Jack London – Gesammelte Werke

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Dies Schrei­en der Wei­ber fiel mir am meis­ten auf die Ner­ven. Und dem Man­ne mit dem ro­ten Ge­sicht muss es eben­so er­gan­gen sein; denn noch ein an­de­res Bild haf­tet mir in der Erin­ne­rung und wird nie dar­aus ver­schwin­den: Der star­ke Herr stopft mei­ne Zeit­schrift in die Ta­sche sei­nes Über­zie­hers und blickt sich neu­gie­rig um. Eine wir­re Mas­se von Frau­en mit wei­ßen, ver­zerr­ten Ge­sich­tern und of­fe­nen Mün­dern kreischt wie ein Chor ver­lo­re­ner See­len. Da wirft der Mann mit dem ro­ten Ge­sicht – es ist jetzt pur­pur­far­big vor Zorn – die Arme hoch, als wäre er Do­nar, der Blitz­schleu­de­rer, und ruft: »Ruhe, ich bit­te mir Ruhe aus!« Ich weiß noch, dass die­ser An­blick mich plötz­lich zum La­chen reiz­te. Ich fühl­te im sel­ben Au­gen­blick, wie ich selbst hys­te­risch wur­de, denn es wa­ren Frau­en von mei­nem Stam­me, wie mei­ne Mut­ter und mei­ne Schwes­ter, und die To­des­furcht lag über ih­nen, und sie woll­ten nicht ster­ben. Die Töne, die sie aus­stie­ßen, ge­mahn­ten mich an das Quie­ken von Schwei­nen un­ter dem Schläch­ter­mes­ser, und ich war ent­setzt über die­se Ähn­lich­keit. Frau­en, die der er­ha­bens­ten Emp­fin­dun­gen, der zärt­lichs­ten Ge­füh­le fä­hig wa­ren, stan­den mit of­fe­nen Mün­dern da und schri­en wie die Schwei­ne. Sie woll­ten le­ben, wa­ren hilf­los wie die Rat­ten in der Fal­le und schri­en.

Das Ent­set­zen trieb mich an Deck hin­aus. Ich fühl­te mich krank, elend und vol­ler Ekel. Ich setz­te mich auf eine Bank. Sche­men­haft sah und hör­te ich, wie Män­ner um­her­lie­fen und ver­such­ten, die Boo­te hin­ab­zu­las­sen. Die Sze­ne war ge­nau so, wie ich sie aus Be­schrei­bun­gen in Bü­chern kann­te. Das Tau­werk klemm­te sich fest. Nichts klapp­te. Ein Boot mit Frau­en und Kin­dern wur­de an den Da­vits hin­un­ter­ge­fiert. Es füll­te sich mit Was­ser und ken­ter­te. Ein an­de­res hing noch mit ei­nem Ende oben, wäh­rend das an­de­re schon un­ten war, und so blieb es hän­gen. Der frem­de Damp­fer, der un­ser Un­glück ver­schul­det hat­te, ließ nichts von sich hö­ren, ob­wohl man mein­te, dass er uns zwei­fel­los Boo­te zu Hil­fe schi­cken wür­de.

Ich stieg zum un­te­ren Deck hin­un­ter. An­schei­nend sank die ›Mar­ti­ne­z‹ sehr schnell, denn ich sah das Was­ser jetzt dicht un­ter mir. Vie­le Pas­sa­gie­re spran­gen über Bord. Die im Was­ser wa­ren, schri­en, man sol­le sie wie­der an Bord ho­len. Aber kein Mensch küm­mer­te sich um sie. Ein Schrei er­tön­te: »Wir sin­ken!« Ich wur­de von der jetzt ein­tre­ten­den Pa­nik an­ge­steckt und stürz­te mich in ei­ner Flut von Kör­pern über Bord. Wie ich ins Was­ser kam, weiß ich nicht mehr, was ich aber so­fort be­griff, war, warum alle, die drin­nen schwam­men, sich so sehn­süch­tig auf den Damp­fer zu­rück­wünsch­ten. Das Was­ser war kalt – so kalt, dass es schmerz­te. Als ich hin­ein­sprang, hat­te ich ein Ge­fühl, als wäre ich in Feu­er ge­ra­ten. Die Käl­te drang bis ins Mark, sie war wie der Griff des To­des. Vor Angst und Schre­cken schnapp­te ich nach Luft, ver­such­te zu at­men, be­vor mich noch der Ret­tungs­gür­tel an die Ober­flä­che ge­trie­ben hat­te. Der Salz­ge­schmack brann­te mir im Mun­de, und ich er­stick­te fast an der bei­ßen­den Lau­ge, die mir Keh­le und Lun­gen füll­te. Aber das Furcht­bars­te war die Käl­te. Ich fühl­te, dass ich nur we­ni­ge Mi­nu­ten aus­hal­ten konn­te. Rings um mich im Was­ser ran­gen und zap­pel­ten Men­schen. Ich hör­te, wie sie sich ge­gen­sei­tig an­rie­fen. Da­ne­ben hör­te ich das Plät­schern von Rie­men; of­fen­bar hat­te der frem­de Damp­fer sei­ne Ret­tungs­boo­te her­ab­ge­las­sen. Die Se­kun­den flo­gen, und ich wun­der­te mich, dass ich im­mer noch leb­te. Mei­ne un­te­ren Glied­ma­ßen wa­ren ganz emp­fin­dungs­los, eine ei­si­ge Star­re krall­te sich mir ums Herz und durch­drang es. Klei­ne Wel­len bra­chen un­aus­ge­setzt mit bos­haft schäu­men­den Kro­nen über mei­nen Kopf hin­weg und in mei­nen Mund und droh­ten mich im­mer wie­der zu er­sti­cken.

Der Lärm wur­de un­deut­lich. Das letz­te, was ich hör­te, war ein Chor von ver­zwei­fel­ten Schrei­en in der Fer­ne, der mir sag­te, dass die ›Mar­ti­ne­z‹ un­ter­ge­gan­gen war. Dann – wie viel Zeit ver­stri­chen war, weiß ich nicht – kam ich in ei­nem plötz­li­chen An­fall über­wäl­ti­gen­der Angst zu mir. Ich war al­lein. Ich hör­te we­der ru­fen noch schrei­en – nur das Plät­schern der Wel­len, ge­spens­ter­haft wi­der­hal­lend von der Ne­bel­wand. Eine all­ge­mei­ne Mas­sen­pa­nik ist nicht so furcht­bar wie die, die einen ein­zel­nen Men­schen pa­cken kann, und die Beu­te ei­ner sol­chen Pa­nik war ich. Wo trieb ich hin? Der Mann mit dem ro­ten Ge­sicht hat­te ge­sagt, dass die Ebbe durch das ›Gol­de­ne Tor‹ hin­aus­ström­te. Dann wur­de ich also auf die hohe See hin­aus­ge­trie­ben! Und der Ret­tungs­gür­tel, der mich trug? Konn­te er nicht je­den Au­gen­blick in Stücke ge­hen? Ich hat­te ge­hört, dass die­se Din­ger oft aus Pa­pier und Bin­sen ge­macht wa­ren, die sich schnell voll­so­gen und alle Trag­fä­hig­keit ver­lo­ren. Und da­bei hat­te ich nicht die ge­rings­te Ah­nung vom Schwim­men! Ganz al­lein trieb ich, of­fen­bar mit der Strö­mung, in die graue chao­ti­sche Unend­lich­keit hin­aus. Ich ge­ste­he, dass ich mich wie ein Wahn­sin­ni­ger be­nahm. Ich kreisch­te, wie die Frau­en es ge­tan, und schlug mit mei­nen star­ren Hän­den wild das Was­ser.

Wie lan­ge das dau­er­te, weiß ich nicht. Eine Ohn­macht über­kam mich, aus der ich kei­ne an­de­re Erin­ne­rung be­hielt, als dass sie ei­nem lan­gen, schmerz­haf­ten Schla­fe glich. Nach Jahr­hun­der­ten er­wach­te ich, und da er­blick­te ich, fast über mei­nem Kop­fe, den Bug ei­nes Fahr­zeu­ges, das lang­sam aus dem Ne­bel auf­tauch­te, und dar­über dicht hin­ter­ein­an­der drei drei­e­cki­ge, prall vom Wind ge­bläh­te Se­gel. Wo der Bug das Was­ser durch­schnitt, schäum­te und gur­gel­te es hef­tig, und es schi­en ge­ra­des­wegs auf mich los­zu­kom­men. Plötz­lich tauch­te der Bug nie­der und über­schüt­te­te mich klat­schend mit ei­nem mäch­ti­gen Was­ser­schwall. Dann glitt die lan­ge schwar­ze Schiffs­wand so nahe vor­bei, dass ich sie mit den Hän­den hät­te grei­fen kön­nen. Ich ver­such­te es, mit ei­nem wahn­sin­ni­gen Ent­schluss, mei­ne Nä­gel ins Holz zu kral­len, aber mei­ne Arme wa­ren schwer und leb­los. Wie­der woll­te ich ru­fen, brach­te aber kei­nen Ton her­aus.

Das Heck des Schif­fes schoss vor­bei, sank in ein Wel­len­tal. Ich sah flüch­tig den Mann am Ru­der und einen an­de­ren, der nichts zu tun schi­en, als eine Zi­gar­re zu rau­chen. Ich sah den Rauch, der sich von sei­nen Lip­pen lös­te, als er lang­sam den Kopf wand­te und in mei­ner Rich­tung über das Was­ser blick­te. Es war ein gleich­gül­ti­ges, un­über­leg­tes Schau­en, et­was ganz Zu­fäl­li­ges, Zi­el­lo­ses.

Für mich aber be­deu­te­te die­ser Blick Le­ben oder Tod. Ich sah, wie das Schiff vom Ne­bel ver­schlun­gen wur­de, ich sah den Rücken des Ru­der­gas­tes und sah, wie der Kopf des an­de­ren Man­nes sich wand­te, sich ganz lang­sam wand­te, wie sein Blick das Was­ser traf und zu mir hin­schweif­te. Er schi­en in tie­fe Ge­dan­ken ver­sun­ken, und mich pack­te die Furcht, dass sei­ne Au­gen mich, selbst wenn sie mich trä­fen, nicht se­hen wür­den. Aber sie sa­hen mich, blick­ten ge­ra­de in die mei­nen! Er sprang ans Ru­der, schob den an­de­ren bei­sei­te und dreh­te fie­ber­haft das Rad, wäh­rend er gleich­zei­tig ir­gend­wel­che Be­feh­le schrie. Aber das Schiff schi­en sei­nen Kurs fort­zu­set­zen und war fast im sel­ben Au­gen­blick im Ne­bel ver­schwun­den.

Ich fühl­te, wie ich in eine Ohn­macht glitt, und ver­such­te mit al­ler Wil­lens­kraft ge­gen die er­sti­cken­de Lee­re und Dun­kel­heit, die mich zu über­wäl­ti­gen droh­te, an­zu­kämp­fen. Kurz dar­auf hör­te ich Ru­der­schlä­ge, die im­mer nä­her ka­men, und die Stim­me ei­nes Man­nes. Als er ganz nahe war, hör­te ich ihn är­ger­lich sa­gen: »Zum Don­ner­wet­ter, warum rufst du nicht.« »Er mein­te mich.« Mit die­sem Ge­dan­ken ver­sank ich in Lee­re und Fins­ter­nis.

2

Ich schi­en in ei­nem mäch­ti­gen Rhyth­mus durch un­ge­heu­re Räu­me zu schwin­gen. Flim­mern­de Fun­ken sprüh­ten und schös­sen an mei­nen Au­gen vor­bei. Ich wuss­te, es wa­ren Ster­ne und schim­mern­de Ko­me­ten, die mich auf mei­nem Flu­ge von Son­ne zu Son­ne um­ga­ben. Als ich die äu­ßers­te Gren­ze mei­nes Schwun­ges er­reicht hat­te und ge­ra­de zu­rück­schwin­gen woll­te, er­tön­te don­nernd ein Rie­sen­gong. In ei­ner un­er­mess­li­chen Zeit­span­ne hat­te ich, ein­ge­lullt von dem Säu­seln sanf­ter Jahr­hun­der­te, ein Ge­fühl großer Freu­de und über­dach­te mei­nen un­ge­heu­ren Flug.

Aber mein Traum wan­del­te sich, denn dass es ein Traum war, sag­te ich mir sel­ber. Der Rhyth­mus mei­nes Flu­ges wur­de im­mer kür­zer. Schwung und Rück­schwung wech­sel­ten mit ver­wir­ren­der Hast. Kaum konn­te ich Atem schöp­fen, so un­ge­stüm wur­de ich durch den Him­mels­raum ge­schleu­dert. Im­mer häu­fi­ger und schreck­li­cher don­ner­te der Gong, auf des­sen Klang ich je­des Mal mit na­men­lo­sem Ent­set­zen war­te­te. Dann war mir, als wür­de ich über raue Sand­flä­chen ge­schleift, die weiß in der Son­ne glüh­ten. Ein un­er­träg­li­ches Angst­ge­fühl pack­te mich. Mei­ne Haut wur­de aus­ge­dörrt in der Pein des Feu­ers. Der Gong dröhn­te und tos­te. Die flim­mern­den Licht­punk­te schös­sen in un­end­li­chem Strom an mei­nen Au­gen vor­bei, als er­gös­se sich das gan­ze Ster­nen­sys­tem in den lee­ren Raum. Ich rang nach Luft, at­me­te schmerz­haft und öff­ne­te die Au­gen. Zwei Män­ner knie­ten ne­ben mir und be­schäf­tig­ten sich mit mir. Der mäch­ti­ge Rhyth­mus, den ich emp­fun­den hat­te, war das Rol­len des Schif­fes im See­gang. Der ent­setz­li­che Gong war eine Brat­pfan­ne, die bei je­der Be­we­gung des Schif­fes klirr­te und ras­sel­te. Der scheu­ern­de, sen­gen­de Sand wa­ren har­te Män­ner­hän­de, die mei­ne blo­ße Brust rie­ben. Ich krümm­te mich vor Schmerz und hob den Kopf ein we­nig. Mei­ne Brust war rot und wund, und ich konn­te win­zi­ge Bluts­trop­fen aus der zer­ris­se­nen, ent­zün­de­ten Haut her­vor­quel­len se­hen.

 

»Jetzt ist’s ge­nug, Yon­son«, sag­te der eine der Män­ner. »Kannst du nicht se­hen, wir schrub­ben ihm ja die gan­ze Haut ab!«

Der Yon­son An­ge­re­de­te, ein Mann von schwe­rem skan­di­na­vi­schen Typ, hör­te auf, mich zu rei­ben, und er­hob sich ver­le­gen. Der Mann, der ge­spro­chen hat­te, war of­fen­bar ein ›Cock­ney‹(ge­bo­re­ner Lon­do­ner), zart­glied­rig und mit hüb­schen, fast weib­li­chen Zü­gen, der si­cher das Glo­cken­ge­läut Lon­d­ons mit der Mut­ter­milch ein­ge­so­gen hat­te. Eine schmut­zi­ge Lei­nen­müt­ze und ein eben­so schmut­zi­ger Lei­nen­schurz um die Hüf­ten ver­rie­ten, dass er der Koch in der ent­schie­den sehr schmut­zi­gen Kom­bü­se des Schif­fes war, auf dem ich mich be­fand.

»Na, wie füh­len Sie sich jetzt, Herr?« frag­te er mit der ge­zier­ten Un­ter­tä­nig­keit, die auf Ge­ne­ra­tio­nen trink­geld­be­flis­se­ner Ah­nen schlie­ßen ließ.

Als Ant­wort ver­such­te ich mich zu er­he­ben, Yon­son half mir auf die Füße. Das Ras­seln und Klir­ren der Brat­pfan­ne zerr­te ent­setz­lich an mei­nen Ner­ven. Ich konn­te mei­ne Ge­dan­ken nicht sam­meln. Ich griff zur Stüt­ze nach der Holz­be­klei­dung–­sie war so schmie­rig, dass sich mir die Ein­ge­wei­de im Lei­be um­dreh­ten –, lang­te über den hei­ßen Kü­chen­herd hin­weg nach dem scheuß­li­chen Ge­gen­stand, hol­te ihn vom Na­gel her­un­ter und ver­keil­te ihn si­cher im Koh­len­kas­ten.

Der Koch lä­chel­te über mei­ne Ner­vo­si­tät und drück­te mir mit den Wor­ten: »Das wird Ih­nen gut tun« einen damp­fen­den Be­cher in die Hand. Es war ein wi­der­li­ches Gesöff – Schiffs­kaf­fee –, aber die Wär­me be­leb­te mich doch. Wäh­rend ich lang­sam das Ge­tränk schlürf­te, warf ich hin und wie­der einen Blick auf mei­ne wund­ge­rie­be­ne, blu­ten­de Brust. Dann wand­te ich mich an den Skan­di­na­vier.

»Vie­len Dank, Herr Yon­son«, sag­te ich, »aber mei­nen Sie nicht, dass Ihre Be­hand­lung et­was ge­walt­sam war?«

Eher aus mei­ner Be­we­gung als aus mei­nen Wor­ten fühl­te er wohl den Vor­wurf her­aus. Er hielt mir die Hand hin. Sie war schreck­lich rau. Mit leich­tem Schau­er ließ ich die mei­ne über die horn­ar­ti­gen Schwie­len glei­ten.

»Ich hei­ße John­son, nicht Yon­son«, sag­te er in aus­ge­zeich­ne­tem, wenn auch et­was lang­sa­mem und eine Spur fremd­län­di­schen Eng­lisch.

In sei­nen blass­blau­en Au­gen er­schi­en ein mil­der Pro­test, aber dazu eine schüch­ter­ne Of­fen­heit und Männ­lich­keit, die mich ganz für ihn ein­nah­men.

»Vie­len Dank, Herr John­son«, ver­bes­ser­te ich mich und streck­te ihm mei­ne Hand hin.

Scheu und schüch­tern zö­ger­te er, trat von ei­nem Bein auf das an­de­re, fass­te schließ­lich lin­kisch mei­ne Hand und schüt­tel­te sie herz­lich.

»Ha­ben Sie et­was tro­ckenes Zeug für mich?« frag­te ich den Koch.

»Ja, Herr«, er­wi­der­te er dienst­eif­rig. »Ich wer­de in mei­nem Vor­rat nach­se­hen, wenn Sie nichts da­ge­gen ha­ben, Herr, mei­ne Sa­chen an­zu­zie­hen.«

Er schlüpf­te oder glitt viel­mehr zur Kü­chen­tür hin­aus mit ei­ner Schnel­lig­keit und Ge­schmei­dig­keit, die mir we­ni­ger kat­zen­ar­tig als ölig er­schie­nen. In der Tat, die­se Schlüpf­rig­keit war, wie ich spä­ter er­fah­ren soll­te, wahr­schein­lich sei­ne her­vor­ste­chends­te Ei­gen­schaft.

»Und wo bin ich?« frag­te ich John­son, den ich mit Recht für einen von den Ma­tro­sen hielt. »Was für ein Fahr­zeug ist dies, und wo geht es hin?«

»Von den Far­al­lo­nen nach Süd­west«, er­wi­der­te er lang­sam und plan­mä­ßig, als be­müh­te er sich, sein bes­tes Eng­lisch zu spre­chen, und streng­te sich an, mei­ne Fra­gen rich­tig der Rei­hen­fol­ge nach zu be­ant­wor­ten. »Scho­ner ›Ghost‹ auf Rob­ben­fang nach Ja­pan.« »Und wo ist der Ka­pi­tän? Ich muss ihn spre­chen, so­bald ich mich um­ge­klei­det habe.«

John­son blick­te ver­le­gen und ver­wirrt drein. Zö­gernd such­te er in sei­nem Wort­schatz nach ei­ner tref­fen­den Ant­wort. »Käptn Wolf Lar­sen, wie er ge­nannt wird. Sei­nen an­de­ren Na­men habe ich nie ge­hört. Aber es ist am bes­ten, wenn Sie vor­sich­tig mit ihm re­den. Er ist ver­rückt heut mor­gen. Der Steu­er­mann – –«

Aber er vollen­de­te den Satz nicht. Der Koch war wie­der her­ein­ge­glit­ten.

»Es ist bes­ser, du machst, dass du weg­kommst, Yon­son«, sag­te er. »Der Alte sucht dich an Deck, und heut ist es am bes­ten, ihm nicht in die Que­re zu kom­men.«

John­son wand­te sich ge­hor­sam zur Tür, wo­bei er mir über die Schul­ter des Kochs hin­weg in ei­ner merk­wür­dig fei­er­li­chen, un­heil­ver­kün­den­den Wei­se zu­wink­te, als woll­te er die un­ter­bro­che­ne Be­mer­kung be­kräf­ti­gen und mir ans Herz le­gen, ja recht vor­sich­tig mit dem Ka­pi­tän zu re­den.

Über dem Arm des Kochs hin­gen ei­ni­ge zer­knüll­te, häss­li­che Klei­dungs­stücke, die einen säu­er­li­chen Ge­ruch aus­ström­ten.

»Sie sind feucht ge­we­sen, Herr«, er­klär­te er, »aber Sie wer­den sie schon tra­gen müs­sen, bis ich Ihre am Feu­er ge­trock­net habe.«

Wäh­rend ich mich am Holz­werk fest­hielt, ge­lang es mir mit Hil­fe des Kochs, in ein rau­es, wol­le­nes Hemd zu schlüp­fen. Bei der Berüh­rung über­lief mich eine Gän­se­haut. Er be­merk­te mein un­will­kür­li­ches Zu­sam­men­zu­cken und Ge­sicht­er­schnei­den und grins­te: »Ich will nur hof­fen, dass Sie sich nie im Le­ben an so was ge­wöh­nen müs­sen. Eine fei­ne Haut, die Sie ha­ben, fast wie von ei­ner Dame! Ich hab’ gleich, als ich Ihre Haut sah, ge­merkt, dass Sie ein fei­ner Herr sind.«

War er mir schon auf den ers­ten Blick un­sym­pa­thisch ge­we­sen, so wuchs mein Un­be­ha­gen noch, als er mir jetzt beim An­klei­den half. Sei­ne Berüh­rung al­lein war mir wi­der­lich. Ich wich vor sei­ner Hand zu­rück, mein Fleisch wi­der­setz­te sich. Dazu kam der nicht ge­ra­de an­ge­neh­me Duft aus den ver­schie­de­nen Kochtöp­fen auf dem Her­de, so­dass ich mich be­eil­te, an die fri­sche Luft zu kom­men. Über­dies war es not­wen­dig, dass ich mit dem Ka­pi­tän sprach, um zu hö­ren, wie ich an Land kom­men konn­te.

Ein bil­li­ges Baum­woll­hemd mit aus­ge­fran­s­tem Kra­gen und ver­bli­che­ner Hemd­brust mit Fle­cken, die ich für Blut­sprit­zer hielt, wur­de mir un­ter ei­nem Strom von Ent­schul­di­gun­gen über­ge­zo­gen. Ein Paar schwe­rer Sees­tie­fel um­schloss mei­ne Füße, und dazu wur­de ich mit hell­blau­en, aus­ge­wa­sche­nen Über­zug­ho­sen aus­staf­fiert, de­ren ei­nes Bein un­ge­fähr zehn Zoll kür­zer als das an­de­re war.

»Und wem habe ich für all die­se Herr­lich­keit zu dan­ken?« frag­te ich, als ich voll aus­staf­fiert da­stand, eine win­zi­ge Kna­ben­müt­ze auf dem Kopf und als Rock eine schmut­zi­ge ge­streif­te Baum­woll­ja­cke, die mir ge­ra­de bis ans Kreuz ging, und de­ren Är­mel mir bis zu den Ell­bo­gen reich­ten.

Der Koch rich­te­te sich in sei­ner krie­che­ri­schen Art auf, und sein ge­zier­tes Lä­cheln schi­en um Ent­schul­di­gung zu bit­ten. Nach den Er­fah­run­gen, die ich auf Ozean­schif­fen ge­gen Ende der Rei­se mit Ste­wards ge­macht hat­te, hät­te ich dar­auf schwö­ren mö­gen, dass er auf Trink­geld war­te­te. Aber ich er­kann­te spä­ter, dass sei­ne Hal­tung ganz un­be­wusst war: zwei­fel­los er­erb­te Un­ter­wür­fig­keit.

»Mu­gridge, Herr«, sag­te er krie­che­risch, und über sein wei­bi­sches Ge­sicht leg­te sich ein fet­ti­ges Lä­cheln. »Tho­mas Mu­gridge, Herr, zu Diens­ten.«

»Schön, Tho­mas«, sag­te ich. »Ich wer­de dich nicht ver­ges­sen, wenn mei­ne Klei­der wie­der tro­cken sind.«

Ein sanf­ter Schim­mer über­zog sein Ge­sicht, und sei­ne Au­gen leuch­te­ten, als wä­ren in der Tie­fe sei­nes We­sens sei­ne Vor­fah­ren le­ben­dig ge­wor­den mit der dunklen Erin­ne­rung an die Trink­gel­der im ver­gan­ge­nen Le­ben.

»Dan­ke, Herr«, sag­te er wirk­lich sehr dank­bar und de­mü­tig.

Genau wie eine Schie­be­tür glitt er bei­sei­te, und ich trat aufs Deck. Ich war noch schwach von dem lan­gen Auf­ent­halt im Was­ser. Ein Wind­stoß pack­te mich, und ich wank­te über das schlin­gern­de Deck, ei­ner Ecke der Ka­jü­te zu, an der ich mich fest­hielt. Der Scho­ner kreng­te stark, hob und senk­te sich in der lan­gen Dü­nung des Ozeans. Wenn der Scho­ner, wie John­son ge­sagt hat­te, nach Süd­west se­gel­te, muss­te der Wind mei­ner Be­rech­nung nach fast ge­nau von Sü­den her kom­men. Der Ne­bel hat­te sich ver­zo­gen, und jetzt spiel­ten die Son­nen­strah­len auf dem Mee­res­s­pie­gel. Ich wand­te mich nach Os­ten, wo, wie ich wuss­te, Ka­li­for­ni­en lie­gen muss­te, konn­te aber nichts se­hen als nied­ri­ge Ne­bel­bän­ke – zwei­fel­los der­sel­be Ne­bel, der das Un­glück der ›Mar­ti­ne­z‹ und mei­ne jet­zi­ge Lage ver­schul­det hat­te. Nach Nor­den, nicht weit fort, war eine Grup­pe nack­ter Fel­sen über die See ge­streut, und auf ei­nem da­von sah ich einen Leucht­turm. Nach Süd­wes­ten, fast ge­nau in un­serm Kurs, er­blick­te ich den py­ra­mi­den­för­mi­gen, noch dunklen Um­riss ei­nes Se­gels. Als ich mei­ne Um­schau am Ho­ri­zont be­en­det hat­te, wand­te ich mich mei­ner nä­he­ren Um­ge­bung zu. Mein ers­ter Ge­dan­ke war, dass ein Mensch, der einen Schiff­bruch über­lebt und Auge in Auge mit dem Tode ge­stan­den hat­te, ei­gent­lich mehr Auf­merk­sam­keit ver­dient hät­te, als mir zu­teil wur­de. Au­ßer ei­nem Ma­tro­sen am Rad, der neu­gie­rig nach der Ka­jü­ten­e­cke guck­te, schenk­te mir nie­mand ir­gend­wel­che Be­ach­tung. Je­der­mann schi­en sich nur für das zu in­ter­es­sie­ren, was mitt­schiffs vor­ging. Dort lag ein großer Mann auf ei­nem Lu­ken­de­ckel. Er war ganz an­ge­klei­det, sein Hemd je­doch auf­ge­ris­sen. Von sei­ner Brust war nichts zu se­hen, denn sie war so von schwar­zen Haa­ren be­deckt, dass es wie der Pelz ei­nes Hun­des aus­sah. Ge­sicht und Hals wa­ren un­ter dem schwar­zen, grau­me­lier­ten Bart ver­bor­gen, der sonst strup­pig sein moch­te, jetzt aber von Was­ser troff; sei­ne Au­gen wa­ren ge­schlos­sen. Er schi­en be­wusst­los zu sein, aber der Mund stand weit of­fen, und die Brust keuch­te, als ob er am Er­sti­cken war und hef­tig nach Atem rang. Ein Ma­tro­se, der da­ne­ben stand, hat­te eine Se­gel­tuch­püt­ze an ei­ner Lei­ne fest­ge­macht, ließ sie von Zeit zu Zeit ganz ge­wohn­heits­mä­ßig ins Meer hin­ab, hol­te sie wie­der her­auf und goss den In­halt über den Lie­gen­den. Auf und nie­der an Deck schritt ein an­de­rer Mann und kau­te wü­tend auf sei­nem Zi­gar­ren­stum­mel. Es war der, des­sen zu­fäl­li­ger Blick mich vor dem Er­trin­ken be­wahrt hat­te. Er moch­te wohl fünf Fuß und zehn oder zehn­ein­halb Zoll mes­sen, aber mein ers­ter Ein­druck von ihm, oder viel­mehr mein Ge­fühl, war nicht das der Grö­ße, son­dern der Stär­ke. Da­bei konn­te ich ihn je­doch, ob­gleich er ge­drun­gen und breit­schult­rig war und eine mäch­ti­ge Brust hat­te, nicht un­ge­wöhn­lich schwer nen­nen. Er hat­te et­was von der seh­ni­gen, knor­ri­gen Kraft ma­ge­rer star­ker Men­schen, sein Kör­per­bau aber ließ an einen Go­ril­la den­ken. Nicht dass er in sei­nem Aus­se­hen et­was Go­ril­la­ar­ti­ges ge­habt hät­te. Was ich aus­zu­drücken su­che, ist die Stär­ke selbst als et­was für sich, ganz ab­ge­se­hen von ih­rer kör­per­li­chen Er­schei­nung. Es war eine Stär­ke, wie wir sie ge­wohnt sind, in Ge­dan­ken mit pri­mi­ti­ven Din­gen, mit wil­den Tie­ren, mit Ge­schöp­fen zu ver­bin­den, die wir uns in der Fan­ta­sie als un­se­re baum­be­woh­nen­den Vor­fah­ren den­ken – die wil­de, rei­ßen­de, le­ben­di­ge Stär­ke an sich, die letz­te Es­senz des Le­bens, die Po­tenz der Be­we­gung, der Grund­stoff selbst, aus dem die wil­den Le­bens­for­men ge­stal­tet wur­den.

Das war mein Ein­druck von der Stär­ke die­ses Man­nes, der an Deck auf und nie­der schritt. Fest stand er auf den Bei­nen, jede Mus­kel­be­we­gung, ob er die Schul­tern hob oder die Lip­pen um die Zi­gar­re press­te, zeug­te von Ent­schlos­sen­heit und schi­en ih­ren Ur­sprung in ei­ner rie­sen­haf­ten und über­wäl­ti­gen­den Kraft zu ha­ben. In der Tat: Ob­wohl die­se Stär­ke jede sei­ner Be­we­gun­gen durch­drang, schi­en es mir, als wäre sie nur der Aus­druck ei­ner noch grö­ße­ren Stär­ke, die in sei­nem In­nern schlum­mer­te, die aber je­den Au­gen­blick er­wa­chen konn­te, schreck­lich und un­wi­der­steh­lich wie das Wü­ten des Lö­wen oder der Zorn des Stur­mes.

Der Koch steck­te den Kopf zur Kom­bü­sen­tür her­aus und grins­te mir er­mu­ti­gend zu, gleich­zei­tig wies er mit dem Dau­men nach dem Man­ne, der an der Luke auf und nie­der schritt. So gab er mir zu ver­ste­hen, dass dies der Ka­pi­tän war, der ›Al­te‹, wie der Koch sag­te, die Per­sön­lich­keit, die ich be­mü­hen muss­te, dass sie mich an Land setz­te. Ich war ge­ra­de im Be­griff, zu ihm zu ge­hen, um gleich die si­cher un­an­ge­neh­me Ge­schich­te über­stan­den zu ha­ben, als der Un­glück­li­che, der auf dem Lu­ken­de­ckel lag, einen noch stär­ke­ren Er­sti­ckungs­an­fall be­kam. Krampf­ar­tig ver­renk­te er sich. Das Kinn mit dem nas­sen schwar­zen Bart streck­te sich in die Luft, wäh­rend die Rücken­mus­keln steif wur­den und die Brust mit ei­ner in­stink­ti­ven, un­be­wuss­ten An­stren­gung nach Luft rang.

 

Der Ka­pi­tän oder Wolf Lar­sen. wie die Leu­te ihn nann­ten, hielt auf sei­nem Wege inne und blick­te auf den Ster­ben­den hin­ab. So furcht­bar war die­ser letz­te Kampf, dass der Ma­tro­se die Se­gel­tuch­püt­ze sin­ken ließ und den In­halt auf das Deck ver­schüt­te­te. Der Ster­ben­de trom­mel­te mit den Fer­sen auf dem Lu­ken­de­ckel, streck­te die Bei­ne aus, er­starr­te in ei­ner ein­zi­gen mäch­ti­gen An­stren­gung und roll­te den Kopf von ei­ner Sei­te zur an­de­ren. Dann wur­den die Mus­keln schlaff, der Kopf still, und ein Seuf­zer, ein Seuf­zer tiefs­ter Er­leich­te­rung ent­floh sei­nen Lip­pen. Das Kinn fiel her­ab, die Ober­lip­pe hob sich, und zwei Rei­hen ta­bak­ge­bräun­ter Zäh­ne wur­de sicht­bar. Sei­ne Züge schie­nen in ei­nem teuf­li­schen Grin­sen über die Welt, die er ver­las­sen und über­lis­tet hat­te, er­starrt zu sein. Aber da ge­sch­ah et­was ganz Über­ra­schen­des: Wie ein Don­ner­schlag fuhr der Ka­pi­tän über den To­ten her. Flü­che pras­sel­ten in un­auf­halt­sa­mem Strom von sei­nen Lip­pen, und es wa­ren nicht etwa ge­wöhn­li­che Flü­che oder un­ziem­li­che Re­dens­ar­ten. Je­des sei­ner Wor­te war eine Got­tes­läs­te­rung, und der Wor­te wa­ren vie­le. Sie knis­ter­ten und krach­ten wie elek­tri­sche Fun­ken. Nie im Le­ben habe ich Ähn­li­ches ge­hört oder auch nur für, mög­lich ge­hal­ten. Bei mei­nen li­te­ra­ri­schen Nei­gun­gen und mei­nem Ohr für kräf­ti­ge Bil­der ge­noss ich, das muss ich ge­ste­hen, wie kein an­de­rer Zu­hö­rer die pracht­vol­le Le­ben­dig­keit und Kraft sei­ner got­tes­läs­ter­li­chen Er­güs­se. Ihre Ur­sa­che war, wenn ich recht ver­stand, dass der Mann, der der Steu­er­mann war, vor der Abrei­se aus San Fran­cis­co an ei­nem Ge­la­ge teil­ge­nom­men und dann die Rück­sichts­lo­sig­keit be­ses­sen hat­te, gleich zu Be­ginn der Rei­se zu ster­ben und Wolf Lar­sen kur­zer­hand zu ver­las­sen.

Ich brau­che, mei­nen Freun­den we­nigs­tens, nicht zu sa­gen, dass ich em­pört war. Flu­chen und Schimp­fen hat­ten mich stets ab­ge­sto­ßen. Ich fühl­te Mat­tig­keit, Schwä­che oder eher Schwin­del. Für mich war im­mer et­was Fei­er­li­ches, Wür­de­vol­les mit dem Tode ver­bun­den ge­we­sen, et­was Fried­vol­les, Hei­li­ges. In die­ser schreck­li­chen Ge­stalt war ich ihm noch nie be­geg­net. Wie ge­sagt: wäh­rend ich die Kraft der er­schre­cken­den Ent­la­dung aus Wolf Lar­sens Mun­de ge­noss, war ich gleich­zei­tig un­sag­bar ab­ge­sto­ßen. Der ver­sen­gen­de Strom ge­nüg­te, das Ant­litz der Lei­che wel­ken zu las­sen. Ich wäre nicht über­rascht ge­we­sen, wenn der schwar­ze Bart sich ge­kräu­selt hät­te und in hel­len Flam­men auf­ge­gan­gen wäre. Aber der Tote blieb un­an­ge­foch­ten. Er grins­te wei­ter sein höh­ni­sches Lä­cheln, zy­nisch und ver­ächt­lich. Er war Herr der Si­tua­ti­on.