Jack London – Gesammelte Werke

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4

Mei­ne ers­ten Er­leb­nis­se auf dem Rob­ben­scho­ner ›Ghost‹ in der Zeit, wäh­rend der ich mich mei­ner neu­en Um­ge­bung an­zu­pas­sen such­te, wa­ren eine Ket­te von De­mü­ti­gun­gen und Lei­den. Der Koch, von der Be­sat­zung ›Dok­tor‹, von den Jä­gern ›Tom­my‹ und von Wolf Lar­sen ›Köch­lein‹ ge­nannt, war wie aus­ge­wech­selt. Die Ver­än­de­rung in mei­ner Stel­lung zog eine ent­spre­chen­de Ver­än­de­rung in sei­ner Art, mich zu be­han­deln, nach sich. So skla­visch und un­ter­wür­fig er vor­her ge­we­sen, so her­risch und streit­süch­tig war er jetzt. War ich doch nicht mehr der fei­ne Herr mit ei­ner Haut wie der ei­ner Dame, son­dern ein ganz ge­wöhn­li­cher und sehr un­brauch­ba­rer Ka­jüts­jun­ge.

In sei­ner Dumm­heit be­stand er dar­auf, dass ich ihn Herr Mu­gridge nen­nen soll­te, und als er mich in mei­nen Pf­lich­ten un­ter­wies, wa­ren sein Be­neh­men und sein gan­zes Ge­tue un­er­träg­lich. Au­ßer mei­ner Ar­beit in der Ka­jü­te mit den vier klei­nen Ko­jen soll­te ich ihm in der Kom­bü­se hel­fen, und mei­ne un­ge­heu­re Un­wis­sen­heit in Be­zug auf Kar­tof­fel­schä­len und das Aus­wa­schen fet­ti­ger Kochtöp­fe bil­de­te für ihn eine Quel­le un­auf­hör­li­cher spöt­ti­scher Ver­wun­de­rung. Er nahm nicht die ge­rings­te Rück­sicht auf mei­ne Lage oder viel­mehr auf mei­ne bis­he­ri­gen Ge­wohn­hei­ten. Ich ge­ste­he, dass ich ihn, ehe der Tag zu Ende war, mehr hass­te, als ich je im Le­ben einen Men­schen ge­hasst hat­te.

Die­ser ers­te Tag wur­de mir noch da­durch er­schwert, dass die ›Ghost‹ un­ter gereff­ten Se­geln durch einen ›brül­len­den Süd­ost‹ stampf­te, wie Herr Mu­gridge sich aus­drück­te. Um halb fünf deck­te ich un­ter sei­ner An­lei­tung den Tisch in der Ka­jü­te. Ich be­fes­tig­te das Sch­lin­ger­brett und hol­te dann Es­sen und Tee aus der Kom­bü­se. Ich kann bei die­ser Ge­le­gen­heit nicht um­hin, mein ers­tes Aben­teu­er bei ho­hem See­gang zu be­rich­ten.

»Sieh dich vor, sonst kriegst du einen Guß ab«, schärf­te Herr Mu­gridge mir ein, als ich die Kom­bü­se ver­ließ, in der Hand einen un­ge­heu­ren Tee­kes­sel und un­ter dem an­de­ren Arm meh­re­re frisch ge­ba­cke­ne Bro­te. Ei­ner der Jä­ger, ein großer ge­len­ki­ger Bur­sche na­mens Hen­der­son, kam ge­ra­de in die­sem Au­gen­blick aus dem ›Zwi­schen­deck‹ (mit die­sem Na­men be­zeich­ne­ten die Jä­ger wit­zig ihre mitt­schiffs ge­le­ge­nen Schlaf­quar­tie­re). Wolf Lar­sen stand auf der Hüt­te und rauch­te sei­ne ewi­ge Zi­gar­re.

»Siehst du! Futsch ist er«, schrie der Koch.

Ich blieb ste­hen, denn ich wuss­te nicht, was ge­sch­ah. Ich sah nur, wie die Kom­bü­sen­tür mit ei­nem Knall zu­flog. Dann sah ich Hen­der­son wie einen Ver­rück­ten zum Groß­mast sprin­gen und hoch über mei­nen Kopf in die Ta­ke­lung klet­tern. Ich sah auch noch eine rie­si­ge Woge, die schäu­mend hoch über der Re­ling stand. Ich be­fand mich di­rekt un­ter ihr. Mei­ne Ge­dan­ken ar­bei­te­ten nur lang­sam; al­les war so neu und fremd für mich. Ich wuss­te nichts, als dass Ge­fahr droh­te. Be­stürzt stand ich still. Da schrie Wolf Lar­sen von der Hüt­te: »Fest­hal­ten, Sie – Hump!«

Aber es war zu spät. Ehe ich mich an die Ta­ke­lung an­ge­klam­mert hat­te, wur­de ich von dem stür­zen­den Was­ser­schwall ge­trof­fen. Was dann ge­sch­ah, weiß ich nicht recht. Ich be­fand mich un­ter Was­ser, er­stick­te, er­trank. Die Füße glit­ten un­ter mir fort, ich wur­de her­um­ge­wir­belt und Gott weiß wo­hin ge­fegt. Ich schlug ge­gen ver­schie­de­ne har­te Ge­gen­stän­de, und ein­mal stieß ich mir mein rech­tes Knie schreck­lich. Dann schi­en das Was­ser plötz­lich zu ver­schwin­den, und ich at­me­te wie­der fri­sche Luft. Ich war ge­gen die Kom­bü­se ge­schleu­dert und dann rings um die Ruff bis ge­gen die Spei­gat­ten in Lee ge­schwemmt wor­den. Der Schmerz in mei­nem Knie war furcht­bar. Ich glaub­te nicht auf­tre­ten zu kön­nen und war si­cher, das Bein ge­bro­chen zu ha­ben. Aber der Koch hielt Um­schau nach mir und schrie durch die Kom­bü­sen­tür:

»Na du! Bleib nicht die gan­ze Nacht un­ter­wegs! Wo ist der Tee­topf? Über Bord? Dir wäre recht ge­sche­hen, wenn du dir den Hals ge­bro­chen hät­test!«

Ich ver­such­te auf die Füße zu kom­men. Den großen Tee­topf hielt ich noch in der Hand. Ich hum­pel­te zur Kom­bü­se und reich­te ihn ihm. Aber er schäum­te vor wirk­li­cher und vor­geb­li­cher Wut.

»Gott straf’ mich, wenn du nicht ein elen­der Wasch­lap­pen bist. Wozu bist du über­haupt nüt­ze? Wie? Wozu taugst du? Kannst nicht mal ein biss­chen Tee tra­gen, ohne ihn zu ver­schüt­ten. Nun kann ich noch mal auf­gie­ßen.

Und was greinst du?« fuhr er mich mit er­neu­ter Wut an. »Hat sei­nem ar­men Bein­chen weh­ge­tan, Ma­mas ar­mer Lieb­ling.«

Ich grein­te gar nicht, wenn mein Ge­sicht auch vor Schmerz zu­cken moch­te. Aber ich bot mei­ne gan­ze Ener­gie auf, biss die Zäh­ne zu­sam­men und hin­k­te ohne wei­te­ren Zwi­schen­fall von der Kom­bü­se nach der Ka­jü­te und wie­der zu­rück. Zwei­er­lei aber hat­te mir mein Un­fall ein­ge­tra­gen: eine ver­letz­te Knieschei­be, an der ich mo­na­te­lang zu lei­den hat­te, und den Na­men ›Hump‹, den Wolf Lar­sen mir von der Hüt­te aus zu­ge­ru­fen hat­te. Von jetzt an wur­de ich vorn und ach­tern nicht an­ders als Hump ge­nannt, bis der Name so in mein Be­wusst­sein über­ging, dass ich selbst in mei­nen Ge­dan­ken Hump war, als ob ich nie an­ders ge­hei­ßen hät­te.

Es war kei­ne leich­te Auf­ga­be, am Ka­jü­ten­tisch zu be­die­nen, an dem Wolf Lar­sen, Jo­han­sen und die sechs Jä­ger aßen. Die Ka­jü­te selbst war sehr eng, und es war nicht leicht, sich bei dem hef­ti­gen Rol­len und Stamp­fen des Scho­ners dar­in zu be­we­gen. Was mich am meis­ten wurm­te, war der voll­kom­me­ne Man­gel an Mit­ge­fühl sei­tens der Män­ner, die ich be­dien­te. Ich spür­te durch die Klei­dung hin­durch, wie mein Knie im­mer mehr an­schwoll, und ich war schwach und krank. Im Ka­jü­ten­spie­gel sah ich flüch­tig mein Ge­sicht, das weiß, geis­ter­haft und vom Schmerz ver­zerrt war. Alle müs­sen mei­nen Zu­stand be­merkt ha­ben, aber kei­ner ver­lor ein Wort dar­über oder nahm auch nur die ge­rings­te No­tiz von mir. Ich fühl­te bei­na­he et­was wie Dank­bar­keit, als Wolf Lar­sen spä­ter, als ich die Tel­ler ab­wusch, zu mir sag­te:

»Ma­chen Sie sich nichts aus sol­cher Klei­nig­keit. An so et­was wer­den sie sich schnell ge­wöh­nen. Sie wer­den viel­leicht ein biss­chen we­ni­ger leicht­fü­ßig sein, da­für aber auch ge­hen ler­nen. Das nennt man ja wohl ein Pa­ra­dox, nicht wahr?« füg­te er hin­zu.

Er schi­en sich zu freu­en, als ich mit ei­nem mir schon zur Ge­wohn­heit ge­wor­de­nen »Ja­wohl, Käptn« nick­te. »Ich neh­me an, dass Sie ein biss­chen Be­scheid wis­sen über li­te­ra­ri­sche Din­ge. Was? Na, wir wer­den ge­le­gent­lich mal drü­ber re­den.«

Und dann kehr­te er mir, ohne wei­ter No­tiz von mir zu neh­men, den Rücken und ging an Deck.

Als ich spät abends ein tüch­ti­ges Stück Ar­beit hin­ter mir hat­te, wur­de ich zum Schla­fen ins Zwi­schen­deck ge­schickt, wo ich eine ein­fa­che Koje er­hielt. Ich war froh, von der ver­hass­ten Ge­gen­wart des Kochs be­freit zu sein und mich end­lich nie­der­le­gen zu kön­nen. Zu mei­ner Über­ra­schung wa­ren mir die Klei­der am Kör­per ge­trock­net, ohne dass ich An­zei­chen ei­ner Er­käl­tung von dem letz­ten Sturz­bad oder dem lan­gen Schwimm­bad nach dem Sin­ken der ›Mar­ti­ne­z‹ ge­spürt hät­te. Un­ter ge­wöhn­li­chen Um­stän­den wäre ich nach al­lem, was ich durch­ge­macht hat­te, reif fürs Bett und eine Kran­ken­schwes­ter ge­we­sen.

Aber mein Knie schmerz­te furcht­bar. So­weit ich fest­stel­len konn­te, hat­te ich mir die Knieschei­be aus­ge­setzt. Als ich auf dem Rand mei­ner Koje saß und das Bein un­ter­such­te (die Jä­ger be­fan­den sich alle im Zwi­schen­deck, rauch­ten und schwatz­ten), warf Hen­der­son einen Blick auf mein Knie.

»Sieht bös aus«, be­merk­te er. »Bind dir ’n Lap­pen rum, dann wird’s bes­ser.«

Das war al­les. An Land wür­de ich schön auf dem Rücken ge­le­gen ha­ben un­ter der Pfle­ge ei­nes Arz­tes und mit der stren­gen Wei­sung, mich voll­kom­men ru­hig zu ver­hal­ten. Aber ich muss die­sen Män­nern Ge­rech­tig­keit wi­der­fah­ren las­sen: eben­so ge­fühl­los wie mei­nen Lei­den wa­ren sie auch ih­ren ei­ge­nen ge­gen­über; wenn ih­nen ein­mal et­was zu­stieß. Ers­tens mach­te das die Ge­wohn­heit, und zwei­tens wa­ren sie von Na­tur aus we­ni­ger emp­find­lich. Ich glau­be wirk­lich, dass ein fei­ner or­ga­ni­sier­ter Mensch, wie ich, dop­pelt und drei­fach so­viel Schmer­zen fühl­te wie sie.

Bei al­ler Mü­dig­keit – ich war wirk­lich er­schöpft – hin­der­te mich der Schmerz am Knie am Schla­fen. Al­les, was ich tun konn­te, war, dass ich mich mit al­ler Ge­walt be­herrsch­te, um nicht laut zu stöh­nen. Da­heim wür­de ich zwei­fel­los mei­nen Qua­len Luft ge­macht ha­ben, aber die­se mir neue, pri­mi­ti­ve Um­ge­bung schi­en die Ab­här­tung ei­nes Wil­den von mir zu for­dern. Die­se Män­ner be­nah­men sich wie Na­tur­völ­ker: sto­isch in großen, kind­lich reiz­bar in klei­nen Din­gen. Ich weiß noch, wie Ker­foot, ei­nem der Jä­ger, spä­ter auf der Fahrt ein Fin­ger zu Mus zer­quetscht wur­de, ohne dass er auch nur einen Laut von sich gab oder eine Mie­ne ver­zog. Und der­sel­be Mann konn­te bei der ge­rings­ten Klei­nig­keit in zü­gel­lo­se Wut ge­ra­ten.

Gera­de jetzt war das der Fall. Er schrie und brüll­te, schwenk­te die Arme und fluch­te wie der Teu­fel, und nur, weil er sich mit ei­nem an­de­ren Jä­ger nicht über die Fra­ge ei­ni­gen konn­te, ob ein Rob­ben­jun­ges in­stink­tiv schwim­men kön­ne oder nicht. Sei­ner An­sicht nach schwamm es gleich nach der Ge­burt. Der an­de­re Jä­ger, La­ti­mer, ein ma­ge­rer Bur­sche mit bos­haf­ten Schlitzau­gen, der wie ein Yan­kee aus­sah, glaub­te wie­der­um, die Rob­ben­jun­gen wür­den le­dig­lich auf dem Lan­de ge­bo­ren, weil sie nicht schwim­men könn­ten, und ihre Müt­ter müss­ten es ih­nen bei­brin­gen wie die Vö­gel ih­ren Nest­lin­gen das Flie­gen.

 

Un­ter­des­sen la­gen die an­de­ren vier Jä­ger über dem Tisch oder sa­ßen in ih­ren Ko­jen und über­lie­ßen die bei­den Wi­der­sa­cher ih­rem Streit. Aber die Sa­che in­ter­es­sier­te sie doch stark, hin und wie­der er­griff ei­ner von ih­nen stür­misch Par­tei, und manch­mal re­de­ten sie alle durch­ein­an­der, bis die Wor­te wie Donner­grol­len durch den Raum hall­ten. War der Ge­gen­stand ih­res Streits kin­disch und lä­cher­lich, so war es die Art ih­rer Be­weis­füh­rung noch mehr. Von Ver­nunft­grün­den war nicht die Rede, es gab nur Be­haup­tun­gen und Schimp­fen. Dass ein Rob­ben­jun­ges bei der Ge­burt schwim­men konn­te oder nicht, be­wie­sen sie durch krie­ge­ri­sche Be­haup­tun­gen und An­grif­fe auf Ur­teils­kraft, Ver­stand, Na­tio­na­li­tät oder Vor­le­ben des Geg­ners. Die Wi­der­le­gung war ent­spre­chend. Ich er­zäh­le dies nur, um die geis­ti­ge Be­schaf­fen­heit der Män­ner zu zei­gen, auf de­ren Um­gang ich jetzt an­ge­wie­sen war. In geis­ti­ger Be­zie­hung wa­ren sie Kin­der, in kör­per­li­cher aus­ge­wach­se­ne Män­ner.

Und sie rauch­ten, rauch­ten un­auf­hör­lich, und noch dazu einen bil­li­gen, stin­ken­den Ta­bak. Die Luft war dick und trü­be vor Rauch. Das und die hef­ti­gen Be­we­gun­gen des Schif­fes im Sturm wür­den mich si­cher see­krank ge­macht ha­ben, wenn ich dazu ge­neigt hät­te. So hat­te ich nur eine Art Schwin­del­ge­fühl, das aber viel­leicht auch von dem Schmerz in mei­nem Knie und mei­ner Er­schöp­fung her­rühr­te.

Wie ich so dalag, mach­te ich mir na­tür­lich Ge­dan­ken über mei­ne Lage. Es war si­cher ein­zig in sei­ner Art, kaum im Traum aus­zu­den­ken, dass ich, Hum­phrey van Wey­den, ein Mann von aka­de­mi­scher Bil­dung, ein Di­let­tant, wenn ich so sa­gen darf, in künst­le­ri­schen und li­te­ra­ri­schen Din­gen, mich hier auf der Fahrt mit ei­nem Rob­ben­fän­ger zur Be­ringsee be­fand. Mein gan­zes Le­ben lang hat­te ich kei­ne schwe­re kör­per­li­che Ar­beit ge­tan. Ich hat­te ein ru­hi­ges, er­eig­nis­lo­ses Le­ben, das Da­sein ei­nes Ein­sied­lers ge­führt, mich mit Bü­chern be­schäf­tigt und mein si­che­res, be­hag­li­ches Aus­kom­men ge­habt. Sport und Ath­le­tik hat­ten mich nie ge­reizt. Ich war stets ein Bü­cher­wurm ge­we­sen, so hat­ten Va­ter und Ge­schwis­ter mich schon in mei­ner Kind­heit ge­nannt. Nur ein ein­zi­ges Mal in mei­nem Le­ben hat­te ich un­ter frei­em Him­mel kam­piert, und da hät­te ich bei­na­he die Ge­sell­schaft zu Be­ginn des Aus­flu­ges ver­las­sen, um zu der Ge­müt­lich­keit und Be­hag­lich­keit ei­nes Da­ches zu­rück­zu­keh­ren. Und nun hat­te ich die trost­lo­se Aus­sicht auf end­lo­ses Tisch­de­cken, Kar­tof­fel­schä­len und Ge­schir­r­auf­wa­schen. Und da­bei war ich nicht sehr kräf­tig. Zwar hat­ten die Ärz­te ge­sagt, dass ich eine vor­züg­li­che Kon­sti­tu­ti­on be­sä­ße, aber ich hat­te sie nie durch Übung ent­wi­ckelt. Mei­ne Mus­keln wa­ren schlaff wie die ei­nes Wei­bes, das hat­ten mir we­nigs­tens die Ärz­te im­mer wie­der ver­si­chert bei dem Ver­such, mich zur Aus­übung ei­nes Sports zu über­re­den. Aber ich hat­te es vor­ge­zo­gen, lie­ber den Kopf als den Kör­per zu ge­brau­chen, und nun saß ich hier in ei­ner kei­nes­wegs ge­eig­ne­ten Ver­fas­sung für das raue Le­ben, das jetzt mei­ner harr­te. Das wa­ren ei­ni­ge der Ge­dan­ken, die mir durch den Kopf schos­sen und die ich hier gleich er­zäh­le, um die Rol­le von Schwä­che und Hilf­lo­sig­keit, die ich spie­len soll­te, zu recht­fer­ti­gen. Da­ne­ben ge­dach­te ich aber auch mei­ner Mut­ter und mei­ner Ge­schwis­ter und mal­te mir ih­ren Schmerz aus. Ich ge­hör­te zu den ver­miss­ten To­ten der ›Mar­ti­ne­z‹-Ka­ta­stro­phe, zu den nicht ge­fun­de­nen Lei­chen. Ich sah die Über­schrif­ten in den Zei­tun­gen vor mir, sah das Kopf­schüt­teln der Ka­me­ra­den im Klub und hör­te sie sa­gen: »Ar­mer Kerl!« Und ich sah Char­ley Fu­ru­seth vor mir, wie ich ihn beim Ab­schied ge­se­hen, im Schlaf­rock auf dem Di­van lie­gend und sei­ne ora­kel­haf­ten tief­sin­ni­gen Epi­gram­me schmie­dend.

In­zwi­schen er­kämpf­te sich der Scho­ner ›Ghost‹ sei­nen Weg, rol­lend und stamp­fend, hin­auf auf die wo­gen­den Ber­ge und hin­ab in die schäu­men­den Tä­ler, im­mer wei­ter hin­ein ins Herz des Pa­zi­fik – und ich war auf ihm. Ich konn­te den Wind dort oben hö­ren. Wie ein ge­dämpf­tes Brau­sen drang er mir ans Ohr. Ab und zu stampf­ten Füße über mei­nem Kopf. Von al­len Sei­ten er­klang ein un­auf­hör­li­ches Knar­ren, das Holz­werk ächz­te, quiek­te und stöhn­te in tau­send Ton­ar­ten. Die Jä­ger strit­ten im­mer noch und brüll­ten wie eine halb­mensch­li­che Am­phi­bien­brut. Die Luft schwirr­te von Flü­chen und Zo­ten. Ich konn­te ihre zor­ni­gen, er­hitz­ten Ge­sich­ter se­hen, ins Rie­sen­haf­te ver­zerrt durch das krank­haf­te Gelb der Schiffs­lam­pen, die mit dem Schif­fe hin und her schwank­ten. In dem trü­ben Ta­bak­dunst wirk­ten die Ko­jen wie die Kä­fi­ge in ei­ner Me­na­ge­rie. Öl­zeug und Sees­tie­fel hin­gen an den Wän­den, und hier und dort wa­ren Ge­stel­le mit Flin­ten und Büch­sen an­ge­bracht. Es ge­mahn­te an die Aus­rüs­tung von Frei­beu­tern und Pi­ra­ten in ver­gan­ge­nen Zei­ten. Ich ließ mei­ner Fan­ta­sie frei­en Lauf und konn­te nicht schla­fen. Es war eine lan­ge, lan­ge Nacht, er­mü­dend, un­heim­lich und end­los.

5

Aber mei­ne ers­te Nacht im Zwi­schen­deck war auch die letz­te. Am nächs­ten Tage wur­de Jo­han­sen, der neue Steu­er­mann, von Wolf Lar­sen zum Schla­fen ins Zwi­schen­deck ge­schickt, wäh­rend ich die Koje in der win­zi­gen Ka­jü­te, die schon am ers­ten Tage mei­ner See­rei­se von zwei Per­so­nen be­setzt ge­we­sen war, er­hielt. Den Grund des Wech­sels er­fuh­ren die Jä­ger bald, und er weck­te ziem­lich viel Un­be­ha­gen un­ter ih­nen. Jo­han­sen schi­en im Schlaf die Er­eig­nis­se des Ta­ges jede Nacht noch ein­mal zu durch­le­ben. Sein un­auf­hör­li­ches Re­den, Schrei­en und Kom­man­die­ren war Wolf Lar­sen zu viel ge­we­sen, und er hat­te den läs­ti­gen Schlaf­ge­nos­sen des­halb zu sei­nen Jä­gern ab­ge­scho­ben.

Nach ei­ner schlaflo­sen Nacht er­hob ich mich, müde und lei­dend, um mei­nen zwei­ten Tag auf der ›Ghost‹ zu be­gin­nen. Um halb sechs purr­te Tho­mas Mu­gridge mich her­aus, un­ge­fähr so, wie Bill Sy­kes sei­nen Hund hin­aus­ge­jagt ha­ben wür­de; aber sei­ne Ro­heit ge­gen mich wur­de Herrn Mu­gridge in glei­cher Mün­ze zu­rück­ge­zahlt. Der un­nö­ti­ge Lärm, den er schlug, muss­te einen von den Jä­gern ge­weckt ha­ben, denn ein schwe­rer Schuh saus­te durchs Halb­dun­kel, und ich hör­te, wie Herr Mu­gridge vor Schmerz auf­heul­te und de­mü­tig um Ent­schul­di­gung bat. Spä­ter be­merk­te ich, dass sein ei­nes Ohr ge­quetscht und an­ge­schwol­len war. Es be­kam sei­ne frü­he­re Form nie ganz wie­der und wur­de von den Ma­tro­sen von jetzt an ›Blu­men­kohl­ohr‹ ge­nannt.

Der Tag wur­de eine Ket­te von Ver­drieß­lich­kei­ten ver­schie­dens­ter Art. Ich hat­te am Abend mei­ne ge­trock­ne­ten Klei­der vom Kom­bü­sen­dach her­un­ter­ge­holt und woll­te sie nun zu­nächst wie­der mit dem Zeug des Kochs ver­tau­schen. Ich sah nach mei­ner Bör­se. Au­ßer ei­ni­gem Klein­geld (ich habe ein gu­tes Ge­dächt­nis für der­lei) hat­te sie 185 Dol­lar in Gold und Schei­nen ent­hal­ten. Die Bör­se fand ich, aber bis auf das Klein­geld war sie leer. Ich frag­te den Koch da­nach, und wenn ich auch eine schrof­fe Ant­wort er­war­tet hat­te, so über­stieg ihre Nie­der­tracht doch alle Gren­zen.

»Sag’ mal, Hump«, be­gann er knur­rend, und sei­ne Au­gen leuch­te­ten vor Bos­heit, »willst du, dass ich dir die Nase ein­schla­ge? Wenn du meinst, dass ich ein Dieb bin, dann hast du dich ge­irrt. Ich will blind sein, wenn das nicht der schwär­zes­te Un­dank ist, den ich je er­lebt habe. Da kommt so ein elen­des Ge­stell von Mensch, ich neh­me es in mei­ne Kom­bü­se auf und be­hand­le es gut, und das hab’ ich nun da­von! Das nächs­te Mal kannst du mei­net­we­gen zum Teu­fel ge­hen, ich wer­de schon da­für sor­gen!«

Da­mit hob er die Fäus­te und ging auf mich los. Zu mei­ner Schan­de sei ge­sagt, dass ich dem Schla­ge fei­ge aus­wich und zur Kom­bü­se hin­aus­lief. Was hät­te ich tun sol­len? Ge­walt, nichts als rohe Ge­walt herrsch­te auf die­sem Schif­fe. Mora­li­sche Be­grif­fe gal­ten hier nicht. Stellt euch vor: ein Mann von Mit­tel­grö­ße mit schwa­chen, un­ge­üb­ten Mus­keln, der ein fried­li­ches, ru­hi­ges Le­ben ge­führt und nie eine Ge­walt­tat ge­kannt hat­te – was konn­te der wohl ma­chen? Es mit die­ser mensch­li­chen Bes­tie auf­zu­neh­men, wäre für mich das­sel­be ge­we­sen, wie dem An­griff ei­nes wü­ten­den Bul­len stand­zu­hal­ten.

So dach­te ich je­den­falls da­mals aus dem Be­dürf­nis her­aus, mein Ge­wis­sen zu be­schwich­ti­gen. Aber be­frie­di­gend war die­se Recht­fer­ti­gung nicht. Noch heu­te lei­det mein Man­nes­s­tolz schwer dar­un­ter, wenn ich an die­se Din­ge zu­rück­den­ke, und ich kann mich nicht frei­spre­chen.

Aber das ge­hört nicht hier­her. Mein schnel­les Lau­fen aus der Kom­bü­se ver­ur­sach­te qual­vol­le Schmer­zen in mei­nem Knie, und hilf­los sank ich ne­ben der Ka­jü­ten­tür zu Bo­den. Aber der ge­walt­tä­ti­ge Koch hat­te mich nicht ver­folgt.

»Sieh mal, wie er lau­fen kann! Wie er lau­fen kann!« hör­te ich ihn ru­fen. »Und mit dem Bein! Komm nur wie­der her, Ma­mas Lieb­ling. Ich schla­ge dich nicht, wirk­lich nicht.«

Ich kam zu­rück und nahm mei­ne Ar­beit wie­der auf. Für dies­mal war von der Sa­che nicht mehr die Rede, wenn sich auch spä­ter wei­te­re Ver­wick­lun­gen dar­aus er­ge­ben soll­ten. Ich deck­te den Früh­stücks­tisch in der Ka­jü­te, und um sie­ben Uhr war­te­te ich Jä­gern und Of­fi­zie­ren auf. Der Sturm hat­te sich im Lau­fe der Nacht et­was ge­legt, wenn die See auch noch hoch ging und im­mer noch ein stei­fer Wind weh­te. Die Se­gel wa­ren wie­der ge­hißt wor­den, so­dass die ›Ghost‹ jetzt un­ter vol­ler Lein­wand bis auf die bei­den Topp­se­gel und den Au­ßenklü­ver da­hin­schoss. Die­se drei Se­gel soll­ten, wie ich der Un­ter­hal­tung ent­nahm, gleich nach dem Früh­stück ge­setzt wer­den. Ich er­fuhr auch, dass Wolf Lar­sen be­dacht war, so­viel wie mög­lich aus dem Sturm her­aus­zu­ho­len, der ihn nach Süd­west, der Ge­gend zu­trieb, wo er er­war­ten konn­te, in den Nord­ost­pas­sat zu­kom­men. Mit die­sem ste­ti­gen Wind hoff­te er den größ­ten Teil der schnel­len Fahrt nach Ja­pan zu­rück­le­gen zu kön­nen, und des­halb schlug er jetzt einen Bo­gen nach Sü­den in die Tro­pen, um dann, wenn er sich der asia­ti­schen Küs­te nä­her­te, wie­der nach Nor­den um­zu­bie­gen.

Nach dem Früh­stück hat­te ich wie­der ein recht un­an­ge­neh­mes Er­leb­nis. Als ich das Ge­schirr ab­ge­wa­schen und den Herd ge­rei­nigt hat­te, trug ich die Asche an Deck, um sie über Bord zu schüt­ten. Wolf Lar­sen und Hen­der­son stan­den, in ein Ge­spräch ver­tieft, in der Nähe des Steu­er­ra­des. Jo­han­sen steu­er­te. Als ich nach Luv ging, sah ich, wie er eine Be­we­gung mit dem Kop­fe mach­te, die ich aber miss­ver­stand und für einen Gu­ten­mor­gen­gruß hielt. In Wirk­lich­keit war es ein Ver­such, mich zu war­nen, die Asche in Luv über Bord zu wer­fen. Ohne zu ah­nen, was ich an­rich­te­te, ging ich an Wolf Lar­sen und dem Jä­ger vor­bei und warf die Asche ge­gen den Wind über Bord. Der Wind aber weh­te sie zu­rück und über­schüt­te­te nicht nur mich, son­dern auch Wolf Lar­sen und Hen­der­son da­mit Im nächs­ten Au­gen­blick hat­te mir der Ka­pi­tän einen Stoß ver­setzt, als wäre ich ein Hund, einen Stoß, der so hef­tig war, dass ich ge­gen die Hüt­te tau­mel­te, wo ich mich halb ohn­mäch­tig ge­gen die Wand lehn­te. Al­les schwamm mir vor den Au­gen, und mir wur­de übel. Mit Mühe ge­lang es mir, an die Re­ling zu krie­chen. Wolf Lar­sen folg­te mir nicht. Er klopf­te sich die Asche von der Klei­dung und nahm sei­ne Un­ter­hal­tung mit Hen­der­son wie­der auf. Jo­han­sen, der den gan­zen Auf­tritt mit an­ge­se­hen hat­te, schick­te ein paar Ma­tro­sen nach ach­tern, um das Deck zu säu­bern.

Spä­ter am Mor­gen er­leb­te ich eine Über­ra­schung ganz an­de­rer Art. Nach An­wei­sung des Kochs war ich in Wolf Lar­sens Ka­jü­te ge­gan­gen, um auf­zuräu­men. An der Wand, dicht ne­ben dem Kop­fen­de der Koje, be­fand sich ein vol­les Bü­cher­ge­stell. Ich warf einen Blick dar­auf und sah zu mei­nem Er­stau­nen Na­men wie Sha­ke­s­pea­re, Ten­ny­son, Poe und De Quin­cey. Auch wis­sen­schaft­li­che Wer­ke gab es, dar­un­ter Bü­cher von Tyn­dall, Proc­tor und Dar­win. Astro­no­mie und Na­tur­wis­sen­schaf­ten wa­ren ver­tre­ten, und ich be­merk­te Bul­finchs ›Zeit­al­ter der Fa­bel‹, Shaws ›Ge­schich­te der eng­li­schen und ame­ri­ka­ni­schen Li­te­ra­tur‹ und John­sons Na­tur­ge­schich­te in zwei di­cken Bän­den. Fer­ner eine An­zahl Gram­ma­ti­ken, wie die von Met­calf, Reed, Kel­log und so wei­ter. Und ich muss­te lä­cheln, als ich ein Exem­plar von Deans ›Die eng­li­sche Spra­che‹ sah. Ich konn­te die­se Bü­cher nicht mit dem Man­ne, wie ich ihn bis­her ken­nen­ge­lernt hat­te, in Ein­klang brin­gen. Ob er sie wirk­lich las? Als ich aber das Bett mach­te, fand ich zwi­schen den De­cken die voll­kom­me­ne Cam­bridge-Aus­ga­be von Brow­ning, die ihm of­fen­bar beim Ein­schla­fen aus der Hand ge­glit­ten war. In dem Bu­che war ›Auf ei­nem Bal­kon‹ auf­ge­schla­gen, und ich sah, dass er meh­re­re Stel­len mit ei­nem Blei­stift an­ge­stri­chen hat­te. Als ich bei ei­ner hef­ti­gen Be­we­gung des Schif­fes den Band fal­len ließ, fiel ein Blatt Pa­pier her­aus. Es war über und über mit geo­me­tri­schen Fi­gu­ren und Be­rech­nun­gen be­krit­zelt.

 

Es war klar, dass die­ser furcht­ba­re Mensch nicht der un­wis­sen­de Dumm­kopf sein konn­te, für den man ihn nach sei­nen Aus­brü­chen von Bru­ta­li­tät un­wei­ger­lich hal­ten muss­te. Er wur­de mir plötz­lich ein Rät­sel. Ich hat­te schon be­merkt, dass sei­ne Spra­che aus­ge­zeich­net war, nur ge­le­gent­lich konn­te sich ein klei­ner Feh­ler ein­schlei­chen. In der Un­ter­hal­tung mit See­leu­ten und Jä­gern strotz­te sie na­tür­lich von Slang-Aus­drücken, aber die we­ni­gen Wor­te, die er bis­her mit mir ge­wech­selt hat­te, wa­ren klar und kor­rekt ge­we­sen.

Der Schim­mer, den ich von der an­de­ren Sei­te sei­nes We­sens er­blickt hat­te, muss mich er­mu­tigt ha­ben, denn ich ent­schloss mich, über den Ver­lust mei­nes Gel­des mit ihm zu spre­chen.

»Ich bin be­stoh­len wor­den«, sag­te ich zu ihm, als ich ihn bald dar­auf traf, wie er al­lein auf dem Hin­ter­deck auf und ab schritt.

»Käptn«, ver­bes­ser­te er mich, nicht rau, aber ernst. »Ich bin be­stoh­len wor­den, Käptn«, mach­te ich mei­nen Feh­ler wie­der gut.

»Wie ist das zu­ge­gan­gen?« frag­te er.

Da er­zähl­te ich ihm die gan­ze Ge­schich­te, wie ich mein Zeug zum Trock­nen in der Kom­bü­se ge­las­sen hat­te und spä­ter, als ich dem Koch ge­gen­über et­was da­von er­wähn­te, bei­na­he von ihm ge­schla­gen wor­den war. Er lä­chel­te bei mei­nem Be­richt. »Ne­ben­ein­nah­men«, schloss er. »Köch­leins Ne­ben­ein­nah­men. Fin­den Sie nicht, dass Ihr Le­ben den Preis wert war? – Ne­ben­bei: Be­trach­ten Sie es als eine Leh­re. Ler­nen Sie, selbst auf Ihr Geld zu ach­ten. Ich den­ke mir, dass das bis jetzt ein Rechts­an­walt oder Ge­schäfts­mann für Sie be­sorgt hat.«

Ich konn­te einen heim­li­chen Spott aus sei­nen Wor­ten her­aus­hö­ren, frag­te je­doch: »Was kann ich tun, um es wie­der­zu­be­kom­men?«

»Das ist Ihre Sa­che. Jetzt ha­ben Sie kei­nen Rechts­an­walt oder ge­schäft­li­chen Be­ra­ter, und da müs­sen Sie schon selbst für sieh sor­gen. Wenn Sie einen Dol­lar be­kom­men, so hal­ten Sie ihn fest. Wer Geld her­um­lie­gen lässt, wie Sie es ge­tan, der ver­dient es nicht bes­ser, als dass er es ver­liert. Über­dies ha­ben Sie ge­sün­digt. Sie ha­ben kein Recht, Ihre Mit­menschen sol­chen Ver­su­chun­gen aus­zu­set­zen. Sie ha­ben Köch­lein in Ver­su­chung ge­führt, und er fiel. Sie ha­ben sei­ne un­s­terb­li­che See­le in Ge­fahr ge­bracht. Ne­ben­bei: Glau­ben Sie an die Uns­terb­lich­keit der See­le?«

Sei­ne Li­der ho­ben sich lang­sam, als er die Fra­ge­stell­te, und in der Tie­fe sei­ner Au­gen, in die ich blick­te, schi­en sich mir die See­le zu öff­nen. Aber es war eine Täu­schung. Kein Mensch hat je wirk­lich die Tie­fe von Wolf Lar­sens See­le er­grün­det – da­von bin ich über­zeugt. Es war eine sehr ein­sa­me See­le, wie ich er­fah­ren soll­te, die sich nie ganz ent­schlei­er­te, wenn sie es auch in sel­te­nen Au­gen­bli­cken zu tun vor­gab.

»Ich lese Uns­terb­lich­keit in Ihren Au­gen«, ant­wor­te­te ich, in­dem ich das ›Käpt­n‹ un­ter­ließ – ein Wa­g­nis, das ich mit Hin­blick auf die ver­trau­li­che Un­ter­hal­tung ver­such­te.

Er ach­te­te nicht dar­auf. »Sie se­hen also et­was, das lebt, aber es ist nicht ge­ge­ben, dass es ewig le­ben wird.«

»Ich sehe mehr als das«, sag­te ich kühn.

»Dann se­hen Sie Be­wusst­sein. Be­wusst­sein des Le­bens, das jetzt ist – aber im­mer noch kein künf­ti­ges Le­ben, kei­ne End­lo­sig­keit des Seins.«

Wie klar er dach­te, und wie gut er sei­ne Ge­dan­ken aus­zu­spre­chen ver­moch­te! Nach ei­nem for­schen­den Blick auf mich wand­te er den Kopf und schau­te über das blei­far­be­ne Meer in Luv. Käl­te trat in sei­ne Au­gen, und der Zug um sei­nen Mund wur­de streng und herb. Of­fen­bar war sei­ne Stim­mung pes­si­mis­tisch ge­wor­den.

»Und zu wel­chem Zweck?« frag­te er plötz­lich und wand­te sich mir wie­der zu. »Wenn ich eine un­s­terb­li­che See­le hät­te – wozu?«

Ich zö­ger­te. Wie soll­te ich die­sem Man­ne mei­nen Idea­lis­mus ver­ständ­lich ma­chen? Wie soll­te ich ein rei­nes Ge­fühl aus­drücken, et­was wie im Schla­fe ge­hör­te Mu­sik, et­was, das über­zeu­gend und doch un­aus­sprech­lich war?

»Was glau­ben Sie denn?« lau­te­te mei­ne Ge­gen­fra­ge. »Ich glau­be, dass das Le­ben ein wir­res Durchein­an­der ist«, er­wi­der­te er. »Es ist wie Hefe, wie ein Fer­ment, et­was, das sich be­wegt und sich viel­leicht eine Mi­nu­te, eine Stun­de, ein Jahr oder hun­dert Jah­re be­we­gen mag, das aber schließ­lich doch auf­hö­ren wird, sich zu be­we­gen. Die Gro­ßen fres­sen die Klei­nen, um sich die Kraft zur Be­we­gung zu be­wah­ren. Wer Glück hat, frisst am meis­ten und be­wegt sich am längs­ten, das ist al­les. Was hal­ten Sie da­von?«

Er mach­te eine un­ge­dul­di­ge Arm­be­we­gung in der Rich­tung der Ma­tro­sen, die mitt­schiffs an ir­gend­wel­chem Tau­werk ar­bei­te­ten.

»Die be­we­gen sich, aber das tut die Qual­le auch. Sie be­we­gen sich, um es­sen und sich wei­ter be­we­gen zu kön­nen. Da ha­ben Sie’s. Sie le­ben um ih­res Bau­ches wil­len, und ihr Bauch um ih­ret­wil­len. Es ist ein Kreis­lauf. Es gibt kein Ziel, we­der für sie noch für die an­de­ren. Am Ende steht al­les still. Alle Be­we­gung hört auf. Sie sind tot.«

»Sie ha­ben Träu­me«, un­ter­brach ich ihn, »strah­len­de, lich­te Träu­me – – –«

»Vom Es­sen«, er­klär­te er kurz und bün­dig.

»Und von …«

»Mehr Es­sen. Von gu­tem Ap­pe­tit und dem Glück, ihn zu be­frie­di­gen.« Sei­ne Stim­me klang rau und schwer. »Denn, se­hen Sie, die Leu­te träu­men von glück­li­chen Rei­sen, die ih­nen mehr Geld ein­brin­gen sol­len, träu­men da­von, Steu­er­mann zu wer­den und Reich­tü­mer zu sam­meln – kurz: bes­ser im­stan­de zu sein, ihre Mit­ge­schöp­fe aus­zu­nut­zen, gute Nachtru­he zu ha­ben, gu­tes Es­sen zu be­kom­men und die an­de­ren die schmut­zi­ge Ar­beit für sich tun zu las­sen. Sie und ich, wir sind ge­nau so. Der ein­zi­ge Un­ter­schied ist, dass wir mehr und bes­ser ge­ges­sen ha­ben. Jetzt bin ich es, der die an­de­ren ver­zehrt und Sie dazu. Aber bis jetzt ha­ben Sie mehr ge­ges­sen als ich. Sie ha­ben in wei­chen Bet­ten ge­schla­fen, fei­ne Klei­der ge­tra­gen und gute Mahl­zei­ten ge­ges­sen. Wer hat die­se Bet­ten, die­se Klei­der und Mahl­zei­ten ge­schaf­fen? Sie nicht. Sie ha­ben nie et­was im Schwei­ße Ihres An­ge­sichts ge­tan. Sie leb­ten von Ein­nah­men, die Ihr Va­ter Ih­nen ge­schaf­fen hat­te. Sie gli­chen dem Fre­gatt­vo­gel, der auf den Töl­pel nie­der­stößt und ihm den ge­fan­ge­nen Fisch ent­reißt. Sie ge­hö­ren zu de­nen, die sich zu Her­ren über die an­de­ren auf­ge­wor­fen ha­ben und die Nah­rung ver­zeh­ren, die an­de­re er­zeu­gen und sel­ber es­sen möch­ten. Sie tra­gen war­me Klei­dung. An­de­re ha­ben die­se Klei­dung ge­macht, aber die zit­tern in Lum­pen und bit­ten Sie, Ihren Rechts­an­walt oder Ge­schäfts­füh­rer, ih­nen et­was zu ver­die­nen zu ge­ben.«