Der Seewolf

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Der Seewolf
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Harrison hörte den Befehl und verstand, was man von ihm verlangte, zögerte jedoch. Vermutlich war er das erste Mal in seinem Leben in der Takelung. Johansen, von Wolf Larsens Herrschsucht angesteckt, brach in einen Strom von Flüchen aus.

»Genug, Johansen«, sagte der Kapitän schroff, »das Fluchen auf dem Schiff besorge ich selbst, dass Sie und alle es wissen. Wenn ich Ihre Hilfe brauche, werde ich Sie rufen.«

»Jawohl, Käptn«, antwortete der Steuermann unterwürfig.

Unterdessen war Harrison auf das Fall hinausgeklettert. Ich blickte durch die Kombüsentür hinauf und konnte sehen, wie er zitterte, als wären ihm alle Glieder vom Schüttelfrost gepackt. Er kroch ganz langsam und vorsichtig, Zoll für Zoll. Von dem klaren Blau des Himmels hob er sich ab wie eine Riesenspinne, die an ihrem Netzwerk entlang kriecht.

Er musste leicht aufwärts klettern, denn das Segel stand nach oben. Das Fall, das durch verschiedene Blöcke am Gaffel und Mast lief, gab ihm einige Stützpunkte für Hände und Füße. Aber das schlimmste war, dass der Wind nicht kräftig und stetig genug wehte, um das Segel zu blähen. Als er sich etwa in der Mitte befand, machte die ›Ghost‹ eine Schlingerbewegung nach Luv und wieder zurück in ein Wellental. Harrison hielt inne und klammerte sich fest. Achtzig Fuß unter ihm konnte ich seine krampfhaften Muskelbewegungen sehen: er kämpfte um sein Leben. Das Segel wurde schlaff und schwang mittschiffs. Das Fall gab nach, und obgleich sich das alles mit großer Schnelligkeit abspielte, konnte ich doch sehen, wie es durch sein Körpergewicht sackte. Dann schwang die Gaffel mit einem Ruck zur Seite, das große Segel schwoll wie aus der Kanone geschossen, und die dreifache Reihe von Reffseisingen klatschte wie eine Gewehrsalve gegen die Leinwand. Harrison sauste, immer noch festgeklammert, durch die Luft, aber das Fall straffte sich wieder mit einem scharfen Ruck. Es war wie ein Peitschenhieb. Da verlor er den Halt. Die eine Hand wurde losgerissen, die andere krampfte sich einen Augenblick verzweifelt fest, dann folgte auch sie. Der Körper sauste hinunter, aber glücklicherweise blieb er mit den Füßen hängen. Durch eine schnelle Bewegung gelang es ihm, das Fall zu packen, aber es dauerte nicht lange, bis er sich wieder hochgeschwungen hatte. Da hing er – ein kläglicher Anblick.

»Wetten, dass ihm heute das Abendbrot nicht schmecken wird«, hörte ich Wolf Larsen sagen, dessen Stimme um die Ecke der Kombüse zu mir drang. »Johansen, abhalten! Passen Sie auf! Jetzt kommt die Bö!«

Harrison musste sich sehr elend fühlen. Lange klammerte er sich an seinen schwankenden Halt, ohne auch nur einen Versuch zu machen, sich zu bewegen. Aber Johansen trieb ihn an, seine Aufgabe zu vollenden.

»Es ist eine Schande!« hörte ich Johnson in langsamem, aber korrektem Englisch knurren. Er stand beim Großmast, ganz nahe bei mir. »Der Junge hat guten Willen. Mit der Zeit wird er es schon lernen. Aber das ist …« Er machte eine Atempause und beendete dann sein Urteil: »Mord!«

»Willst du still sein!« flüsterte Louis ihm zu. »Wenn dir dein Leben lieb ist, so halt den Mund.«

Aber Johnson knurrte weiter.

Der Jäger Standish sagte zu Wolf Larsen: »Er ist mein Puller, und ich möchte ihn nicht verlieren.«

»Stimmt, Standish«, lautete die Antwort. »Wenn du ihn im Boot hast, ist er dein Puller, solange ich ihn aber hier an Bord habe, ist er mein Matrose, und da mache ich mit ihm, was mir gefällt.«

»Aber das ist doch kein Grund …« begann Standish erregt.

»Es ist gut«, unterbrach ihn Wolf Larsen. »Ich habe meine Meinung gesagt, und damit genug. Der Mann gehört mir, und wenn es mir passt, kann ich Suppe aus ihm kochen und sie essen.«

Die Augen des Jägers funkelten zornig, aber er drehte sich um und ging die Treppe zum Zwischendeck hinab, wo er stehenblieb und hinaufsah. Alle Mann befanden sich an Deck, und alle Augen waren nach oben gerichtet, wo ein menschliches Wesen mit dem Tode rang. Die Gefühllosigkeit dieser Menschen war Entsetzen erregend. Ich, der ich abseits vom Trubel der Welt gelebt hatte, hätte mir nie träumen lassen, dass es draußen so zuging. Das Leben war mir stets als etwas besonders Heiliges erschienen, und hier galt es nichts, war nur eine Ziffer in einer geschäftlichen Berechnung. Ich muss gestehen, dass manche der Matrosen doch Mitgefühl empfanden, wie Johnson zum Beispiel, aber die Vorgesetzten – die Jäger und der Kapitän – waren ganz herzlos. Selbst der Einspruch Standishs war nur dem Wunsche entsprungen, seinen Bootspuller nicht zu verlieren. Hätte es sich um den Ruderer eines anderen Jägers gehandelt, so würde er sich wie sie darüber belustigt haben.

Doch zurück zu Harrison! Johansen schmähte und beleidigte den armen Kerl, aber es dauerte volle zehn Minuten, bis er ihn wieder in Bewegung gebracht hatte. Kurz darauf hatte er das Ende der Gaffel erreicht, wo er sich, auf der Spiere reitend, besser festhalten konnte. Er machte das Schoot klar und hätte nun am Fall entlang zum Mast zurückklettern können. Aber er hatte den Kopf verloren. So unsicher seine jetzige Lage war, wollte er sie doch nicht mit der noch unsicheren auf dem Fall vertauschen.

Er blickte auf den luftigen Weg, den er passieren sollte, und dann hinunter aufs Deck. Noch nie hatte ich soviel Furcht auf dem Gesicht eines Menschen ausgeprägt gesehen. Vergebens rief Johansen, dass er herunterkommen solle. Jeden Augenblick konnte er von der Gaffel geschleudert werden, aber er war hilflos vor Angst. Wolf Larsen, der, in eine Unterhaltung mit Smoke vertieft, auf und nieder schritt, nahm keine Notiz von ihm, nur rief er dem Mann am Rad einmal scharf zu: »Du bist aus dem Kurs, Mann! Pass auf, dass du dir keine Unannehmlichkeiten zuziehst!«

»Jawohl, Käptn«, erwiderte der Rudergast und drehte das Rad.

Er hatte die ›Ghost‹ ein paar Strich aus dem Kurs gebracht, damit das bisschen Wind das Vorsegel füllen und prall halten konnte. Er hatte dem unglückseligen Harrison helfen wollen, auf die Gefahr hin, Wolf Larsens Zorn heraufzubeschwören.

Die Zeit verging, und meine Spannung war furchtbar. Thomas Mugridge hingegen fand die Geschichte außerordentlich lustig, er steckte fortwährend den Kopf zur Kombüse heraus, um scherzhafte Bemerkungen zu machen. Wie ich ihn hasste! Und wie mein Hass in diesen bangen Minuten ins Riesenhafte wuchs! Zum ersten Mal in meinem Leben verspürte ich die Lust, zu morden. Mochte Leben im Allgemeinen etwas Heiliges sein – für Thomas Mugridge galt mir dies nicht mehr. Ich war entsetzt, als ich mir darüber klar wurde, und durch mein Hirn fuhr der Gedanke: War auch ich von der Rohheit meiner Umgebung angesteckt? Ich, der ich selbst für die abscheulichsten Verbrechen die Berechtigung der Todesstrafe geleugnet hatte?

Wohl eine halbe Stunde verging. Da sah ich Johnson in einem Wortwechsel mit Louis. Er endete damit, dass Johnson den Arm des anderen, der ihn halten wollte, beiseite schob und nach vorn ging. Er überquerte das Deck, sprang in die Takelung und begann zu klettern. Aber das schnelle Auge Wolf Larsens hatte ihn erfasst. »Hallo, Mann, wohin?« rief er.

Johnson hielt im Klettern inne. Er blickte seinem Kapitän in die Augen und sagte langsam:

»Ich will den Jungen herunterholen.«

»Du wirst herunterkommen, und das ein bisschen plötzlich. Verstanden? Runter!«

Johnson zögerte, aber der langjährige unbedingte Gehorsam gegen den Herrn des Schiffes übermannte ihn, er glitt aufs Deck herab und ging nach vorn.

Um halb sechs ging ich hinunter, um den Kajütentisch zu decken, aber ich wusste kaum, was ich tat, denn immer sah ich den totenbleichen, zitternden Menschen vor mir, der sich wie ein Käfer an die Gaffel klammerte. Als ich um sechs Uhr an Deck kam, um das Abendbrot aufzutragen, sah ich Harrison immer noch in derselben Lage. Die Unterhaltung bei Tisch drehte sich um andere Dinge. Kein einziger schien sich für das so grundlos gefährdete Leben zu interessieren. Als ich aber noch einmal nach der Kombüse musste, sah ich zu meiner Freude Harrison nach der Back wanken. Er hatte endlich den Mut zum Herunterklettern gefunden.

Ehe ich diesen Gegenstand verlasse, muss ich eine Unterhaltung berichten, die ich mit Wolf Larsen in der Kajüte hatte, als ich das Geschirr aufwusch.

»Sie sahen sehr schlecht aus heute Nachmittag«, begann er. »Was fehlte Ihnen?«

Er wusste natürlich gut, was mich beinahe so elend wie Harrison gemacht hatte, er wollte mich nur reizen. Ich antwortete: »Es war die rohe Behandlung des Jungen.«

Er lachte kurz: »Wohl eher Seekrankheit. Mancher kriegt sie, mancher nicht.«

»Nein, das war es nicht«, antwortete ich.

»Doch gewiss«, fuhr er fort. »Die Erde ist so voller Rohheit wie das Meer voller Bewegung. Manchen macht dies krank, manchen jenes. Das ist alles.«

»Aber Sie, der Sie Spott mit Menschenleben treiben, legen Sie dem Leben gar keinen Wert bei?« fragte ich. »Wert? Was für Wert?« Er sah mich an, und obwohl seine Augen ruhig und unbeweglich waren, erschien doch ein zynisches Lächeln in ihnen. »Was für einen Wert? Wie ermessen Sie es? Wer schätzt es?«

»Ich selbst«, gab ich zur Antwort.

»Wie viel ist es Ihnen denn wert? Das Leben eines anderen, meine ich. Nun, heraus damit! Was ist es wert?«

Der Wert des Lebens? Wie konnte ich dem Leben einen greifbaren Wert beilegen? Merkwürdig: Irgendwie fehlte mir, der ich sonst nie um Worte verlegen war, der Ausdruck, wenn ich mit Wolf Larsen verhandelte. Ich bin später zu der Erkenntnis gelangt, dass teilweise die Persönlichkeit des Mannes, zum größten Teil aber seine völlig andere Einstellung schuld daran war. Im Gegensatz zu anderen Materialisten, die ich getroffen habe und mit denen ich doch denselben Ausgangspunkt teilen konnte, hatte ich mit ihm nichts gemein. Vielleicht war es auch die elementare Einfachheit seines Denkens, die mich verwirrte. So direkt ging er stets auf den Kern einer Sache los, entblößte eine Frage von allem überflüssigen Beiwerk, und das mit solcher Entschiedenheit, dass ich mir vorkam, als kämpfte ich in tiefem Wasser, ohne Grund unter den Füßen. Der Wert des Lebens? Wie sollte ich eine solche Frage stehenden Fußes beantworten? Die Heiligkeit des Lebens war für mich immer etwas Gegebenes gewesen. Dass es einen Wert besaß, war eine Wahrheit, die ich nie bezweifelt hatte. Und als er diese offenbare Wahrheit jetzt anfocht, war ich ratlos.

 

»Wir sprachen gestern davon«, sagte er. »Ich behauptete, das Leben sei ein Gärstoff, ein Ferment, das Leben fräße, um selbst leben zu können, und das Leben sei nichts als erfolgreichste Gemeinheit. Nun, wenn es auf Angebot und Nachfrage ankommt, so ist das Leben das Billigste auf der Welt. Es gibt soundso viel Wasser, soundso viel Erde, soundso viel Luft, aber Leben, das geboren werden möchte, gibt es zur Unendlichkeit. Die Natur ist eine Verschwenderin. Denken Sie an die Fische und ihre Millionen von Eiern. Denken Sie an mich oder sich. In unsern Lenden ruhen Möglichkeiten für Millionen von Leben. Hätten wir nur Zeit und Gelegenheit, um jedes bisschen ungeborenen Lebens in uns auszunutzen, wir würden die Väter von Nationen werden und Kontinente bevölkern. Leben? Pah! Es hat keinen Wert. Von allem, was billig ist, ist Leben das Billigste. Überall geht es betteln. Die Natur streut es verschwenderisch aus. Wo Raum für ein Leben ist, sät sie tausend, und Leben frisst Leben, bis nur das stärkste und gemeinste übrig bleibt.«

»Sie haben Darwin gelesen«, sagte ich, »aber Sie haben ihn missverstanden, wenn Sie den Schluss ziehen, dass der Kampf ums Dasein Ihr mutwilliges Vernichten von Leben rechtfertigt.«

Er zuckte die Achseln. »Sie wissen wohl, dass Sie dabei nur an das menschliche Leben denken, denn auf Fleisch, auf Geflügel und Fische verzichten Sie so wenig wie ich oder sonst jemand. Und menschliches Leben unterscheidet sich in keiner Beziehung von tierischem. Warum sollte ich sparsam sein mit diesem Leben, das so billig und wertlos ist? Es gibt mehr Matrosen als Schiffe für sie auf dem Meere, mehr Arbeiter als Maschinen für sie. Sie leben ja auf dem Lande, und Sie wissen doch, dass man Ihre Armen in den ungesundesten Stadtvierteln unterbringt und Hunger und Pest auf sie loslässt, und dass die Zahl derer beständig wächst, die aus Mangel an einem Stückchen Brot und einem Bissen Fleisch zugrunde gehen. Ist das nicht Vernichtung von Leben? Haben Sie je die Londoner Dockarbeiter wie wilde Tiere um eine Arbeitsgelegenheit kämpfen sehen?«

Er schritt nach der Kajütstreppe, drehte aber nochmals den Kopf, um ein letztes Wort zu sagen. »Wissen Sie, welches der einzige Wert des Lebens ist? Den es sich selbst zulegt. Und das ist natürlich eine Überschätzung, eine Bewertung in eigener Sache. Nehmen Sie den Mann, den ich nach oben gehen ließ. Er klammerte sich an, als wäre er etwas überaus Wertvolles, ein Schatz, wertvoller als Diamanten und Rubinen. Für Sie? Nein. Für mich? Keineswegs. Für ihn selbst? Ja. Aber ich mache seine Schätzung nicht mit. Er überschätzt sich maßlos. Es gibt unendlich viel Leben, das geboren werden möchte. Wäre er heruntergestürzt, und wäre sein Hirn wie Honig aus seiner Wabe aufs Deck getropft, die Welt würde keinen Verlust erlitten haben. Der Welt galt er nichts. Das Angebot ist zu groß. Lediglich für sich selbst besaß er einen Wert. Er allein schätzt sich höher ein als Diamanten und Rubinen. Die Diamanten und Rubinen sind fort, auf Deck verschüttet, um von einem Eimer Seewasser weggespült zu werden – und er weiß nicht einmal, dass Diamanten und Rubinen fort sind. Er verliert nichts, denn mit dem Verlust seiner selbst verliert er das Bewusstsein seines Verlustes. Nicht wahr? Nun, was sagen Sie dazu?«

»Dass Sie jedenfalls folgerichtig handeln«, war alles, was ich sagen konnte, und dann machte ich mich wieder ans Aufwaschen.

7

Nach drei Tagen wechselnden Windes waren wir endlich in den Nordostpassat gekommen. Trotz meinem Knie hatte ich gut geschlafen, und als ich jetzt das Deck betrat, fand ich die ›Ghost‹ mit vollen Segeln außer den Klüvern vor einem frischen Winde vorwärtsjagend. O dieser wunderbare, mächtige Passat! Den ganzen Tag segelten wir, die ganze Nacht, den nächsten Tag und die nächste Nacht und wieder Tag um Tag, immer vor demselben stetigen, starken Winde. Der Schoner segelte ganz von selbst. Es gab kein Heißen und Hahlen von Leinen und Schooten, kein Umlegen der Toppsegel, keine andere Arbeit für die Matrosen, als zu steuern. Nachts, wenn die Sonne untergegangen war, wurden die Segel gelockert, wenn morgens dann der Tau verdampfte, wurden sie wieder angezogen – das war alles.

Abwechselnd zehn, zwölf, elf Knoten ist die Geschwindigkeit, mit der wir fahren. Und immer aus Nordost bläst der brave Wind, der uns von Morgengrauen bis Morgengrauen an zweihundertundfünfzig Meilen weit auf unserm Kurs treibt. Sie stimmt mich trübe und wieder froh, diese Eile, mit der wir San Francisco hinter uns lassen und hinab in die Tropen schäumen. Mit jedem Tage wird es fühlbar wärmer. In der zweiten Hundewache kommen die Matrosen nackt an Deck und begießen sich eimerweise mit Wasser. Fliegende Fische zeigen sich schon, und nachts versucht die Wache die auf Deck gefallenen zu fangen. Thomas Mugridge hat seine obligate Bestechung bekommen, und so steigt aus der Kombüse der herrliche Duft von gebratenen fliegenden Fischen, während vorn und achtern Delfinfleisch aufgetischt wird. Johnson hat die schimmernden schönen Tiere von der Spitze des Bugspriets aus gespeert.

Johnson verbringt fast die ganze Zeit dort oder hoch oben auf den Dwarssalingen[12] und beobachtet die ›Ghost‹, wie sie das Wasser unter dem Druck ihrer Segel durchschneidet. Leidenschaft und Bewunderung leuchten aus seinen Augen, und in einer Art Verzückung starrt er auf die schwellenden Segel, das schäumende Kielwasser und das Heben und Senken über die nassen Berge, die majestätisch unserer Bahn folgen.

Tage und Nächte sind ein Wunder und wildes Entzücken, und obgleich meine traurige Arbeit mir nur wenig Zeit lässt, stehle ich mir doch hie und da einen Augenblick, um immer wieder auf die unendliche Pracht zu schauen, die in der Welt zu finden ich mir nicht hätte träumen lassen. Der Himmel droben ist fleckenlos blau – blau wie das Meer selbst, das unter dem Bug wie azurfarbener Atlas schimmert. Auf allen Seiten stehen am Horizont blasse Wolkenlämmer, unbeweglich, unveränderlich, wie eine Silberfassung um den makellosen Himmelstürkis.

Eine Nacht werde ich nie vergessen. Ich hätte schlafen sollen, lag jedoch auf der Back und blickte hinab auf das geisterhafte Schaumgekräusel, das der Bug der ›Ghost‹ beiseiteschob. Es klang wie das Rieseln eines Bächleins über bemooste Steine in einem stillen Tal, und das leise Murmeln verzauberte mich und ließ mich vergessen, dass ich ›Hump‹, der Kajütsjunge, dass ich van Weyden war, der Mann, der fünfunddreißig Jahre zwischen Büchern verträumt hatte. Aber eine Stimme hinter mir rief mich in die Wirklichkeit zurück. Es war die wohlbekannte Stimme Wolf Larsens, stark wie die unüberwindliche Sicherheit des Mannes, und doch weich wie die Worte, die er sprach:

O die Tropennacht! Sie glüht,

Und das Meer von Funken sprüht

Und den Himmel kühlt.

Stetig zieht der Bug voran

Seine sternbesäte Bahn,

Wo der Wal, der wilde, spielt.

Dein Rumpf ist zernarbt von der Sonne, mein Schiff,

Deine Falle sind straff vor Tau,

Denn wir brausen hinab unsern alten Weg, abseits von den anderen,

Den langen Weg nach Süden wir wandern.

Den Weg, der stets neu, ins leuchtende Blau!

»Na, Hump? Wie gefällt Ihnen das?« fragte er nach einer angemessenen, durch Worte und Situation bedingten Pause.

Ich sah ihm ins Gesicht. Es glühte von Licht wie das Meer selbst, und seine Augen schimmerten im Sternenschein.

»Ich bin, offen gestanden, ganz erstaunt über Ihre Begeisterung«, erwiderte ich kalt.

»Ja, Mann, das ist das Leben! Das Leben selbst!« rief er.

»Das eine billige Ware ohne Wert ist«, gab ich ihm mit seinen eigenen Worten zurück.

Er lachte, und es war das erste Mal, dass ich eine ehrliche Lustigkeit in seiner Stimme hörte.

»Sie wollen also nicht verstehen, was Leben heißt; ich kann es Ihnen nicht in den Schädel hämmern! Natürlich ist das Leben wertlos, nur nicht für einen selber. Und ich kann Ihnen sagen, dass mein Leben jetzt gerade recht wertvoll ist – für mich. Es ist um keinen Preis zu kaufen, was Sie sicher für maßlose Überschätzung halten werden. Aber ich kann nichts dafür, denn es ist eben das Leben in mir, das den Wert bestimmt.«

Er schien nach Worten zu suchen, um seine Gedanken auszudrücken, und fuhr dann fort:

»Wissen Sie, ich bin seltsam gehoben. Die ganze Zeit fühle ich einen Widerhall in mir, als wäre alle Macht der Welt mein. Ich erkenne die Wahrheit, ich kann göttlich Gutes von Bösem, Recht von Unrecht unterscheiden. Ich sehe weit und klar. Fast könnte ich an Gott glauben. Aber – und seine Stimme veränderte sich, und das Licht erlosch auf seinem Antlitz – was ist das für ein Zustand, in dem ich mich befinde? Diese Lebensfreude? Dieser Triumph des Lebens? Diese Inspiration, wie ich es wohl nennen darf? Das ist etwas, das kommt, wenn die Verdauung nicht gestört, wenn der Magen in Ordnung, der Appetit gut ist und der ganze Organismus richtig funktioniert. Es ist eine Bestechung des Lebens, Champagner des Blutes, das Aufwallen des Ferments – manchen gibt es heilige Gedanken ein, andere lässt es Gott sehen oder, wenn sie ihn nicht sehen, erschaffen. Das ist alles – der Rausch des Lebens, das Aufbrausen des Gärstoffes, das Murmeln des Lebens, das trunken ist von dem Bewusstsein, zu leben. Und – pah! Morgen muss ich dafür zahlen, wie der Säufer zahlen muss. Morgen weiß ich, dass ich sterben muss, höchstwahrscheinlich auf dem Meere, dass ich nicht mehr selbsttätig kriechen, dass ich mich nur noch in Fäulnis bewegen werde mit den Bewegungen der See, dass ich gefressen werde, um alle Kraft und Beweglichkeit meiner Muskeln zu verwandeln in die Kraft und Beweglichkeit von Flossen, Schuppen und Eingeweiden der Fische. Pah! Schon ist der Champagner schal geworden. Das Funkeln und Prickeln ist vorbei, und es ist ein fades Gesöff.«

Er verließ mich ebenso plötzlich, wie er gekommen, lautlos mit der Wucht und Leichtigkeit eines Tigers. Die ›Ghost‹ pflügte sich ihren Weg. Das Gurgeln am Bug tönte wie Schnarchen, und als ich darauf lauschte, da verließ mich allmählich der Eindruck, den Wolf Larsens rascher Wechsel von hoher Begeisterung zu tiefer Verzweiflung auf mich gemacht hatte. Dann erklang mittschiffs der kräftige Tenor eines Matrosen, der das ›Lied des Passats‹ sang:

Ich bin der Wind, den der Seemann liebt –

Ich bin die Stärke und Treue,

Er folgt meiner Spur in den Wolken hoch.

Über die unergründliche Bläue.

Durch Licht und Dunkelheit folg’ ich der Spur

Des Schiffes wie ein Hund,

Morgens und mittags und mitternachts

Blas ich die Segel ihm rund.

12Die Saling ist im traditionellen Schiffbau eine Holzkonstruktion, die zu beiden Seiten neben dem Mast Befestigungs- oder Umlenkpunkte für die Wanten bietet, um den Mast oder Mastabschnitt von seinem oberen Punkt zu den beiden Schiffsseiten hin zu verspannen.
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