Jack London – Gesammelte Werke

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»Groß­ar­tig!« rief John­son mir ins Ohr, als wir glück­lich die Über­schwem­mung, die not­wen­di­ge Fol­ge des Ma­nö­vers, über­stan­den hat­ten, und ich wuss­te, dass sein Aus­ruf sich nicht auf die see­män­ni­sche Tüch­tig­keit Wolf Lar­sens, son­dern auf die Leis­tung der ›Ghost‹ selbst be­zog.

Es war jetzt so dun­kel, dass von dem Boo­te nichts mehr zu se­hen war. Wolf Lar­sen aber führ­te, wie durch einen un­fehl­ba­ren In­stinkt ge­lei­tet, das Ru­der. Ob­wohl wir im­mer halb un­ter Was­ser wa­ren, wur­den wir dies­mal in kein Wel­len­tal hin­un­ter­ge­schwemmt, son­dern trie­ben ge­ra­des­wegs auf das Boot zu, das, frei­lich arg be­schä­digt, an Bord ge­heißt wur­de. Es folg­ten zwei Stun­den furcht­ba­rer An­stren­gung. Wir alle an Bord – zwei Jä­ger, drei Ma­tro­sen, Wolf Lar­sen und ich – reff­ten zu­erst den Klü­ver, dann das Groß­se­gel. Bei­ge­dreht und mit so we­nig Lein­wand war das Deck ei­ni­ger­ma­ßen tro­cken, und die ›Ghost‹ wipp­te wie ein Kork auf den Seen.

Ich hat­te mir gleich im An­fang die Haut von den Fin­gern ge­ris­sen, und beim Ref­fen hat­te ich vor Schmerz kaum die Trä­nen zu­rück­hal­ten kön­nen. Als jetzt al­les ge­tan war, ließ ich mich wie ein Weib ge­hen und warf mich, jam­mernd vor Schmerz und Er­schöp­fung, aufs Deck.

Un­ter­des­sen war Tho­mas Mu­gridge wie eine er­trun­ke­ne Rat­te un­ter dem Back­kopf her­vor­ge­zo­gen wor­den, wo er sich fei­ge ver­kro­chen hat­te. Als er ach­tern nach der Ka­jü­te ge­schleppt wur­de, sah ich plötz­lich zu mei­nem Schre­cken, dass die Kom­bü­se ver­schwun­den war. Wo sie ge­stan­den hat­te, war klar Deck.

In der Ka­jü­te fand ich alle Mann, auch die Ma­tro­sen, ver­sam­melt, und wäh­rend der Kaf­fee auf dem klei­nen Ofen ge­kocht wur­de, tran­ken wir Whis­ky und kau­ten Zwiebä­cke. Nie im Le­ben war mir Es­sen so will­kom­men ge­we­sen, und nie hat­te mir hei­ßer Kaf­fee so ge­schmeckt. So ge­wal­tig roll­te und stieß die ›Ghost‹, dass selbst die Ma­tro­sen sich nicht be­we­gen konn­ten, ohne sich fest­zu­hal­ten, und dass wir mehr­mals un­ter all­ge­mei­nem Ge­schrei nach Back­bord an die Wand ge­schleu­dert wur­den, als hät­ten wir uns an Deck be­fun­den.

»Zum Teu­fel mit dem Aus­guck!« hör­te ich Wolf Lar­sen sa­gen, als wir uns satt ge­ges­sen und ge­trun­ken hat­ten. »An Deck kann doch nichts mehr ge­macht wer­den. Wenn je­mand uns über­ren­nen will, kön­nen wir ihm doch nicht aus­wei­chen. Alle Mann in die Ko­jen, und ver­sucht ein biss­chen zu schla­fen!«

Die Ma­tro­sen kämpf­ten sich nach vorn und setz­ten un­ter­wegs die Sei­ten­lich­ter, wäh­rend die bei­den Jä­ger zum Schla­fen in der Ka­jü­te blie­ben, da es nicht rat­sam war, die Zwi­schen­decks­lu­pe zu öff­nen. Wolf Lar­sen und ich am­pu­tier­ten ge­mein­sam Ker­foots zer­schmet­ter­ten Fin­ger und ver­näh­ten die Wun­de. Mu­gridge, der die gan­ze Zeit, wäh­rend er Kaf­fee ma­chen und auf­war­ten muss­te, über in­ne­re Schmer­zen ge­klagt hat­te, schwor jetzt, dass er zwei oder drei Rip­pen ge­bro­chen hät­te. Aber er muss­te bis zum nächs­ten Tage war­ten, zu­mal ich nichts von ge­bro­che­nen Rip­pen ver­stand und erst dar­über nach­le­sen muss­te.

»Ich fin­de nicht, dass es das wert war«, sag­te ich zu Wolf Lar­sen, »ein zer­split­ter­tes Boot für Kel­lys Le­ben!«

»Kel­ly war nicht viel wert«, lau­te­te die Ant­wort. »Gute Nacht!«

Nach al­lem, was sich er­eig­net hat­te, bei fast un­er­träg­li­chen Schmer­zen in den Fin­ger­spit­zen und den Ge­dan­ken an die drei ver­miss­ten Boo­te, gar nicht zu re­den von den wil­den Sprün­gen, die die ›Ghost‹ mach­te, hät­te ich nicht ge­glaubt, dass es mög­lich ge­we­sen wäre, zu schla­fen. Aber mei­ne Au­gen müs­sen sich in dem­sel­ben Au­gen­blick ge­schlos­sen ha­ben, als mein Kopf das Kis­sen be­rühr­te, und in äu­ßers­ter Er­schöp­fung schlief ich die gan­ze Nacht, wäh­rend sich die ›Ghost‹, ein­sam und un­ge­lei­tet, ih­ren Weg durch den Sturm er­kämpf­te.

18

Am nächs­ten Tage pauk­ten Wolf Lar­sen und ich, wäh­rend der Sturm sich aus­tob­te, schnell Ana­to­mie und Chir­ur­gie und setz­ten Mu­gridges Rip­pen wie­der zu­recht. Als dann die Ge­walt des Or­kans ge­bro­chen war, kreuz­te Wolf Lar­sen über die Stel­le, wo er uns über­rascht hat­te, zu­rück, und fuhr dann, wäh­rend die Boo­te aus­ge­bes­sert und neue Se­gel ge­macht wur­den, et­was wei­ter nach Wes­ten. Ein Rob­ben­scho­ner nach dem an­de­ren wur­de ge­sich­tet und ge­prait; die meis­ten hat­ten Boo­te und Mann­schaf­ten an Bord, die sie auf­ge­le­sen hat­ten und die ih­nen nicht ge­hör­ten. Der größ­te Teil der Flot­te hat­te sich west­lich von uns be­fun­den, und die weit ver­streu­ten Boo­te hat­ten in wil­der Flucht den ers­ten bes­ten Zuf­luchts­ort auf­ge­sucht.

Zwei un­se­rer Boo­te mit wohl­be­hal­te­ner Mann­schaft nah­men wir von der ›Cis­co‹ über, und zu Wolf Lar­sens großer Freu­de und mei­nem Schmerz las er Smo­ke, Nil­son und Le­ach von der ›San Die­go‹ auf. So wa­ren wir nach fünf Ta­gen, nur um vier Mann är­mer – Hen­der­son, Ho­loyak, Wil­liams und Kel­ly – wie­der hin­ter den Her­den her.

Wir ver­folg­ten sie wei­ter nord­wärts, und nun tra­fen wir auf die ge­fürch­te­ten See­ne­bel, Tag auf Tag wur­den die Boo­te hin­un­ter­ge­fiert und ver­schwan­den, fast ehe sie noch das Was­ser be­rührt hat­ten. Wir an Bord stie­ßen in re­gel­mä­ßi­gen Zwi­schen­räu­men ins Horn und ga­ben alle fünf­zehn Mi­nu­ten Si­gnal­schüs­se ab. Be­stän­dig wur­den Boo­te ver­lo­ren und wie­der­ge­fun­den, und es war üb­lich, mit dem ers­ten bes­ten frem­den Scho­ner zu ja­gen, der das Boot auf­nahm, bis der ei­ge­ne Scho­ner ge­fun­den war. Da Wolf Lar­sen je­doch ein Boot fehl­te, er­griff er Be­sitz von dem ers­ten frem­den, das uns in die Que­re kam, zwang die Mann­schaft, auf der ›Ghost‹ zu blei­ben und er­laub­te ih­nen nicht, zu­rück­zu­keh­ren, als wir ih­ren ei­ge­nen Scho­ner sich­te­ten. Ich weiß noch, wie er dem Jä­ger und sei­nen bei­den Leu­ten das Ge­wehr auf die Brust setz­te und sie nach un­ten trieb, als ihr Ka­pi­tän uns pas­sier­te und prai­te, um nach ih­nen zu fra­gen.

Tho­mas Mu­gridge, der sich so selt­sam und hart­nä­ckig ans Le­ben klam­mer­te, hum­pel­te wie­der her­um und kam sei­nen zwei­fa­chen Pf­lich­ten als Koch und Ka­jüts­jun­ge nach. John­son und Le­ach wur­den schlim­mer be­han­delt als je, und sie er­war­te­ten, dass mit der Jagd­zeit auch ihr Le­ben zu Ende sein wür­de. Aber auch die üb­ri­ge Mann­schaft leb­te ein wah­res Hun­de­le­ben un­ter ih­rem er­bar­mungs­lo­sen Herrn. Ich selbst kam ganz gut mit Wolf Lar­sen aus, ob­gleich ich nie den Ge­dan­ken los­wer­den konn­te, dass ich am rich­tigs­ten han­deln wür­de, wenn ich ihn tö­te­te. Er übte einen un­ge­heu­ren Zau­ber auf mich aus, und ich fürch­te­te ihn gren­zen­los. Und doch konn­te ich mir nicht vor­stel­len, dass er tot hin­ge­streckt da­lie­gen soll­te. Es war ein Hauch von Ewig­keit über ihm. Im­mer­wäh­ren­de Ju­gend um­weh­te ihn und ver­scheuch­te das Bild. Ich konn­te ihn mir nur im­mer le­bend vor­stel­len, im­mer herr­schend, kämp­fend und ver­nich­tend, al­les über­le­bend.

Eine sei­ner Zer­streu­un­gen war, wenn wir mit­ten in ei­ner Rob­ben­her­de la­gen und die See zu hoch ging, um die Boo­te nie­der­zu­las­sen, selbst mit zwei Pul­lern und ei­nem Steu­rer hin­aus­zu­ge­hen. Er war ein gu­ter Schüt­ze und er­beu­te­te vie­le Fel­le un­ter Ver­hält­nis­sen, die die Jä­ger ein­fach un­mög­lich nann­ten. Aber er schi­en ge­ra­de sei­ne Freu­de dar­an zu fin­den, sein Le­ben auf die­se Wei­se aufs Spiel zu set­zen und ge­gen fast un­über­wind­li­che Schwie­rig­kei­ten an­zu­kämp­fen.

Ich lern­te im­mer mehr von der Na­vi­ga­ti­on, und an ei­nem schö­nen Tage – et­was, was uns jetzt sel­ten be­geg­ne­te – er­leb­te ich die Be­frie­di­gung, selbst die ›Ghost‹ füh­ren, steu­ern und die Boo­te auf­le­sen zu dür­fen.

Wolf Lar­sen war von sei­nen Kopf­schmer­zen be­fal­len, und so stand ich nun von mor­gens bis abends am Rade, kreuz­te über das Meer nach dem letz­ten Lee­boot, leg­te bei und nahm die­ses und die an­de­ren fünf auf, und das al­les ohne Kom­man­do oder An­wei­sung von dem Ka­pi­tän.

Hin und wie­der weh­te es steif, denn wir wa­ren in eine stür­mi­sche Brei­te ge­kom­men, und Mit­te Juni er­leb­ten wir einen Tai­fun, der sehr denk­wür­dig für mich und be­deu­tungs­voll für mei­ne gan­ze Zu­kunft wer­den soll­te. Wir wä­ren fast von dem Zen­trum des Wir­bel­sturms ge­packt wor­den, und Wolf Lar­sen lief nach Sü­den da­von, zu­erst mit dop­pelt gereff­tem Klü­ver und zu­letzt mit gänz­lich ge­stri­che­nen Se­geln. Nie hat­te ich ge­dacht, dass es so un­ge­heu­re Wo­gen ge­ben könn­te! Die Wel­len, de­nen wir bis­her be­geg­net wa­ren, er­schie­nen im Ver­gleich zu ih­nen wie sanf­tes Ge­kräu­sel. Von Kamm zu Kamm ma­ßen sie wohl eine hal­be Mei­le, und ich bin fest über­zeugt, dass sie un­sern Topp über­rag­ten. So ge­wal­tig wa­ren sie, dass selbst Wolf Lar­sen nicht bei­zu­dre­hen wag­te, ob­gleich wir Ge­fahr lie­fen, weit nach Sü­den und aus den Rob­ben­grün­den ge­trie­ben zu wer­den.

Wir muss­ten etwa bis in die Rou­te der Trans­pa­zi­fik-Li­nie ge­kom­men sein, und als der Tai­fun nachließ, be­fan­den wir uns zur Über­ra­schung der Jä­ger in­mit­ten ei­ner großen Rob­ben­her­de – ei­ner Art Nach­hut, wie sie er­klär­ten, et­was sehr Sel­te­nes. Aber die Fol­ge war, dass den gan­zen Tag die Büch­sen knall­ten und die Tie­re mit­leids­los ab­ge­schlach­tet wur­den.

Ge­gen Abend nä­her­te Le­ach sich mir. Ich war ge­ra­de da­mit fer­tig, die Häu­te zu zäh­len, die das letz­te Boot an Bord ge­bracht hat­te, als er in der Dun­kel­heit ne­ben mich trat und lei­se frag­te:

»Herr van Wey­den, kön­nen Sie mir sa­gen, wie weit wir von der Küs­te ent­fernt sind und in wel­cher Rich­tung Yo­ko­ha­ma liegt?«

 

Mein Herz hüpf­te vor Freu­de, denn ich wuss­te, was er vor­hat­te, und ich gab ihm die Rich­tung an: »500 Mei­len West-Nord-West.«

»Dan­ke!« Mehr sag­te er nicht, und dann schlüpf­te er wie­der ins Dun­kel zu­rück.

Am nächs­ten Mor­gen wur­de Boot 3 mit John­son und Le­ach ver­misst. Gleich­zei­tig fehl­ten die Was­ser­fäs­ser und Ess­kis­ten al­ler an­de­ren Boo­te und Bett­zeug und See­sä­cke der bei­den Män­ner. Wolf Lar­sen ras­te. Er setz­te Se­gel und fuhr nach West-Nord-West, im­mer zwei Jä­ger im Aus­guck, wäh­rend er selbst wie ein zor­ni­ger Löwe auf Deck auf und ab schritt. Er kann­te mei­ne Sym­pa­thie mit den Flücht­lin­gen zu gut, als dass er mich in den Aus­guck ge­schickt hät­te.

Der Wind war güns­tig, wenn auch un­be­stän­dig, aber mir schi­en, dass man eben­so gut eine Steck­na­del in ei­nem Heu­scho­ber, wie das win­zi­ge Boot in die­ser blau­en Unend­lich­keit hät­te su­chen kön­nen. Er hol­te je­doch al­les aus der ›Ghost‹ her­aus, um die Flücht­lin­ge vom Lan­de ab­zu­schnei­den, und als er das er­reicht zu ha­ben mein­te, kreuz­te er hin und her in der Über­zeu­gung, ir­gend­wo auf sie zu sto­ßen.

Am drit­ten Mor­gen, kurz vor acht, rief Smo­ke vom Mast her­ab, dass das Boot in Sicht sei. Al­les stürz­te an die Re­ling. Eine schar­fe Bri­se weh­te aus West, und es schi­en noch mehr Wind auf­zu­kom­men. Und dort, in Lee, in dem be­weg­ten Sil­ber­schein der auf­ge­hen­den Son­ne, kam und ging ein schwar­zer Fleck.

Wir braß­ten vier­kant und fuh­ren auf ihn zu. Mein Herz war schwer wie Blei. Schlim­me Ah­nun­gen mach­ten mich krank, und als ich den Tri­umph in Wolf Lar­sens Au­gen schim­mern sah, dreh­te sich al­les vor mir, und ich fühl­te den fast un­wi­der­steh­li­chen Drang, mich auf ihn zu stür­zen. Ich weiß, dass ich in hal­ber Be­täu­bung ins Zwi­schen­deck schlüpf­te und ge­ra­de mit ei­ner ge­la­de­nen Büch­se in der Hand wie­der hin­auf­stei­gen woll­te, als ich den er­staun­ten Ruf hör­te:

»Es sind fünf Mann im Boot!«

Schwach und zit­ternd lehn­te ich mich an die Wand und hör­te, wie Smo­kes Beo­b­ach­tung jetzt von den an­de­ren be­stä­tigt wur­de. Dann ver­sag­ten mir die Knie, und ich sank zu Bo­den. Ich war wie­der zu mir ge­kom­men, aber mich er­schüt­ter­te das Be­wusst­sein des­sen, was ich fast ge­tan hät­te. Mit großer Er­leich­te­rung stell­te ich das Ge­wehr wie­der an sei­nen Platz und schlich mich an Deck zu­rück.

Nie­mand hat­te mei­ne Ab­we­sen­heit be­merkt. Das Boot war jetzt nahe ge­nug, um uns er­ken­nen zu las­sen, dass es grö­ßer als die üb­li­chen Rob­ben­fän­ger­boo­te und von ei­nem an­de­ren Typ war. Als wir uns nä­her­ten, wur­de das Se­gel ein­ge­holt und der Mast um­ge­legt. Rie­men ka­men zum Vor­schein, und die Leu­te war­te­ten of­fen­bar, dass wir bei­dre­hen und sie an Bord neh­men soll­ten.

Smo­ke, der auf das Deck her­ab­ge­stie­gen war und jetzt ne­ben mir stand, be­gann be­deu­tungs­voll zu ki­chern. Ich blick­te ihn fra­gend an.

»Bun­te Ge­sell­schaft«, glucks­te er.

»Was ist los?« frag­te ich.

Er glucks­te wie­der. »Se­hen Sie nicht, dort im Stern am Bo­den? Ich will nie wie­der eine Rob­be schie­ßen, wenn das nicht eine Frau ist!«

Ich blick­te nä­her hin, konn­te je­doch nichts Ge­nau­es er­ken­nen. Da er­tön­ten von al­len Sei­ten er­staun­te Aus­ru­fe. Im Boot be­fan­den sich vier Män­ner, der fünf­te In­sas­se aber war zwei­fel­los eine Frau. Wir be­fan­den uns in ei­ner un­ge­heu­ren Auf­re­gung – wir alle, au­ßer Wolf Lar­sen, der of­fen­sicht­lich ent­täuscht war, dass er nicht sein ei­ge­nes Boot mit den Op­fern sei­ner Nie­der­tracht vor sich hat­te.

Wir hol­ten den Au­ßenklü­ver ein, brach­ten die Klü­ver­schoot nach Luv, lie­ßen das Groß­se­gel flach ge­hen und ka­men in den Wind. Die Rie­men senk­ten sich ins Was­ser, und nach ei­ni­gen Schlä­gen war das Boot längs­seits. Jetzt er­blick­te ich die Frau zum ers­ten Mal. Sie war in einen lan­gen Über­zie­her gehüllt, denn der Mor­gen war rau, und ich konn­te nichts von ihr se­hen als ihr Ge­sicht und eine Fül­le hell­brau­nen Haa­res, das un­ter dem Süd­wes­ter, den sie auf dem Kop­fe trug, her­vor­quoll. Die Au­gen wa­ren groß, braun und strah­lend, der Mund sinn­lich und das Ant­litz selbst ein zar­tes Oval, das die Son­ne und der sal­zi­ge Wind jetzt al­ler­dings rot­ge­brannt hat­ten.

Sie er­schi­en mir wie ein We­sen aus ei­ner an­de­ren Welt. Ich spür­te, dass mich nach ihr ver­lang­te wie den Hun­gern­den nach Brot. Hat­te ich doch so lan­ge, lan­ge kei­ne Frau mehr ge­se­hen! Ich weiß, ich ver­lor mich so sehr in Be­wun­de­rung, fast in Be­täu­bung, dass ich mich selbst und mei­ne Pf­lich­ten als Steu­er­mann ver­gaß und mich nicht dar­an be­tei­lig­te, den Boots­in­sas­sen an Bord zu hel­fen. Als ei­ner der Ma­tro­sen sie in die her­ab­ge­streck­ten Arme Wolf Lar­sens hob, blick­te sie in un­se­re neu­gie­ri­gen Ge­sich­ter und lä­chel­te, wie nur eine Frau lä­cheln kann, und wie ich so lan­ge nie­mand hat­te lä­cheln se­hen, dass ich ver­ges­sen hat­te, dass es über­haupt ein sol­ches Lä­cheln gab.

»Herr van Wey­den!«

Die schar­fe Stim­me Wolf Lar­sens brach­te mich wie­der zu mir.

»Wol­len Sie die Dame nach un­ten brin­gen und für ihre Be­quem­lich­keit sor­gen. Set­zen Sie die freie Back­bord­ka­jü­te in Stand. Las­sen Sie es Köch­lein tun. Und se­hen Sie, was Sie für ihr Ge­sicht tun kön­nen. Es ist arg ver­brannt.«

Er mach­te kurz kehrt und be­gann die Män­ner zu ver­hö­ren.

Das Boot war Wind und Wel­len preis­ge­ge­ben ge­we­sen, was ei­ner von ih­nen eine blu­ti­ge Schan­de nann­te, da Yo­ko­ha­ma so nahe war.

Ich fühl­te eine selt­sa­me Be­fan­gen­heit die­ser Frau ge­gen­über, die ich jetzt nach ach­tern brach­te. Ich war fei­ge. Zum ers­ten Mal wur­de ich ge­wahr, was für ein zar­tes, ge­brech­li­ches Ge­schöpf eine Frau ist, und als ich ih­ren Arm fass­te, um ihr die Ka­jüt­strep­pe hin­un­ter­zu­hel­fen, er­schrak ich über sei­ne Zier­lich­keit und Zart­heit. Sie war in der Tat eine be­son­ders schlan­ke, zar­te Frau, mir er­schi­en sie je­den­falls so äthe­risch, dass ich fast er­war­te­te, ih­ren Arm un­ter mei­nem Griff zer­bre­chen zu füh­len. Dies ist nach so lan­ger Zeit ein of­fe­nes Be­kennt­nis mei­nes ers­ten Ein­drucks von der Frau im All­ge­mei­nen und Maud Brewster im be­son­dern.

»Sie brau­chen sich wirk­lich nicht so zu be­mü­hen«, pro­tes­tier­te sie, als ich sie in Wolf Lar­sens Lehn­stuhl setz­te, den ich schnell aus sei­ner Ka­jü­te ge­holt hat­te. »Die Leu­te ha­ben schon die gan­ze Zeit nach Land aus­ge­schaut, und wir müs­sen es ja noch vor Ein­bruch der Nacht er­rei­chen. Mei­nen Sie nicht?«

Ihre Zu­ver­sicht er­schreck­te mich. Wie soll­te ich ihr die Si­tua­ti­on und den selt­sa­men Mann er­klä­ren, der wie das Schick­sal das Meer ab­schritt – all das, was zu be­grei­fen mich Mo­na­te ge­kos­tet hat­te? Aber ich ant­wor­te­te ihr ehr­lich:

»Wäre es ein an­de­rer Ka­pi­tän, so wür­de ich sa­gen, dass Sie mor­gen in Yo­ko­ha­ma wä­ren. Un­ser Ka­pi­tän aber ist ein merk­wür­di­ger Mann, und ich bit­te Sie, auf al­les vor­be­rei­tet zu sein – ver­ste­hen Sie mich? Auf al­les!«

»Ich – ich ge­ste­he, dass ich nicht recht be­grei­fe«, sag­te sie zö­gernd, mit ei­nem un­ru­hi­gen, aber nicht ängst­li­chen Aus­druck in den Au­gen. »Oder irre ich mich, dass Schiff­brü­chi­ge stets auf das größ­te Ent­ge­gen­kom­men rech­nen kön­nen? Es han­delt sich ja nur um eine Klei­nig­keit, da wir so nahe an Land sind.«

»Of­fen ge­stan­den, ich weiß es nicht«, brach­te ich mit ei­ni­ger Mühe her­vor. »Aber ich möch­te Sie auf das Schlimms­te vor­be­rei­ten für den Fall, dass das Schlimms­te kom­men soll­te. Die­ser Mann, der Ka­pi­tän, ist ein Scheu­sal, ein Dä­mon, und man kann nie wis­sen, wel­che fan­tas­ti­sche Hand­lung er im nächs­ten Au­gen­blick be­geht.«

Ich hat­te mich warm ge­re­det, aber sie un­ter­brach mich mit ei­nem: »Oh, ich ver­ste­he«, und ihre Stim­me klang müde. Nach­den­ken be­deu­te­te of­fen­bar eine An­stren­gung für sie, und sie war nahe dar­an, zu­sam­men­zu­bre­chen.

Sie stell­te kei­ne wei­te­ren Fra­gen, und ich hielt mich nur an Wolf Lar­sens Be­fehl, für ihre Be­quem­lich­keit zu sor­gen. Ich wid­me­te mich ihr wie eine gute Haus­frau, ver­schaff­te ihr mil­dern­des Wasch­was­ser für ihre ver­brann­te Haut, hol­te aus Wolf Lar­sens Pri­vat­vor­rat eine Fla­sche Port­wein und wies Tho­mas Mu­gridge an, die Koje in der frei­en Ka­jü­te in­stand zu set­zen.

Der Wind wuchs schnell, die ›Ghost‹ kreng­te stark, und als wir die Ka­jü­te in Ord­nung ge­bracht hat­ten, schos­sen wir vor ei­ner stei­fen Bri­se da­hin. Ich hat­te ganz die Exis­tenz von Le­ach und John­son ver­ges­sen, als plötz­lich wie ein Don­ner­schlag der Ruf »Boot ahoi!« die Ka­jüt­strep­pe her­un­ter­hall­te. Es war un­ver­kenn­bar die Stim­me Smo­kes vom Mast. Ich warf einen Blick auf die Frau, die sich je­doch mit ge­schlos­se­nen Au­gen und un­aus­sprech­lich müde im Stuhl zu­rück­lehn­te. Ich hoff­te, dass sie nichts ge­hört hät­te, und be­schloss zu ver­hin­dern, dass sie Zeu­gin der Bru­ta­li­tät wür­de, die der Er­grei­fung der Flücht­lin­ge, wie ich wuss­te, fol­gen muss­te. Sie war müde. Sehr gut. Sie soll­te schla­fen.

An Deck er­tön­ten ei­li­ge Be­feh­le, Fü­ße­stamp­fen und das Klat­schen der Sei­sin­ge, als die ›Ghost‹ sich jetzt in den Wind dreh­te. Beim Über­kren­gen be­gann der Lehn­stuhl über den Fuß­bo­den zu glei­ten, aber ich sprang schnell zu, ge­ra­de noch recht­zei­tig, um die Ge­ret­te­te vor dem Hin­stür­zen zu be­wah­ren.

Sie war zu schläf­rig, um ihre Über­ra­schung an­ders als durch einen kur­z­en Aus­ruf zu er­ken­nen zu ge­ben, dann ließ sie sich strau­chelnd und wan­kend von mir zu ih­rer Koje füh­ren. Mu­gridge grins­te mich ein­schmei­chelnd an, als ich ihn hin­aus­schob mit dem Be­fehl, sich wie­der an sei­ne Kü­chen­ar­beit zu be­ge­ben, aber er räch­te sich, in­dem er den Jä­gern wit­zi­gen Be­richt er­stat­te­te, welch aus­ge­zeich­ne­te Jung­fer ich ab­gä­be.

Sie lehn­te sich schwer ge­gen mich, und ich glau­be, dass sie auf dem Wege zwi­schen Lehn­stuhl und Koje ein­ge­schla­fen war. Bei ei­nem plötz­li­chen Über­ho­len des Scho­ners fiel sie bei­na­he in die Koje. Sie er­wach­te, lä­chel­te schlaf­trun­ken und war wie­der ein­ge­schla­fen, und so ver­ließ ich sie: schlum­mernd un­ter ei­nem Paar di­cker See­manns­de­cken und den Kopf auf ei­nem Kis­sen, das ich aus Wolf Lar­sens Koje ge­holt hat­te.