Attentäter Null

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Kapitel drei

Wer auch immer New York,die Stadt die niemals schläft’ nannte, hatte niemals die Altstadt von Havanna besucht, sinnierte Alvaro während er auf den Hafen und den Malecón zuschlenderte. Im Tageslicht war Alt-Havanna ein schönes Stadtviertel, eine reichhaltige Mischung aus Geschichte und Kunst, Gastronomie und Kultur, doch die Straßen waren von Verkehr verstopft und die Luft war voll von dem Baulärm verschiedener Restaurationsprojekte, welche den ältesten Teil Havannas ins einundzwanzigste Jahrhundert bringen sollten.

Doch nachts… nachts zeigte die Stadt ihre wahren Farben. Die Lichter, die Düfte, die Musik, das Lachen: und der Malecón war einfach der angesagteste Ort. Die engen Gassen, welche die Straße 23 umgaben, in der Alvaro lebte, waren zwar schon ziemlich lebendig, doch die meisten kubanischen Kneipen schlossen um Mitternacht. Hier, an der breiten Promenade am Rande des Hafens, blieben die Diskos offen, die Musik wurde noch lauter und die Getränke wurden in vielen der Kneipen und Bars weiter ausgeschenkt.

Der Malecón war ein Straßendamm, der sich acht Kilometer lang an Havannas Küste entlangzog. Er war von Gebäuden gesäumt, die seegrün und korallenpink bemalt waren. Viele der Ortsansässigen vermieden ihn wegen der vielen Touristen, doch das war einer der hauptsächlichen Gründe, warum ihn Alvaro so anziehend fand. Trotz der immer beliebter werdenden, störenden Bars im europäischen Stil, gab es immer noch ein paar Orte, an denen ein lebhafter, süchtig machender Salsa Rhythmus die elektronische Tanzmusik, die aus den benachbarten Gebäuden drang, bekämpfte.

Es gab einen Witz unter Anwohnern, dass Kuba der einzige Ort in der Welt war, an dem man Musiker bezahlen musste, damit sie nicht spielten, und das war sicherlich tagsüber wahr. Es schien, als ob jede Person, die eine Gitarre, eine Trompete oder ein paar Bongos hatten, sich an eine Straßenecke setzte. Es gab an jedem Häuserblock Musik, welche den Lärm der Baumaschinen und das Hupen der Autos begleitete. Doch nachts war alles anders, besonders auf dem Malecón. Die Livemusik wurde weniger, verlor den Kampf gegen die elektronische Musik, die durch Computer gespielt wurde – oder noch schlimmer, gegen die neuesten Pop-Hits der USA.

Doch Alvaro sorgte sich um all das nicht, solange es noch La Piedra gab. Es war eine der wenigen echten kubanischen Kneipen, die es noch an der Uferpromenade gab und ihre Türe standen weit offen. Das galt wortwörtlich, denn sie waren mit Türstoppern ausgerüstet, damit eie die dynamische Salsamusik schon zu Ohren schwebte, bevor man eintrat. Es gab keine Schlange, um in La Piedra einzutreten, ganz im Gegensatz zu den langen Schlangen vor so vielen der europäischen Diskos. Es gab keine Menschenmengen um die Theke, die um die Aufmerksamkeit des Barkeepers buhlten. Die Beleuchtung war nicht gedämpft oder stroboskopisch, sondern es war ziemlich hell, damit man das bunte Dekor richtig genießen konnte. Eine sechsköpfige Band spielte auf einer Bühne, die kaum diesen Namen verdient hatte. Es war nur eine dreißig Zentimeter vom Boden erhöhte Plattform am Ende des Etablissements.

Alvaro passte perfekt in La Piedra hinein. Er trug ein helles Seidenhemd mit einem weiß-gelben Schmetterlingsblumenmuster, die Nationalblume Kubas. Er war groß und hatte dunkle Haut, jung und glattrasiert und ausreichend gutaussehend für die meisten Standards. Hier, in der kleinen Salsadisko auf dem Malecón war er nicht nur ein Sou Chef mit Fett unter den Fingernägeln und kleinen Verbrennungen an den Händen. Er war ein mysteriöser Fremder, ein aufregender Luxus. Eine verlockende Geschichte, die man mit nach Hause nehmen würde oder ein sinnliches Geheimnis, das man für sich behielt.

Er setzte sich an die Bar und legte was er für ein verführerisches Lächeln hielt auf. Luisa arbeitete an dieser Nacht, wie an den meisten. Ihre Routine war zu einer Art Tanz geworden, ein gut eingeübter Austausch von Worten, bei dem es keine Überraschungen mehr gab.

“Alvaro”, sagte sie lustlos und konnte sich kaum ein Grinsen verkneifen. “Na, wenn da nicht unsere örtliche Touristenfalle vor uns steht.”

“Luisa”, schnurrte er, “du bist einfach bezaubernd.” Und das war sie auch. Heute trug sie einen hellen langen Rock, der die Kurven ihrer Hüften akzentuierte und einen hohen Schlitz an einer Seite hatte und ein schulterfreies, weißes, bauchfreies Top, das kurz über ihrem perfekten Bauchnabel mit dem Piercing in Rosenform endete. Ihr dunkles Haar fiel wie sanfte Wellen über die goldenen Ringe in ihren Ohren. Alvaro vermutete, dass die Hälfte der Gäste in La Piedra nur kamen, um sie zu sehen. Zumindest wusste er, dass das auf ihn zutraf.

“Jetzt sei aber vorsichtig. Du willst deine besten Anmachen doch nicht an mir verschwenden”, neckte sie ihn.

“Ich reserviere all meine besten Anmachen nur für dich.” Alvaro lehnte sich mit den Ellenbogen auf die Holztheke. “Geh mit mir aus. Noch besser, ich koche für dich. Essen ist eine Sprache der Liebe, wie du weißt.”

Sie lachte leicht. “Frag mich nächste Woche nochmal.”

“Das mache ich”, versprach er. “Und in der Zwischenzeit einen Mojito, por favor?”

Luisa wandte sich ab, um sein Getränk zuzubereiten und Alvaro erhaschte einen Blick auf den Schmetterling, der auf ihre linke Schulter tätowiert war. Das waren also die Schritte ihres Tanzes, die Schritte ihres persönlichen Salsa. Kompliment, Annäherungsversuch, Ablehnung, Getränk. Gefolgt von Wiederholung.

Alvaro riss seinen Blick von ihr und blickte sich an der Bar um, wiegte sich sanft zu der schnellen und angeregten Musik. Die Gäste waren eine angenehme Mischung aus ansässigen Musikliebhabern und Touristen, die meisten davon amerikanisch, doch hier und da waren auch einige Europäer und gelegentlich eine Gruppe von Asiaten, die alle ein authentisch kubanisches Erlebnis suchten – und mit ein bisschen Glück würde er zu einem Teil des Erlebnisses einer Person.

Am Ende der Bar erblickte er feurig rotes Haar, porzellanfarbene Haut, ein hübsches Lächeln. Eine junge Frau, wahrscheinlich aus den USA, höchstens Mitte zwanzig. Sie war mit zwei Freundinnen hier, die auf Barhockern an ihrer Seite saßen. Eine von ihnen sagte etwas, das sie zum Lachen brachte. Sie warf ihren Kopf zurück und ihr Lächeln wurde breiter, es strahlten ihre perfekten Zähne.

Freunde konnten ein Problem sein. Die rothaarige Frau trug keinen Ring und es schien, als wollte sie anziehend erscheinen, doch letztendlich wären es ihre Freundinnen, die für sie entschieden.

“Sie ist hübsch”, sagte Luisa, als sie den Mojito vor ihn stellte. Alvaro schüttelte seinen Kopf, er hatte nicht bemerkt, dass er sie anstarrte.

Er zuckte mit einer Schulter, versuchte, es herunterzuspielen. “Nicht mal annähernd so schön wie du.”

Luisa lachte erneut, dieses Mal lachte sie ihn aus, während sie mit den Augen rollte. “Du bist genauso töricht wie süß. Mach schon.”

Alvaro nahm seinen Drink, sein Herz brach jedes Mal ein wenig mehr, wenn Luisa seine Annäherungsversuche ablehnte, und er näherte sich der hübschen, rothaarigen Amerikanerin an, in der Hoffnung, dort Trost zu finden. Er hatte seine Methoden gut eingeübt, doch sie waren nicht ganz narrensicher. Heute Abend spürte Alvaro jedoch das Glück an seiner Seite.

Er schlenderte die Bar entlang, ging an dem Mädchen und ihren beiden Freundinnen vorbei, ohne sie auch nur anzublicken. Er stellte sich direkt in ihre Blicklinie an einen hohen Tisch und lehnte sich mit den Ellenbogen dagegen. Dabei wippte er rhythmisch mit einem Fuß zur Musik und wartete auf den richtigen Augenblick. Anschließend, nach einer ganzen Minute, blickte er gelassen über seine Schulter.

Das rothaarige Mädchen schaute zurück und ihre Blicke trafen sich. Alvaro sah weg, lächelte schüchtern. Er wartete erneut, zählte still bis dreißig, bevor er sie wieder anblickte. Sie schaute schnell weg. Sie beobachtete ihn. Das war alles, was er brauchte.

Als das Lied sich seinem Ende näherte und die Bar in Applaus für die Band ausbrach, nahm Alvaro sich seinen Mojito und näherte sich dem Mädchen an – nicht zu schnell, Schultern zurück, Kopf erhoben und selbstbewusst. Er lächelte sie an und sie lächelte zurück.

“Hola. ¿Baila conmigo?”

Das Mädchen blinzelte ihn an. “Es-es tut mir leid”, stotterte sie sanft. “Ich spreche kein spanisch…”

“Tanz mit mir.” Alvaros Englisch war fehlerfrei, doch er übertrieb etwas mit seinem Akzent, um so exotischer zu erscheinen.

Das Mädchen lief rot an, ihre Wangen glichen fast ihrem Haar. “Ich, äh… ich weiß nicht wie.”

“Ich bringe es dir bei. Es ist ganz einfach.”

Das Mädchen lächelte nervös und – wie schon erwartet – blickte zu ihren Freundinnen. Eine von ihnen zuckte leicht mit den Schultern. Die andere nickte enthusiastisch und Alvaro musste sich beherrschen, damit sein Lächeln nicht zu einem breiten Grinsen wurde.

“Äh… OK.”

Er hielt eine Hand aus und sie nahm sie. Ihre Finger lagen warm in seinen, während er sie auf die Tanzfläche führte, die kaum mehr als das vordere Drittel der Disko war, wo man die Tische nach außen gestellt hatte, um etwas Platz für die zwei Dutzend ähnlich gesinnten Gäste zu schaffen, die wegen der Musik hier waren.

“Beim Salsa geht es nicht darum, die richtigen Schritte zu tun”, erklärte er ihr, “sondern darum, die Musik zu fühlen. Etwa so.” Als die Band das nächste Lied begann, schritt Alvaro im Takt voran, schaukelte mit seinem hinteren Bein und ging wieder zurück. Seine Ellenbogen schwangen lose an seinen Seiten, eine Hand lag weiter in der ihren und seine Hüften bewegten sich mit seinen Schritten. Er war bei Weitem kein Experte, doch ihm war von Natur aus Rhythmus gegeben. Das ließ selbst die einfachsten Schritte eindrucksvoll erscheinen.

“So ungefähr?” Das Mädchen ahmte seine Schritte steif nach.

Er lächelte. “Sí. Aber lockerer. So wie ich. Eins, zwei, drei, Pause. Fünf, sechs, sieben, Pause.”

 

Das Mädchen lachte nervös, als sie begann, sich mit ihm zu bewegen, sie lockerte die Postur etwas, als ihre Bewegungen selbstbewusster wurden. Alvaro wartete auf den richtigen Augenblick, hielt noch inne, wartete darauf, dass das Lied endete und ein weiteres begann, bevor er sanft eine Hand auf ihre Hüfte legte, die beiden sich weiter im Rhythmus bewegten und er sagte: “Du bist ziemlich hübsch. Wie heißt du?”

Das Mädchen wurde erneut tiefrot. “Megan.”

“Megan”, wiederholte er. “Ich bin Alvaro.”

Das Mädchen, Megan, schien sich danach weiter zu entspannen und erlag dem Charme eines dunklen, attraktiven Fremden in einem exotischen Land. Er hatte sie genau dort, wo er sie wollte. Sie wagte sich näher an ihn heran, schloss ihre Augen, fühlte die Musik, wie er ihr angewiesen hatte. Ihre Hüften schwangen mit jedem kleinen Salsaschritt näher und entfernter – er bemerkte, dass sie zwar nicht so kurvig oder erfreulich wie Luisas Hüften waren, aber dennoch attraktiv. Alvaro wusste aus Erfahrung, nicht zu schnell voranzuschreiten, sondern ließ zuerst die Musik und ihre Vorstellungskraft wirken, und dann…

Er legte die Stirn in Falten als ein Gefühl ihn durchdrang. Es war ungewöhnlich, dass die hämmernde elektronische Musik der Disko nebenan, bis durch die Wände klang, doch er könnte schwören, dass er sie gehört hatte.

Nicht gehört, bemerkte er – gespürt. Er fühlte ein seltsames Brummen in seinem Körper, es war schwer, es wahrzunehmen und noch schwieriger, es zu beschreiben. Seine sofortige Annahme war, dass es sich um den lauten Bass der zu starken Lautsprecher der Disko nebenan handelte. Seine rothaarige Tanzpartnerin öffnete ihre Augen, ihr Gesicht zeigte Sorgenfalten. Sie spürte es auch.

Plötzlich veränderte sich der ganze Club – oder zumindest erschien es Alvaro so, während eine Welle von Schwindelgefühl ihn überkam. Er taumelte zur Seite, fing sich auf dem linken Bein auf, bevor er ich festhielt. Das amerikanische Mädchen hatte nicht so viel Glück, sie fiel auf die Hände und Knie. Die Musiker der Band hörten einer nach dem anderen auf, zu spielen und Alvaro konnte das Stöhnen und das verängstigte Keuchen der Gäste von La Piedra hören, begleitet vom leisen Hämmern des Basses nebenan.

Was auch immer das war, es betraf alle.

In seinem Schädel brauten sich starke Schmerzen zusammen, während Übelkeit in ihm aufkam. Alvaro blickte scharf und gerade rechtzeitig nach links, um Luisa hinter der Theke fallen zu sehen.

Luisa!

Er schaffte zwei Schritte voran, bevor das Schwindelgefühl ihn wieder überkam und er in einen Tisch taumelte. Gläser fielen zu Boden, als er den Tisch umwarf. Eine Frau schrie, doch Alvaro konnte nicht erkennen, woher es kam.

Er fiel auf die Hände und Knie und kroch weiter, entschlossen, Luisa zu finden. Aus der Kneipe herauszukommen, selbst wenn das bedeutete, dass er sich und sie über den Boden rauszerren müsste. Doch als er das nächste Mal aufblickte, konnte er nur vage Formen sehen. Alles war verschwommen. Der Lärm der in Panik ausgebrochenen Kneipe fiel von ihm, wurde durch einen einzigen, hohen Ton ersetzt. Die bunten Farben von La Piedra trübten sich, die Ränder seines Blickfeldes wurden braun und dann schwarz. Alvaro ließ sich zu Boden fallen, voller Übelkeit und Schwindelgefühl und unfähig, etwas anderes als den Ton zu hören, bevor er das Bewusstsein verlor.

Kapitel vier

Jonathan Rutledge wollte nicht aufstehen.

Er musste zugeben, dass es ein wunderbares Bett war. Riesig, bequem, wie für einen König, auch wenn es für einen Präsidenten geschaffen war.

Er stöhnte, als er sich umdrehte und instinktiv nach dem leeren Platz neben sich griff. Komisch, dachte er, wie er auf seiner Seite des Bettes blieb, obwohl Deirdre auf Reisen war. Er war erstaunt darüber, wie schnell sie sich an ihre neue Position gewöhnt hatte. Momentan war sie auf Reise durch den mittleren Westen, um finanzielle Unterstützung für Kunst- und Musikprogramme an öffentlichen Schulen zu bewerben. Er hingegen drückte sein Gesicht tiefer in sein Daunenkissen, als ob er so den Lärm übertönen könnte, von dem er wusste, dass er gleich käme.

Und schon klingelte das Telefon auf seinem Nachtisch erneut.

“Nein”, sagte er ihm. Es war Thanksgiving. Heute musste er nur einen Truthahn begnadigen, für ein paar Bilder mit seinen Töchtern posieren und dann ein nettes, persönliches Essen mit ihnen genießen. Warum nervten sie ihn schon so früh an einem Feiertag?

Ein lautes Klopfen an der Tür erschreckte ihn. Rutledge setzte sich auf, rieb sich die Augen und fragte laut: “Ja?”

“Mr. Präsident.” Eine weibliche Stimme schwebte durch die dicke Tür des Hauptschlafzimmers des Weißen Hauses zu ihm. “Tabby hier. Darf ich eintreten?”

Tabitha Halpern war seine Stabschefin. Sie konnte so früh keine guten Nachrichten bringen und bestimmte keinen Kaffee.

“Wenn es sein muss”, murmelte er.

“Sir?” Sie hatte ihn nicht gehört.

“Kommen Sie rein, Tabby.”

Die Tür ging auf und Halpern kam rein. Sie war vornehm in einem dunkelblauen Hosenanzug mit einer frisch weißen Bluse gekleidet. Sie tat zwei flinke Schritte voran und hielt dann genauso plötzlich inne, blickte hinunter auf den Teppich und fühlte sich anscheinend unangenehm dabei, sich über den Präsidenten zu lehnen, während dieser noch in Seidenpyjamas im Bett lag.

“Sir”, teilte sie ihm mit, “es gab einen… Vorfall. Sie werden im Krisenraum erwartet.”

Rutledge runzelte die Stirn. “Was denn für ein Vorfall?”

Sie schien zu zögern. “Ein vermutlich terroristisches Attentat in Havanna.”

“An Thanksgiving?”

“Es geschah letzte Nacht, aber… technisch gesehen schon, Sir.”

Rutledge schüttelte seinen Kopf. Was für Monster planten ein Attentat an einem Feiertag? Außer…

“Tabby, feiert man Thanksgiving in Kuba?”

“Sir?”

“Egal. Habe ich Zeit für einen Kaffee?”

Sie nickte. “Ich lasse Ihnen sofort einen hochschicken.”

“Super. Sagen Sie Ihnen, dass ich in zwanzig Minuten da bin.”

Tabby machte auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Schlafzimmer, schloss die Tür hinter sich und überließ es Rutledge, leise darüber zu grummeln, wie ungerecht doch alles war. Schließlich schwang er sich barfuß aus dem Bett und stand auf, streckte sich und stöhnte erneut und wunderte sich vermutlich schon zum zehntausendsten Mal, wie es dazu gekommen war, dass er im Weißen Haus lebte.

Die technische Antwort war einfach. Fünf Wochen zuvor war Rutledge der Sprecher des Hauses – und ein verdammt guter, wenn er das so sagen durfte. Über den Lauf seiner politischen Karriere hatte er einen Ruf als Mann gewonnen, der nicht käuflich war, der sich an seinen Moralcode hielt und nicht von seinen Überzeugungen abzubringen war.

Doch dann kamen die Nachrichten über die Beteiligung des ehemaligen Präsidenten Harris an dem russischen Plan, die Ukraine zu annektieren. Aufgrund des unbestreitbaren Beweises in Form einer Aufnahme durch die Dolmetscherin war das Amtsenthebungsverfahren rasend schnell. Dann, kurz vor Harris’ sicherer Amtsenthebung, hatte der Präsident es darauf abgesehen, das Urteil zu mildern, indem er seinen eigenen Vizepräsidenten der Mitwissenschaft anklagte. Vizepräsident Brown gab sofort nach und plädierte im Sinne der Anklage, dass er über Harris’ Verwicklung mit Kozlovsky und den Russen informiert war.

All das war an einem Tag geschehen. Bevor Rutledge überhaupt die Abschrift von Browns Aussage fertig gelesen hatte, war Harris’ Amtsenthebung durch den Senat genehmigt und der Vizepräsident, der noch auf ein Verfahren wartete, trat zurück. Das erste Mal in der Geschichte der USA nahm der Dritte in der Reihenfolge, der Sprecher des Hauses, den Platz im Oval Office ein – das war der Demokrat Jonathan Rutledge.

Er wollte das Amt nicht. Er hatte angenommen, dass es die Spitze seine Karriere wäre, das Repräsentantenhaus anzuführen, er hatte nicht das Ziel, noch höher zu gelangen. Und er hätte auch einfach die sechs kleinen Worte sagen können, die alles ganz anders gemacht hätten – “Ich lehne es ab, zu dienen” – doch damit hätte er seine ganze Partei enttäuscht. Der amtierende Präsident des Senats war ein Republikaner aus Texas, er stand etwa so weit rechts im politischen Spektrum, wie man es in einem demokratischen System überhaupt konnte.

Und so wurde der Sprecher Rutledge zum Präsidenten Rutledge. Sein nächster Schritt wäre es, einen Vizepräsidenten zu nominieren, den der Kongress wählen müsste, doch vier Wochen waren seit seines Amtsantritts vergangen und er hatte es, trotz des steigenden Drucks und der zunehmenden Kritik, noch nicht getan. Man musste eine sehr gründliche Wahl treffen – und nach dem, was die letzten zwei Verwaltungen angestellt hatten, stand niemand Schlange für den Job. Er dachte an jemanden, die intelligente Senatorin aus Kalifornien, Joanna Barkley, doch seine Zeit im Amt war bisher so turbulent gewesen, dass es schien, als ob Kontroversen und Überprüfungen ihn um jede Ecke erwarteten.

Jeden Tag stand er kurz davor, aufzugeben. Und er war sich nur zu bewusst, dass dies eine Möglichkeit war. Rutledge könnte Barkley als seine Vizepräsidentin nominieren, das Zustimmungsvotum des Kongresses einholen und dann zurücktreten, was Barkley zur ersten weiblichen Präsidentin der Vereinigten Staaten machen würde. Er könnte es mit dem Wirbelwind von Ereignissen rechtfertigen, die geschahen, als er das Amt antrat. Man würde ihn dafür loben, oder zumindest stellte er sich das vor, eine Frau in das Weiße Haus zu bringen.

Es war verlockend. Besonders, wenn man wegen Nachrichten von terroristischen Attentaten am Tag von Thanksgiving aufgeweckt wurde.

Rutledge knöpfte sich das Hemd zu und knotete eine blaue Krawatte, doch entschied sich dazu, kein Jackett anzuziehen und rollte stattdessen die Hemdsärmel hoch. Eine Hilfskraft rollte einen Wagen mit Kaffee, Zucker, Milch und Kaffeestückchen herein, doch er goss sich einfach nur eine Tasse schwarzen Kaffee ein und nahm sie mit auf dem Weg zum Krisenraum, während zwei stoische Geheimagenten still hinter ihm hergingen.

Auch an die ständige Begleitung musste er sich gewöhnen. Er wurde ständig bewacht, war niemals wirklich allein.

Die beiden Agenten in dunklen Anzügen folgten ihm eine Treppe hinunter und den Gang entlang, wo drei weitere Geheimagenten Wache standen, jeder nickte ihm zu und grüßte ihn mit einem gemurmelten: “Mr. Präsident.” Sie hielten vor einer Doppeltür aus Eiche inne. Einer der Agenten ging neben der Tür mit vor sich gekreuzten Händen auf seine Stellung, während der andere Rutledge die Tür öffnete, damit er in den John F. Kennedy Konferenzsaal, gemeinhin als der Krisensaal bekannt, ein fünfhundert Meter großes Zentrum für Kommando und Geheiminformation im Keller des westlichen Flügels des Weißen Hauses, eintreten konnte.

Die vier schon anwesenden Personen erhoben sich, als er um den Tisch ging, um sich an seinem Kopf zu setzen. Links von ihm war Tabby Halpern und neben ihr der Verteidigungssekretär Colin Kressley. Der Staatssekretär und Direktor der nationalen Geheimdienste waren bemerkbar abwesend, da sie nach Genf geschickt wurden, um bei den Vereinigten Nationen über einen fortlaufenden Handelskrieg mit China zu reden, und wie dieser europäische Importe beeinträchtigen könnte. Statt ihnen waren der Direktor der CIA, Edward Shaw, anwesend. Er war ein streng aussehender Mann, den Rutledge noch nie zuvor hatte lächeln sehen. Und neben ihm stand eine blonde Frau, Ende dreißig, professionell, doch kaum atemberaubend. Ein Blick auf ihre schiefergrauen Augen entfachte ein Fünkchen Wiedererkennung. Rutledge hatte sie zuvor kennengelernt, vielleicht bei seinem Amtsantritt, doch er konnte sich nicht an ihren Namen erinnern.

Er konnte es nicht fassen, wie sie sich alle so schnell versammelt hatten und dabei einwandfrei gekleidet und anscheinend so wachsam waren. Quietschfidel, wie seine Mutter zu sagen pflegte. Rutledge fühlte sich plötzlich lotterig mit seinen hochgekrempelten Hemdsärmeln und der lose gebundenen Krawatte.

“Bitte, nehmen Sie Platz”, sagte Rutledge, während er sich auf einen schwarzen Lederstuhl setzte. “Wir wollen dieser Angelegenheit die Aufmerksamkeit geben, die sie verdient, doch wir wären heute alle lieber an anderen Orten. Lasst uns also gleich beginnen.”

Tabby nickte Shaw zu, der seine Hände auf dem Tisch faltete. “Mr. Präsident”, begann der Direktor der CIA, “letzte Nacht, um ein Uhr morgens, geschah ein Ereignis in Havanna, in Kuba, in der Nähe der nördlichen Hafenküste in einer Gegend, die sich Malecón nennt. Das ist ein beliebter Touristenort. In einem Zeitraum von etwa drei Minuten verspürten mehr als hundert Menschen verschiedene Symptome, die von Schwindel und Übelkeit bis hin zu permanentem Gehörverlust, Blindheit und, in einem unglückseligen Fall, Tod reichten.”

 

Rutledge starrte unverständig. Als Tabby von einem vermutlichen Terrorattentat sprach, hatte er angenommen, dass eine Bombe explodiert wäre oder jemand an einem öffentlichen Ort geschossen hatte. Was bedeutete all das mit den Symptomen und dem Gehörverlust? “Entschuldigen Sie bitte, Direktor, aber ich bin mir nicht sicher, dass ich Sie verstehe.”

“Sir”, sagte die blonde Frau neben ihm. “Deputy Direktorin Maria Johansson, CIA, Spezialeinsatzgruppe.”

Johansson, stimmt. Rutledge erinnerte sich plötzlich daran, wie er sie am Tag seines Amtsantritts kennenlernte.

“Was Direktor Shaw beschreibt”, fuhr sie fort, “weist auf eine Ultraschallwaffe hin. Diese Art von Konzentration auf eine begrenzte Örtlichkeit in einer solch kurzen Zeit schafft Parameter, die eng genug sind, damit wir annehmen, dass es sich um ein gezieltes Attentat handelt.”

Doch das erklärte Routledge gar nichts. “Entschuldigung”, wiederholte er und fühlte sich wie der Dummkopf im Raum. “Haben Sie Ultraschallwaffe gesagt?”

Johansson nickte. “Ja, Sir. Ultraschallwaffen werden für gewöhnlich als nicht-tödliche Abwehr verwendet. Die meisten unserer Marineschiffe haben sie. Kreuzschiffe verwenden sie als Verteidigung gegen Piraten. Doch aufgrund dessen, was wir über den Vorfall in Kuba wissen, stellte es sich heraus, dass diese hier viel stärker und größer als die Waffen ist, welche unser Militär verwendet.”

Tabby räusperte sich. “Die Polizei in Havanna sammelte Aussagen von mindestens drei Augenzeugen, die angeben, dass sie eine Gruppe von maskierten Männern dabei beobachtete, wie sie einen,seltsamen Gegenstand’ nach dem Attentat auf ein Boot luden.”

Rutledge rieb sich die Schläfen. Eine Ultraschallwaffe? Es klang wie etwas aus einem Science Fiction-Film. Die kreativen Arten, die Menschen sich erträumten, um sich gegenseitig zu verletzen und zu töten, hörten nie auf, ihn zu faszinieren und gleichzeitig zu besorgen.

“Ich nehme an, dass Sie nicht glauben, dass es sich hier um einen isolierten Vorfall handelt”, sagte Rutledge.

“Das würden wir sehr gerne annehmen, Sir”, erwiderte Shaw, “doch das können wir einfach nicht. Die Waffe und die Leute, die hinter ihr stecken, sind irgendwo da draußen auf freiem Fuß.”

“Und die Art des Attentats”, fuhr Johansson fort, “scheint willkürlich. Wir können kein Motiv erkennen, Havanna oder ein touristisches Ziel anzugreifen, abgesehen davon, dass man einen einfachen Zugang und Fluchtweg hat. Bei einem Fall wie diesem, bedeutet das normalerweise, dass es sich um Proben hält.”

“Proben”, wiederholte Rutledge. Er hatte nie Militärdienst geleistet und war auch nie bei Geheimdiensteinsätzen gewesen, doch er war sich komplett bewusst, worauf die Deputy Direktorin anspielte. Dies war das erste Attentat und es gäbe noch weitere. “Und vermutlich sollte ich auch annehmen, dass einige der Opfer Amerikaner waren.”

Tabby nickte. “Das stimmt, Sir. Zwei erlitten permanente Erblindung. Und der einzige Todesfall war eine junge, amerikanische Frau…” Sie schaute in ihre Aufzeichnungen. “Ihr Name war Megan Taylor. Aus Massachusetts.”

Rutledge war nicht gewappnet, damit umzugehen. Es war schon schlimm genug, dass er noch nicht seinen Vizepräsidenten nominiert hatte. Er hatte die Entscheidung vor sich hergeschoben, denn er vertraute sich selbst nicht, sofort zurückzutreten. Es war schon schlimm genug, dass er aufgrund der Fehltritte seiner zwei Vorgänger unter die Lupe genommen wurde, nicht nur von den Medien, sonder praktisch von der ganzen Welt. Es war schon schlimm genug, dass Chinas neuer und scheinbar irrationaler Anführer einen Handelskrieg mit den USA ausgelöst hatte, indem er stetig steigende Tarife auf die riesigen Mengen Exporte erhob, die dort hergestellt wurden. Experten prognostizierten eine sprunghafte Inflation, die langfristig die amerikanische Wirtschaft destabilisieren könnte.

Es war schon schlimm genug, dass es Thanksgiving war, verdammt noch mal.

“Sir?” forderte Tabby ihn sanft auf.

Rutledge hatte nicht bemerkt, dass er in seinen eigenen Gedanken verloren war. Er riss sich zusammen und rieb sich die Augen. “Na gut, lasst uns direkt zur Sache kommen: haben wir Grund zu glauben, dass die Vereinigten Staaten ein Ziel werden könnten?”

“Derzeit”, antwortete Direktor Shaw, “sollten wir unter der Annahme handeln, dass die USA ein Ziel werden. Etwas anderes können wir uns nicht leisten.”

“Gibt es irgendwelche Informationen, wer dahinter steckt?” fragte Rutledge.

“Noch nicht”, erwiderte Johansson.

“Aber das hier passt irgendwie nicht mit der Arbeitsweise unserer Freunde im Nahen Osten zusammen”, brachte General Kressley dar. “Müsste ich wetten, dann würde ich mein Geld auf die Russen setzen.”

“Wir können keinerlei Annahmen machen”, entgegnete ihm Johansson streng.

“In Anbetracht unserer jüngsten Geschichte”, argumentierte Kressley, “würde ich es eine auf Erfahrung gestützte Vermutung nennen.”

“Wir sind eine Nachrichtenagentur”, schoss Johansson über den Tisch zurück und hatte sogar ein dünnes Grinsen dabei auf den Lippen. “Als solche sammeln wir Informationen und arbeiten mit Fakten. Nicht Vermutungen oder Annahmen.”

Plötzlich mochte Rutledge die schlanke blonde Frau vor sich, die sich weigerte, sich von einem knurrenden Vier-Sterne-General einschüchtern zu lassen, sehr. Er wandte sich an sie und fragte: “Was schlagen Sie vor, Johansson?”

“Unser Top-Ingenieur arbeitet derzeit an einer Methode, um diese Art von Waffe zu orten. Nach dem Anschlag auf Havanna zu urteilen, würde ich sagen, dass die Täter wahrscheinlich in der Nähe des Meeres bleiben und eine Küstengegend anzielen. Mit ihrer Erlaubnis, Sir, würde ich gerne ein Spezialeinsatzteam losschicken, um sie zu finden.”

Rutledge nickte langsam – ein CIA-Einsatz klang viel besser, als wegen eines möglichen Attentats Alarm zu schlagen. Halte es klein, halte es geheim, dachte er. Dann ging ihm blitzschnell ein Licht auf.

“Johansson”, fragte er, “einer Ihrer Agenten ist der Typ, der die Kozlovsky Affäre aufgedeckt hat, oder? Er fand die Dolmetscherin und die Aufnahme?”

Johansson war seltsam zögerlich, doch sie nickte einmal. “Ja, Sir.”

“Wie hieß er doch gleich?”

“Er… nun, sein Abrufzeichen ist Null. Agent Null, Sir.”

“Null, stimmt.” Rutledge rieb sich über das Kinn. “Er. Setzen Sie ihn auf diesen Fall an.”

“Äh, Sir… momentan ist er noch nicht ganz einsatzbereit. Er wechselt gerade zurück zur Einsatzarbeit.”

Der Präsident wusste nicht, was das bedeutete, doch es klang wie eine Ausrede oder ein Euphemismus in seinen Ohren. “Es ist ihre Aufgabe, ihn vorzubereiten, Deputy Direktorin.” Man konnte ihn nicht mehr umstimmen, Rutledge wusste, dass dies die richtige Entscheidung war. Der Agent hatte eigenhändig den ehemaligen Präsidenten Pierson vor einer Ermordung gerettet und den geheimen Pakt zwischen Harris und den Russen aufgedeckt. Wenn überhaupt jemand die Täter und diese Ultraschall-was-auch-immer-sie-war finden konnte, dann war er es.

“Darf ich einen Vorschlag machen?” legte Johansson ein. “Die CIA verfügt über einen der besten Spurensucher der Welt. Ein ehemaliger Ranger und ebenfalls ein hochdekorierter Agent —”

“Fantastisch”, unterbrach sie Rutledge, “schicken Sie ihn auch los. So bald wie möglich.”

“Ja, Sir”, stimmte Johansson leise zu, starrte dabei auf den Tisch.

“Gibt es sonst noch was?” fragte er. Niemand sprach, weshalb Rutledge aufstand und die vier weiteren Personen im Krisenraum es ihm gleichtaten. “Dann halten Sie mich auf dem Laufenden und, äh… versuchen Sie, den Feiertag zu genießen.” Er nickte ihnen zu und schritt aus dem Konferenzsaal, wo die beiden Geheimdienstagenten sofort hinter ihm hergingen.