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Koste Es Was Es Wolle

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Koste Es Was Es Wolle
Koste Es Was Es Wolle
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Kapitel 45

23.57 Uhr

Die Marineakademie des Vereinigten Staaten – Annapolis, Maryland

Es war ein seltsamer Treffpunkt.

Luke war komplett in Schwarz gekleidet. Er trug schwarze Handschuhe. Eine schwarze Mütze hatte er in seine Hosentasche gestopft.

Das dunkle Football Feld des Navy Marine Corps Memorial Stadiums breitete sich vor ihm aus. Die leeren Tribunen thronten über ihm. GO NAVY stand in riesigen Buchstaben über dem oberen Teil der Sitze. In der Nacht sahen die Wörter weiß aus, aber er wusste, dass sie des Tags gelb auf blauem Untergrund waren.

Er wartete kurz und verblieb im Schatten unterhalb der Rampe. Er beobachtete die im Dunkel liegende Übertragungskabine oberhalb des Stadions und hielt nach auch nur der kleinsten Bewegung dort Ausschau. Wenn er ein Scharfschütze gewesen wäre, dann wäre er wohl dort gewesen.

Ein Mann spazierte über das Feld auf ihn zu. Nach und nach wurden seine Züge klarer. Er war groß, gut gebaut und lief so, als würde er sich noch nicht ganz an die Pfunde, die er in den letzten Jahren zugenommen hatte, gewöhnt haben. Er trug einen langen Mantel. Er kam näher und Luke konnte den dunklen Anzug unter dem Mantel des Mannes ausmachen sowie die weichen, fast teigigen Züge seines Gesichts.

Er trat in den Schatten unterhalb der Rampe.

Luke bewegte sich nur geringfügig. „Herr Minister?“

Der Mann zuckte ein wenig zusammen. Es war klar, dass er Luke nicht gesehen hatte. Seine Augen richteten sich sogleich auf die schwarz matte Glock in Lukes Hand. Luke steckte sie für den Moment zurück ins Holster, um ihn nicht nervös zu machen.

„Ja“, sagte der Mann. „Ich bin Dave Delliger.“

„Ich bin Luke Stone.“

„Ich weiß, wer Sie sind. Ich war in der Besprechung mit dem Präsidenten heute. Sie sind der Mann, der sein Leben gerettet hat.“

„Zeitweise“, sagte Luke.

„Ja.“

„Es tut mir leid, dass es so gekommen ist.“

Delliger nickte. „Mir auch.“

„Ich frage Sie nur ungern, Sir, aber besteht die Möglichkeit, dass Ihnen jemand hierher gefolgt ist?“

Delliger nickte erneut. „Auf jeden Fall. Ich habe der Vereidigung des neuen Präsidenten vor zwei Stunden im Flügel R beigewohnt. Ich habe einen Marine-Helikopter hierher genommen. Der Flügel R ist etwa hundertsechzig Kilometer von hier entfernt und liegt in den Bergen. Im Dunkeln mit meiner nachlassenden Sehkraft wäre ich morgen früh noch nicht hier gewesen.“

Luke wich zurück an die Wand. Das war die falsche Antwort gewesen. Mit Sicherheit nicht die, auf die er gehofft hatte.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte Delliger. „Ich habe nichts Auffälliges bemerkt. Sie haben keinen Grund mir zu mistrauen. Das hier ist meine Alma Mater und ich unterrichte hier seit Jahren. Ich habe noch immer ein Büro und ein Zimmer hier. Die Marine erlaubt mir das, weil sie so stolz auf mich sind. Sie zählen mich quasi schon zum Inventar. Ich habe den Leuten im Flügel R gesagt, dass, falls wir alle sterben, ich es bevorzugen würde hier zu sterben und nicht in einem Loch unter der Erde.“

„Mir ist zu Ohren gekommen“, sagte Luke, „dass Sie sich mit dem Präsidenten in Yale ein Zimmer geteilt haben.“

„Beim Jurastudium“, sagte Delliger, „wir waren beste Kumpels, wie man so sagt. Aber das war nach dem Militärdienst.“ Er hob die Arme und gestikulierte in die Umgebung. „Das hier ist mein wahres Zuhause.“

„Präsident Hayes wurde ermordet“, sagte Luke.

„Ich weiß. Es war ein Staatsstreich. Ich war anwesend, als Bill Ryan seinen Eid abgelegt hat. Alle schienen recht zufrieden mit sich selbst, glauben Sie mir. Jetzt werden wir einen Krieg mit Iran anfangen. Ryan wird heute Abend alles in die Wege leiten, wenn er das nicht schon getan hat. Warum auch auf die Nachrichtenshows heute Abend warten? Und da der Großteil des Kongresses tot ist, erübrigt es sich, sie einzubeziehen. Da frage ich mich natürlich, was die Russen darüber denken werden.“

„Wir können sie aufhalten“, sagte Luke.

„Was, den Krieg?“

„Den Staatsstreich.“

„Herr Stone, nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft können wir uns in der Zeit nur vorwärts bewegen. Sie können nicht etwas aufhalten, das bereits passiert ist.“

Luke sagte nichts.

„Der Präsident und die Vize-Präsidentin sind tot“, sagte Delliger. „Die beiden nächsten in der Folge sind Bill Ryan und Ed Graves, beide Kriegstreiber, beide am Leben. Alle, die danach gekommen wären, sind nicht mehr. Sie alle waren in Mount Weather. Wenn Sie das aufhalten wollen, angenommen es wäre irgendwie möglich Bill Ryan zu stürzen, wen würden Sie an seiner Stelle einsetzen? Wer wäre dann der legitime Nachfolger auf dem Thron?“

„Ich weiß es nicht“, gab Luke zu.

Er war den ganzen Tag so sehr damit beschäftigt gewesen die Dinge aufzuhalten, dass ihm noch gar nicht aufgegangen war, dass die ganze Sache bereits vorbei war. Er begann erst jetzt das ganze Ausmaß der Operation zu begreifen. Don hatte ihm gesagt, dass er nur Schaufensterdekoration gewesen sei, aber er lag falsch. Er war nicht nur schmückendes Beiwerk. Er war das Sandkorn im Auge.

Für eine Sekunde dachte Luke an die Begegnung mit Paul heute Nacht zurück. Paul hatte Luke als einen Kamikaze Flieger beschrieben, der ein Spielzeugflugzeug in einen Flugzeugträger crashte. Die Aktion erschien spektakulär, war aber eigentlich erbärmlich.

„Ich weiß es auch nicht“, sagte Delliger. „Aber ist es nicht auch egal? Sie haben ihre Leute überall. Können Sie sich ausmalen, wer für den Erfolg der Operation daran mitgewirkt haben muss? Können Sie nicht sehen, wie tief das System infiltriert sein muss? Wenn Sie in der Lage wären, die Dinge ungeschehen zu machen, wem würden Sie vertrauen können? Sie müssten alle daran Beteiligten in jeder Abteilung und jeder Einheit aufspüren. Diese Regierung ist eine Leiche, die von Maden zerfressen ist.“

Er machte eine Pause. „Ich wünschte, ich hätte all das vor fünf Jahren gewusst. Dann hätte ich niemals dieses Amt angenommen. Ich hätte Thomas für sein Vertrauen gedankt, hätte höflich abgelehnt und meine eigenen Sachen weitergemacht. Verteidigungsminister? Was für ein Witz! Sie haben einen Narren aus mir gemacht. Ich hatte niemals die Kontrolle über irgendetwas.“

„Wir könnten das nachweisen“, sagte Luke. „Wir könnten vor Gericht ziehen. Alles, nur der kleinste Anhaltspunkt, etwas, das wir den Medien anbieten können. Sie sind noch Teil des Spiels.“

Delliger schüttelte leicht den Kopf. „Ich bin darüber in Kenntnis gesetzt worden, dass Präsident Ryan meine Kündigung für heute Morgen erwartet. Wenn er sie erhält, dann wird er mir öffentlich für meine Dienste und mein Engagement im Amt danken. Wenn er sie nicht erhält, dann wird er mich wegen schwerwiegender Inkompetenz feuern. Es ist also an mir.“

Luke wurde nachdenklich. „Warum sind Sie dann hergekommen?“

Delliger zuckte die Schultern. „Ich halte sie für einen guten Menschen. Sie sind offensichtlich sehr mutig. Ich dachte, dass ich Ihnen sagen sollte, sich da rauszuziehen, solange es noch nicht zu spät ist. Gehen Sie einfach. Vielleicht lassen sie Sie in Ruhe. Das Leben kann etwas Schönes sein, Herr Stone. Und es gibt mehr im Leben als Schlachten zu kämpfen, die man unmöglich gewinnen kann.“

Luke holte tief Luft. Es gab keinen Grund ihm zu sagen, dass es für ihn bereits zu spät war.

„Ist es das, was Sie tun werden?“, fragte er. „Weggehen?“

Delliger lächelte. Es war ein trauriges, ein betrübtes Lächeln. „Ich werde jetzt in mein Büro fahren und einen Entwurf für meine Entlassung schreiben. Morgen habe ich dann mein altes Leben zurück. Ich bin ein sehr guter Gärtner, wissen Sie? Es ist mein Lieblingshobby und ich hatte in den letzten Jahren so gut wie keine Gelegenheit mich ihm zu widmen. Ich hatte schlichtweg keine Zeit. Ich weiß, dass es bereits Juni ist, ich hänge also etwas hinterher dieses Jahr. Aber die Saison ist lang und geduldig in diesem Teil des Landes.“

Luke nickte. „Okay. Machen Sie es gut, Herr Delliger.“

„Sie auch, Herr Stone. Und viel Glück für was immer sie entscheiden mögen.“

Delliger drehte sich um und lief über das Feld zurück. Luke blieb an der Wand gelehnt stehen. Er sah wie Delliger langsam in der Entfernung verschwand. Als Delliger die Fünfzig-Yard-Linie erreicht hatte, erschallte ein einziger Schuss.

KRACH.

Er hallte in den Rängen des Stadions wider und durch die mit Bäumen gesäumten Straßen der Umgebung.

Lukes prüfende Augen versuchten den Schützen in dem leeren Stadion auszumachen. Er hatte keinen Lichtstrahl gesehen, auch keinen gedrosselten, also war der Schuss nicht aus der Übertragungskabine abgegeben worden. Er hätte ihn sonst aus dem Augenwinkel gesehen. Er realisierte, dass die Kugel aus einiger Entfernung gekommen sein musste. Die besten Schützen waren im Stande ihr Ziel auf zweitausend Meter Entfernung und mehr zu treffen. Die Vereinigten Staaten hatten einige dieser besten Schützen ausgebildet.

Er kniff die Augen zusammen und blickte angestrengt zurück auf das Feld. Delligers Körper war dort draußen, ein schwarzer Haufen irgendwo dort in der Mitte. Er erkannte, dass sie sich nicht einmal darum bemüht hatten, den Schuss unhörbar zu machen. Das hätten sie tun können, hatten es aber nicht.

Luke zog die schwarze Mütze aus seiner Hosentasche und zog sie über seinen Kopf. Das einzige was jetzt noch zu sehen war, waren seine Augen. Er tastete sich an den Betonwänden zu dem Bereich vor, in dem normalerweise Snacks und Bier verkauft wurden. Einen Moment später war er in der Dunkelheit der Schatten verschwunden.

Kapitel 46

6. Juni

00.03 Uhr

Auf der Straße

Die Welt um ihn herum war Schwarz.

Der Mann war ein Langstrecken-LKW-Fahrer, der meist nachts unterwegs war. Er befand sich unterhalb von Florence, South Carolina, in dem Teil des Staates, in dem es nur wenige und weit auseinander liegende Ausfahrten gab. Der dunkle Highway erstreckte sich vor ihm im Licht seiner Frontlichter. Er plante den Norden von Florida zu erreichen bevor er die Ausfahrt nahm, vielleicht bei Jacksonville, vielleicht bei Augustine, falls er es soweit schaffte.

 

Es war ein schrecklicher Tag gewesen, vielleicht der schrecklichste an den er sich erinnern konnte. Aber das Leben ging weiter. Er fuhr eine Ladung Schweinefleisch in Dosen aus Virginia zum Hafen der Everglades. Und das Zeug würde sich nicht von alleine dorthin fahren.

Er zündete sich eine Zigarette an und schaltete das Radio an. Der neue Präsident, ein Mann von dem der LKW-Fahrer noch nie zuvor gehört hatte, wurde gerade vorgestellt. Er würde eine Ankündigung machen.

Der Fahrer seufzte. Er hoffe, dass dieser Präsident nicht auch in die Luft gesprengt würde. Dann war es soweit.

„Mein liebes amerikanisches Volk“, sagte er.

„Gestern am fünften Juni wurden die Vereinigten Staaten ohne Vorwarnung mutwillig von im Untergrund operierenden Agenten und Anstiftern der Islamischen Republik Iran angegriffen. Die Vereinigten Staaten pflegten eine friedvolle Beziehung zu dieser Nation und standen im regen Austausch mit dessen Regierung, um den Frieden im Nahen Osten weiter voranzubringen.

Tatsächlich lieferte der iranische Botschafter bei den Vereinten Nationen, noch weniger als vierundzwanzig Stunden bevor ein iranischer Drohnenangriff das Weiße Haus zerstörte, unserem Botschafter bei den Vereinten Nationen eine formelle Antwort auf einen Ersuch der Vereinigten Staaten. Während diese Antwort besagte, dass die bestehenden diplomatischen Verhandlungen wenig erfolgreich gewesen seien, enthielt sie keinerlei Hinweis auf einen möglichen Krieg oder bewaffneten Angriff.

Sie werden bemerkt haben, dass, der Art des Anschlags nach, dieser nur nach tage- wochen- oder sogar monatelanger Planung durchgeführt werden konnte. In der Zwischenzeit hat die iranische Regierung die Vereinigten Staaten vorsätzlich durch falsche Aussagen, welche Hoffnungen auf Versöhnung nährten, getäuscht.

Bei den Anschlägen heute Nacht wurden dem Notfalleinsatzzentrum Mount Weather ernste Schäden zugefügt. Der frühere Präsident, sowie die Vize-Präsidentin und viele andere Mitglieder der Regierung, waren dort zusammengekommen. Es fällt mir schwer Ihnen mitzuteilen, dass wir heute viele amerikanische Leben verloren haben. Die genau Zahl ist bisher unbekannt, aber wir gehen davon aus, dass eine Opferzahl von etwa dreihundert Amerikanern in den nächsten Tagen bestätigt werden wird.

Iran hat einen Überraschungsangriff auf amerikanischem Boden verübt. Die Tatsachen des gestrigen und heutigen Tages sprechen für sich. Das Volk der Vereinigten Staaten hat sich bereits eine Meinung dazu gebildet und sehr wohl verstanden, welche Auswirkungen diese Ereignisse für das Leben und die Sicherheit unserer Nation haben werden.

Als Hauptkommandeur der Armee und Marine habe ich alle Maßnahmen in die Wege geleitet unser Land zu verteidigen. Es spielt keine Rolle, wie lange es dauern wird diesem vorsätzlichen Anschlag entgegenzuwirken, das amerikanische Volk wird letztendlich den absoluten Sieg davontragen. Ich glaube dem Willen des Volkes zu dienen, wenn ich geltend mache, dass wir uns nicht nur bis zum Letzten verteidigen werden, sondern auch sicherstellen werden, dass solch ein heimtückischer Verrat uns nie wieder in Gefahr bringen wird.

Feindseligkeiten existieren. Es gibt keinen Zweifel daran, dass unser Volk, unser Boden und unsere Interessen in großer Gefahr schweben. In Vertrauen auf unsere Streitkräfte und mit der Entschlossenheit des Volkes werden wir den unvermeidbaren Triumph davontragen, so Gott uns helfe. Ich setzte Sie somit in Kenntnis, dass seit dem grundlosen und feigen Anschlag des fünften Junis die Vereinigten Staaten sich im Krieg mit Iran befinden.“

Kapitel 47

***

00.35 Uhr

Queen Anne’s County, Maryland – Ostküste des Chesapeake Bays

Luke wusste, dass es spät war, als er das Haus erreichte.

Es war dunkel. Durch die Nähe zum Wasser lag ein elektrisches Knistern in der Luft. Er parkte zunächst das Auto in etwa hundert Meter Entfernung vom Haus entfernt. Er stellte das Licht aus, dann wartete er und beobachtete. Nichts bewegte sich auf der Straße. Die Lichter eines Fernsehers flackerten durch das Fenster eines Hauses zu seiner Linken. Näher noch, etwa vierhundert Meter entfernt, lag das Haus der Thompson in Dunkelheit.

Das Gefühl der Furcht war so übermächtig, dass er beinahe gekotzt hätte. Er hatte so viele Fehler gemacht und nun hatten sie Becca und Gunner wahrscheinlich das Leben gekostet. Er hätte Becca schon vor langer Zeit erzählen sollen, wie gefährlich seine Arbeit war. Davon mal abgesehen – er hätte gar nicht erst etwas mit ihr oder irgendeiner anderen Person anfangen sollen.

Er ließ den Wagen den Hügel hinunter zum Haus rollen. Ihr Volvo stand dort. Er parkte daneben. Er stieg aus und prüfte die Tür. Er versuchte gar nicht erst sich zu verstecken. Sie hätten lieber ihn als seine Familie töten sollen. Er wünschte, er wäre diesen Handel eingegangen, als er noch konnte. Er wusste, dass das eine Lüge war, aber…

Das Auto war unverriegelt – hier draußen schloss sie es nie ab. Nichts Auffälliges lag im Inneren des Wagens. Er öffnete den Kofferraum und machte sich auf das Schlimmste gefasst. Nichts. Ein Wagenheber, eine Luftpumpe und zwei Tennisschläger.

Er lief hinüber zum Haus. Die Tür war offen. Er ging hinein.

Niemand war dort.

Er spürte die Leere des alten Hauses. Das Licht im Bad war an und warf einen Schatten ins Wohnzimmer. Der Wohnzimmertisch war zusammengebrochen, als wäre jemand darauf gefallen. Das war jedoch das einzige Anzeichen eines Kampfes, das er finden konnte.

Er stand einen Moment einfach nur so da, hielt den Atem an, schaute und lauschte.

Keine Geräusche. Gar keine.

Er atmete mit einem tiefen Seufzer aus. Okay. So weit hatte er es also geschafft. Jetzt würde er sich einen Moment Zeit nehmen, sich sammeln und dann den Rest des Hauses durchsuchen. Wenn hier irgendjemand war, so war er oder sie mit Sicherheit tot.

Es tut mir so leid, Becca.

Er stand einige Minuten einfach nur so da. Durch das Fenster auf der Rückseite konnte er in der Ferne sehen, wie ein Boot durch das schwarze Wasser an ihm vorbeifuhr. Er konnte das Boot nicht sehen. Er wusste, dass es  dort war, weil er das rote Licht an seinem Mast blinken sehen konnte.

Dann begann er zu suchen. Er lief durch alle Zimmer des Hauses. Schatten umgaben ihn. Er ging in das Hauptschlafzimmer. Er durchsuchte das Bad und die Toilette. Becca war nicht hier. Was auch immer sie mit ihr angestellte hatten, sie hatten ihren Körper nicht zurückgelassen.

Er ging in Gunners Zimmer. Ein lebensgroßer Zombie schaute von einem Poster an der Wand hinter seinem Bett auf hin hinab. Ihm lief ein Schauer über den Rücken. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er den Eindruck einen Mann dort stehen zu sehen. Der blutüberströmte Zombie in seinen zerfetzten Klamotten und dem Blut, das ihm aus dem Mund tropfte schien ihn anzuklagen:

Du hast das Kind umgebracht. Du hast es getan.

Luke hatte nichts zu seiner Verteidigung vorzubringen.

Ein brennender Schmerz durchfuhr ihn. Er hatte nichts mit all der Gewalt zu tun, die ihm heute widerfahren war. Es tat so weh, weil sie mutwillig voneinander getrennt worden waren, weil er wusste, dass er nichts tun konnte, um sie zurückzuholen. Sie waren ihm entrissen worden und es gab keine Möglichkeit sie zurückzuholen.

Ihm schwirrte der Kopf. Es schnürte ihm den Atem ab.

Er hätte Don anrufen können. Er hätte ihn anflehen können. Er konnte sich lächerlich machen und es wäre erniedrigend. Er würde um diesen einen Gefallen der alten Zeiten wegen bitten. Luke würde alles tun, alles, um sie gegen ihn selbst einzutauschen. Aber Don würde darauf niemals eingehen. Er kannte Don. Wenn Don ein Ultimatum stellte, dann war es das definitive Ende. Kein Einlenken. Hölle. Don hätte wahrscheinlich, selbst wenn er es gewollt hätte, das Ganze nicht aufhalten können. Er stand wahrscheinlich gar nicht im Kontakt mit den Kidnappern und die Kidnapper selbst folgten wahrscheinlich stur und ohne Abschweife auch nur den Anweisungen. Hatte man den Stein erst einmal ins Rollen gebracht, dann führten sie den Auftrag ohne weiteren Kontakt bis zum Letzten aus.

Becca und Gunner waren wahrscheinlich bereits tot.

Luke hätte fast wieder angefangen zu heulen. Es war okay. Es gab keinen Grund dafür, es nicht zu tun. Er konnte schließlich nichts mehr tun.

Sein Handy klingelte. Er ging ran.

Die Stimme einer Frau fragte: „Luke?“

„Trudy.“

„Luke, die Vize-Präsidentin lebt.“

Innerhalb von drei Sekunden verließ Luke Gunners Zimmer und holperte die Treppen hinunter. Schon war er vor der Tür in der Kühle der Nacht, er lief schnell zu seinem Auto. Er handelte instinktiv. Sein Körper folgte seinem Geist. Vize-Präsidentin Susan Hopkins, und alles das, was sie repräsentierte, wurde zu seiner einzigen Chance seine Familie vielleicht doch noch zu retten.

„Leg los“, sagte er.

„ECHELON“, sagte Trudy. „Es hat nach Lebenszeichen gesucht, nach Anrufen, Email-Adressen, Tablets und anderen Kommunikationsgeräten, alles Geräte, die die Leute mit nach Mount Weather genommen hatten. Vor zehn Minuten hat es ein Signal aufgenommen – das Handy eines Sicherheitsbeamten namens Charles Berg, der dem Sicherheitsteam von Susan Hopkins angehörte. Das System hat die NSA alarmiert und es ist ihnen gelungen, einen Anruf von Berg abgefangen.“

Luke startete den Wagen und trat das Gaspedal durch. Die Reifen quietschten als er aus der Einfahrt preschte.

„Ich höre“, sagte er.

„Berg hat einen pensionierten Geheimdienstmitarbeiter mit Namen Walter Brenna abgerufen. Sie haben früher zusammengearbeitet. Kurz gesagt, Berg hat Hopkins, sie ist verletzt, aber lebt und er ist gerade auf dem Weg nach Washington mit ihr. Er hat nicht vor, irgendjemanden sonst einzuweihen. Anscheinend war Brenna als Mediziner bei der Marine tätig bevor er dem Nachrichtendienst beigetreten ist. Das war vor dreißig Jahren. Berg wird die Vize-Präsidentin zu Brennas Haus in den Vorstädten im Osten der Stadt bringen und dann werden sie sehen, ob er ihre Verletzungen ausreichend versorgen kann. Dann werden sie sie verstecken.“

„Wissen sie wie schwer die Verletzungen sind?“

„Das ist unklar geblieben. Die Unterhaltung hat gerade mal eine Minute gedauert.“

„Wo lebt Brenna?“

„Ähm… Das habe ich hier. Sie haben den Anruf zu einem Festnetz verfolgen können. Er lebt in Bowie, Maryland, 1307 Dritte Straße.“

Luke war bereits dabei die Adresse in sein GPS Gerät auf der Armatur einzugeben. Er sah, wie das Gerät ihm eine Route anzeigte. Er war dreißig Minuten, vielleicht weniger, wenn er einen Zahn zulegte, davon entfernt.

„Wo sind Berg und die Vize-Präsidentin jetzt?“

„Das ist auch nicht klar. Bergs Handy konnte im Osten von Virginia nicht weiter verfolgt werden. Versuche es wieder aufzuspüren sind gescheitert. Agenten unterschiedlicher Einheiten sind auf dem Weg, aber sie können es nur auf zweihundert Meter eingrenzen. Satellitenaufnahmen zeigen jede Menge Gras und Bäume entlang der Straße. Keine Autos die in der Nähe parken. Es hat den Anschein, dass er nur diesen einen Anruf getätigt hat und dann das Handy aus dem Fenster geschmissen hat. Wir kennen nicht einmal das Fahrzeug mit dem Berg unterwegs ist.“

Luke nickte. Der Mann war nicht dumm. Er ahnte, dass man ihn beobachten würde. Was er jedoch nicht wusste war, wie viele Leute ihn mit welch großem Aufwand beobachten.

„Weiß Don Bescheid?“

„Es ist seltsam. Er weiß Bescheid. Er ist sofort rausgerannt, als die Nachricht reinkam. Don ist nicht mehr er selbst.“

„Hat er mich irgendwie erwähnt?“

„Er hat nur gesagt, dass er mit dir gesprochen hat und ihr einen Streit hattet. Du hast ihm gesagt, dass du ins Bett gehen würdest. Er sagte, dass wir dich nicht stören sollten, aber ich kenne dich besser und mir war klar, dass du unter keinen Umständen jetzt schlafen gehen würdest.“

„Trudy, Don versucht mich umzubringen.“

Die Worte brachen aus ihm heraus, noch bevor er es wusste. Einmal ausgesprochen, war es für ihn kein Problem mehr. Es war nun einmal eine Tatsache und Trudy war eine erwachsene Frau. Er konnte sie nicht vor der Realität schützen. Es gab eine lange Stille am Telefon.

Luke brauste gerade an dem Brückenzeichen der Chesapeake Bay Bridge vorbei. Neun Kilometer. In zehn Minuten würde er an David Delligers Leiche vorbeirasen.

 

„Trudy?“

„Luke, wovon sprichst du?“

„Wenn ich dir das sage, dann bringe ich dich in Gefahr.“

„Erzähl es mir“, sagte sie.

Er erzählte es also. Danach gab es ein noch viel längeres Schweigen. Luke fuhr schnell, hundertfünfzig Stundenkilometer, er fuhr auf die Rampe der Brücke. Die Straßen waren leer. Keine Polizei weit und breit.

„Glaubst du mir?“, fragte er.

„Luke, ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich weiß, dass Don und Bill Ryan Freunde in Citadel waren. Sie sind zusammen mit ihren Familien in den Urlaub gefahren.“

„Trudy, sie haben meine Frau und meinen Sohn.“

„Was?“

Er erzählte es ihr. Er versuchte feste Stimme zu bewahren. Er hielt sich an die Fakten. Die Dinge die er mit Sicherheit wusste. Er weinte nicht. Er klagte nicht.

„Es war ein Staatsstreich“, sagte Luke. „Es gibt Leute, die für die Geheimdienste und das Militär arbeiten, die in den Krieg ziehen wollen. Wahrscheinlich steckt da auch die Rüstungsindustrie mit drinnen. Don steckt da auch irgendwie mit drinnen. Er ist eine bloße Schachfigur und doch ist er involviert.“

Trudys Stimme zitterte. „Vor ungefähr einer halben Stunde hat Bill Ryan Iran den Krieg erklärt. Gleich danach wurden die Kampfjets losgeschickt. ECHELON und all die anderen Abhördienste, Fairbanks, Menwith Hill, die Luftstation Misawa in Japan und eine Reihe anderer… haben Gespräche in Russisch abgefangen. Noch haben sie nichts verlauten lassen, aber die Russen werden einen Anschlag auf Iran als einen Anschlag auf ihr eigenes Land verstehen. Ihre Raketen sind startbereit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Don das wollen würde.“

„Okay Trudy, hör zu, ich muss dich um das folgende bitten“, sagte Luke. „Hol Swann… Ist Swann noch da?“

„Swann geht nie nach Hause“, sagte sie.

„Swann soll Dons Computer hacken. Sucht nach allem, das ihn irgendwie mit den Anschlägen von heute in Verbindung bringen könnte. E-Mails, Dokumente, alles. Don hat die Anschläge heute nicht geplant, aber er wusste, dass sie passieren würden.“

„Und was würde das ändern, wenn wir etwas fänden?“

„Vielleicht können wir damit beweisen, dass Ryan oder wer auch immer dahinter steckt, in die Sache verstrickt ist. Wenn wir Don dran kriegen, dann vielleicht auch Ryan und dann den nächsten und wieder nächsten. Wir bringen sie zu Fall wie Dominosteine. Wenn es uns gelingt die Vize-Präsidentin am Leben zu halten, können wir Ryan zwingen zurückzutreten. Und wenn er erst einmal zurückgetreten ist, dann schützt ihn sein Amt auch nicht mehr. Wenn wir irgendetwas gegen ihn finden, dann ist er so gut wie tot.“

„Okay, Luke. Ich werde Swann darauf ansetzen.“

„Ich weiß, dass er etwas finden wird“, sagte Luke. „Ruf mich dann sofort an.“

„Sonst noch irgendetwas?“

„Ja. Ruf Ed Newsam an und sag ihm, dass er sich fertig machen soll. Er kann nicht im Bett rumliegen wenn hier solche Sachen passieren.“

„Was wirst du tun?“

„Ich? Ich werde die Vize-Präsidentin retten – wenn es dafür nicht schon zu spät ist.“