und gebügelt, mit einem Leutnantsschnurrbart und leutnantsmäßig schnarrender Stimme. Er empfing den neuen Untergebenen mit korrekter, jedoch etwas düsterer Höflichkeit und würdigte ihn einer längeren Ansprache, die den Eindruck des Auswendiggelernten machte. Die erste Hälfte jedes Satzes klang militärisch schroff und abgerissen, dann machte er eine Pause, in der er andächtig seine rosigen Fingernägel betrachtete, um mit pathetischen Wendungen und salbungsvoll ausladenden Gesten fortzufahren. Er verbreitete sich über die Pflichten eines Beamten; er verlange Pflichttreue und Sittlichkeit, sagte er. Bei dem Worte Sittlichkeit schloß er die Augen wie zum Schlafe. Er sagte, Engelharts Photographie habe ihm gefallen, es habe ihn erfreut, ein ehrliches Gesicht zu sehen, was ihm aber mißfallen habe und was er dringendst abzustellen bitte, das seien die Haare, die seit mindestens zwei Monaten nicht kurzgeschnitten sein konnten; das erinnere ja beinahe an einen Schauspieler oder Maler oder ähnliches Gelichter. Zum Schluß gab er Engelhart eine Wohnungsadresse, bestellte ihn für den Nachmittag und entließ ihn mit hoheitsvoller Kühle.

An diesem Tag, am Freitag und Samstag, gingen die Dinge nicht uneben. Herr Lutterott zeigte zwar stets das Benehmen eines regierenden Fürsten, und manchmal kribbelte es Engelhart in den Fingern, wenn der Mann mit müd-verachtungsvollen Blicken seine Befehle gab, aber vor dem Fenster, an dem er arbeitete, war ein Garten, und weiter draußen sah er Wiesen und darüber den hochwipfligen Wald. Leider mußte er Herrn Lutterott gleich um Vorschuß bitten, da alles Geld für die Reise aufgegangen war, und dies machte die übelste Wirkung; Herr Lutterott fuhr mit dem Zeigefinger zwischen Kragen und Hals umher und sagte mit leise wimmernder Stimme: »Es ist nicht korrekt, es ist nicht korrekt.« Am Sonntagmorgen nun kam er aus Eifer ins Bureau, obwohl dies nicht zu den »Pflichten« gehörte; um zehn Uhr erschien Herr Lutterott, aufs feinste herausgeputzt, im Salonrock und mit gestreifter Hose, eine Diamantnadel in der Krawatte, das Haar pomadisiert und bis zum Nacken gescheitelt. In seinem Privatzimmer empfing er einen alten Herrn im Zylinder, und Engelhart hörte ihn untertänig räuspern und säuseln, um halb elf kam er heraus, wieder ganz Fürst, und sagte kurzangebunden zu Engelhart: »Sie können jetzt in die Kirche gehen.«

Verwundert blickte Engelhart empor und antwortete: »Ich danke; ich gehe nicht in die Kirche, ich bin Jude.«

Herr Lutterott schnellte herum wie gestochen. Sein Gesicht war käseweiß. »Was – Jude?« stammelte er. Aufgeregt, mit kleinen Schrittchen trippelte er vor seinem Schreibtisch hin und her, hierauf verließ er das Zimmer. Engelhart legte die Feder weg und schaute, nichts Böses vermutend, doch überaus peinlich berührt, auf das halbbeschriebene Blatt, das vor ihm lag. Nach einer Weile kam Herr Lutterott zurück. Er wischte sich mit dem blendend weißen Taschentuch die Stirn, pflanzte sich neben Engelhart auf und ließ folgende kleine Rede vom Stapel: »Ich habe selbstverständlich nicht das geringste dagegen einzuwenden, daß Sie Jude sind. Nur, verzeihen Sie, kommt mir die Sache insofern überraschend, als ich nie die Absicht gehabt hatte, mich nicht dessen versehen hatte – um es kurz zu sagen, meine religiösen und menschlichen Überzeugungen wurzeln in ganz anderm Boden, und gewisse Erfahrungen, die das Leben lehrt, haben mir recht gegeben. Immerhin, ich gebe ja zu, daß man sich irren kann, es steht zu wünschen, daß Sie die löbliche Ausnahme bilden, sprechen wir also nicht mehr davon.«

Engelhart schwieg. Ihn ekelte.

Am andern Morgen brachte Herr Lutterott eine eiserne Geldkassette zum Vorschein, in deren einzelnen Fächern sich Silber- und Nickelmünzen befanden, ungefähr an hundert Mark. Herr Lutterott sagte, dies sei die kleine Spesenkasse, und damit Engelhart sehe, daß sein Vertrauen unerschüttert sei, überlasse er sie ihm zur Verwaltung. Bei diesen Worten erbleichte Engelhart, und es wurde ihm ein wenig schwindlig. In Herrn Lutterotts Gesicht lag ein seltsamer, arglistiger Triumph, den zu verbergen er sich keine Mühe gab. Seine Augen sagten: ›Wagst du es, dich an diesem Schatz zu vergreifen, und deine Armut, deine Herkunft lassen solches vermuten, dann wehe!‹ Denselben Ausdruck des Triumphes hatten seine Augen von Stund an, wenn er Engelhart ein Versehen nachweisen konnte, einen Schreib- oder Rechenfehler, wenn er ihn auf einer Vergeßlichkeit ertappte, wenn die Akten auf einem falschen Platz lagen. Er pflegte seine Befehle lispelnden Tons zu erteilen, und wenn ihn Engelhart nicht verstanden hatte und um Wiederholung eines Wortes bat, wurde Herr Lutterott scharlachfarben im Gesicht, sprang von seinem Stuhl auf und sagte alles, Silbe für Silbe, noch einmal mit scharfer, bissiger, feindseliger Stimme, wobei sein Blick grünlich funkelte. War ein einziger Satz eines langen Briefes nicht zu seiner Zufriedenheit stilisiert, so zerriß er den ganzen Bogen, schimpfte aber nicht, sondern machte nur eine vornehm abwehrende Handbewegung und verließ das Zimmer mit einem leichten Hüsteln oder Kichern. Kamen Unteragenten oder jemand aus der reichen Klientel oder sonstige Leute, so beliebte es Herrn Lutterott, Engelhart mit einer niederträchtigen Zumutung zu demütigen, etwa, er solle dem Herrn den Rockärmel abbürsten oder er solle die Tür vor ihm öffnen, oder er schrie ihn an, wenn seine Feder kratzte, und dergleichen mehr.

Engelhart erkannte wohl, daß dies Ranküne war, aber er trug es, weil er es tragen wollte. Er biß die Zähne zusammen und dachte, stärker zu sein als der Schmerz, den er über die unendlichen Beleidigungen empfand. Einst saß er während der Mittagstunde drunten in der Weinwirtschaft, als Herr Lutterott eintrat und am Honoratiorentischchen bei einigen älteren Herren Platz nahm. Engelhart blickte nachdenklich hinüber, in seinen Gedanken stellte er sich vor, daß dieser Lutterott doch schließlich ein Mensch sei und daß es vielleicht nur der rechten Worte bedürfe, um ihn auf den Weg der Billigkeit zu verweisen. Plötzlich nahm Lutterott ein Kärtchen aus seiner Brieftasche, schrieb etwas auf, rief die Kellnerin, und diese trat zu Engelhart und reichte ihm das Geschriebene. Er las: »Es ziemt sich nicht für den Untergebenen, seinem Chef frech ins Gesicht zu stieren.« Da stand er auf, wieder schwindelte ihn, diesmal vor Zorn, aber er beherrschte sich und ging.

Alles das dauerte an vierzehn Tage. Nun besaß Engelhart kein Geld mehr zum Notwendigsten des Lebens. Er wagte nicht, Herrn Lutterott um Vorschuß zu ersuchen, endlich aber zwang ihn die leibliche Not dazu. Er hatte es bis zur letzten Stunde des Nachmittags aufgespart. Kurz vor sieben Uhr brachte er sein Anliegen vor. Herr Lutterott stutzte, betrachtete die Spitze seines Stiefels und sagte, er habe den Geldschrank schon geschlossen, Engelhart müsse sich bis zum andern Morgen gedulden. Damit entfernte er sich rasch und überließ dem jungen Mann wie alltäglich das Schließen der Räume. Engelhart, der Hunger hatte und nicht wußte, wie er ihn stillen sollte, entschloß sich in seiner Hilflosigkeit, bis zum andern Morgen ein Darlehen bei der kleinen Spesenkasse aufzunehmen, die in seiner eignen Verwaltung stand, steckte ein Zweimarkstück zu sich, ging hin und aß sich satt. Gleich in der Frühe erinnerte er Herrn Lutterott an den erbetenen Vorschuß, da er vor allem den entnommenen Betrag wieder zurücklegen wollte. Doch Herr Lutterott erwiderte, während seine Züge sich verkniffen wie bei jemand, der in die Sonne blickt: »Gern, aber vorher möchte ich Ihre Kasse revidieren.« Engelhart wurde es kalt und heiß, denn er durchschaute nun die Infamie völlig. In einem Ton, dessen Ruhe ihm selbst auffiel, sagte er, daß er zwei Mark aus der Kasse genommen. Herr Lutterott lächelte unendlich vornehm und runzelte die Stirn. Er entgegnete, er wundere sich, daß ein so aufgeweckter Kopf sich nicht klar gewesen sei über die Folgen einer Handlung, die mit dem juridischen Begriff zu bezeichnen ihm Engelhart wohl erlasse. Daß nach einem solchen Vergehen von einem weiteren Verbleiben im Dienste der »Minerva« keine Rede sein könne, verstehe sich von selbst. »Sie haben zwanzig Mark Vorschuß, hier haben Sie noch zehn Mark, mehr war Ihre Arbeit ohnehin nicht wert,« schloß Herr Lutterott seine Rede, »und somit sind Sie ein freier Mann.«

Engelhart nahm seinen Hut, starrte noch eine halbe Minute die Türklinke an und ging. Jeder andre hätte gesprochen, wäre aufgebraust, hätte versucht, seine Würde zurückzuerkämpfen, ihm waren die Lippen versiegelt; im Grunde war er mehr erstaunt als erbittert.

Jetzt sollte er die für seine Verhältnisse ziemlich hohe Miete seines Zimmers bezahlen, er sollte essen, trinken, leben, aber womit? Er schrieb an Schildknecht und berichtete ihm das Vorgefallene, freilich nur andeutend, denn all die Niedertracht, die er so geduldig geschluckt, beichten zu müssen, hätte seinen Stolz verletzt. Sonderbarerweise verspürte er auch jetzt nicht den geringsten Zorn gegen den schändlichen Mann, eine naive Wehmut umdämmerte seine Sinne, und er war neugierig, wie all dies enden würde. Stundenlang wanderte er durch die schönen Villenstraßen dieser reichen und glänzenden Stadt, las die Namenschilder an den Pforten und beschäftigte sich mit den Träumen von Wohlhabenheit, Glück und Ehre. Es erschien ihm wahrscheinlich, daß unter diesen ruhig Besitzenden einer sich befand, der ihm Beistand und liebende Hilfe gewährt hätte, nur kannte er ihn eben nicht, jedenfalls sah er sich jedes der schmucken Häuser mit Bezug auf diese Vorstellung aufmerksam an.

Schildknecht antwortete in einem langen, bestürzten, heißatmigen Brief; auch seine eigne Existenz sei dort in der löblichen Schweiz, kaum neu aufgerichtet, wieder zertrümmert worden. Durch welche Schuld, sei ihm unbekannt, doch seien die Erinnyen fühlbar hinter ihm her. Er sagte, daß er nach Engelharts Gesellschaft Begierde trage, wie wenn er seit Jahrzehnten unter Hottentotten lebte, gleichwohl dürfe er ihn nicht ermuntern, zu kommen, denn der Boden sei ihm selber glühend unter den Füßen. Wie stets, kam er in verhüllten Wendungen auf die Pläne zu sprechen, die in seinem Hirn qualmten, und auf die Zukunft, die er als goldene Verheißung hinter den Gewittern erblickte. Engelhart war erwärmt und getröstet durch dieses Schreiben voll tiefer Herzlichkeit, aber geholfen war ihm damit natürlich nicht. Schon lebte er in Schulden, schon betrachteten ihn die Leute scheu und finster, schon stieg das Wasser bis zum Hals. Von einer Stunde zur andern gebieterischer bedrängt, eilte er aufs Postamt und depeschierte mit den letzten Pfennigen an die Adresse seines Vaters, er sei am Äußersten, Unerhörtes sei vorgefallen, der Vater möge ihm fünfzig Mark senden. Diese absichtlich aufgepeitschte Sprache tat ihre Wirkung, das Geld kam, es war fast, wie wenn ein von Räubern Angefallener mechanisch die Börse zieht. Doch ein paar Stunden später erhielt Engelhart auch einen Brief des Vaters.

»Du weißt, daß ich selbst mit mir zu kämpfen habe,« schrieb Herr Ratgeber, »und daß ich mich ehrlich und rechtschaffen durchbringe. Es ist ein himmelschreiendes Unrecht von Dir, mich auf diese Weise mit Geldforderungen zu belästigen. Ein junger Mann in Deinem Alter muß verdienen, was er braucht, und wenn nicht, muß er sich nach der Decke strecken. Was ist denn vorgefallen, oder wolltest Du mich nur durch Schrecken zwingen, Dir zu helfen? Wo hast Du die achthundert Mark Deines Erbteils hingebracht? Ich schinde mich wie ein Taglöhner, nein, ein Taglöhner hat Ruhe, wenn er gearbeitet hat, ich aber nicht, meine Frau gönnt sich keinen guten Bissen, wir gönnen uns keinerlei Vergnügen, und Du kommst, um die sauer ersparten Pfennige zu holen. Dabei nagt noch der Wurm in mir über Dein monatelanges Schweigen, Dein liebloses Wesen; wahrlich, Du zeigst mir zu brutal, daß Du nur einen Vater kennst, wenn Du etwas von ihm haben willst. Aber alles will ich ertragen, wenn Du nur in ordentliche Bahnen lenkst; laß doch endlich die Ideale und werde ein praktischer, brauchbarer Mensch.«

Zum Schluß hieß es: »Es grüßt Dich Dein Dich liebender Vater«; aber dies erschien Engelhart als bloße Floskel. Er antwortete dankend, besänftigend, ausführlich, doch ohne Herzlichkeit. Er hielt den Vater für geizig und nahm das Opfer des Spargroschens als etwas Selbstverständliches hin.

 

Eines Morgens packte Engelhart seine Siebensachen, zahlte die rückständige Miete, verließ das Zimmer, deponierte seinen Koffer auf dem Bahnhof, und nur mit einem winzigen Bündel belastet, marschierte er aus der Stadt und in den Wald. Er wollte wandern, gleichviel wohin, er wußte auch nicht wohin, er war satt von den Menschen. Er lief an diesem Tag die Kreuz und Quer und kam, da er keines suchte, auch zu keinem Ziel. In einer Waldwirtschaft nahm er Milch und Brot zu sich und erstieg hierauf die Höhe. Er strebte zu einer vom Sonnenuntergang beleuchteten Wolke und erblickte sie dann gegenüber, gleichsam auf der andern Seite der Straße. Am Rand einer Lichtung warf er sich müde hin, wartete noch, bis die Sterne entflammt waren, dann schlief er ein und erwachte erst wieder, als die Wipfel glühten und das Firmament von karmoisinfarbenen Zickzackstreifen bedeckt war. Seine Kleider waren feucht, rasch lief er den Hang herab, bis die Nässe verdunstet war. Er trank von einer Quelle und lauschte dem langsamen Gebimmel der Kuhglocken. Unweit davon war ein Holzplatz, auf dem noch niemand arbeitete; er fand eine Hacke am Schuppen, nahm ein Scheit und drosch darauflos: es stellte Herrn Lutterott vor. Zuerst hieb er ihm die Beine ab, dann die Arme, dann den Kopf, dann zerschmetterte er das Rückgrat. So verfuhr er auch mit andern Feinden und mit den Feinden Justin Schildknechts. Es war ein erfrischendes Geschäft.

Mittags begann es zu regnen, doch Engelhart ging ruhig weiter, halb beschützt vom Laubdach der Bäume. Die Schnittfläche von den Stümpfen abgesägter Bäume leuchtete wie gelbes Feuer durch die Nebelschwaden. Bisweilen blieb er an den Stümpfen stehen, zählte die Jahresringe und dachte, wieviel vollendete Schicksale hier verhaftet seien in dem schmalen Raum zwischen Ring und Ring. An der Waldöffnung gegen einen See kam er zu dem einsamen Haus eines Schwarzwaldbauern, da fand er Aufnahme und freundliche Bewirtung. Nach Name, Zweck und Herkunft wurde nicht viel gefragt, er teilte ihre Mahlzeit am riesigen Tisch und schlief im Heu. Am nächsten Tag fuhr er auf den See hinaus, landete an einem verödeten Teil des Ufers, erkletterte die Hänge, lag stundenlang regungslos auf einer Felsplatte und kehrte am Abend zum Hause des Bauern zurück. Für das Essen zahlte er ein paar Pfennige, das Nachtlager zu berechnen weigerte sich der Bauer.

Von einem höher gelegenen Weiler kam täglich zu früher Stunde eine kleine Schar von Knaben und Mädchen herab, welche die Schule im Tal besuchten. Gegen Abend kehrten sie wieder zurück. Vom Sehen, Grüßen und kurzem Zwiegespräch an war allmählich eine Art Vertraulichkeit zwischen ihnen und Engelhart entstanden. Er sah sie morgens von fern, wenn sie den Weg herabtrippelten, schritt ihnen entgegen, wenn sie vom Dorf heraufkamen, und begleitete sie heimwärts. Wenn er sich ins Moos setzte, rasteten sie auch und lagerten sich um ihn herum. Einmal kam die Rede auf Geschichten, und er begann Geschichten zu erzählen. Die bloße neugierige Verwunderung der Kinder verwandelte sich in Zuneigung. Die drei Mädchen pflückten ihm Blumen, die Buben sagten die einfältigen Verse auf, die sie gelernt hatten. Sie hielten ihn vielleicht für einen gutmütigen Schulmeister auf Urlaub, da sie vor ihm zu glänzen suchten. Aber sein Herz lag in tiefer Ruhe bis zu der Stunde, wo eine Gesellschaft von städtischen Ausflüglern am Weg vorüberwanderte. Ihr Lachen und ihre Gespräche scheuchten ihn auf, Ehrgeiz wurde wach, der seltsame Trieb, ihnen, diesen Fremdesten, etwas zu bedeuten, vor sie hinzutreten mit den Worten: »Ich bin Engelhart Ratgeber,« worauf sie schweigend die Augen senken und antworten mußten: »Sprich zu uns, verehrter Mann.«

Da fing also die Unrast an; und drei Tage später kam er an einen hochumgitterten Garten im Tal. Es war Sonnenuntergangszeit. Nahe dem Eingangstor saß ein junges Mädchen auf einer Steinbank. Sie trug ein schimmernd weißes Gewand, lose gegürtet, und hielt ein Buch auf den Knien, in dem sie blätterte. Von dem Pfirsichbaum über ihr tropften hier und da weiße Blütenblätter ab, und einige blieben in ihrem dunkeln Haar hängen. Es war ein Bild, das Reichtum, Glück und Schönheit in sich schloß. Engelhart, von den Gebüschen halb verborgen, blieb schweigend. Das, was er liebte und begehrte, hüllte sich ihm gern in schwermutvolle Schleier, und was andre zum Kampf ermunterte, weckte ihm nur das schamhafte Gefühl der Armut. Er fürchtete dies Los, zu dem er sich geboren sah: draußen zu stehen vor der Mauer, nein, vor dem Gitter, das den Augen alles gab und der Hand nichts.

In dieser Stunde liebte er das junge Mädchen, das er gewiß kaum beachtet hätte, wenn es ihm auf der Straße begegnet wäre, mit leidenschaftlichem Schmerz; ganz in sich versunken, floh er in den Wald zurück, ging und ging, immer dem schwachen Purpurschein nach, der zwischen den Stämmen glühte, durch all die bewegten Träume hindurch dem fernen Ruf eines Kuckucks lauschend, bis er zu spät inneward, daß er sich verirrt hatte. Die Wege wurden von hastig aufschwellender Dunkelheit verschlungen, Engelhart fing an zu laufen, bis er mit der Stirn an einen Baumstamm rannte. Er tastete mit den Armen umher, er suchte mit den Augen den Himmel, vergebens; ihm war, als könne er die Finsternis befühlen wie einen schwarzen, kühlen Körper. Er blieb stehen und horchte und vernahm nichts als das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Nun hatte er Angst vor jedem Schritt nach vorwärts, ihm schien, als werde er langsam in einem Trichter zur Tiefe gezogen, er umklammerte einen Baum und schrie auf, da dieser sich im Kreis mit ihm bewegte. Die Finsternis zerteilte sich gleichsam in Wolken, in rotumränderte, zuckende schwarze Fetzen, die sich zu wüsten Visionen ballten und, wie von einem Orkan gepeitscht, wieder auseinander flossen. Engelhart spürte die Blässe seines Gesichts, und plötzlich erstarrten seine Glieder, als er in weiter Ferne, durch Zweige flammend, ein unheimlich gelbes Licht gewahrte. Er brauchte Minuten, um sich zu sammeln und um zu erkennen, daß es der Mond war. Vorsichtig schreitend, ging er dem Schein entgegen bis zu einer Lichtung, die mit gefällten Bäumen besät war. Erschöpft sank er hin, konnte aber die Augen nicht schließen, sondern blickte lange Zeit unaufhörlich in den milchig bestrahlten Himmel. Ihn erschreckte alles, der Gedanke an die Tiefen und Höhen, an die Nacht und an die Sterne. Es blieb zu wenig übrig für das selbstsüchtige, sich selbst suchende Herz.

Als der Tag graute, fand er nicht ohne Schwierigkeit seine Bauernhütte. Er schlief lange, und nach Tisch verkündete er seinen Entschluß, weiterzuwandern. Da man ihn fragte, wohin, entgegnete er lächelnd: nach Süden. Der Bauer und sein Knecht begleiteten ihn bis zur Landstraße hinab, eine Stunde später war er auf dem Bahnhof und nahm ein Billett nach Basel. Von dort wollte er zu Fuß weiter, um seine Börse zu schonen. Weil er jedoch am Abend in Basel ankam und nicht in die Nacht hinein marschieren konnte, war er töricht genug, in einem nahegelegenen Hotel Quartier zu nehmen, was ihn mehr Geld kostete als viele Stunden Eisenbahnfahrt. Noch dazu mußte er sich ob seines Aussehens und des fehlenden Reisegepäcks halber – den Koffer hatte er an die Adresse des Vaters geschickt – eine wegwerfende Behandlung gefallen lassen, und es nutzte ihm nichts, daß er sich bei einer gelegentlichen Zwiesprache mit dem Portier als Philosoph von Beruf bezeichnete.