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Koste Es Was Es Wolle

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Koste Es Was Es Wolle
Koste Es Was Es Wolle
Darmowy audiobook
Czyta Mike Nelson
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Kapitel 42

23.17 Uhr

Fairfax County, Virginia – Vororte Washington, DCs

„Hallo, hier ist Becca. Ich kann gerade nicht rangehen. Bitte hinterlass eine Nachricht nach dem Ton und ich rufe so schnell wie möglich zurück.“

Luke legte auf. Es war wenig sinnvoll, eine Nachricht zu hinterlassen.

Er war nach unten gegangen. Das Haus war halb unterkellert. Man kam so am Fuße des kleinen Hügels durch einen Ausgang direkt zwischen seinem Haus und dem des Nachbars heraus. Die Tür war ein Schwachpunkt und zunächst war das der Grund weshalb Luke sich dorthin begab. Luke kauerte sich vor die Tür, es war fast stockdunkel, er blickte zum Haus des Nachbarn hinüber. Das Haus brachte ihn auf eine Idee.

Die Frage war: würde er es wagen?

Im Laufe seiner Karriere hatte Luke es immer versucht, Becca und Gunner von der Realität seiner Arbeit abzuschirmen. Becca wusste, wie er sein Geld verdiente, hatte aber tatsächlich nur eine kleine Ahnung, was das eigentlich bedeutete. Gunner auf seine Weise war da wahrscheinlich näher an der Wahrheit dran. Er glaubte, sein Vater sei James Bond.

Luke lachte auf. Er erkannte für eine Sekunde, dass er es wahrscheinlich war, der hier nichts verstand. In all den Jahren hatte er zwei Leben gehabt. So hatten sie es ihm beigebracht. Auf der einen Seite hast du deinen Job mit allem, was dazugehörte. Die Geheimnisse, die du erfuhrst und die du lerntest, schnell wieder zu vergessen, die Leute, die du trafst oder festnahmst oder tötetest. Auf der anderen Seite hattest du ein echtes Leben. Man versuchte, diese beiden Teile so weit wie möglich voneinander entfernt zu halten.

Aber es war eine Lüge. Die Arbeit war gefährlich und dreckig. Luke hatte regelmäßig mit den schlimmsten Menschen dieser Welt zu tun. Diese Menschen zogen keine willkürliche Linie zwischen Arbeitsleben und Privatem. Das war alles dasselbe für sie. Es war alles ein fairer Teil des Spiels.

Wie hatte er das so lange nicht sehen können? Oder hatte er es gesehen und einfach nur ignoriert?

Ein schrecklicher Gedanke erschien ihm, einer den er nicht ausdenken wollte. Er hatte es die ganze Zeit gewusst. Wenn Menschen gekidnappt wurden, dann endete das meistens tödlich für sie. Sie gehen zu lassen, wäre zu gefährlich. Sie wussten zu viel. Sie hatten zu viel gesehen. Es war einfacher und gescheiter sie einfach umzubringen.

Die Welt war voll mit Menschen, die für ihren Lebensunterhalt töteten. Es bedeutete ihnen nichts. Sie vermochten es am Morgen, jemanden umzubringen und danach bei Applebee’s für zehn Dollar Mittagessen zu gehen.

Luke biss seine Zähne zusammen, um den Schrei in seiner Kehle zu unterdrücken. Urplötzlich musste er anfangen zu weinen und das überraschte selbst ihn. Es tat weh. Es tat so sehr weh, und es hatte noch nicht einmal wirklich angefangen. Das wusste er. Er wusste, was auf ihn zukam. Er hatte es viele Male beobachten können. Unschuldige Menschen wurden aus dem Leben gerissen. Die Überlebenden wurden zu Schatten, leer, lebendig und doch tot zur selben Zeit. Sein Körper bebte vor Schluchzern.

Sein Handy piepte. Er blickte hinunter und hoffte, dass sie es sein würde. Sie war es nicht. Es war David Delliger.

Ich kann Sie treffen. Annapolis?

Okay. Das schürte seine Entschlossenheit.

Gegenüber der Tür des Erdgeschosses war die Tür seines Nachbarn Morts. Mort war ein lustiger Typ, Mitte fünfzig, Single. Er war Lobbyist der Casino Industrie. Nicht der etablierten Casio Industrie in Las Vegas. Der seltsamen Casino Industrie, deren Spielautomaten in heruntergekommenen Trabrennbahnanlagen oder trostlosen Flussschiffen, die in künstlichen Seen im Nirgendwo in Indiana vertäut waren, wie Pilze aus dem Boden schossen

Mort arbeitete hier in Washington, aber er verbrachte viel Zeit damit durchs Land zu fliegen, um Gesetzgeber zu schmieren. Somit war er nicht sonderlich viel zu Hause.

So wie heute Nacht. Luke wusste immer, ob Mort gerade nicht zu Hause war, weil er die Zeitschaltung seiner Innenbeleuchtung kannte. Es war jede Nacht dieselbe. Es hätte keinen Einbrecher zum Narren halten können, aber es beruhigte Morts Bedenken, was für einen Mann wie Mort sehr wichtig war.

Mort verdiente eine Menge Geld. Er hatte letztes Jahr so viel Geld verdient, dass er ein weiteres Stockwerk auf sein Hause hatte setzen lassen. Das machte einiges her, auch wenn es geschmacklos wirkte. Es war ein postmoderner Tumor, dessen Mix und Zusammenspiel verschiedener Architekturstile vielmehr wie ein Geschwür auf Morts herrschaftlicher Residenz thronte.

Man konnte fast sagen, dass es auch zum Verfall des Wertes von Lukes Grundstück beigetragen hatte. Luke mochte Mort, das tat er wirklich, aber dieser zusätzliche Bau war widerlich. Er war völlig inakzeptabel.

Und Mort war nicht zu Hause.

Immer noch hockend öffnete Luke die Tür im Erdgeschoss zur Hälfte. Morts Haus war nah, problemlose Wurfdistanz. Luke zog den Stift aus einer der Granaten und warf sie den kleinen Hügel in Richtung Morts Haus hinunter. Die Granate hüpfte zwei Mal und kam an die Wand gelehnt zum Stillstand.

Luke duckte sich und schmiss sich auf den Boden.

BOOM!

Ein Lichtkegel und ein lauter Knall zerrissen die Dunkelheit. Nach einigen Sekunden stand Luke auf und ging zurück zur Tür. Die Granate hatte ein Loch in Morts Haus gerissen. Ein kleines Feuer nagte an den Kanten des Lochs.

Luke öffnete dieses Mal ganz die Tür, trat nach draußen, riskierte, dass es möglicherweise Scharfschützen auf ihn abgesehen hatten, zog ein zweites Mal einen Stift aus einer Granate und warf sie wie einen Baseball genau durch die in Flammen stehende Mitte. Er raste zurück ins Haus.

Das Licht war dieses Mal anders und der Knall erstickte. Luke blickte nach draußen.

Die Seite von Morts Anbau war eingebrochen. Trümmer lagen auf dem Gras zwischen den zwei Häusern zerstreut. Ein ernsthaftes Feuer brach aus. Wenn erst einmal die Einrichtung und das Papier und die Teppiche und der ganze andere Müll brannten, dann würde es dort drüben schön warm werden.

Noch eine? Na klar. Eine mehr noch würde reichen. Luke trat nach draußen und schmiss auch die letzte Granate in das brennende Haus. In der Ferne hörte er bereits Sirenen heulen und näher kommen. Die lokale Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen – sie würden jede Minute hier sein. Wenn erst einmal die Nachbarn in ihren Nachtkleidern und Hausschuhen auf ihre Rasen drängten, würde es eine schöne Szene geben. Es würde nicht leicht sein, jemanden in solch einem Pulk Menschen verschwinden zu lassen.

Luke war auf dem Weg zurück nach oben, als der letzte Knall Morts Haus erschütterte. Er blickte aus dem Fenster. Glühende Asche flog überall durch die Gegend, schwarzer Rauch zog in den Himmel, der in rot und orange erstrahlte.

Die zwei Einsatzwagen ließen den Motor an und machten sich langsam aus dem Staub. Der Kleinbus war bereits verschwunden. Es war auch für Luke Zeit zu gehen. Er blickte noch einmal zu dem brennenden Haus. Er schüttelte den Kopf.

„Tut mir leid, Mort.“

Kapitel 43

23.19 Uhr

Queen Anne’s County, Maryland – Ostküste des Chesapeake Bays

Den großen Mann hatte sie erledigt. Er wand sich auf dem Boden.

Der würde nicht so schnell wieder aufstehen.

Becca nahm Gunner bei der Hand. Sie führte ihn zum Fenster und drückte das Gitter heraus. Es schepperte die Ziegel hinunter. Hinter ihr stampften schwere Schritte die Treppe hinauf.

Sie hockte sich vor Gunner. „Liebling, klettere raus, renn zur anderen Seite, aber sei vorsichtig, dann rutsch die Regenrinne hinab. So wie wir das in den Feuerübungen immer machen, okay? Ich bin hinter dir. Wenn du das Gras erreichst, dann renn. Renn so schnell du kannst zum Hause der Thompsons. Okay?“

Sie dachte an die Thompsons, ein altes Ehepaar, das um die fünfundachtzig, wenn nicht älter sein musste.

„Wer ist dieser Mann, Mama?“

„Ich weiß es nicht. Und es ist auch egal. Geh jetzt!“

Gunner kletterte mit dem Kopf voran aus dem Fenster, sprang hinunter und rannte davon.

Jetzt war sie an der Reihe. Sie blickte zur Tür. Zwei weitere Männer drängten sich in das Zimmer und rannten auf sie zu. Sie schlüpfte durch das Fenster. Sie stolperte über die Schieferziegel, doch einer der Männer erwischte sie an ihrem Bein und hielt sie fest. Sie befand sich zu Dreivierteln bereits auf dem Dach, ein Viertel ihres Körpers steckte noch im Zimmer. Der Mann zerrte jetzt an ihren beiden Beinen. Sie fingen an, sie zurück ins Zimmer zu ziehen.

Sie trat wild um sich, so sehr sie auch nur konnte.

Sie hörte ihre eigenen Schreie. „Aahh! Aahh!“

Es gelang ihr, sich zu befreien, dann begann sie sich da entlang zu rollen. Sie war bereits auf der niedrigen Schräge des Dachs. Eine Sekunde später tauchte einer der Männer durch das Fenster. Er war ihr auf den Fersen. Sie kugelten sich nun zusammen in Richtung Abgrund. Er versuchte sie festzunageln doch, sie kratzte ihn und zerquetschte seine Augen. Er rollte sich weg, um ihr zu entkommen, rollte aber zu weit und fiel über das Ende des Dachs. Sie hörte, wie er mit einem Knall auf dem Zementboden aufkam.

Sie sprang auf und fing an zu rennen. Ein weiterer Mann kletterte auf das Dach. Vor ihr war Gunner bereits an der Regenrinne angelangt. Er saß bereits auf der Dachrinne, seine Beine baumelten in der Luft. Er griff nach dem Rohr, stieß sich ab, schwang sich nach links herum und verschwand.

Becca erreichte die Kante.

Gunner glitt das Rohr hinab, landete auf dem Gras und rollte sich auf seinem Hintern ab. Eine weitere Sekunde verging und er saß immer noch auf dem Boden.

„Steh auf, Gunner! Renn!“

Er stand auf, drehte sich um und rannte den Hügel hinab in Richtung des Thompson Hauses. Becca blickte sich um. Der Mann auf dem Dach kam näher. Hinter ihm zwängte sich gerade ein weiterer durch das Fenster. Unter ihr und zu ihrer Linken sah sie Männer auf sie zu um die Ecke kommen.

 

Sie hatte keine Zeit, runter zu klettern. Sie drehte sich um und sprang.

Der Aufprall war hart und sie spürte einen Schmerz in ihrem Knöchel. Sie machte eine Rolle vorwärts, kam zum Stehen und rannte hinkend davon. Bei jedem Schritt durchfuhr sie eine Welle von Schmerzen, die vom Bein aus in ihren gesamten Körper ausstrahlten. Sie rannte weiter. Vor ihr rannte Gunner mit schwungholenden Armen und flinken Beinen. Sie näherte sich ihm.

„Lauf, Gunner!“, schrie sie. „Lauf!“

Hinter ihr vernahm sie die schwerfälligen Schritte des Mannes. Sie hörte, wie er schwer atmete. Sie rannte und rannte. Sie sah ihre Schatten im Gras vor ihr. Sie kamen immer näher, ihre Schatten überlagerten sich. Arme strecken sich nach ihr. Sie schüttelte sie ab.

„Nein!“

Ein Mann stürzte sich auf sie. Sie fühlte das Gewicht seines Körpers. Sie fielen zu Boden, ihre Körper bremsten schlitternd auf dem Gras. Sie kämpfte gegen ihn, sie kratzte ihn. Ein anderer Mann kam und dann noch einer. Sie drückten sie auf den Boden.

Zwei Männer liefen nach dem Jungen an ihr vorbei.

„Lauf!“, schrie sie. „Lauf!“

Sie verdrehte ihren Hals, um zu sehen was passierte. Hundert Meter entfernt hatte es Gunner fast bis zum Haus der Thompsons geschafft. Lichter im Haus wurden angeschaltet. Das Terrassenlicht ging an. Gunner sprang die Stufen hinauf, als die Tür sich öffnete.

Die zwei Männer waren gleich hinter ihm. Sie hörten auf zu rennen und liefen zur Terrasse. Langsam nahmen sie die Stufen.

Becca konnte Herrn und Frau Thompson in der Tür stehen sehen, eingerahmt vom Licht. Plötzlich sah sie einen Lichtstrahl, dann einen zweiten. Gewehrmündungen leuchteten auf, aber Becca konnte keinen Knall hören. Sie war so nah dran, und konnte ihn nicht hören.

Herr und Frau Thompson fielen zu Boden. Es gab einen weiteren Lichtblitz, dann noch einen, die Männer hatten es vollbracht.

„Oh, nein“, sagte Becca.

Jetzt kamen die Männer zurück, zusammen mit Gunner. Sie liefen zu seiner beiden Seiten, jeder hielt eines seiner Handgelenke umschlossen.

Ein Mann stand über ihr. Er war schlecht rasiert und roch nach Kaffee.

„Hast du das gesehen?“, fragte er. „Hast du das gesehen? Das ist deine Schuld, nicht unsere. Wenn du einfach getan hättest, was wir gesagt hatten, wäre das niemals passiert.“

Was hätte sie noch tun können. Becca spuckte dem Mann ins Gesicht.

Kapitel 44

23.27 Uhr

Mount Weather Notfalleinsatzzentrum – Bluemont, Virginia

In den letzten Stunden hatte Chuck Berg mehrfach das Bewusstsein verloren, bis eine Explosion ihn aufgeweckt hatte. Der Knall grollte wie ein weit entfernter Donner. Er versetzte die Luft in Schwingung, wie eine Welle im Ozean. Für eine lange Weile hatte er das Gefühl unter Wasser zu schwimmen, dann drang er wieder an die Oberfläche.

Er brach durch die Wasserwand und öffnete seine Augen. Chuck war siebenunddreißig Jahre alt und arbeitete seit fast zwölf Jahren für den Geheimdienst. Er hatte davor zwei Jahre am Schreibtisch zugebracht und neun als Teil eines erweiterten Sicherheitsteams. Zwei Monate lang hatte er einen Traumjob gehabt, er war der persönliche Bodyguard der Vize-Präsidentin gewesen. Gerade fühlte es sich nicht mehr so traumhaft an.

Chuck versuchte die Teile, an die er sich erinnern konnte, zusammen zu puzzeln. Sie waren aus dem Fahrstuhl getreten und waren einen langen schmalen Korridor in Richtung des Fernsehstudios entlang gegangen. Sie waren ein paar Minuten zu spät gewesen und waren deshalb in Eile. Er lief hinter der Vize-Präsidentin. Zwei andere, Smith und Erickson, liefen vor ihr.

Plötzlich flog die Stahltür vor ihnen nach innen. Erickson war sofort tot. Smith drehte sich herum und lief im Korridor wieder zurück. Sein Gesicht brannte, da die Flammen durch die zerbombte Tür gedrungen waren. Er sah einen Schatten durch das helle Orange und Rot der Flammen taumeln. Es war Smith, der wie eine Fackel brannte. Er schrie nur einige Sekunden, dann wurde er still und kippte nach vorn über. Berg stellte sich vor, wie Smith die Flammen inhaliert haben musste. Seine Kehle zerbarst, der Schrei erstarb, noch bevor er den Hals hätte verlassen können.

Chuck packte die Vize-Präsidentin und drückte sie nach unten.

Eine Druckwelle bewegte sich durch den Gang. Die gesamte Einrichtung schien zu beben. Etwas traf Berg am Kopf. Er erinnerte sich daran, dass er dachte: Okay, das wars, ich bin tot.

Aber er war nicht tot. Er war noch immer hier in demselben Korridor, es war stockdunkel und er lag auf der Vize-Präsidentin. Der Schmerz in seinem Kopf war groß. Er tastete mit einer Hand seinen Schädel ab und fand eine weite klebrige Wunde und getrocknetes Blut. Er drückte darauf. Ein geplatzter Schädel würde den Schmerz verschlimmern, je mehr er daran herumtastete. Aber das tat er nicht.

Er lebte und er schien dazu einsatzfähig. Und das bedeutete, dass er einen Job zu erledigen hatte.

„Frau Hopkins?“, fragte er. Sie war so klein, so zerbrechlich im Vergleich zu ihm, dass es seltsam war, auf ihr zu liegen.

„M’am, können Sie mich hören?“

„Nennen Sie mich Susan“, sprach sie, als wäre nichts gewesen. „Ich hasse diesen M’am Mist.“

„Sind Sie verletzt?“

„Ich habe Schmerzen“, sagte sie. „Aber ich weiß nicht, wie schlimm es ist.“

„Können Sie Ihre Arme und Beine bewegen?“

Sie wand sich unter ihm. „Ja. Aber mein rechter Arm tut ziemlich weh.“ Ihre Stimme zitterte. „Die Haut in meinem Gesicht schmerzt. Ich glaube sie wurde verbrannt.“

Chuck nickte. „Okay.“ Er rechnete alles durch. Sie konnte ihre Gliedmaßen bewegen, also waren keine wichtigen Nervenbahnen verletzt worden. Sie waren schon recht lange hier unten. Innere Verletzungen oder schwerere Verbrennungen hätten sie längst umgebracht. Und auch wenn ihre Verletzungen schmerzhaft waren, so waren sie noch nicht lebensbedrohlich.

„M’am, wir werden gleich sehen, ob sie aufstehen können, aber nicht sofort. Ich muss kurz weg und etwas überprüfen, dann komme ich sofort zurück. Ich will, dass Sie sich nicht bewegen. Ich will, dass Sie in genau derselben Position hier bleiben. Es ist sehr dunkel, ich würde Sie sonst nur schwer wiederfinden. Haben Sie das verstanden? Sagen Sie bitte ja oder nein.“

„Ja“, sagte sie mit der Stimme eines kleinen Mädchens. „Ich verstehe.“

Er ließ sie zurück und schlängelte sich auf dem Boden entlang. Ihm war ein Notfallkasten aufgefallen, der gegenüber der Fahrstuhltür angebracht worden war. Wenn jener Teil des Gebäudes noch stand, dann wüsste er, was zu tun sein würde. Er bewegte sich langsam, tastete nach allem, was im in die Quere kam. Er suchte nach etwas mit scharfen Kanten oder anderem vielleicht nützlichem Müll. Alles war voller Trümmern. Er tastete auch entlang der Mauer. Nach einer Weile fühlte seine Hand eine Einkerbung in der Wand, die ihm anzeigte, dass er den Fahrstuhl erreicht hatte.

Chuck zog sich mit Mühe auf die Knie. Einen Meter über dem Boden war es rauchig und die Luft begann seltsam zu riechen. Er duckte sich wieder auf den Boden.

„Frau Hopkins?“, rief er. „Sind Sie da?“

„Ich bin hier.“

„Bleiben Sie bitte auf dem Boden. Stehen Sie unter keinen Umständen auf, okay?“

„Okay.“

Chuck atmete tief ein und stand auf. Er drückte seine Knie durch. Seine Hände bewegten sich entlang der Mauer, bis sie den Glaskasten fanden. Er hatte keine Ahnung, wie er ihn öffnen sollte, deshalb stieß er mit voller Wucht seine Faust hinein. Es war leicht zerbrechliches Glas und es zersplitterte sofort.

Der Kasten war recht tief. Seine Hände wühlten in ihm herum und ertasteten ihm vertraute Formen. Beatmungsmasken waren darin. Die würde er brauchen. Da war auch eine Waffe – unnötig in diesen Umständen. Er fand auch eine Stabtaschenlampe, die mit einem Verschluss an der Wand angebracht worden war, er schaltete sie an. Sie funktionierte.

Oh mein Gott. Licht.

Schnell suchte er weiter und fand Wasser und einen Stapel Fertigessen. Einen Erste-Hilfe-Kasten. Ein Beil und ein Universalwerkzeug. Er fiel zu Boden, kurz bevor ihm der Atem ausging.

Er lehnte sich gegen die Mauer. Sie lebten und sie waren versorgt. Sie machten Fortschritte und es wurde Zeit, nach vorne zu denken. Die Einrichtung war angegriffen worden. Es war nicht irgendeine Einrichtung gewesen, sie war so gebaut worden, dass sie einen externen Raketen- oder Bombenangriff überstehen sollte. Das musste heißen, dass der Anschlag von hier drinnen ausgegangen war. Und das bedeutete im Umkehrschluss, dass Chuck einen Weg nach oben finden musste.

Aber…

Er musste aufpassen. Vor ungefähr zehn Jahren, als er zum ersten Mal ins Feld geschickt worden war, hatten sie ihn mit einem älteren, kurz vor der Pensionierung stehenden Agenten namens Walt Brenna zusammengesteckt. Walt war auf seine Weise besonders gewesen. Die Anderen hatten ihn einen Griesgram genannt. Sie hatten Chuck geraten, nicht auf ihn zu hören. Aber er und Walt hatten viel Zeit miteinander verbracht. Manchmal hatte es eben nichts anderes zu tun gegeben, als ihm zuzuhören.

Walt glaubte an ein Konzept, dass er selbst „Weiß auf Weiß“ nannte.

„Sie sagen dir, dass du in diesem Job islamistische Terroristen oder russische Mörder beschatten sollst oder was auch immer“, hatte Walt immer gesagt. „Aber darum geht es eigentlich gar nicht. Du glaubst doch nicht wirklich, dass solche Leute auch nur in die Nähe des Präsidenten der Vereinigten Staaten kämen. Denk mal nach! Was wir hier eigentlich machen ist, Anschläge von Weißen auf Weiße zu neutralisieren.“

Chuck Berg hatte Walts Verschwörungstheorien immer mit großer Vorsicht genossen. Aber sie waren ihm trotzdem in all den Jahren nicht aus dem Kopf gegangen, und so musste er immer wieder daran denken. Für Walt Brenna war ein Weiß auf Weiß Anschlag einer, bei dem sich die Regierung selbst angriff. Die Anschläge auf die Kennedys waren das beste Beispiel dafür. Genauso wie der versuchte Mord an Ronald Reagan 1981.

Walt Brenna sagte über Reagan:

„Der Vize-Präsident, der an Stelle Nummer eins in der Nachfolge steht, war der frühere Direktor der CIA. Der Vater des Mannes, der versucht hatte, den Präsidenten zu töten, ist Leiter von World Vision, einer Organisation, die an der Spitze der CIA steht. Die Familie des Vize-Präsidenten war mit der Familie des potentiellen Mörders befreundet. Der Bruder des Vize-Präsidenten und der Bruder des Mörders aßen zusammen Mittag, während sich der Mord ereignete. Nur sehr wenig davon ist in die Presse gedrungen. Nichts davon wurde jemals genauer untersucht. Und warum? Weil der Mörder verrückt ist, ist das alles was wir wissen? Nein. Weil Weiß auf Weiß ein akzeptierter Bestandteil des Spiels ist. Es ist ihr Job und unser Job, sie aufzuhalten. Angriff und Verteidigung, das ist alles.“

Im Laufe der Jahre stellte Chuck fest, dass Walt nicht der einzige war, der im Geheimdienst so dachte. Niemand sprach offen darüber, aber er hatte es flüstern hören. Wie konnte man eine Weiß auf Weiß Tat identifizieren? Welche Anzeichen gab es dafür?

Chuck nickte sich selbst zu. Genau so würde es aussehen. Eine Bombe war in einer Sicherheitseinrichtung explodiert, kurz nachdem das Weiße Haus angegriffen worden war. Die Explosionen im Weißen Haus waren auch von Innen gekommen oder zumindest die meisten. Outsidern wäre es nicht möglich, an einem dieser Orte eine Bombe zu platzieren und schon gar nicht an beiden. Die einzigen, die den entsprechenden Zugang gehabt hatten, waren das Militär, die Nachrichtendienste oder der Geheimdienst selbst.

Die Stabtaschenlampe in der Hand hockte er sich hin und watschelte im Entengang zügig zurück zur Vize-Präsidentin. Sie hatte sich kein bisschen vom Fleck gerührt.

„Ma’m? Sie können sich jetzt aufsetzen, wenn Sie das schaffen. Ich habe etwas zu essen, Wasser und einen Erste-Hilfe-Kasten. Wir werden diese Masken hier tragen müssen, wenn wir uns gleich auf den Weg nach draußen machen werden und ich werde Ihnen zeigen, wie. Es wird erst etwas mühsam und beengend erscheinen, aber ich versprechen Ihnen, dass Sie sich schnell daran gewöhnen werden.“

Sie setzte sich langsam auf. Sie wimmerte wegen der Schmerzen in ihrem Arm. Einige Hautpartien in ihrem Gesicht hatten sich abgeschält. Für Berg sahen sie jedoch nach oberflächlichen Verletzungen aus, obwohl sie wahrscheinlich einige Narben oder Veränderungen der Hautfarbe davontragen würde. Wenn das alles war, dass ihr widerfahren war, dann würde er sie glücklich nennen.

„Sollten wir nicht versuchen, jemanden anzurufen?“, fragte sie.

 

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Wir können niemanden anrufen. Wir wissen nicht mehr, wer Freund und wer Feind ist. Soweit müssen wir das Ganze hier im Geheimen angehen.“

Sie schien darüber nachzudenken. „Okay.“

„Nun, der Weg an die Oberfläche könnte sich als schwierig gestalten“, sagte Chuck. „Wahrscheinlich müssen wir klettern und es mag Angst machen und weh tun. Deshalb werde ich Sie jetzt um etwas bitten. Ich bitte Sie, tief in sich hineinzuhorchen, so tief wie möglich. Finden Sie die starke Frau in Ihnen. Ich weiß, dass sie dort ist. Können Sie sie finden?“

Die Frau blickte ihn an und ihre Augen wurden plötzlich hart. „Junge, ich war in der Modeindustrie umgeben von Raubtieren, als ich ein junges Mädchen war. Ich habe in New York und Paris und Mailand gelebt, alleine, damals war ich gerade einmal sechzehn Jahre alt. Entsprechend abgehärtet bin ich auch.“

Chuck nickte. Das war genau das, was er hören wollte.