Der Geruch der Seele

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Damaskus, Juni 2010

Um acht Uhr wäre Tareks erste Vorlesung auf der Uni gewesen. Um Punkt acht Uhr öffnet er die Augen. Er hat schon wieder verschlafen. Kaffeearoma erfüllt den Raum und strömt in seine Nase. Seine Mutter hat wie jeden Tag den Mokka mit Kardamom nach ihrer Geheimmethode gekocht. Der Geruch hat auf ihn eine magische Wirkung, er ist blitzschnell hellwach und gleichzeitig von einer tiefen Ruhe erfüllt. Er hört Gesprächsgeräusche vom Balkon her. Die Nachbarinnen trinken den Mokka heute bei seiner Mutter. Sie wechseln sich jeden Tag bei ihrem festen Ritual ab, morgens gemeinsam Kaffee zu trinken, über die Nachbarinnen der anderen Wohnblocks zu lästern und neueste Informationen auszutauschen. Langsam steht er auf, ohne sich zu beeilen. Seit einiger Zeit lässt er die erste Vorlesung gerne ausfallen. Er hat die Begeisterung für das Studium der arabischen Literatur mittlerweile verloren, obwohl er als Jugendlicher große Liebe und Leidenschaft für die arabische Sprache und ihre Schrift empfunden hatte. Doch Arabischlehrer will Tarek nicht werden. Dafür hasst er die Schule zu sehr. Und er hat langsam begriffen, dass er vom Gedichteschreiben nicht einmal einen Hund ernähren kann. Früher schrieb er viele Gedichte über Liebe, Sehnsucht und Ekstase an eine fiktive Frau, häufig in der Mathematikstunde. Leider erwischte ihn der Lehrer ab und zu und es gab Schläge mit einer Holzstange auf die Hände für seine Unaufmerksamkeit. Nicht nur vom Lehrer wurde er ertappt, auch von seinem Vater. Einmal, vor dem Freitagsgebet, suchte sein Vater nach einer Nagelschere. Dabei öffnete Basam eine der Schubladen und fand die zusammengefalteten Zettel mit den Gedichten.

Basam las den ersten Text, in dem er sich darüber lustig machte, dass der verstorbene Vater des Präsidenten stets als ewiger Führer bezeichnet wurde. Basam stürzte in Tareks Zimmer und gab ihm wortlos eine solche Ohrfeige, dass Tarek minutenlang ein Klingen im Ohr hörte. Sein Vater zerriss den Zettel mit dem Text, drehte sich zu Tareks Bücherregal und riss einige Bücher heraus, die ihm Onkel Nisar geschenkt hatte.

»Dieser Blödsinn verdirbt deinen Kopf! Oder willst du dasselbe Schicksal wie Onkel Nisar erleiden?«, brüllte Basam, als er mit den Büchern das Zimmer verließ.

Nisar war vor drei Jahren verhaftet worden, und Basams Nerven waren deswegen auf das Allerhöchste angespannt. Denn als sein Bruder sich 2002 nach Abschluss seines Chemiestudiums mit seiner französischen Frau in Damaskus niedergelassen hatte, hatte er sich öffentlich zu Menschenrechten und journalistischer Freiheit geäußert. Er war daraufhin in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verhaftet worden und seither fehlte jede Nachricht von ihm und seinem Schicksal.

Basam verbrannte die Bücher und Tareks Texte. Seit diesem Abend schrieb Tarek nur mehr wenige Gedichte, jedenfalls nichts Politisches mehr, und Romane will er schon gar nicht verfassen. Er hält Schriftsteller für einsame Einzelgänger, die kein Sozialleben haben. Außerdem lesen Araber nicht viel, und wenn, dann meistens Werke von ausländischen Autoren. Die syrischen Autoren und ihre Werke verschwinden in den Kellern der Geheimdienste. In Baramkeh gibt es einen Buchbasar, das ist der beliebteste Ort in Damaskus, um Bücher zu kaufen. Die Händler dort verkaufen haufenweise ins Arabische übersetzte Trivialromane. Onkel Nisar ist Tareks Vorbild. Er stellte sich oft vor, was der Onkel im Gefängnis gerade machte.

Salma sitzt schon seit einer Stunde mit Wisal, Maisaa und Fardous, ihren Nachbarinnen, auf dem Balkon mit Ausblick auf die Stadt. Sie trinken ihren Mokka, und im Hintergrund singt Fairuz mit ihrer sanften Stimme. Das ist die morgendliche Göttin des Gesanges, eine libanesische Sängerin, deren Lieder jeden Tag von sechs bis neun Uhr in der Früh an jeder Ecke von Damaskus gespielt werden.

»Wieso bist du noch da?«, fragt Salma ihren Sohn. »Vielleicht solltest du dir irgendwann doch einen Wecker anschaffen, sonst schließt du dein Studium erst mit Krücken ab«, sagt sie, und die Nachbarinnen kichern. Von der Erfindung des Weckers hält Tarek nicht viel. Er behauptet immer, dass der Wecker ihn dumm mache und ihm den ganzen Tag eine Blockade im Kopf bescheren würde. Er wache lieber von selbst auf. Es mache ihn produktiver.

Eigentlich ist Tarek mit seinen Gedanken ganz woanders. Er verspätet sich absichtlich, um im Bus Sanaa zu sehen, eine Studentin, die an derselben Universität studiert wie er. Sie ist bereits im dritten Semester und für sie beginnen die Vorlesungen erst um neun. Auf der Uni will Tarek sie nicht ansprechen, aber zum Glück wohnt sie in der Nähe und nimmt manchmal den gleichen Bus wie er, um zur Uni zu fahren. Heute will er die Gelegenheit nutzen, um sie endlich einmal anzusprechen.

Er zieht sich mit großer Sorgfalt an und besprüht sich übermäßig mit seinem »Amber«-Parfum.

»Trinkst du jetzt einen Mokka mit uns oder nicht?«, ruft Salma ungeduldig. »Sag etwas oder hat die Katze deine Zunge gefressen?«, fügt sie hinzu. Tarek geht zu ihnen auf den Balkon und küsst seine Mutter auf die Stirn. »Zu deinem Mokka kann ich nicht Nein sagen, das ist der beste Wecker auf der Welt«, antwortet Tarek. Salma kann kaum atmen, die Duftwolke, die Tarek umgibt, ist zu stark. Sie hält sich einen Teil ihres Kopftuches vor den Mund. Auf dem Balkon muss sie Kopftuch tragen, da ist sie in der Öffentlichkeit.

»Es ist immer wieder verwunderlich, wie du dich in diesem Saustall von einem Zimmer so hochzeitsreif herrichten kannst«, stichelt Salma weiter.

»Und was ist der Anlass, dass du dich so fein machst?«, wundert sich Wisal.

»Habe ich sonst schlecht ausgeschaut?«, will Tarek wissen. »Das mache ich nur für mich«, fügt er hinzu.

»Hol dir eine Tasse aus der Küche«, fordert ihn Salma auf. Aber Tarek will keine Zeit verschwenden. Er gießt sich aus der Kupferkanne einen Mokka in Salmas Tasse, trinkt ihn im Stehen in einem Schluck aus und verabschiedet sich.

Als Kind liebte er es, in der Runde von Salmas Nachbarinnen zu sitzen und zuzuhören. Die Frauen erzählten die spannendsten Geschichten, besonders aufregend waren die von Wisal. Sie arbeitete bis zu ihrer Pensionierung als Gerichtsschreiberin und ihre geheime Schatztruhe ist voller Geschichten. Salma ruft ihm nach: »Du bist ein echter Dimashqi, wie dein Vater, euch bringen nur Frauen zum Aufblühen!«

Tarek läuft die Treppen hinunter. Sein Nachbar aus dem vierten Stock, der Apotheker, schließt gerade hinter sich die Wohnungstür ab.

»Gott beglücke deinen Morgen, Nachbar«, begrüßt ihn Tarek im Vorbeigehen.

»Wohin, wohin? Warte kurz, ich wollte dich fragen, wo ihr eure neue Klimaanlage gekauft habt. Ich habe von meiner Frau gehört, dass sie gut ist. Es ist mittlerweile Juni, wir haben mittags schon 35 Grad, wie wird das erst im August werden? Unsere alte funktioniert nicht mehr gut«, will der Apotheker wissen.

»Die Europäer würden ›Klimawandel‹ sagen«, erwidert Tarek.

»Die Europäer haben andere Probleme. Sag mir, was eure Anlage gekostet hat. Sie scheint teuer zu sein, denn der äußere Teil ist sehr leise«, sagt der Apotheker neugierig.

»Mein lieber Nachbar, ich schicke dir die Nummer des Installateurs, und er wird dir weiterhelfen. Die Preise ändern sich ständig«, meint Tarek im Weitergehen.

»Warte kurz! Ich fahre bei deiner Uni vorbei, du kannst mitfahren!«, bietet ihm der Nachbar an.

»Ich gehe heute nicht zur Uni, ich muss meinem Bruder im Geschäft helfen. Salam aleikum«, lügt Tarek.

Tareks Bruder Salman hat eine Schneiderei für Damenbekleidung. In Wirklichkeit hat Tarek seinem Bruder noch nie ausgeholfen. Ihr Verhältnis ist nicht besonders gut.

»Für deine Gedichte bekommst du nur dann Geld, wenn du sie als Einwickelpapier für Falafelröllchen verwendest«, spottet Salman, wenn bei Familientreffen über Tareks Zukunftsperspektiven gesprochen wird.

»Was stört dich daran? Es ist doch gut so, du machst Kleider für Frauen, die sich für ihre Männer hübsch machen wollen, und ich schreibe Lieder für Frauen, die ihre Männer vermissen. Außerdem es ist eine super Werbekampagne, wenn meine Schriften als Einwickelpapier genutzt werden. Ich erreiche die Menschen zu einer besonderen Zeit, dann haben sie etwas für den Magen und die Seele gleichzeitig«, kontert Tarek. In Wahrheit jedoch jobbt er auf einer Baustelle bei einem Elektriker.

Tarek tritt auf die Straße. Es ist ein herrlicher Tag, wolkenloser Himmel, die Sonne steht noch nicht im Zenit, es ist angenehm warm. Die Vögel zwitschern so enthusiastisch, dass man die einzelnen Stimmen nicht unterscheiden kann. Der Geruch des Frühlings liegt noch stark in der Luft. Die Dimashqis wohnen in Barzeh, einem reichen Stadtteil am Rand von Damaskus mit vielen kleinen Gärten zwischen den Wohnblocks, in dem viele Beamte und hochrangige Offiziere leben. Die Damaszener haben eine große Vorliebe für Blumen und alle Grünpflanzen. Auch wenn man die Stimmen der Vögel nicht unterscheiden kann, so kann man unter den vielen Blumengerüchen doch einen herausriechen: So unterschiedlich die Bewohner das kleine Grün vor ihrer Haustür auch gestalten, alle sind sich darin einig, Jasmin zu pflanzen. Die Vielfalt an Religionen und Konfessionen in dieser Nachbarschaft ist auch eines der Merkmale dieses Viertels. Nach dem Vorbild der Altstadt wurde hier eine Kirche neben einer Moschee gebaut. Von Tareks Balkon sieht es so aus, als würden sich die beiden Türme umarmen.

Tarek schaut auf die Uhr, es ist acht Uhr fünfunddreißig. Die Busse in Damaskus haben keinen Fahrplan. Aber er hat beobachtet, dass Sanaa um diese Zeit zur Universität fährt. So läuft er zur Hauptstraße hinunter und hat nur einen Gedanken im Kopf, den er ständig wiederholt: »Sprich sie, verdammt noch einmal, endlich an! Hast du nicht gesehen, was ihre Augen dir sagen?« Er klopft sich mit der Faust an die Schläfe. Plötzlich zuckt er zusammen: Hinter ihm macht ein Auto eine Vollbremsung und der Fahrer hupt ununterbrochen. Tareks Puls schießt in die Höhe, er springt auf die Seite und schaut nach hinten. Sein Freund Nauras lacht sich hinter dem Lenkrad kaputt. Erleichtert, wenn auch nicht begeistert, beruhigen sich Tareks Gesichtszüge und er nähert sich dem Auto seines Freundes.

 

»Wie ich immer sage, du bist der Sohn des Harams!«, ruft er. So nennt man in Damaskus Menschen, die durch außerehelichen Sex gezeugt wurden. »Aber gut, jetzt habe ich mehr Adrenalin im Blut. Das brauche ich heute.«

»Steig ein, ich fahre bei deiner Uni vorbei«, fordert ihn Nauras auf. Sein Kindheitsfreund studiert Wirtschaftswissenschaft an einer Privatuniversität außerhalb von Damaskus. Nauras stammt aus einer wohlhabenden Familie und hat ein eigenes Auto. Das gehört eigentlich dem Militär, aber sein Vater verfügt über mehrere Dienstautos, über deren Nutzung er frei bestimmen kann. Er ist einer der wenigen Sunniten, die einen hohen militärischen Rang erreicht haben. Die überwiegende Mehrheit der Militär- und Geheimdienstoffiziere sind Alawiten und kommen aus der Küstenregion wie der Präsident selbst. »Nein, ich muss mit dem Bus fahren, denn heute ist der Tag, ich werde Sanaa auf einen Kaffee einladen oder sie jedenfalls ansprechen, ich weiß es noch nicht genau«, lehnt Tarek das Angebot ab.

»Ich verstehe deine Logik nicht. Du sagst, sie läuft den ganzen Tag bei dir auf der Uni herum, und du willst sie unbedingt im Bus ansprechen?«, fragt ihn Nauras mit hochgezogenen Augenbrauen. »Sanaa ist doch eine privilegierte junge Frau. Sie lässt sich von den Chauffeuren ihres Vaters fahren, du wirst sie im Bus nicht erwischen!«

»Auf der Uni kann ich sie nie alleine sprechen, sie ist immer in Gesellschaft ihrer Freundinnen. Und es gibt einige alawitische Kollegen, die gar nicht davon begeistert wären, wenn ich sie anspreche. Du kennst Saker, den Sohn von Oberst Maher Saleh, dem größten Tier beim Geheimdienst. Er läuft ihr auf der Uni immer hinterher«, erklärt Tarek fast verzweifelt.

»Ja, das verstehe ich«, antwortet Nauras, »mit der Präsidentenverwandtschaft würde ich mich auch nicht anlegen. Sakers Vater ist berüchtigt. Er kann zum Tode Verurteilte vom Galgen befreien und dafür jemand anderen aufhängen lassen. Dann wünsche ich dir viel Glück, mein Freund! Und nicht vergessen, heute Abend spielen wir bei Adnan Karten. Bring deine Shisha mit!« Mit diesen Worten fährt Nauras los.

Tarek geht weiter zur Hauptstraße. Da bemerkt er, dass der Bus langsam vorbeifährt. Er steckt zwei Finger in den Mund und stößt einen schrillen Pfiff aus, um den Busfahrer auf sich aufmerksam zu machen. Der Fahrer bemerkt ihn, gibt ihm ein Zeichen mit der Hand, dass der Bus voll ist und Tarek nur einen halben Sitzplatz haben kann, denn in diesem abgenutzten Minibus kann man nicht aufrecht stehen. Tarek nähert sich und schaut suchend hinein, ob Sanaa drinnen sitzt. Zu seiner Enttäuschung findet er sie nicht. Schnell entscheidet er sich, auf den nächsten Bus zu warten. Er dreht sich um und sucht mit Blicken die Straße ab. Und dann passiert, was heute nicht passieren sollte: ein Auto mit Militärkennzeichen fährt an ihm vorbei. Er kennt dieses Auto nur zu gut. Es ist das von Sanaas Vater, General Tamim Mahmoud. Er blickt kurz hinein und ist enttäuscht: Sanaa sitzt hinten und wird vom Chauffeur ihres Vaters gefahren. Sie halten kurz Augenkontakt. Sie lächelt schüchtern. Ihr Lächeln macht Tarek wahnsinnig. Er kann nicht genau einordnen, was ihn an Sanaa fasziniert … Ihre großen, grünen Augen mit Augenbrauen wie gebogene Schwerter darüber oder ihr magisches Lächeln oder ihre zarte, braune Haut oder ihre langen, dunkelbraunen Haare. Vielleicht ist es auch ihre energiegeladene Ausstrahlung oder einfach alles zusammen.

Aber jetzt ist alles umsonst gewesen, er hat zwei Einladungen, mitzufahren, ausgeschlagen und konnte Sanaa trotzdem nicht ansprechen. Nun muss er auch noch auf den nächsten Bus warten. Er setzt sich auf eine kleine Mauer neben der Straße und holt die Kopfhörer aus der Tasche. Aber zu seinem Glück hält ein Auto neben ihm, es ist Nauras: »Ich habe gesehen, dass sie im Auto sitzt. Ich habe mir gedacht, ich hole dich ab, bevor du hier wie ein einsamer Hund ewig wartest!«

Damaskus, Juni 2010

Die Hauptstraßen sind um diese Zeit verstopft wie beim Jüngsten Gericht. Nauras manövriert das Auto durch die Nebenstraßen von Damaskus, während er gleichzeitig im Handschuhfach die CDs durchwühlt. »Schau bitte auf die Straße, nicht dass du ein Kind umfährst«, weist ihn Tarek zurecht. Er ist äußerst schlecht gelaunt.

»Jetzt komm schon, lass deinen Frust nicht an mir aus! Außerdem kenne ich die Stadt auswendig wie meinen Namen, ich kann das Auto mit verbundenen Augen durch die Gassen lenken«, behauptet Nauras. Er schiebt eine CD in den Player und spielt ein rhythmisches Lied von Tamer Hosny. Seine Lieder sind derzeit Dauerbrenner. Nauras dreht die Musik ganz laut, grinst wissend und fordert Tarek mit Gesten und Mimik auf, während er laut mitsingt: »Du bist die, die den Burschen in unserer Gasse schlaflose Nächte bereitet.« Bei der nächsten Strophe hebt Tarek die Hände und beginnt, ohne dass sich die ernste Miene in seinem Gesicht ändert, sich mit Nauras zu bewegen und zu singen: »Und du hast aus ihren Herzen ein papierenes Fußkettchen gemacht …«

Die beiden sind Freunde, seit sie denken können.

Nauras hat schon als Kind Autofahren gelernt. Sein Vater war stolz darauf und freute sich, bei seinen Freunden damit angeben zu können. Er nahm Nauras schon als kleines Kind auf den Schoß und ließ ihn lenken. Mit vierzehn nahm Nauras oft abends heimlich den Dienstwagen seines Vaters, um seine Freunde abzuholen und mit ihnen herumzufahren. Da er damals noch recht klein war, sah man ihn im Vorbeifahren kaum hinter dem Lenkrad sitzen. Er brachte auch Tarek das Fahren bei und ließ ihn immer wieder in der Gasse hin- und herfahren. Die Polizei konnte ihnen nichts anhaben, denn sie würde es nie wagen, ein Auto mit militärischem Kennzeichen anzuhalten.

Nauras möchte Tarek wieder zum Lachen bringen und erinnert ihn an eine ganz besonders lustige Begebenheit, die sie gemeinsam erlebt haben, als sie ungefähr fünfzehn Jahre alt waren. Nauras, Tarek und ihr Freund Adnan begannen damals, auch das Auto von Tareks Vater nachts, wenn dieser schlief, »auszuborgen«. Einmal beschlossen sie, auf den Qasiun zu fahren, jenen legendären Berg, auf dem Kain seinen Bruder Abel erschlagen haben soll. Der Qasiun beschützt gleichsam die Stadt, außerdem ist der Blick von oben auf Damaskus atemberaubend. In einer Augustnacht war es so weit, die Stadt schlief noch nicht, viele Nachtschwärmer waren zum Gipfel unterwegs, um dort eines der zahlreichen Lokale an der Panoramastraße zu besuchen, die bis zum Sonnenaufgang geöffnet sind. Oben trafen sich alle Gesellschaftsschichten, es gab einfache Lokale mit Hockern und Shisha, doch je weiter man fuhr, desto nobler wurden die Restaurants. Ganz am Ende der Straße konnte man in einigen Restaurants das Monatsgehalt eines gewöhnlichen Beamten für ein Abendessen ausgeben. Mit einem Polster auf der Sitzfläche, um die unbeleuchtete Straße etwas besser sehen zu können, lenkte Tarek das Auto mühsam den Berg hinauf. Kurz vor der Panoramastraße kamen sie an der berüchtigten Luststraße vorbei. Das war für die jungen Männer wesentlich aufregender als die Aussicht auf Damaskus. Diese Straße auf der anderen Seite des Berges war dafür bekannt, dass Paare, die verbotenen Sex suchten oder sich auch nur ungestört näherkommen wollten, hier im dunklen Auto heimlich ihre Lust ausleben konnten. Als die drei Freunde an den parkenden Fahrzeugen vorbeifuhren, wurden ihre Hälse länger und länger, und mit offenen Mündern und großen Augen schauten sie nach links und rechts. Der Nervenkitzel war groß, doch eigentlich konnten sie nicht viel sehen, denn die meisten Scheiben waren angelaufen oder verdunkelt. Am Ende der Autoschlange jedoch parkte ein Fahrzeug mit offen stehendem Fenster, der Fahrer rauchte entspannt eine Zigarette, neben ihm war aber niemand zu sehen. »Der arme Kerl fährt alleine hinauf«, bemitleidete Adnan ihn. »Du bist der Arme, mein Freund, der hat es am allerbesten«, lachte Tarek ihn aus. Es dauerte nicht lange, bis sie die gut beleuchtete Aussichtsstraße erreichten.

Sie wollten die Nacht als erwachsene Männer verbringen, aber bei den teuren Lokalen spielten ihre Geldtaschen nicht mit und bei den günstigen fanden sie keinen Parkplatz, die Straße war noch immer voll. Schließlich entdeckten sie ein Lokal, vor dem Parkplätze frei waren. »Wir werden nur ein Cola bestellen, das wird schon nicht zu teuer sein«, meinte Nauras. Beim Hineingehen fiel ihnen die rote Beleuchtung in dem ziemlich leeren Lokal auf. Ein junger Mann sah sie abschätzig an: »Herzlich willkommen, beste Männer!«

»Wir wollen nur die Aussicht genießen und etwas trinken, wir können nicht lange bleiben«, erklärte Tarek.

»Jaja, immer mit der Ruhe. Setzt euch hin, Gott hat die Welt in sechs Tagen erschaffen. Ich kümmere mich um euch!« Er führte sie zu einer der Sitznischen, die voneinander durch Bambusmatten getrennt waren. Im Hintergrund lief rhythmische Musik aus der Küstenregion. Adnan setzte sich nicht hin, er ging dem Klatschen nach, das aus der letzten Nische kam. Dort saßen drei schon etwas alkoholisierte Männer, klatschten im Takt und schauten einer Bauchtänzerin zu, die auf dem Tisch tanzte. Adnan erschrak und ging zu den anderen zurück. Bevor er ihnen noch von seiner Beobachtung erzählen konnte, kam der junge Mann mit einem großen Tablett voller Mezze zurück: Gurkenscheiben, Karottenstücke, Schälchen mit Nüssen, Kartoffelchips und Oliven.

»Sagt einmal, Männer, habt ihr Lust auf spirituelle Getränke, damit ihr gute Laune bekommt?«, fragte der Kellner. Tarek war irritiert: »Spirituell?«, fragte er rätselnd. »Sündhafte Getränke«, flüsterte Nauras ihm ins Ohr. Sie schauten einander fragend an. »Nein!«, antworteten sie dann unsicher, aber wie aus einem Mund.

Der Kellner zuckte mit den Schultern, meinte: »Wie ihr wollt, dann schicke ich euch eine Unterhalterin« und ging. »Lasst uns gehen, Leute, ich glaube nicht, dass es sich hier um ein normales Restaurant handelt«, bat Adnan. Als Tarek zu den Chips griff, gab ihm Nauras unter dem Tisch einen leichten Tritt gegen das Schienbein: »Iss nichts, wir wollen gehen, sonst müssen wir die ganze Platte bezahlen!«, flüsterte er ihm zu. In diesem Moment trat eine junge, freizügig gekleidete Frau in die Nische. »Ach, wie süß, ich habe meinem Kollegen nicht geglaubt, dass der Kindergarten einen Ausflug zu uns macht!«, sagte sie und lachte laut. Die drei schauten zu Boden, nur Tarek riskierte einen Blick auf ihre Brüste. »Was wollt ihr? Ich werde nicht für euch tanzen und keinem von euch näherkommen. Ihr solltet schon längst im Bett sein!«, setzte sie fort.

»Wo sind wir hier und was bist du, Bauchtänzerin oder Prostituierte?«, fragte Adnan wie sein Vater, der Psychotherapeut.

»Ach, mein Süßer, macht das einen Unterschied?«, fragte sie und knabberte dabei an einer Karotte. »Mein Vater hat gesagt, man darf Tänzerinnen nicht diskriminieren. Denn Tanzen ist eine Kunst. Aber Prostitution ist Kapitulation«, erwiderte Adnan und wiederholte dabei Wort für Wort, was er von seinem Vater gehört hatte.

»Ich bin keine Prostituierte, aber glaube mir, Prostitution ist auch eine Kunst, aber eine harte«, sagte die Frau und kicherte so haltlos, als wäre sie auf Drogen. Tarek war genervt und drängte die anderen zum Gehen. Beim Ausgang gab es ein kleines, mit einem riesigen Bild des Staatspräsidenten geschmücktes Zimmer, in dem der Kellner mit einer anderen freizügig gekleideten Frau saß und mit einem älteren Mann hinter einem Schreibtisch Karten spielte.

»Wir wollen gehen, ich denke, wir haben uns geirrt, müssen wir etwas zahlen, wir haben nichts gegessen, nur die Frau eine Karotte?!«, stieß Tarek hervor. Der Kellner schaute den Mann hinter dem Schreibtisch, der anscheinend der Eigentümer des Etablissements war, fragend an. Dieser Mann trug einen auffallend langen, struppigen Bart und eine Militärjacke. Er hörte ungerührt zu, nickte leicht mit dem Kopf und meinte: »Schon, aber das Betreten eines Hamam ist etwas anderes als das Verlassen.« Die drei Jungen waren augenblicklich von seiner rauen, krächzenden Stimme eingeschüchtert. Der Kellner bekräftigte: »Ihr habt es gehört, Männer, ihr müsst zahlen, das hier ist kein Spielplatz«, und tippte hastig etwas in den Taschenrechner ein, während er murmelte: »Tisch, Mezze, Einsatz der Tänzerin.« Dann schrieb er auf einen kleinen Block »3000 Lira« und hielt ihn den jungen Männern hin. Die drei waren geschockt.

 

Dreitausend Lira waren sehr viel Geld. Tarek bekam von seinem Vater 25 Lira Taschengeld pro Tag. Sie steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich flüsternd. Zusammen hatten sie 550 Lira in ihren Taschen, das teilten sie dem Kellner mit. Der Besitzer schüttelte ungeduldig den Kopf und forderte den Kellner auf, die Polizei anzurufen. Der Kellner hatte sich inzwischen hinter die drei jungen Männer gestellt und damit den Ausgang blockiert. Tarek und seine Freunde wurden blass, sie hatten alle denselben Gedanken: »Wenn die Eltern das erfahren, gibt es großen Ärger.« In Tareks Kopf lief die Vorstellung der Prügel, die er von seinem Vater beziehen würde, wie ein Film ab. Der Kellner fragte sie giftig wie eine Kobra kurz vor dem Zubeißen: »Habt ihr nichts Wertvolles bei euch, womit ihr die Rechnung begleichen könnt oder was ihr zumindest als Pfand dalassen könnt, bis ihr das Geld beschafft habt?« Unsicher schauten die drei einander an, Tarek blickte zu Nauras und machte eine auffordernde Kopfbewegung. Nauras verstand sofort und wehrte mit einem leichten Kopfschütteln ab. In seiner Tasche steckte ein nagelneues Handy, das er erst vor zwei Wochen von seinem Vater für einen guten Schulabschluss bekommen hatte. Es war das erste Smartphone mit Touchscreen und kostete ungefähr 20 000 Lira. Ein solches Handy zu besitzen war in Syrien ein Statussymbol und eine SIM-Card war ein kleines Vermögen wert.

»Was gibt es da in deiner Tasche?«, wollte der Kellner wissen, der die Gesten der beiden natürlich mitbekommen hatte. Tarek redete leise auf Nauras ein: »Wir haben keine andere Wahl!« Widerwillig griff dieser in seine Tasche und holte das Handy heraus. Der Kellner und sein Chef waren von dem teuren Gerät völlig überrascht. Dann nahm der Kellner Nauras das Handy aus der Hand, trat einen Schritt zur Seite, machte den Ausgang frei und forderte sie auf zu gehen. »Wir haben bis 5 Uhr früh geöffnet, dann wieder morgen ab 18 Uhr.«

Im Auto saßen sie schweigend. »Scheiße, was machen wir jetzt? Mein neues Handy!«,war Nauras verzweifelt. Tarek antwortete: »Wir müssen jetzt nach Hause fahren und schauen, wie wir die 3000 zusammenbringen. Ich weiß, wo meine Mutter ihr Geld für den Haushalt aufbewahrt, das kann ich heimlich holen. Wie ist es bei euch?«

»Mein Vater hat immer etwas in seinem Geldbeutel, der ist nachts immer in seiner Hose auf dem Garderobenständer«, wusste Nauras. Die beiden drehten sich zu Adnan, der auf der Rückbank saß: »Und du?« Dieser nickte: »Jaja, meine Mutter versteckt auch immer Geld in einer Vase im Gästezimmer!« Nun fuhren sie durch die Luststraße zurück, ohne auch nur einen einzigen Blick auf die parkenden Autos zu werfen. Tarek brachte seine beiden Freunde nach Hause, dann fuhr auch er heim.

Leise ging er die fünf Stockwerke zu ihrer Wohnung hinauf. Es war Punkt drei Uhr, als er die Wohnung betrat. Auf Zehenspitzen schlich er zum Schlafzimmer seiner Eltern und öffnete vorsichtig die Türe einen Spalt breit. Es war stockdunkel, er konnte nichts erkennen. Vorsichtig schlich er zum Schrank, öffnete ihn und griff nach dem Sakko. Plötzlich wurde es taghell. Tarek zuckte zusammen. Sein Vater saß auf einem Hocker neben dem Lichtschalter. »Wo warst du mit meinem Auto, du Hundesohn?« Tarek erstarrte. »Und was willst du in meinem Sakko?«, schrie Basam. Salma war verwirrt aufgewacht, ebenso Salman und Sausan.

Tarek konnte nicht antworten, seine Zähne klapperten. Basam stand zornig auf, packte ihn am Ohr und schleuderte ihn auf das Bett. »Sprichst du jetzt oder ich schlage dich, wo es dir wehtut!« Basam beugte sich zu ihm.

»Wenn ich dir die Wahrheit sage, wirst du mich erst recht schlagen!«, stotterte Tarek mit zitternder Stimme. Basam war ungeduldig und versprach, ihn nicht zu schlagen. Tarek erzählte die Geschichte in drei Sätzen, doch Basam geriet völlig außer sich, ohrfeigte und prügelte seinen Sohn, und als Salma dazwischenging, gab ihm Basam zu guter Letzt noch einen Tritt. Basam schlug seine Kinder immer häufiger und immer heftiger, seit seine zweite Ehe nach sechs Jahren der Geheimnistuerei endlich bekannt geworden war und er seinen Frust wegen der täglichen Streitereien mit Salma loswerden musste.

»Du Hundesohn, was sollen die Leute über uns sagen? Soll ich nur mehr mit gesenktem Kopf durch die Gassen gehen? Mein Sohn geht mit fünfzehn ins Bordell!« Tarek lag zusammengekrümmt auf dem Bett und ließ alles geschehen, als ginge es ihn nichts an.

Basam rief bei Nauras’ Familie an. In dem Moment stand Nauras gerade im Wohnzimmer und zählte das Geld, das er aus der Hose seines Vaters gestohlen hatte. Als das Telefon neben ihm klingelte, wachten seine Eltern auf und die Lichter gingen eins nach dem anderen an. Schnell lief er zur Couch vor dem Fernseher legte sich hin und tat, als ob er schliefe. Asef, Nauras’ Vater, griff eilig nach dem Telefon, hörte ein paar Sekunden wortlos zu, schaute zu seinem schlafenden Sohn und seine Augen wurden immer größer. »Okay, sofort«, er legte auf, zog seinen scheinbar schlafenden Sohn heftig hoch und stellte ihn auf die Füße. Nauras stand stramm wie ein Soldat vor seinem Vorgesetzten und schaute Asef in die Augen. »Komm jetzt, wir müssen Basam unten treffen, um diesen Mist zu beseitigen. Wir zwei rechnen später ab.«

Asef hatte seine Uniform angezogen. Er wusste, wenn er als Offizier auftrat, erhielt er den nötigen Respekt. Basam konnte Adnans Eltern nicht erreichen. So beschlossen die beiden Väter, sich mit den Söhnen auf den Weg zu jenem Etablissement zu machen. Im Auto saßen Tarek und Nauras schweigend hinten und warfen sich immer wieder angsterfüllte Blicke zu. Ohne Zweifel hatte der Betreiber des Lokals die Jungen betrogen, denn es war verboten, einen wertvollen Gegenstand ohne schriftlichen Vertrag als Pfand zu behalten.

Als Asef und Basam das kleine Zimmer in dem Etablissement betraten, war es bereits kurz vor fünf Uhr. Es wurde langsam hell und das Trio spielte immer noch Karten und rauchte Shisha. Der Bärtige schaute auf und war im ersten Augenblick begeistert, dass ein hochrangiger Offizier seine Dienste in Anspruch nehmen wollte. Dann bemerkte er dahinter die beiden Burschen und schluckte.

»Herzlich willkommen, mein Herr!«, stieß er hervor und sprang auf. Die Tänzerin und der Kellner liefen schnell aus dem Raum. »Ihr habt uns zu ernst genommen, junge Männer, wir wollten uns mit euch nur einen Scherz erlauben«, versuchte der Bärtige die Situation zu retten.

»Schön, dass du mit Minderjährigen solche Scherze in deinem Bordell machst«, sagte Asef ironisch.

»Es ist kein Bordell!«, stotterte der Bärtige.

»Das ist mir egal. Gib mir zuerst das Handy, denn ich werde mir jetzt auch einen Scherz mit dir erlauben«, forderte Asef und rief einen Freund, der beim Konsumentenschutz arbeitete, an. Schon bald stürmten sechs Beamte das Etablissement. Sie verlangten vom Betreiber die Unterlagen und kontrollierten die Räumlichkeiten. In einer der Nischen erwischten sie einen Mann beim Oralsex mit einer Tänzerin. Da es sich angeblich um ein normales Restaurant handelte, wurde das Lokal für sechs Monate geschlossen und der Betreiber erhielt drei Monate Freiheitsstrafe.

Die drei jungen Männer hatten unter den Folgen ihrer Taten gut zwei Wochen zu leiden, von gestrichenem Taschengeld bis zu Hausarrest. Aber wenn sie diese Geschichte jetzt, nachdem Gras darüber gewachsen war, als Erwachsene erzählen, lachen sie darüber herzlich und laut.