Jack London – Gesammelte Werke

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Das ist doch, zum Teu­fel, dach­te er, un­be­dingt et­was Wirk­li­ches. Und er dreh­te sich des­halb wie­der auf die an­de­re Sei­te, um auch hier die wirk­li­che Um­ge­bung zu se­hen, die die Vi­si­on ihm vor­hin ver­hüllt hat­te. Aber der See lag im­mer noch schim­mernd da, und das Schiff war ge­nau­so deut­lich zu er­ken­nen wie vor­her. War es denn trotz al­lem et­was Wirk­li­ches? Er schloss die Au­gen län­ge­re Zeit und dach­te nach. Dann kam die Er­leuch­tung über ihn. Er war in nord­öst­li­cher Rich­tung ge­wan­dert, von der Dea­se-Was­ser­schei­de bis ins Cop­per­mi­ne-Tal. Die­ser schim­mern­de See war nichts an­de­res als das Po­lar­meer.

Das Schiff muss­te ein Wal­fän­ger sein, das von der Mün­dung des Ma­cken­zie ost­wärts, weit ost­wärts ab­ge­trie­ben war. Jetzt lag es in der Co­ro­na­ti­on-Bucht vor An­ker. Er ent­sann sich der Kar­te von der Hud­son-Bucht, die er vor lan­ger Zeit ein­mal ge­se­hen hat­te, und al­les er­schi­en ihm jetzt klar und ver­nünf­tig.

Er setz­te sich auf und über­leg­te, was er im Au­gen­blick tun könn­te. Die Fuß­lap­pen, die er sich aus sei­nen De­cken ge­macht hat­te, wa­ren schon ganz durch­lö­chert, und sei­ne Füße wa­ren un­ge­stal­te Klum­pen von ro­hem Fleisch. Sei­ne letz­te De­cke war auch schon längst da­hin. Ge­wehr und Mes­ser hat­te er eben­falls ver­lo­ren. Ir­gend­wo hat­te er auch sei­nen Hut lie­gen­las­sen und da­mit das Päck­chen Streich­höl­zer, das er un­ter das Band ge­steckt hat­te. Aber die, wel­che er auf sei­ner Brust trug, wa­ren in Si­cher­heit im Ta­baks­beu­tel, in Öl­pa­pier ge­wi­ckelt. Er sah auf die Uhr. Sie zeig­te, dass es be­reits elf war, und sie ging merk­wür­di­ger­wei­se im­mer noch. Er hat­te sie also of­fen­bar im­mer auf­ge­zo­gen.

Er war ru­hig und ge­fasst. Ob­gleich äu­ßerst kraft­los, emp­fand er doch kei­ne Schmer­zen. Er war nicht ein­mal hung­rig. Der Ge­dan­ke an Es­sen war ihm so­gar un­an­ge­nehm, und was er in Be­zug auf Es­sen tat, ge­sch­ah nur aus Ver­nunfts­grün­den. Er riss sich die Ho­sen bis zu den Kni­en ab und wi­ckel­te sie um sei­ne Füße. Auf ir­gend­ei­ne ge­heim­nis­vol­le Wei­se war es ihm ge­lun­gen, sei­nen Zinn­be­cher zu be­hal­ten. Er woll­te et­was hei­ßes Was­ser trin­ken, ehe er die Wan­de­rung nach dem Schif­fe an­trat, von der er be­reits vor­aus­sah, dass sie furcht­bar wer­den wür­de.

Sei­ne Be­we­gun­gen wa­ren sehr lang­sam. Er zit­ter­te, wie wenn er einen Schlag­an­fall ge­habt hät­te. Er woll­te auf­ste­hen, um tro­ckenes Moos zu sam­meln, muss­te sich aber da­mit be­gnü­gen, auf Hän­den und Fü­ßen her­um­zu­krie­chen. Ein­mal kroch er ganz nahe an den kran­ken Wolf her­an. Das Tier zog sich zö­gernd von ihm zu­rück, wäh­rend es sich um das Maul leck­te mit ei­ner Zun­ge, die kaum Kraft ge­nug be­saß, um sich über­haupt be­we­gen zu kön­nen. Der Mann sah, dass sie nicht die ge­wöhn­li­che ge­sun­de, rote Far­be hat­te. Sie war von ei­nem gelb­li­chen Braun und, so­weit er se­hen konn­te, mit ei­nem kör­ni­gen, halb­trock­nen Schleim be­legt.

Als er eine Men­ge hei­ßen Was­sers ver­schlun­gen hat­te, fand der Mann, dass er im­stan­de war, auf­zu­ste­hen und so­gar wei­ter­zu­wan­dern, je­den­falls so gut, wie man es von ei­nem ster­ben­den Man­ne er­war­ten durf­te. – Jede Mi­nu­te bei­na­he war er ge­nö­tigt haltz­u­ma­chen, um aus­zu­ru­hen. Sei­ne Schrit­te wa­ren schwach und un­si­cher, ge­nau wie die Schrit­te des Wol­fes, der ihm nachtrot­te­te. Und als die Nacht kam und die Fins­ter­nis die schim­mern­de See und das Schiff ver­hüll­te, wuss­te er, dass er ih­nen nur um vier Mei­len nä­her­ge­kom­men war.

Die gan­ze Nacht hör­te er das Schnau­fen und Hus­ten des kran­ken Wol­fes, und hin und wie­der ver­nahm er aus der Fer­ne des Quie­ken der Renn­tier­käl­ber. Rings um ihn war Le­ben ge­nug, aber es war ein star­kes, ge­sun­des Le­ben, höchst le­ben­dig und le­bens­lus­tig. Und er wuss­te auch, dass der kran­ke Wolf an der Fähr­te des kran­ken Men­schen kle­ben wür­de in der Hoff­nung, dass der Mann zu­erst ster­ben wür­de. Als er am Mor­gen auf­wach­te und die Au­gen öff­ne­te, sah er, wie der Wolf ihn mit trau­ri­gen und hung­ri­gen Au­gen an­starr­te. Das Tier hock­te da, die Rute zwi­schen den Bei­nen, wie ein elen­der und ver­zwei­fel­ter Kö­ter. In dem schnei­dend kal­ten Mor­gen­wind zit­ter­te und grins­te es mut­los, als der Mann es mit ei­ner Stim­me an­re­de­te, die kaum mehr als ein hei­se­res Flüs­tern war.

Die Son­ne stieg strah­lend em­por, und den gan­zen Mor­gen stol­per­te und strau­chel­te der Mann vor­wärts, dem Schiff auf der schim­mern­den See zu. Das Wet­ter war wun­der­voll. Es war der kur­ze Spät­som­mer die­ser Brei­ten­gra­de. Er dau­er­te viel­leicht eine Wo­che. Mor­gen oder über­mor­gen konn­te er schon vor­bei sein.

Am Nach­mit­tag stieß der Mann auf eine Fähr­te. Es war ein an­de­rer Mensch ge­we­sen, der nicht mehr ge­gan­gen, son­dern sich auf al­len vie­ren wei­ter­ge­schleppt hat­te. Er dach­te, dass es wohl Bill ge­we­sen sein müss­te, dach­te es aber dumpf und gleich­gül­tig. Er emp­fand nicht ein­mal ir­gend­wel­che Neu­gier­de da­bei. In Wirk­lich­keit hat­te ihn die Fä­hig­keit, sich zu er­re­gen und sich rüh­ren zu las­sen, längst ver­las­sen. Er war auch nicht mehr im­stan­de, Schmerz zu emp­fin­den. Ma­gen und Ner­ven hat­ten sich be­reits schla­fen ge­legt. Es war nur das Le­ben selbst, das ihn wei­ter­trieb. Er war sehr müde, sehr er­schöpft, aber er wei­ger­te sich zu ster­ben. Und weil das Le­ben in ihm sich zu ster­ben wei­ger­te, aß er im­mer noch Moos­bee­ren und El­rit­zen und trank hei­ßes Was­ser. Des­halb be­hielt er auch den kran­ken Wolf im Auge.

Er folg­te der Fähr­te des an­de­ren Man­nes, der auf al­len vie­ren wei­ter­ge­kro­chen war, bis er schließ­lich zu ei­ner Stel­le kam, wo die Fähr­te auf­hör­te. Hier fand er ei­ni­ge frisch ab­ge­nag­te Kno­chen und die Fähr­ten vie­ler Wöl­fe im feuch­ten Moos. Er fand auch einen elch­le­der­nen Beu­tel, der ge­nau wie der sei­ne war. Schar­fe Zäh­ne hat­ten ihn zum Teil zer­ris­sen. Er hob ihn auf, ob­gleich sein Ge­wicht fast zu schwer für sei­ne schwa­chen Fin­ger war. Bill hat­te das Gold also bis zum letz­ten mit­ge­schleppt. Ha, ha … Jetzt konn­te er den gu­ten Bill aus­la­chen! Er al­lein blieb am Le­ben und brach­te den Beu­tel mit dem Gol­de zu dem Schiff in der schim­mern­den See. Sein La­chen war hei­ser und ge­spens­ter­haft; es klang wie das Krä­hen ei­nes Ra­ben, und der Wolf schloss sich ihm an und be­gann me­lan­cho­lisch zu heu­len. Der Mann hör­te plötz­lich auf zu la­chen. Wie konn­te er über Bill la­chen – falls es wirk­lich Bill war –, wenn die­se Kno­chen, die so ro­sig und so sau­ber ab­ge­nagt aus­sa­hen, tat­säch­lich die Kno­chen Bills wa­ren.

Er wand­te sich ab. Gut, Bill hat­te ihn schmäh­lich im Stich ge­las­sen. Aber den­noch woll­te er das Gold nicht neh­men und auch nicht an Bills Kno­chen sau­gen! Bill wür­de es frei­lich ge­tan ha­ben, wenn die Lage die um­ge­kehr­te ge­we­sen wäre, über­leg­te er, wäh­rend er wei­ter­hum­pel­te.

Er ge­lang­te zu ei­nem grö­ße­ren Tüm­pel. Als er sich dar­über beug­te, um nach El­rit­zen zu se­hen, riss er sei­nen Kopf schnell zu­rück, als ob er ge­sto­chen wor­den wäre. Er hat­te sein ei­ge­nes Spie­gel­bild im Was­ser ge­se­hen. So gräss­lich war es, dass sei­ne Emp­find­sam­keit, die sonst ein­ge­schla­fen war, lan­ge ge­nug wach blieb, um einen furcht­ba­ren Ein­druck auf ihn zu ma­chen. Es wa­ren drei El­rit­zen im Tüm­pel, der in­des­sen zu groß war, um ihn tro­cken­le­gen zu kön­nen. Und nach­dem er ver­schie­de­ne ver­geb­li­che Ver­su­che ge­macht hat­te, sie zu fan­gen, ver­zich­te­te er dar­auf. Er hat­te näm­lich Angst, dass er in­fol­ge sei­ner schreck­li­chen Er­schöp­fung selbst hin­ein­fal­len und er­trin­ken könn­te. Und aus dem­sel­ben Grun­de wag­te er es auch nicht, sein Le­ben dem Fluss an­zu­ver­trau­en, ob­gleich er sonst auf ei­nem der vie­len Stäm­me, die mit der Strö­mung trie­ben, den Strom hät­te hin­a­b­rei­ten kön­nen.

An die­sem Tage ver­rin­ger­te sich die Ent­fer­nung zwi­schen ihm und dem Schif­fe um drei Mei­len, am nächs­ten nur um zwei – denn jetzt kroch er auf al­len vie­ren, wie Bill es ge­tan. Und als der fünf­te Tag ver­gan­gen war, be­fand er sich noch sie­ben Mei­len vom Schiff ent­fernt und war sich dar­über klar, dass er höchs­tens eine Mei­le am Tage zu­rück­le­gen konn­te. Der Spät­som­mer dau­er­te im­mer noch an, und er kroch ab­wech­selnd und ruh­te sich er­schöpft aus. Und die gan­ze Zeit hin­durch hus­te­te und ächz­te der kran­ke Wolf hin­ter ihm her. All­mäh­lich wa­ren auch sei­ne Knie zu blu­ti­gen Fleisch­klum­pen wie die Füße ge­wor­den, und ob­gleich er ein Stück von sei­nem Hemd ab­riss und sie da­mit ver­band, hin­ter­ließ er doch eine rote Fähr­te auf Moos und Stei­nen. Als er ein­mal einen Blick zu­rück­warf, sah er, wie der Wolf gie­rig die blu­ti­gen Spu­ren ab­leck­te, und er­kann­te klar und deut­lich, wie es ihm er­ge­hen wür­de … wenn … ja, wenn er nicht selbst den Wolf er­wi­sch­te. Dann be­gann eine so grau­en­haf­te Tra­gö­die des Le­bens, wie sie je ge­spielt wor­den ist: Ein kran­ker Mann, der auf al­len vie­ren kriecht, ein kran­ker Wolf, der hin­ter­her hum­pelt. Zwei ster­ben­de Ge­schöp­fe, die ihre fast leb­lo­sen Kör­per durch die Ein­öde schlep­pen und sich ge­gen­sei­tig nach dem elen­den Rest von Le­ben trach­ten.

Wäre es ein ge­sun­der Wolf ge­we­sen, es hät­te den Mann gar nicht so ge­stört. Aber der Ge­dan­ke, dass er Fut­ter für den Ma­gen die­ses ek­li­gen und fast schon ver­reck­ten Ge­schöp­fes wer­den wür­de, stieß ihn ab. Sei­ne Ge­dan­ken be­gan­nen wie­der wei­te Wege zu wan­deln. Hal­lu­zi­na­tio­nen über­wäl­tig­ten ihn, und die Au­gen­bli­cke kla­ren Be­wusst­seins wur­den im­mer klei­ner.

Ein Schnau­fen dicht ne­ben sei­nem Ohr weck­te ihn aus ei­ner Ohn­macht. Es war der Wolf, der jetzt un­ge­schickt zu­rück­sprang, da­bei das Gleich­ge­wicht ver­lor und er­schöpft hin­fiel. Es sah lä­cher­lich aus, aber der Mann war nicht in der rech­ten Stim­mung, sich dar­über zu amü­sie­ren. Eben­so­we­nig emp­fand er ir­gend­wel­che Angst. Das Sta­di­um der Furcht hat­te er hin­ter sich. Aber sein Ge­hirn war wie­der klar ge­wor­den, und er blieb lie­gen und über­leg­te. Das Schiff war nur vier Mei­len ent­fernt. Er konn­te es ganz deut­lich se­hen, wenn er sich den Ne­bel aus den Au­gen rieb, und er sah auch die wei­ßen Se­gel ei­nes klei­nen Boo­tes, wel­ches das Was­ser des schim­mern­den Sees durch­schnitt. Er wuss­te in­des­sen, dass er nie im­stan­de sein wür­de, die­se letz­ten vier Mei­len zu krie­chen. Und doch war er trotz die­ses ver­häng­nis­vol­len Wis­sens – voll­stän­dig ru­hig … Er wuss­te so­gar, dass er nicht ein­mal eine hal­be Mei­le zu krie­chen ver­moch­te. Und den­noch wünsch­te er, am Le­ben zu blei­ben. Es schi­en ihm ganz irr­sin­nig, ster­ben zu wol­len, nach­dem er so viel aus­ge­hal­ten hat­te. Das Schick­sal stell­te zu große An­sprü­che an ihn. Und selbst jetzt; da er dem Tode nahe war, woll­te er nicht ster­ben. Es war frei­lich der rei­ne Wahn­sinn, aber den­noch ver­ach­te­te er den Tod noch in dem Au­gen­blick, da er ihn am Kra­gen pack­te. Er wei­ger­te sich, zu ster­ben.

 

Er schloss die Au­gen und leg­te sich mit un­end­li­cher Vor­sicht zu­recht. Er nahm sich zu­sam­men, um nicht in die quä­len­de Ohn­macht zu sin­ken, die wie eine stei­gen­de Flut alle Quel­len sei­nes We­sens über­schwemm­te. Es war fast wie das Meer, die­ses töd­li­che Ohn­machts­ge­fühl, das im­mer stieg und stieg und Stück für Stück sein Be­wusst­sein ver­schlang. Zu­wei­len tauch­te er voll­kom­men dar­in un­ter und schwamm mit un­si­che­ren Schlä­gen durch das große Ver­ges­sen. Und dann ge­lang es ihm dank ir­gend­ei­nem selt­sa­men Ele­ment sei­ner See­le im­mer wie­der, einen neu­en Strei­fen von Wil­len zu fin­den, so­dass er wie­der mit stär­ke­ren Zü­gen weiter­schwim­men konn­te.

Un­be­weg­lich blieb er auf dem Rücken lie­gen. Er konn­te den Atem des Wol­fes hö­ren, der sich lang­sam nä­her schlich. Im­mer nä­her kam das Tier, im­mer nä­her, ob­gleich es eine Ewig­keit dau­er­te. Aber er rühr­te sich nicht. Jetzt war der Wolf an sei­nem Ohr. Die raue tro­ckene Zun­ge rieb wie Sand­pa­pier die Haut sei­ner Wan­ge. Sei­ne Hän­de stie­ßen hin – oder je­den­falls woll­te er, dass sie hin­s­tie­ßen. Die Fin­ger wa­ren ge­krümmt wie die Kral­len ei­nes Raub­vo­gels – aber sie schlos­sen sich nur um die lee­re Luft. Schnel­lig­keit und Ent­schluss er­for­dern Stär­ke, und der Mann, der hier am Bo­den lag, be­saß kei­ne mehr.

Die Ge­duld des Wol­fes war er­schüt­ternd. Aber die des Man­nes war nicht we­ni­ger un­heim­lich. Ei­nen hal­b­en Tag blieb er un­be­weg­lich lie­gen, über­wand die Be­wusst­lo­sig­keit, die sich an ihn her­an­sch­lich, und war­te­te auf dies Ge­schöpf, das sich an ihm sät­ti­gen woll­te – und an dem er sich zu sät­ti­gen ent­schlos­sen war. Hin und wie­der quoll die Woge der Ohn­macht über ihn her­ein, und er träum­te lan­ge Träu­me. Aber stets – ob wa­chend oder träu­mend – war­te­te er auf das Schnau­fen des Tie­res und die raue Lieb­ko­sung der Zun­ge.

Er hör­te nicht ein­mal das At­men des Tie­res und glitt nur lang­sam aus ir­gend­ei­nem Traum auf, um die Zun­ge an sei­ner Hand zu spü­ren. Er war­te­te im­mer noch. Die Pfo­ten be­gan­nen lei­se zu­zu­drücken, und der Druck wur­de stär­ker … Der Wolf spann­te sei­ne letz­ten Kräf­te an, um die Zäh­ne in die Beu­te zu set­zen, auf die er so lan­ge ge­war­tet hat­te. Aber auch der Mann hat­te lan­ge ge­war­tet, und die eine er­schöpf­te Hand schloss sich um den Kie­fer. Der Wolf konn­te nur schwach kämp­fen, aber die Hand hat­te auch nicht viel Kraft. Des­halb ge­lang es der an­de­ren Hand nur sehr schwer­fäl­lig und lang­sam, sich zu ei­nem zwei­ten Griff zu he­ben. Fünf Mi­nu­ten dar­auf ruh­te das gan­ze Ge­wicht des Man­nes auf dem Vor­der­teil des Wol­fes. Die Hän­de hat­ten nicht Kraft ge­nug, das Tier zu er­wür­gen, aber der Mann drück­te sein Ge­sicht dicht an die Keh­le des Wol­fes, und sein Mund füll­te sich mit Haa­ren. Als eine hal­be Stun­de ver­gan­gen war, fühl­te er ein war­mes Rie­seln durch sei­nen Hals. An­ge­nehm war es nicht. Es war un­ge­fähr, wie wenn er ge­schmol­ze­nes Blei in den Ma­gen goss, und nur eine star­ke Wil­lens­an­span­nung er­mög­lich­te es ihm. Da­rauf dreh­te der Mann sich auf den Rücken und schlief ein.

An Bord des Wal­fän­ger­schif­fes »Bed­ford« be­fan­den sich die Mit­glie­der ei­ner wis­sen­schaft­li­chen Ex­pe­di­ti­on. Vom Deck sa­hen sie ein selt­sa­mes Ding am Ufer. Es be­weg­te sich den Strand hin­un­ter auf das Schiff zu. Sie wa­ren nicht im­stan­de fest­zu­stel­len, was es sein moch­te, und da sie For­scher wa­ren, klet­ter­ten sie in das Groß­boot, das längs­seits am Schif­fe lag, und gin­gen an Land, es sich an­zu­se­hen. Und da er­blick­ten sie et­was, das le­ben­dig war, aber kaum An­spruch dar­auf er­he­ben konn­te, ein Mensch ge­nannt zu wer­den. Es war blind und be­wusst­los. Es kroch am Bo­den wie ein un­heim­li­ches Ge­würm. Die meis­ten An­stren­gun­gen, die es mach­te, wa­ren ver­geb­lich, aber es war voll zä­her Ener­gie, und es wand und krümm­te und schlän­gel­te sich wei­ter, so­dass es viel­leicht ein hal­b­es Dut­zend Schrit­te in der Stun­de wei­ter­kam.

Drei Stun­den spä­ter lag der Mann in ei­ner Koje des Wal­fän­gers »Bed­ford«. Trä­nen ström­ten über sei­ne aus­ge­mer­gel­ten Wan­gen, als er be­rich­te­te, wer er war, und was er durch­ge­macht hat­te. Er schwätz­te auch un­zu­sam­men­hän­gen­des Zeug von ei­ner Mut­ter, von dem son­ni­gen Ka­li­for­ni­en und von ei­nem Heim zwi­schen Oran­gen­hai­nen und Blu­men.

Es dau­er­te nicht mehr vie­le Tage, so saß er mit den Ge­lehr­ten und den Of­fi­zie­ren des Schif­fes bei Tisch. Er mach­te ein ganz dum­mes Ge­sicht, als er die vie­len Ge­rich­te sah, und folg­te mit ängst­li­chen Bli­cken je­dem Bis­sen, der im Mun­de ei­nes an­de­ren ver­schwand. Und je­des Mal, wenn der Bis­sen ver­schwun­den war, kam ein selt­sa­mer Aus­druck von tie­fem Be­dau­ern in sei­ne Au­gen. Sein Ver­stand war völ­lig in­takt, aber den­noch hass­te er bei je­der Mahl­zeit die an­de­ren Män­ner. Er wur­de von der Furcht ge­plagt, dass die Le­bens­mit­tel nicht aus­rei­chen könn­ten. Er frag­te den Ka­pi­tän, den Koch, den Ka­jüts­jun­gen über die Le­bens­mit­tel­be­stän­de aus. Sie ga­ben ihm un­zäh­li­ge Male be­ru­hi­gen­de Er­klä­run­gen. Aber er hat­te nicht den Mut, ih­nen zu glau­ben, und bat hän­de­rin­gend, den Vor­rats­raum be­sich­ti­gen und mit ei­ge­nen Au­gen die Be­stän­de fest­stel­len zu dür­fen.

Man sah, dass der Mann im­mer di­cker wur­de. Er nahm tat­säch­lich mit je­dem Tag an Um­fang zu. Die Ge­lehr­ten schüt­tel­ten die Köp­fe und ver­such­ten al­ler­lei Er­klä­run­gen. Sie setz­ten sei­ne Ra­tio­nen bei den Mahl­zei­ten her­ab, aber den­noch wur­de er im­mer di­cker, und man konn­te se­hen, wie sein Kör­per in un­heim­li­cher­wei­se un­ter dem Hemd an­schwoll.

Die Ma­tro­sen grins­ten. Sie wuss­ten näm­lich Be­scheid. Und als die For­scher ihn über­wa­chen lie­ßen, dau­er­te es nicht lan­ge, so wuss­ten sie auch Be­scheid. Sie sa­hen, wie er sich nach dem Früh­stück nach vorn schlich und sich wie ein Bett­ler mit aus­ge­streck­ter Hand ei­nem Ma­tro­sen nä­her­te. Der See­mann grins­te und reich­te ihm einen Bro­cken von ei­nem Zwie­back. Er nahm ihn gie­rig, be­trach­te­te ihn, wie ein Ar­mer einen Gold­klum­pen be­trach­ten wür­de, und steck­te ihn un­ter sein Hemd. Von den an­de­ren grin­sen­den Ma­tro­sen be­kam er ähn­li­che Ge­schen­ke.

Die For­scher wa­ren dis­kret und lie­ßen ihn ge­wäh­ren. In al­ler Stil­le un­ter­such­ten sie aber sei­ne Koje. Und da ent­deck­ten sie, dass die Koje mit Zwiebä­cken ge­füt­tert war. Die Ma­trat­zen wa­ren mit Zwiebä­cken aus­ge­stopft. Je­der Win­kel und jede Rit­ze war mit Zwiebä­cken aus­ge­füllt. Und doch war sein Ver­stand völ­lig in Ord­nung. Er woll­te sich nur ge­gen die Mög­lich­keit ei­nes neu­en Ver­hun­gerns si­che­ren – das war al­les. Die For­scher er­klär­ten, dass er ge­sund wer­den wür­de. Und er war es auch, schon ehe die »Bed­ford« in der Bucht von San Fran­zis­ko vor An­ker ging.

Der Seewolf
Erster Teil

1

Ich weiß kaum, wo be­gin­nen, wenn ich zu­wei­len auch im Scherz Char­ley Fu­ru­seth alle Schuld gebe. Er be­saß ein Som­mer­haus auf dem Lan­de, in Mill Val­ley, im Schat­ten des Ta­mal­pais, be­zog es aber nur, wenn er sich die Win­ter­mo­na­te ver­trei­ben und, um aus­zu­span­nen, Nietz­sche und Scho­pen­hau­er le­sen woll­te. Kam der Som­mer, so gab er ei­nem hei­ßen, stau­bi­gen Da­sein in der Stadt mit un­abläs­si­ger Ar­beit den Vor­zug. Wäre es nicht mei­ne Ge­wohn­heit ge­we­sen, ihn all­wö­chent­lich von Sonn­abend nach­mit­tag bis Mon­tag mor­gen zu be­su­chen, so hät­te mich eben die­ser Ja­nu­ar-Mon­tag­mor­gen nicht auf der Bucht von San Fran­cis­co ge­se­hen.

Das Schiff, auf dem ich mich be­fand, bot alle Si­cher­heit. Die ›Mar­ti­ne­z‹ war eine neue Dampf­fäh­re, die ihre vier­te oder fünf­te Fahrt auf der Rou­te Sau­sa­li­to-San Fran­cis­co zu­rück­leg­te. Aber der dich­te Ne­bel, der die Bucht wie mit ei­ner De­cke über­zog, und von dem ich als Lan­drat­te kei­ne rech­te Vor­stel­lung hat­te, war ge­fahr­dro­hend. In der Tat er­in­ne­re ich mich noch der sanf­ten Er­re­gung, mit der ich mei­nen Platz vorn auf dem Ober­deck ge­ra­de un­ter­halb des Lot­sen­hau­ses ein­ge­nom­men hat­te, wäh­rend die Ge­heim­nis­se des Ne­bels mei­ne Fan­ta­sie um­span­nen. Es weh­te eine fri­sche Bri­se, und eine Zeit lang be­fand ich mich al­lein, in feuch­te Fins­ter­nis gehüllt – al­lein und doch nicht al­lein, denn ich hat­te das un­be­stimm­te Ge­fühl, dass sich der Lot­se und noch ein We­sen, das ich für den Ka­pi­tän hielt, oben im Glas­hau­se über mei­nem Kop­fe be­fan­den.

Ich dach­te dar­an, wie be­quem die Ar­beits­tei­lung war, die mich der Mühe ent­hob, Ne­bel, Win­de, Ge­zei­ten und Schiff­fahrts­kun­de zu stu­die­ren, und mir doch er­laub­te, mei­nen Freund jen­seits der Bucht zu be­su­chen. Ich stell­te Be­trach­tun­gen über den Vor­teil der Spe­zia­li­sie­rung des Men­schen an. Das Son­der­wis­sen ei­nes Lot­sen und ei­nes Ka­pi­täns ge­nüg­te für vie­le Tau­sen­de, die eben­so­we­nig von See und Schiff­fahrt ver­stan­den wie ich. Und ich wie­der­um hat­te es nicht nö­tig, mei­ne Kräf­te auf das Stu­di­um un­zäh­li­ger Din­ge zu ver­schwen­den, son­dern konn­te mich auf ei­ni­ge we­ni­ge kon­zen­trie­ren, wie au­gen­blick­lich auf eine Un­ter­su­chung der Stel­lung Poes zu der üb­ri­gen ame­ri­ka­ni­schen Li­te­ra­tur – wor­über ich, ne­ben­bei be­merkt, ge­ra­de einen Auf­satz in der Zeit­schrift ›At­lan­ti­c‹ ge­schrie­ben hat­te. Als ich an Bord ge­kom­men war, hat­te ich beim Durch­schrei­ten der Ka­jü­te einen star­ken Herrn mit den Au­gen ver­schlun­gen, der in die, ›At­lan­ti­c‹ und of­fen­bar ge­ra­de in mei­nen Auf­satz ver­tieft war. Und auch hier wie­der das Sys­tem der Ar­beits­tei­lung: Das Son­der­wis­sen von Lot­sen und Ka­pi­tän brach­ten den star­ken Herrn si­cher von Sau­sa­li­to nach San Fran­cis­co und er­laub­ten ihm da­bei, sich an den Früch­ten mei­nes Son­der­wis­sens über Poe zu la­ben.

Ein Mann mit ro­tem Ge­sicht un­ter­brach mei­ne Be­trach­tun­gen. Er warf ge­räusch­voll die Ka­jü­ten­tür hin­ter sich zu und stapf­te schwer­fäl­lig aufs Deck hin­aus. Er warf einen ra­schen Blick auf das Lot­sen­haus, be­trach­te­te den Ne­bel, stapf­te hin und zu­rück über das Deck (es sah aus, als hät­te er künst­li­che Bei­ne) und blieb end­lich spreiz­bei­nig und mit ei­nem Aus­druck her­ber Freu­de im Ge­sicht ne­ben mir ste­hen. Ich ging wohl nicht fehl in mei­ner Ver­mu­tung, dass er sei­ne Tage auf dem Mee­re ver­bracht hat­te.

»Scheuß­li­ches Wet­ter! Ein Wet­ter, das ei­nem vor­zei­tig graue Haa­re ver­schafft!« rief er und nick­te in der Rich­tung des Lot­sen­hau­ses.

»Ich hät­te nicht ge­glaubt, dass hier be­son­de­re Kunst nö­tig sei!« ant­wor­te­te ich. »Es sieht so ein­fach aus wie das Abc. Der Kom­pass gibt die Rich­tung an. Ent­fer­nung und Fahr­ge­schwin­dig­keit sind be­kannt. Ich soll­te mei­nen, dass al­les mit ma­the­ma­ti­scher Ge­nau­ig­keit zu be­rech­nen wäre!«

»Kunst!« schnaub­te er. »Ein­fach wie das Abc! Ma­the­ma­ti­sche Ge­nau­ig­keit!«

Er schi­en sich zu re­cken, stemm­te sich nach hin­ten ge­gen den Wind und starr­te mich an: »Wie steht es zum Bei­spiel mit Ebbe und Flut hier im ›Gol­de­nen Tor‹?« frag­te oder brüll­te er viel­mehr. »Wel­che Fahrt macht die Ebbe? Wie läuft die Strö­mung, he? Bit­te, hor­chen Sie mal! Die Glo­cke ei­ner An­ker­bo­je. Wir sind ge­ra­de dar­über! Mer­ken Sie, wie wir den Kurs än­dern?«

 

Aus dem Ne­bel er­klang das kla­gen­de Stöh­nen ei­ner Schiffs­glo­cke, und ich sah, wie der Lot­se das Steu­er­rad mit großer Schnel­lig­keit dreh­te. Das Läu­ten, das eben noch vor uns zu tö­nen schi­en, kam jetzt von der Sei­te. Un­se­re ei­ge­ne Schiffs­pfei­fe fauch­te hei­ser, und von Zeit zu Zeit quol­len die Töne an­de­rer Pfei­fen aus dem Ne­bel her­vor.

»Das ist eine Fäh­re!« sag­te der Frem­de, als jetzt rechts Pfei­fen er­tön­te. »Und da! Hö­ren Sie? Da bläst ei­ner mit dem Mun­de! Höchst­wahr­schein­lich ein klei­ner Scho­ner. Auf­pas­sen, Mr. Scho­ner! Ach, hab’ ich’s nicht ge­dacht! Jetzt ist bei de­nen die Höl­le los!«

Die un­sicht­ba­re Fäh­re stieß ein Ne­bel­horn­si­gnal nach dem an­de­ren aus, und das klei­ne Horn tu­te­te schre­cken­er­re­gend.

»Und jetzt be­wei­sen sie sich ge­gen­sei­tig ihre Hochach­tung und ver­su­chen klar­zu­kom­men«, fuhr der Mann mit dem ro­ten Ge­sicht fort, als das ra­sen­de Pfei­fen auf­hör­te.

Sein Ge­sicht glänz­te, sei­ne Au­gen blitz­ten vor Auf­re­gung, wäh­rend er mir die Lau­te der Ne­bel­hör­ner und Si­re­nen in die mensch­li­che Spra­che über­setz­te. »Das da links ist eine Dampf­si­re­ne. Und hö­ren Sie bloß die­sen Bur­schen, der schreit, als säße ihm ein Frosch in der Keh­le: mei­ner Mei­nung nach ein Mo­tor­scho­ner, der ge­gen die Ebbe an­kämpft!«

Eine schril­le klei­ne Pfei­fe, die wie ver­rückt pfiff, war ge­ra­de vor uns und an­schei­nend sehr nahe. Auf der ›Mar­ti­ne­z‹ wur­den Gongs an­ge­schla­gen.

Un­se­re Schau­fel­rä­der hiel­ten an, ihr Puls­schlag starb, setz­te dann wie­der ein. Die schril­le klei­ne Pfei­fe vor­aus klang wie das Zir­pen ei­ner Gril­le in dem Ge­schrei großer Tie­re, schoss seit­wärts durch den Ne­bel und wur­de schnell schwach und im­mer schwä­cher. Durch einen Blick ver­such­te ich mei­nen Ge­fähr­ten um Auf­klä­rung.

»Den sticht der Ha­ber«, sag­te er. »Ich wünsch­te fast, wir hät­ten den klei­nen Ham­mel in den Grund ge­bohrt! Die­se Ben­gels ma­chen die Ver­wir­rung nur noch är­ger. Und wozu sind sie nüt­ze? Da ist Gott weiß was für ein Esel an Bord, fährt von Pon­ti­us zu Pila­tus, macht mit sei­ner Pfei­fe einen Höl­len­lärm und er­zählt der gan­zen Welt: Passt auf, hier kom­me ich! Und da­bei kann er sel­ber nicht auf­pas­sen. Die Ker­le ha­ben auch nicht das ge­rings­te An­stands­ge­fühl!«

Sein un­be­rech­tig­ter Wut­aus­bruch be­lus­tig­te mich sehr, und wäh­rend er in sei­ner Em­pö­rung auf und ab stapf­te, über­ließ ich mich wie­der der Ro­man­tik des Ne­bels. Und wahr­lich: Ro­man­tisch war die­ser Ne­bel, wie der graue Schat­ten un­end­li­cher Mys­te­ri­en, die über die­sem da­hinglei­ten­den Fleck­chen Erde brü­te­ten, wäh­rend die Men­schen, win­zi­ge Son­nen­stäub­chen und -fünk­chen, zu krank­haf­tem Wohl­ge­fal­len an der Ar­beit ver­dammt, ihre Holz- und Stahl­me­cha­nis­men durch das Herz die­ses Mys­te­ri­ums zu ja­gen such­ten, sich blind­lings ih­ren Weg durchs Un­sicht­ba­re bahn­ten und sich Wor­te der Zu­ver­sicht zu­schri­en, ob­gleich ih­nen das Herz vor Un­ge­wiss­heit und Furcht zit­ter­te. Das La­chen mei­nes Ge­fähr­ten brach­te mich wie­der zu mir. Auch ich hat­te ge­tas­tet und ge­zap­pelt, wäh­rend ich mir ein­bil­de­te, scharf­sich­tig das Mys­te­ri­um zu durch­schau­en.

»Hol­la! Da kommt uns je­mand ins Ge­he­ge!« sag­te er. »Hö­ren Sie? Er kommt schnell. Gera­de vor­aus! Ich wet­te, er hört uns noch nicht. Es weht in der falschen Rich­tung.«

Die fri­sche Bri­se kam uns ge­ra­de ent­ge­gen, und ich hör­te deut­lich die Schiffs­pfei­fe ein we­nig seit­wärts und da­bei dicht vor uns.

»Dampf­fäh­re?« frag­te ich.

Er nick­te und füg­te dann hin­zu: »Wür­de sonst nicht so wie nach der Richt­schnur lau­fen!« Er lach­te un­ter­drückt. »Da oben wer­den sie un­ru­hig.«

Ich blick­te hin­auf. Der Ka­pi­tän hat­te Kopf und Schul­tern zum Lot­sen­haus her­aus­ge­steckt und starr­te ge­spannt in den Ne­bel, als könn­te er ihn durch blo­ße Wil­lens­an­stren­gung durch­drin­gen. Sein Ge­sicht war un­ru­hig, wie jetzt auch das mei­nes Ge­fähr­ten, der an die Re­ling ge­stapft war und eben­so ge­spannt in die Rich­tung starr­te, aus der er die un­mit­tel­ba­re Ge­fahr ver­mu­te­te.

Dann kam es. Es ge­sch­ah mit un­fass­ba­rer Schnel­lig­keit. Der Ne­bel wich, wie von ei­nem Keil ge­spal­ten. Der Bug ei­nes Dampf­schif­fes tauch­te auf, zu bei­den Sei­ten Ne­bel­fet­zen mit­zie­hend wie See­gras auf der Schnau­ze des Le­via­thans. Ich konn­te das Lot­sen­haus se­hen und be­merk­te einen weiß­bär­ti­gen Mann, der sich, auf die Ell­bo­gen ge­stützt, weit her­aus­lehn­te. Er trug eine blaue Uni­form, und ich ent­sin­ne mich noch, wie sau­ber und freund­lich er aus­sah. Sei­ne Ruhe wirk­te un­ter die­sen Um­stän­den furcht­bar. Er beug­te sich dem Ge­schick, mar­schier­te Schul­ter an Schul­ter mit ihm und be­rech­ne­te kühl den Schlag. Wie er so da­lehn­te, warf er uns einen ru­hi­gen und nach­denk­li­chen Blick zu, als be­rech­ne er ge­nau den Punkt des Zu­sam­men­sto­ßes, und nahm nicht die ge­rings­te No­tiz von un­serm Lot­sen, der, blass vor Wut, schrie: »Nun habt ih­r’s fer­tig­ge­bracht!«

Als ich mich um­sah, nahm ich wahr, dass die Be­mer­kung zu ein­leuch­tend war, um noch ei­ner Er­läu­te­rung zu be­dür­fen.

»Hal­ten Sie sich an ir­gend et­was fest«, sag­te der Mann mit dem ro­ten Ge­sicht zu mir. Er pol­ter­te nicht mehr, es schi­en, als wäre er von der über­na­tür­li­chen Ruhe des an­de­ren an­ge­steckt. »Hö­ren Sie das Krei­schen der Frau­en«, sag­te er grim­mig – fast bit­ter. Mir kam es vor, als hät­te er das al­les schon ein­mal durch­ge­macht. Ehe ich noch sei­nen Rat be­fol­gen konn­te, war der Zu­sam­men­stoß schon er­folgt. Wir muss­ten wohl ge­ra­de mitt­schiffs ge­trof­fen wor­den sein, denn ich sah nichts, und der frem­de Damp­fer war schon aus mei­nem Ge­sichts­kreis ge­glit­ten. Die ›Mar­ti­ne­z‹ kreng­te stark, das Holz­werk krach­te und split­ter­te. Ich wur­de auf das feuch­te Deck ge­schleu­dert, und be­vor ich mich auf­rich­ten konn­te, hör­te ich auch schon das Krei­schen der Frau­en. Es wa­ren die un­be­schreib­lichs­ten, haar­sträu­bends­ten Töne, die ich je ge­hört, und mich pack­te pa­ni­scher Schre­cken. Mir fiel ein, dass in der Ka­jü­te ein Hau­fen Ret­tungs­gür­tel lag, ich wur­de aber von der wild­stür­men­den Men­ge Män­ner und Frau­en an der Tür auf­ge­hal­ten und zu­rück­ge­drängt. Ich weiß nicht mehr, was in den nächs­ten Mi­nu­ten ge­sch­ah, wenn ich auch die deut­li­che Vor­stel­lung habe, dass ich von den Ge­stel­len an Deck Ret­tungs­gür­tel her­un­ter­riss, die der Mann mit dem ro­ten Ge­sicht den hys­te­ri­schen Frau­en um­leg­te. Die­ses Bild ist mei­nem Ge­dächt­nis so scharf und deut­lich ein­ge­prägt wie ein wirk­li­ches Bild. Es ist ein Ge­mäl­de, das ich im­mer noch vor mir sehe: die za­cki­gen Rän­der des Lo­ches in der Ka­jü­ten­wand, durch das der graue Ne­bel her­ein­wir­bel­te und kreis­te; die lee­ren Sit­ze, auf de­nen al­les her­um­lag, was den Ein­druck plötz­li­cher wil­der Flucht er­weck­te: Pa­ke­te, Hand­täsch­chen, Schir­me, Über­zie­her; der star­ke Herr, der mei­nen Auf­satz stu­diert hat­te und jetzt, in Kork und Se­gel­lei­nen ein­ge­schlos­sen, die Zeit­schrift noch in der Hand hielt und mich mit ein­tö­ni­ger Dring­lich­keit frag­te, ob ich an eine Ge­fahr glau­be; der Mann mit dem ro­ten Ge­sicht, der schwer­fäl­lig auf sei­nen künst­li­chen Bei­nen stapf­te und tap­fer ei­ner Frau nach der an­de­ren den Ret­tungs­gür­tel um­schnall­te, und schließ­lich das Toll­haus krei­schen­der Wei­ber.