Eine Falle für Null

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Kapitel drei

Reid schloss die Tür zu ihrem Zuhause in der Vorstadt von Alexandria im Bundesstaat Virginia auf, balancierte eine Pizza-Schachtel auf seiner Hand und gab den sechsstelligen Alarmcode in die Schaltfläche neben der Tür ein. Er hatte das System gerade vor einigen Wochen verbessern lassen. Dieser neue Alarm sendete eine Notfallnachricht sowohl an den Rettungsdienst als auch an die CIA, falls der Code nach Öffnung einer der Ausgänge nicht binnen dreißig Sekunden richtig eingegeben wurde.

Es war eine von mehreren Vorsichtsmaßnahmen, die Reid seit dem Vorfall getroffen hatte. Es gab jetzt Kameras, drei insgesamt. Eine von ihnen war über der Garage angebracht und zielte in Richtung Auffahrt und Eingangstür, eine weitere war im Flutlicht über der Hintertür versteckt und eine dritte befand sich außerhalb des Panikraumes im Keller. Alle drei nahmen rund um die Uhr auf. Er hatte auch alle Schlösser im Haus ausgetauscht. Ihr ehemaliger Nachbar, der jetzt verstorbene Herr Thompson, hatte einen Schlüssel für die Eingangs- und Hintertür, doch seine Schlüssel verschwanden, als der Attentäter Rais seinen Wagen stahl.

Außerdem waren Ortungschips in seine Töchter implantiert worden. Beide waren sich dessen nicht bewusst. Man hatte ihnen eine Injektion gesetzt und ihnen gesagt, dass es sich um eine Grippeimpfung handelt. Doch in Wirklichkeit war es ein subkutanes GPS-Ortungsgerät, kleiner als ein Reiskorn, das man ihnen in den Oberarm gespritzt hatte. Wo auch immer sie auf der Welt wären, ein Satellit wüsste darüber Bescheid. Das war Agent Stricklands Einfall und Reid hatte ihm fraglos zugestimmt. Insbesondere merkwürdig war es, dass Deputy Direktor Cartwright sofort unterschrieb, obwohl es sehr kostenaufwendig war, zwei Zivile mit CIA Technik auszustatten.

Reid ging in die Küche und fand Maya im Wohnzimmer nebenan., die einen Film im Fernsehen sah. Sie faulenzte auf ihrer Seite des Sofas, immer noch im Schlafanzug, und beide ihrer Beine hingen von der Lehne.

“Hallo.” Reid stellte die Pizza-Schachtel auf die Arbeitsfläche und zog sich seine Tweedjacke aus. “Ich habe dir eine SMS geschrieben. Du hast nicht geantwortet.”

“Das Telefon lädt sich oben auf”, antwortete Maya gelassen.

“Kann sich das nicht hier unten aufladen?” fragte er spitz.

Sie zuckte nur mit den Schulter.

“Wo ist deine Schwester?”

“Oben”, gähnte sie. “Glaube ich.”

Reid seufzte. “Maya —”

“Sie ist oben, Papa. Mann…”

So sehr er sie auch für ihr launische Haltung der letzten Zeit ausschimpfen wollte, hielt Reid sich dennoch zurück. Er wusste immer noch nicht genau, was die beiden während des Vorfalls mitgemacht hatten. In seinem Inneren nannte er es jetzt “den Vorfall”. Saras Psychologin hatte vorgeschlagen, der Sache einen Namen zu geben, damit sie in Gesprächen Bezug auf das Ereignis nehmen könnten. Er hatte es allerdings noch nie laut ausgesprochen.

Überhaupt sprachen sie kaum darüber.

Aus den Krankenhausberichten, sowohl aus dem aus Polen als auch aus dem einer zweiten Untersuchung in den USA, wusste er, dass beide seiner Töchter zwar kleinere Verletzungen erlitten hatte, doch keine von ihnen vergewaltigt worden war. Er hatte jedoch mit eigenen Augen gesehen, was mit einigen der Opfer der Menschenhändler geschehen war. Er war sich nicht sicher, ob er bereit war, die Details der fürchterlichen Qual zu hören, die sie wegen ihm erlitten hatten.

Reid ging nach oben und hielt einen Augenblick vor Saras Schlafzimmertür inne. Die Tür stand ein paar Zentimeter offen. Er blickte hinein und sah, dass sie auf ihrer Bettdecke lag und die Wand anblickte. Ihr rechter Arm lag auf ihrer Hüfte, immer noch vom Ellenbogen an in dem beigen Gips. Morgen hatte sie einen Termin beim Arzt, um festzustellen, ob man ihn abnehmen könnte.

Reid drückte sanft die Tür auf, doch die Scharniere quietschten trotzdem. Sara bewegte sich jedoch nicht.

“Schläfst du?” fragte er leise.

“Nein”, murmelte sie.

“Ich, äh… ich habe eine Pizza mitgebracht.”

“Hab keinen Hunger”, gab sie matt zurück.

Seit dem Vorfall aß sie nicht viel. Reid musste sie sogar ständig daran erinnern, Wasser zu trinken, sonst nähme sie kaum etwas zu sich. Er verstand besser als die meisten, wie schwer es war, Trauma zu überleben, doch dies fühlte sich anders an. Schlimmer.

Dr. Branson, die Psychologin, zu der Sara ging, war eine geduldige und mitfühlende Frau, die sehr empfohlen wurde und von der CIA zertifiziert war. Doch laut ihrer Berichte sprach Sara während der Therapie-Sitzungen nur wenig und beantwortete Fragen mit so wenig Worten wie möglich.

Er saß auf dem Rand ihres Bettes und strich das Haar aus ihrer Stirn. Sie zuckte leicht bei seiner Berührung zurück.

“Kann ich irgendwas für dich tun?” fragte er leise.

“Ich will einfach nur allein sein”, murmelte sie.

Er seufzte und stand vom Bett auf. “Verstehe ich”, sagte er empathisch. “Ich würde mich trotzdem sehr darüber freuen, wenn du herunterkämst und wir zusammen sein könnten, wie eine Familie. Vielleicht könntest du versuchen, ein paar Happen zu essen.”

Sie antwortete nichts.

Reid seufzte erneut, als er wieder die Treppen hinunterging. Sara war offensichtlich traumatisiert. Es war jetzt noch viel schwerer, zu ihr vorzudringen als zuvor, im Februar, nachdem die Mädchen eine Begegnung mit zwei Mitgliedern der Terrororganisation Amun an der Strandpromenade in New Jersey hatten. Er dachte damals, dass es schlimm war, doch jetzt war seine jüngste Tochter komplett freudlos, schlief oder lag im Bett und starrte in die Luft. Selbst wenn sie körperlich anwesend war, fühlte es sich an, als ob sie kaum da wäre.

In Kroatien, der Slowakei und in Polen wollte er einfach nur seine Mädchen zurück haben. Jetzt, da er sie sicher heimgebracht hatte, wollte er einfach nur seine Mädchen zurück haben – doch auf andere Weise. Er wollte, dass die Dinge wieder so wären wie zuvor.

Maya war im Esszimmer und deckte den Tisch mit drei Papptellern und – bechern. Er sah ihr dabei zu, wie sie sich ein wenig Limo eingoss, ein Stück Peperoni-Pizza aus der Schachtel nahm und die Spitze abbiss.

Während sie kaute, fragte er: “Also. Hast du schon ein bisschen mehr darüber nachgedacht, wieder zur Schule zu gehen?”

Ihr Kiefer bewegte sich kreisförmig, während sie ihn gerade anblickte. “Ich glaube, ich bin einfach noch nicht so weit”, antwortete sie nach einer Weile.

Reid nickte, als ob er ihr zustimmte, doch er dachte, dass vier Wochen mehr als genug Zeit wären und es ihnen guttäte, wenn sie wieder zur Routine zurückkehrten. Keine von ihnen war nach dem Vorfall zur Schule zurückgekehrt. Sara war ganz offensichtlich noch nicht bereit, doch es schien, dass Maya wieder in Form war, um ihre Bildung erneut aufzunehmen. Sie war schlau, fast zu schlau. Selbst in der Mittelschule hatte sie jede Woche an ein paar Kursen der Georgetown Universität teilgenommen. Das sähe auf einer Universitätsbewerbung gut aus und gäbe ihr Vorsprung bei einem Studium – doch nur, wenn sie die Kurse auch beendete.

Mindestens ging sie ein paar Mal pro Woche zur Bibliothek, um zu lernen, das war schon ein Anfang. Sie hatte vor, an den letzten Prüfungen teilzunehmen und sie zu bestehen, damit sie nicht wiederholen müsste. Doch so schlau sie auch war, Reid zweifelte daran, dass das ausreichen würde.

Er wählte seine Worte vorsichtig, als er ihr sagte: “Es sind nicht mal mehr zwei Monate Unterricht, doch ich glaube, du bist schlau genug, aufzuholen, falls du zurückkehrst.”

“Du hast recht”, gab sie zurück, während sie einen weiteren Happen Pizza abbiss. “Ich bin schlau genug.”

Er blickte sie von der Seite an. “Das war nicht, was ich meinte, Maya —”

“Oh, hallo Mäuschen”, sagte sie plötzlich.

Reid blickte erstaunt auf, als Sara in das Esszimmer kam. Ihr Blick fegte über den Boden, während sie sich schüchtern auf den Stuhl zubewegte. Er wollte etwas sagen, sie ermutigen oder sie einfach nur wissen lassen, dass er sich darüber freute, dass sie zu ihnen kam, doch er hielt sich zurück. Es war das erste Mal in mindestens zwei Wochen, wenn nicht noch länger, dass sie zum Essen heruntergekommen war.

Maya legte ein Stück Pizza auf einen Teller und gab ihn ihrer Schwester. Sara biss ein winziges, fast unbemerkbar kleines Stück von der Spitze ab, sah keinen von den beiden an.

Reids Gehirn raste, suchte nach etwas, was er sagen könnte, etwas, dass dies wie ein normales Familienessen aussehen ließe und nicht die angespannte, stille, schmerzhaft unbehagliche Situation, die es wirklich war.

“Ist heute irgendwas Interessantes passiert?” gab er schließlich von sich und schimpfte sich sofort für den lahmen Versuch aus.

Sara schüttelte ein wenig den Kopf, starrte auf die Tischdecke.

“Ich habe einen Dokumentarfilm über Pinguine geschaut”, bot Maya an.

“Hast du was Wissenswertes dabei gelernt?” wollte er wissen.

“Nicht wirklich.”

Und so kehrte die Stille und Anspannung wieder zurück.

Sag was Sinnvolles, brüllte sein Gehirn ihn an. Biete ihnen Unterstützung an. Lass sie wissen, dass sie dir offen erzählen können, was geschehen ist. Ihr habt alle Traumata überlebt. Überlebt es zusammen.

“Hört mal”, sprach er. “Ich weiß, dass es in letzter Zeit nicht gerade einfach war. Doch ich möchte, dass ihr beide wisst, dass ihr mit mir darüber sprechen könnt, was geschehen ist. Ihr könnt mir Fragen stellen. Ich werde ehrlich sein.”

“Papa…” begann Maya, doch er hob die Hand.

“Bitte, das ist mir wichtig”, fuhr er fort. “Ich bin für euch da und werde es immer sein. Wir haben das zusammen überlebt, wir drei, und das beweist, dass es nichts gibt, was uns trennen kann…”

Er hielt inne, sein Herz brach erneut, als er sah, wie Tränen über Saras Wangen flossen. Während sie weinte, starrte sie weiterhin hinunter auf den Tisch, sagte nichts, ihr Blick schien weit weg und drückte aus, dass sie geistig woanders war, nicht bei ihrer Schwester und ihrem Vater.

 

“Schatz, es tut mir leid.” Reid stand auf, um sie zu umarmen, doch Maya war schneller. Sie legte ihre Arme um ihre jüngere Schwester, während Sara in ihre Schulter schluchzte. Reid konnte nichts weiter tun, als ungelenk dazustehen und sie zu beobachten. Keine tröstenden Worte kam ihm in den Sinn. Jeglicher Ausdruck von Zärtlichkeit, den er anböte, stellte kaum mehr als ein Pflaster auf einer Einschusswunde dar.

Maya ergriff eine Serviette vom Tisch und tupfte damit sanft die Wangen ihrer Schwester, strich ihr das blonde Haar von der Stirn. “Hey”, flüsterte sie. “Warum gehst du nicht hoch und legst dich ein Weilchen hin? Ich komme gleich nach und schaue nach dir.”

Sara nickte und schniefte. Sie stand wortlos vom Tisch auf und schlurfte aus dem Esszimmer auf die Treppen zu.

“Ich wollte sie nicht aufregen…”

Maya drehte sich zu ihm, mit den Händen auf den Hüften. “Warum hast du dann wieder darüber reden müssen?”

“Weil sie kaum zwei Worte mit mir darüber gesprochen hat!” verteidigte sich Reid. “Ich will, dass sie weiß, dass sie mit mir reden kann.”

“Sie will nicht mit dir darüber reden”, platze es aus Maya. “Sie will mit niemandem darüber reden!”

“Dr. Branson sagt, dass es therapeutisch ist, über vergangenes Trauma zu sprechen…”

Maya schnaubte laut. “Und du glaubst, dass Dr. Branson jemals so etwas mitgemacht hat, was Sara widerfahren ist?”

Reid atmete tief durch, zwang sich, die Ruhe zu bewahren und nicht zu streiten. “Wahrscheinlich nicht. Aber sie behandelt CIA Agenten, militärisches Personal, alle möglichen Arten von Trauma und posttraumatischer Belastungsstörungen —”

“Sara ist aber kein CIA Agent”, gab Maya schroff zurück. “Sie ist kein Elitesoldat oder Mitglied der Navy. Sie ist ein vierzehnjähriges Mädchen.” Sie strich sich durchs Haar und seufzte. “Du willst es wissen? Du willst darüber sprechen, was passiert ist? Na gut: Wir sahen Herrn Thompsons Leiche, bevor man uns entführte. Sie lag genau hier, im Eingang. Dann beobachteten wir diesen Verrückten dabei, wie er die Gurgel der Frau an der Autobahnraststätte durchschnitt. Ihr Blut war auf meinen Schuhen. Wir waren dabei, als die Menschenhändler ein weiteres Mädchen erschossen und sie im Kies liegen ließen. Sie versuchte, mir dabei zu helfen, Sara zu befreien. Ich wurde unter Drogen gesetzt. Wir wurden beide beinahe vergewaltigt. Und Sara… irgendwie schaffte sie es, sich gegen zwei erwachsene Männer zu wehren, von denen einer eine Waffe hatte, und dann ist sie bei voller Fahrt aus dem Zugfenster gesprungen.” Als sie zu Ende erzählt hatte, bebte ihre Brust, doch keine Tränen entrannen ihr.

Sie war nicht traurig darüber, die Ereignisse des letzten Monats wieder zu erleben. Sie war wütend.

Reid sank langsam auf einen Stuhl. Er wusste über das meiste, was sie ihm gesagt hatte, Bescheid, weil er ihnen auf der Spur war, doch er hatte keine Ahnung, dass ein weiteres Mädchen vor ihren Augen erschossen worden war. Maya hatte recht, Sara war nicht darauf vorbereitet, solche Dinge zu verarbeiten. Sie war nicht mal erwachsen. Sie war eine Jugendliche, die Dinge erlebt hatte, die jeden, egal ob er darauf trainiert war oder nicht, traumatisiert hätten.

“Als du auftauchtest”, fuhr Maya fort, ihre Stimme jetzt leiser, “als du uns endlich fandest, da warst du für uns wie ein Superheld oder so. Zu Beginn. Doch dann… als wir etwas Zeit hatten, um darüber nachzudenken… da ist uns bewusst geworden, dass wir nicht wissen, was du sonst noch vor uns versteckst. Wir sind uns nicht sicher, wer du wirklich bist. Weißt du, wie viel Angst uns das macht?”

“Maya”, antwortete er sanft, “ihr müsst niemals Angst vor mir haben —”

“Du hast Leute umgebracht.” Sie zuckte mit einer Schulter. “Einen ganzen Haufen. Stimmt’s?”

“Ich…” Reid musste sich daran erinnern, sie nicht anzulügen. Er hatte versprochen, dass er es nicht mehr täte, soweit das möglich wäre. Stattdessen nickte er nur.

“Du bist nicht die Person, die wir dachten, die du seist. Es wird ein Weilchen dauern, bis wir uns daran gewöhnen. Das musst du akzeptieren.”

“Du sagst ständig,wir’”, murmelte Reid. “Spricht sie mit dir?”

“Ja. Manchmal. Seit der letzten Woche schläft sie in meinem Bett. Alpträume.”

Reid seufzte traurig. Vorbei mit der sorglosen, freudigen Dynamik, die ihre kleine Familie einst genoss. Er wusste, dass die Dinge sich für alle und zwischen allen geändert hatten – vielleicht für immer.

“Ich weiß nicht, was tun”, gab er leise zu. “Ich will für sie da sein, für euch beide. Ich will euch unterstützen, wenn ihr es braucht. Doch das kann ich nicht, wenn sie nicht mit mir darüber spricht, was in ihr vorgeht.” Er blickt zu Maya auf und fügte hinzu: “Sie hat dich immer bewundert. Vielleicht kannst du jetzt ihr Vorbild sein. Ich glaube, dass es euch beiden guttäte, wenn ihr wieder eine Routine aufnehmt, versucht, ein normales Leben zu führen. Beende zumindest deinen Unterricht in Georgetown. Die lassen dich vermutlich auch nicht dort studieren, wenn du ein ganzes Semester nicht bestehst.”

Maya war für einen langen Moment still. Schließlich sagte sie: “Ich glaube, ich will gar nicht mehr an der Uni Georgetown studieren.”

Reid runzelte die Stirn. Georgetown war ihr erste Wahl von Universitäten, seit sie nach Virginia gezogen waren. “Wo denn dann? Die Universität von New York?

Sie schüttelte den Kopf. “Nein. Ich will nach West Point.”

“West Point”, wiederholte er verdutzt, komplett überrascht von ihrer Aussage. “Du willst auf eine Militärakademie?”

“Ja”, sagte sie. “Ich werde eine CIA Agentin.”

Kapitel vier

Reid sträubte sich. Er war sich sicher, dass er richtig gehört hatte, doch die Kombination von Worten, die ihrem Mund entsprang, ergab für ihn nur wenig Sinn.

Die will mich provozieren, dachte er. Sie erwartete einen Streit und ich habe mich im Zaum gehalten. Das war nur jugendliche Existenzangst. Musste es sein.

“Du… willst eine CIA Agentin werden”, sagte er langsam.

“Ja”, antwortete Maya. Genauer gesagt will ich an der nationalen Geheimdienst-Universität in Bethesda studieren. Doch um das zu erreichen, muss ich zuerst ein Mitglied der Streitkräfte werden. Anstatt mich zum Militärdienst zu verpflichten, werde ich nach West Point gehen,wo ich als zweiter Lieutenant abschließen kann und somit an der Geheimdienst-Uni in Bethesda studieren kann. Dort kann ich einen Master in strategischem Geheimdienst erlangen. Zu diesem Zeitpunkt wäre ich dann schon über einundzwanzig und könnte mich beim Einsatz-Trainingsprogramm der Agentur anmelden.”

Reids Beine fühlten sich taub an. Nicht nur war es ihr ganz offensichtlich ernst damit, doch sie hatte sich auch schon reichlich darüber informiert, wie sie am besten vorginge und welche Bildung sie bräuchte.

Doch er ließe es niemals zu, dass seine Tochter diesen Weg wählte.

“Nein”, sagte er schlichtweg. Alle anderen Worte schienen ihm auszubleiben. “Nein. Auf keinen Fall. Daraus wird nichts.”

Mayas Augenbrauen schossen gleichzeitig hoch. “Wie bitte?” sagte sie scharf.

Reid atmete tief ein. Sie war willensstark, weshalb er es ihr vorsichtiger verbieten müsste. Doch seine Antwort war klar und deutlich,nein’. Nicht nach all dem, was er gesehen und getan hatte.

“Es ist noch nicht so viel Zeit vergangen… seit dem… dem Vorfall”, erklärte er. “Das ist noch alles frisch in deiner Erinnerung. Bevor du eine solche Entscheidung schließt, solltest du alle Standpunkte betrachten. Beende deine Kurse, die High School. Bewerbe dich bei Colleges. Und wir können das alles später noch mal besprechen.” Er lächelte so freundlich, wie er es konnte.

Das tat Maya nicht. “Du hast kein Recht, mein Leben so zu bestimmen”, antwortete sie erhitzt.

“Doch das habe ich”, gab Reid zurück. Er wurde jetzt selbst schnell ärgerlich. “Du bist immer noch minderjährig.”

“Nicht mehr lange”, schoss sie zurück. “Lass mich dir erklären, was geschehen wird. Ich gehe nicht wieder zu den Kursen an die Uni Georgetown. Ich gehe nicht wieder zur Schule bis September. Ich werde durch mein Frühjahrssemester durchfallen und muss diese Kurse dann neu belegen. Nächsten Monat werde ich siebzehn, was bedeutet, dass ich achtzehn bin, bis ich die Schule beende. Und dann kannst du mir nicht mehr vorschreiben, wo ich hin kann oder was ich studiere.” Sie verschränkte ihre Arme, um ihren Standpunkt zu festigen.

Reid drückte sich mit den Fingern auf den Nasenrücken. “Du kannst nicht einfach drei Monate Schule ausfallen lassen. Und was ist mit den ganzen Lernsessions, die du gemacht hast? Die ganze Zeit wäre dann vergeudet.”

“Ich bin nicht zu den Lernsessions gegangen”, gab sie zu.

Er sah sie scharf an. “Du hast mich also angelogen? Nach allem, was geschehen ist?” Er schnaubte verärgert. “Und wo bist du hin?”

“Nachdem du mich absetzt, gehe ich ins Freizeitzentrum”, erklärte sie ihm nüchtern. “Dort gibt es ein paar Mal pro Woche Selbstverteidigungsunterricht. Der wird von einem ehemaligen Marine gegeben. Außerdem habe ich auch über Spionageabwehr und Spionagetaktiken nachgelesen.”

Er schüttelte seinen Kopf. “Ich kann es nicht fassen. Ich dachte, es gäbe keine Geheimnisse mehr zwischen uns.” Sobald er es gesagt hatte, schoss ihm eine schmerzhafte Erinnerung durch das Gedächtnis – Kates Mord, die Wahrheit über ihre Mutter. Er hatte es ihnen immer noch nicht mitgeteilt, trotz des Versprechens, das er sich selbst gegeben hatte, dass er mit dem Lügen und der List aufhören würde. Es brachte ihn um, ihnen dies zu enthalten. Doch nach dem Vorfall war noch nicht genug Zeit vergangen, um etwas so Fürchterliches so bald schon zu enthüllen. Jetzt, vier Wochen später, hatte er Angst, dass es schon zu spät war und dass sie wütend auf ihn wären, dass er die Wahrheit so lange geheimgehalten hatte.

“Ich wusste, dass du so reagieren würdest”, sagte Maya. “Deshalb habe ich dir nicht die Wahrheit gesagt. Doch jetzt rücke ich damit raus. Das ist es, was ich machen will. Was ich machen werde.”

“Als du sieben warst, wolltest du Balletttänzerin werden”, erklärte ihr Reid. “Erinnerst du dich daran? Als du zehn warst, da wolltest du Tierärztin werden. Mit dreizehn wolltest du Rechtsanwältin werden, nur weil du einen Film über einen Mordprozess geschaut hattest —”

“Bevormunde mich nicht!” Maya sprang von ihrem Stuhl auf, stand vor ihm, zeigte mit einem warnenden Finger auf ihn und hatte einen zornigen Ausdruck auf dem Gesicht.

Reid lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, schockiert von ihrem Ausbruch. Er war so überrascht von dem Ausmaß ihrer Reaktion, dass er kaum ärgerlich auf sie sein konnte.

“Das ist nicht der Traum eines kleinen Mädchens”, sagte sie schnell, ihre Stimme gedämpft. “Ich will das. Ich weiß das jetzt. Genauso wie ich weiß, warum Sara nachts nicht schlafen kann. Sie hat Alpträume über ihre Erfahrung, über das, was sie mitgemacht hat. Was sie überlebt hat. Doch das traumatisiert mich nicht. Ich kann nachts nicht schlafen, weil ich weiß, dass es immer noch vor sich geht. Was ich gesehen habe und mitgemacht habe, ist das Leben einer anderen Person. Während ich in meinem warmen Bett liege, Pizza esse oder zur Schule gehe, gibt es da draußen Frauen und Kinder, die jeden Tag so leben – bis sie sterben.”

Maya stellte einen Fuß auf den Stuhl und riss das Bein ihrer Schlafanzughosen bis zum Knie hoch. Auf ihrer Wade waren dünne, bräunliche Narben, die drei Worte ergaben. ROT. 23. POLE. Es war die Nachricht, die sie in ihr eigenes Bein geritzt hatte, nur Augenblicke bevor die Drogen der Menschenhändler sich ihrer bemächtigten. Die Nachricht, die einen Hinweis darauf bildete, wo sie Sara hingebracht hatten.

“Du kannst so tun, als sei das nur eine Phase, wenn du willst”, fuhr Maya fort. “Doch diese Narben gehen nicht mehr weg. Ich werde sie für den Rest meines Lebens haben. Jedes Mal, wenn ich sie ansehe, werde ich daran erinnert, dass das, was mir geschah, immer noch anderen geschieht. Ich bin mir nur darüber klargeworden, dass ich am besten zu den Menschen gehöre, die versuchen, es aufzuhalten, wenn ich dem ein Ende setzen möchte.” Sie zog wieder das Schlafanzughosenbein herunter.

Reids Kehle fühlte sich trocken an. Er konnte ihrem Argument genauso wenig widersprechen, wie er es befürworten konnte. Etwas, das Maria ihm einst gesagt hatte, blitzte durch sein Gedächtnis: Du kannst nicht alle retten. Doch er könnte seine Tochter vor der Art von Leben bewahren, in das er gestoßen wurde. “Es tut mir leid”, schloss er. “Es ist egal, wie edel deine Absichten sind, ich kann das nicht unterstützen. Ich werde es nicht unterstützen.”

“Ich brauche deine Unterstützung nicht”, verkündete Maya. “Ich dachte nur, dass du die Wahrheit erfahren solltest.” Sie stürmte aus dem Esszimmer und ihre nackten Füße stampften die Treppe hinauf. Einen Augenblick später schlug eine Tür zu.

 

Reid fiel auf seinem Stuhl zurück und seufzte. Die Pizza war kalt. Eine Tochter war still vor Horror und die andere war entschlossen, es mit der Unterwelt aufzunehmen. Die Psychologin, Dr. Branson, hatte ihm gesagt, er müsse Geduld mit Sara haben. Sie sagte ihm, dass die Zeit alles heilte, doch stattdessen hatte er gedrängt und alles noch schlimmer gemacht. Und Mayas Vorhaben, der CIA beizutreten, war das Letzte, was er erwartet hatte, zu hören.

Auf seltsame Weise bewunderte er ihre Fähigkeit, das Trauma, das sie erlebt hatte, zu einem guten Zweck zu kanalisieren. Doch er konnte einfach nicht den Mitteln zustimmen, die sie gewählt hatte. Seine Gedanken schweiften zurück zu allem, was er gesehen hatte und den Verletzungen, die er erlitten hatte. Die Dinge, die er hatte tun müssen und die Bedrohungen, die er stoppen musste. Die Menschen, denen er geholfen hatte und all diejenigen, die er dabei zerbrochen oder tot zurückgelassen hatte.

Reid bemerkte plötzlich, dass er keine Ahnung hatte, was ihn dazu inspirierte, überhaupt der CIA beizutreten. Seine eigenen Motive waren schon seit langem verloren, durch den Gedächtnishemmer in die dunkelsten Winkel seines Gehirns verdrängt. Es war möglich, dass er sich nie wieder daran erinnerte, warum er der CIA Agent Kent Steele wurde.

Du weißt, dass das nicht stimmt, sagte er sich. Es könnte einen Weg geben.

* * *

Reids Büro war im zweiten Stockwerk des Hauses. Er hatte das kleinste Schlafzimmer mit seinem Schreibtisch, Regalen und einer beeindruckenden Buchsammlung ausgestattet. Er hätte eigentlich seine Vorlesung für Montag über die protestantische Reformation und den dreißigjährigen Krieg vorbereiten sollen. Als Lehrbeauftragter für europäische Geschichte an der Georgetown Universität war Reids Beschäftigung kaum mehr als Teilzeit, doch er sehnte sich dennoch nach dem Hörsaal. Er bedeutete eine Rückkehr zur Normalität, was er sich auch für seine Mädchen wünschte. Doch diese Aufgabe konnte warten.

Stattdessen legte Reid ehrfürchtig eine dunkle Platte auf den alten Phonographen in der Ecke und senkte die Nadel. Er schloss seine Augen, als Mozarts Piano Konzert Nr. 21 begann, langsam und melodisch, wie der Frühlingstau nach dem Frost eines langen Winters. Er lächelte. Die Maschine war schon über fünfundzwanzig Jahre alt, doch funktionierte perfekt. Kate hatte sie ihm zum fünften Jahrestag ihrer Hochzeit geschenkt. Sie hatte den maroden Phonographen auf einem Flohmarkt für sechs Dollar gefunden und dann über zweihundert weitere Dollar investiert, um ihn fast zu seinem vorherigen Glanz restaurieren zu lassen.

Kate. Sein Lächeln verzog sich zu einer Grimasse.

Du bist in dem geheimen Gefängnis in Marokko, das sie Hölle-Sechs nennen. Du vernimmst einen bekannten Terroristen.

Da ist ein Anruf für dich. Es ist Deputy Direktor Cartwright. Dein Chef.

Der verdreht nicht die Worte. Deine Frau, Kate, wurde getötet.

Es geschah, als sie ihre Arbeit verließ, zu ihrem Auto ging. Kate wurde eine starke Dosis Tetrodotoxin gegeben. Man nennt es auch TTX, es ist ein potentes Gift, das eine plötzliche Lähmung des Zwerchfells auslöst. Sie erstickte auf der Straße und war in weniger als einer Minute tot.

In den Wochen seit Osteuropa hatte Reid diese Erinnerung vielmals wieder aufleben lassen – oder vielmehr lebte die Erinnerung in ihm auf, drängte sich nach vorn in seinem Gehirn, wenn er es am wenigsten erwartete. Alles erinnerte ihn an Kate, von den Möbeln im Wohnzimmer bis zum Duft, der irgendwie immer noch in seinem Kissen nachklang. Von der Farbe von Saras Augen bis zu Mayas kantigem Kinn. Sie war überall… genauso wie die Lüge, die er seinen Töchtern vorenthielt.

Er hatte mehrmals versucht, sich an mehr zu erinnern, doch er war sich nicht sicher, ob er überhaupt mehr wusste. Nach dem Mord an seiner Frau hatte Kent Steele einen gefährlichen Amoklauf durch Europa und den Nahen Osten betrieben. Dabei brachte er Dutzende um, die mit der Terroristenorganisation Amun in Verbindung gebracht wurden. Danach kam der Gedächtnishemmer und die folgenden zwei Jahre von seltsam glückseliger Ignoranz.

Reid ging zum Schrank in der hinteren Ecke des Zimmers. Darin war ein kleiner schwarzer Seesack, den die CIA Agenten eine Einsatztasche nannten. In ihr war alles, was ein Agent bräuchte, um für eine unbestimmt lange Zeit unterzutauchen, sollte die Situation danach verlangen. Diese bestimmte Tasche hatte seinem ehemalig besten Freund gehört, dem jetzt verstorbenen Agenten Alan Reidigger. Reid hatte nur wenige Erinnerungen an den Mann, doch er wusste genug, um zu verstehen, dass Reidigger ihm in einer Notlage geholfen hatte – und dafür mit seinem Leben bezahlte.

Hallo Null, begann der Brief prophetisch. Wenn du das hier liest, dann bin ich wahrscheinlich tot.

Er übersprang ein paar Absätze.

Die CIA wollte dich zurückholen, doch du hörtest nicht zu. Es ging dabei nicht nur um deinen Amoklauf. Da gab es noch etwas und du standst kurz davor, es herauszufinden – du warst zu nah dran. Ich kann dir nicht sagen, worum es geht, denn ich weiß es selbst nicht. Du wolltest es mir nicht sagen, also muss es was ziemlich Ernstes gewesen sein.

Reid glaubte zu wissen, worüber Reidigger schrieb – die Verschwörung. Ein kurzes Aufblitzen einer Erinnerung, das ihn überkam, während er Imam Khalil und den Pockenvirus jagte, hatte ihm gezeigt, dass er etwas wusste, bevor der Gedächtnishemmer in seinen Kopf implantiert wurde.

Er schloss seine Augen und kehrte zu der Erinnerung zurück:

Das geheime Gefängnis der CIA in Marokko. Offizielle Bezeichnung H-6, genannt Hölle-Sechs. Eine Vernehmung. Du ziehst die Fingernägel eines arabischen Mannes, um Informationen über den Standort eines Bombenherstellers zu bekommen.

Zwischen Schreien und Wimmern und Beschwörungen, dass er es nicht weiß, kommt etwas anderes heraus – ein bevorstehender Krieg. Etwas Großes, das sich annähert. Eine Verschwörung, die von der US Regierung konzipiert wurde.

Du glaubst ihm nicht. Nicht zu Beginn. Doch du konntest es nicht einfach vergessen.

Er wusste damals etwas. Er hatte angefangen, es wie ein Puzzle zusammenzufügen. Dann geschah Amun. Kate wurde ermordet. Er wurde abgelenkt und während er schwor, dazu zurückzukehren, hatte er niemals die Möglichkeit.

Er las den Rest von Alans Brief:

Was auch immer es war, es ist immer noch da, irgendwo in deinem Gehirn verschlossen. Wenn du es jemals brauchen solltest, so gibt es einen Weg. Der Neurochirurg, der das Implantat installierte, nennt sich Dr. Guyer. Zuletzt arbeitete er in Zürich. Er könnte alles wiederbringen, wenn du dich dazu entscheidest. Oder er könnte alle Erinnerungen erneut unterdrücken, solltest du das wollen. Die Wahl liegt an dir. Möge Gott dich behüten, Null. – Alan

Reid konnte sich nicht daran erinnern, wie oft er vor dem Computer oder seinem Telefon gesessen war und versuchte, seine Finger dazu zu motivieren, Dr. Guyers Namen in eine Suchleiste einzugeben. Sein Verlangen danach, seine Erinnerung zurückzubekommen – nein, sein Bedürfnis, sie wiederzuerlangen, wurde jede Woche intensiver. Er war an dem Punkt angelangt, an dem es sich dringend anfühlte, auch nur zu wissen, wie viel er nicht wusste. Er musste dazu fähig sein, sich an seine eigene Vergangenheit zu erinnern.

Doch ich kann die Mädchen nicht alleine lassen. Nach dem Vorfall war es ganz unmöglich, einfach so in die Schweiz zu reisen. Er wäre durch und durch neurotisch um ihre Sicherheit besorgt, selbst mit den Ortungsimplantaten. Selbst wenn Agent Strickland sie bewachte. Was dächten sie außerdem von ihm? Maya glaubte ihm niemals, dass es aufgrund eines medizinischen Verfahrens war. Sie dächte, dass er wieder im Einsatz wäre.