Das ist doch, zum Teufel, dachte er, unbedingt etwas Wirkliches. Und er drehte sich deshalb wieder auf die andere Seite, um auch hier die wirkliche Umgebung zu sehen, die die Vision ihm vorhin verhüllt hatte. Aber der See lag immer noch schimmernd da, und das Schiff war genauso deutlich zu erkennen wie vorher. War es denn trotz allem etwas Wirkliches? Er schloss die Augen längere Zeit und dachte nach. Dann kam die Erleuchtung über ihn. Er war in nordöstlicher Richtung gewandert, von der Dease-Wasserscheide bis ins Coppermine-Tal. Dieser schimmernde See war nichts anderes als das Polarmeer.
Das Schiff musste ein Walfänger sein, das von der Mündung des Mackenzie ostwärts, weit ostwärts abgetrieben war. Jetzt lag es in der Coronation-Bucht vor Anker. Er entsann sich der Karte von der Hudson-Bucht, die er vor langer Zeit einmal gesehen hatte, und alles erschien ihm jetzt klar und vernünftig.
Er setzte sich auf und überlegte, was er im Augenblick tun könnte. Die Fußlappen, die er sich aus seinen Decken gemacht hatte, waren schon ganz durchlöchert, und seine Füße waren ungestalte Klumpen von rohem Fleisch. Seine letzte Decke war auch schon längst dahin. Gewehr und Messer hatte er ebenfalls verloren. Irgendwo hatte er auch seinen Hut liegenlassen und damit das Päckchen Streichhölzer, das er unter das Band gesteckt hatte. Aber die, welche er auf seiner Brust trug, waren in Sicherheit im Tabaksbeutel, in Ölpapier gewickelt. Er sah auf die Uhr. Sie zeigte, dass es bereits elf war, und sie ging merkwürdigerweise immer noch. Er hatte sie also offenbar immer aufgezogen.
Er war ruhig und gefasst. Obgleich äußerst kraftlos, empfand er doch keine Schmerzen. Er war nicht einmal hungrig. Der Gedanke an Essen war ihm sogar unangenehm, und was er in Bezug auf Essen tat, geschah nur aus Vernunftsgründen. Er riss sich die Hosen bis zu den Knien ab und wickelte sie um seine Füße. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise war es ihm gelungen, seinen Zinnbecher zu behalten. Er wollte etwas heißes Wasser trinken, ehe er die Wanderung nach dem Schiffe antrat, von der er bereits voraussah, dass sie furchtbar werden würde.
Seine Bewegungen waren sehr langsam. Er zitterte, wie wenn er einen Schlaganfall gehabt hätte. Er wollte aufstehen, um trockenes Moos zu sammeln, musste sich aber damit begnügen, auf Händen und Füßen herumzukriechen. Einmal kroch er ganz nahe an den kranken Wolf heran. Das Tier zog sich zögernd von ihm zurück, während es sich um das Maul leckte mit einer Zunge, die kaum Kraft genug besaß, um sich überhaupt bewegen zu können. Der Mann sah, dass sie nicht die gewöhnliche gesunde, rote Farbe hatte. Sie war von einem gelblichen Braun und, soweit er sehen konnte, mit einem körnigen, halbtrocknen Schleim belegt.
Als er eine Menge heißen Wassers verschlungen hatte, fand der Mann, dass er imstande war, aufzustehen und sogar weiterzuwandern, jedenfalls so gut, wie man es von einem sterbenden Manne erwarten durfte. – Jede Minute beinahe war er genötigt haltzumachen, um auszuruhen. Seine Schritte waren schwach und unsicher, genau wie die Schritte des Wolfes, der ihm nachtrottete. Und als die Nacht kam und die Finsternis die schimmernde See und das Schiff verhüllte, wusste er, dass er ihnen nur um vier Meilen nähergekommen war.
Die ganze Nacht hörte er das Schnaufen und Husten des kranken Wolfes, und hin und wieder vernahm er aus der Ferne des Quieken der Renntierkälber. Rings um ihn war Leben genug, aber es war ein starkes, gesundes Leben, höchst lebendig und lebenslustig. Und er wusste auch, dass der kranke Wolf an der Fährte des kranken Menschen kleben würde in der Hoffnung, dass der Mann zuerst sterben würde. Als er am Morgen aufwachte und die Augen öffnete, sah er, wie der Wolf ihn mit traurigen und hungrigen Augen anstarrte. Das Tier hockte da, die Rute zwischen den Beinen, wie ein elender und verzweifelter Köter. In dem schneidend kalten Morgenwind zitterte und grinste es mutlos, als der Mann es mit einer Stimme anredete, die kaum mehr als ein heiseres Flüstern war.
Die Sonne stieg strahlend empor, und den ganzen Morgen stolperte und strauchelte der Mann vorwärts, dem Schiff auf der schimmernden See zu. Das Wetter war wundervoll. Es war der kurze Spätsommer dieser Breitengrade. Er dauerte vielleicht eine Woche. Morgen oder übermorgen konnte er schon vorbei sein.
Am Nachmittag stieß der Mann auf eine Fährte. Es war ein anderer Mensch gewesen, der nicht mehr gegangen, sondern sich auf allen vieren weitergeschleppt hatte. Er dachte, dass es wohl Bill gewesen sein müsste, dachte es aber dumpf und gleichgültig. Er empfand nicht einmal irgendwelche Neugierde dabei. In Wirklichkeit hatte ihn die Fähigkeit, sich zu erregen und sich rühren zu lassen, längst verlassen. Er war auch nicht mehr imstande, Schmerz zu empfinden. Magen und Nerven hatten sich bereits schlafen gelegt. Es war nur das Leben selbst, das ihn weitertrieb. Er war sehr müde, sehr erschöpft, aber er weigerte sich zu sterben. Und weil das Leben in ihm sich zu sterben weigerte, aß er immer noch Moosbeeren und Elritzen und trank heißes Wasser. Deshalb behielt er auch den kranken Wolf im Auge.
Er folgte der Fährte des anderen Mannes, der auf allen vieren weitergekrochen war, bis er schließlich zu einer Stelle kam, wo die Fährte aufhörte. Hier fand er einige frisch abgenagte Knochen und die Fährten vieler Wölfe im feuchten Moos. Er fand auch einen elchledernen Beutel, der genau wie der seine war. Scharfe Zähne hatten ihn zum Teil zerrissen. Er hob ihn auf, obgleich sein Gewicht fast zu schwer für seine schwachen Finger war. Bill hatte das Gold also bis zum letzten mitgeschleppt. Ha, ha … Jetzt konnte er den guten Bill auslachen! Er allein blieb am Leben und brachte den Beutel mit dem Golde zu dem Schiff in der schimmernden See. Sein Lachen war heiser und gespensterhaft; es klang wie das Krähen eines Raben, und der Wolf schloss sich ihm an und begann melancholisch zu heulen. Der Mann hörte plötzlich auf zu lachen. Wie konnte er über Bill lachen – falls es wirklich Bill war –, wenn diese Knochen, die so rosig und so sauber abgenagt aussahen, tatsächlich die Knochen Bills waren.
Er wandte sich ab. Gut, Bill hatte ihn schmählich im Stich gelassen. Aber dennoch wollte er das Gold nicht nehmen und auch nicht an Bills Knochen saugen! Bill würde es freilich getan haben, wenn die Lage die umgekehrte gewesen wäre, überlegte er, während er weiterhumpelte.
Er gelangte zu einem größeren Tümpel. Als er sich darüber beugte, um nach Elritzen zu sehen, riss er seinen Kopf schnell zurück, als ob er gestochen worden wäre. Er hatte sein eigenes Spiegelbild im Wasser gesehen. So grässlich war es, dass seine Empfindsamkeit, die sonst eingeschlafen war, lange genug wach blieb, um einen furchtbaren Eindruck auf ihn zu machen. Es waren drei Elritzen im Tümpel, der indessen zu groß war, um ihn trockenlegen zu können. Und nachdem er verschiedene vergebliche Versuche gemacht hatte, sie zu fangen, verzichtete er darauf. Er hatte nämlich Angst, dass er infolge seiner schrecklichen Erschöpfung selbst hineinfallen und ertrinken könnte. Und aus demselben Grunde wagte er es auch nicht, sein Leben dem Fluss anzuvertrauen, obgleich er sonst auf einem der vielen Stämme, die mit der Strömung trieben, den Strom hätte hinabreiten können.
An diesem Tage verringerte sich die Entfernung zwischen ihm und dem Schiffe um drei Meilen, am nächsten nur um zwei – denn jetzt kroch er auf allen vieren, wie Bill es getan. Und als der fünfte Tag vergangen war, befand er sich noch sieben Meilen vom Schiff entfernt und war sich darüber klar, dass er höchstens eine Meile am Tage zurücklegen konnte. Der Spätsommer dauerte immer noch an, und er kroch abwechselnd und ruhte sich erschöpft aus. Und die ganze Zeit hindurch hustete und ächzte der kranke Wolf hinter ihm her. Allmählich waren auch seine Knie zu blutigen Fleischklumpen wie die Füße geworden, und obgleich er ein Stück von seinem Hemd abriss und sie damit verband, hinterließ er doch eine rote Fährte auf Moos und Steinen. Als er einmal einen Blick zurückwarf, sah er, wie der Wolf gierig die blutigen Spuren ableckte, und erkannte klar und deutlich, wie es ihm ergehen würde … wenn … ja, wenn er nicht selbst den Wolf erwischte. Dann begann eine so grauenhafte Tragödie des Lebens, wie sie je gespielt worden ist: Ein kranker Mann, der auf allen vieren kriecht, ein kranker Wolf, der hinterher humpelt. Zwei sterbende Geschöpfe, die ihre fast leblosen Körper durch die Einöde schleppen und sich gegenseitig nach dem elenden Rest von Leben trachten.
Wäre es ein gesunder Wolf gewesen, es hätte den Mann gar nicht so gestört. Aber der Gedanke, dass er Futter für den Magen dieses ekligen und fast schon verreckten Geschöpfes werden würde, stieß ihn ab. Seine Gedanken begannen wieder weite Wege zu wandeln. Halluzinationen überwältigten ihn, und die Augenblicke klaren Bewusstseins wurden immer kleiner.
Ein Schnaufen dicht neben seinem Ohr weckte ihn aus einer Ohnmacht. Es war der Wolf, der jetzt ungeschickt zurücksprang, dabei das Gleichgewicht verlor und erschöpft hinfiel. Es sah lächerlich aus, aber der Mann war nicht in der rechten Stimmung, sich darüber zu amüsieren. Ebensowenig empfand er irgendwelche Angst. Das Stadium der Furcht hatte er hinter sich. Aber sein Gehirn war wieder klar geworden, und er blieb liegen und überlegte. Das Schiff war nur vier Meilen entfernt. Er konnte es ganz deutlich sehen, wenn er sich den Nebel aus den Augen rieb, und er sah auch die weißen Segel eines kleinen Bootes, welches das Wasser des schimmernden Sees durchschnitt. Er wusste indessen, dass er nie imstande sein würde, diese letzten vier Meilen zu kriechen. Und doch war er trotz dieses verhängnisvollen Wissens – vollständig ruhig … Er wusste sogar, dass er nicht einmal eine halbe Meile zu kriechen vermochte. Und dennoch wünschte er, am Leben zu bleiben. Es schien ihm ganz irrsinnig, sterben zu wollen, nachdem er so viel ausgehalten hatte. Das Schicksal stellte zu große Ansprüche an ihn. Und selbst jetzt; da er dem Tode nahe war, wollte er nicht sterben. Es war freilich der reine Wahnsinn, aber dennoch verachtete er den Tod noch in dem Augenblick, da er ihn am Kragen packte. Er weigerte sich, zu sterben.
Er schloss die Augen und legte sich mit unendlicher Vorsicht zurecht. Er nahm sich zusammen, um nicht in die quälende Ohnmacht zu sinken, die wie eine steigende Flut alle Quellen seines Wesens überschwemmte. Es war fast wie das Meer, dieses tödliche Ohnmachtsgefühl, das immer stieg und stieg und Stück für Stück sein Bewusstsein verschlang. Zuweilen tauchte er vollkommen darin unter und schwamm mit unsicheren Schlägen durch das große Vergessen. Und dann gelang es ihm dank irgendeinem seltsamen Element seiner Seele immer wieder, einen neuen Streifen von Willen zu finden, sodass er wieder mit stärkeren Zügen weiterschwimmen konnte.
Unbeweglich blieb er auf dem Rücken liegen. Er konnte den Atem des Wolfes hören, der sich langsam näher schlich. Immer näher kam das Tier, immer näher, obgleich es eine Ewigkeit dauerte. Aber er rührte sich nicht. Jetzt war der Wolf an seinem Ohr. Die raue trockene Zunge rieb wie Sandpapier die Haut seiner Wange. Seine Hände stießen hin – oder jedenfalls wollte er, dass sie hinstießen. Die Finger waren gekrümmt wie die Krallen eines Raubvogels – aber sie schlossen sich nur um die leere Luft. Schnelligkeit und Entschluss erfordern Stärke, und der Mann, der hier am Boden lag, besaß keine mehr.
Die Geduld des Wolfes war erschütternd. Aber die des Mannes war nicht weniger unheimlich. Einen halben Tag blieb er unbeweglich liegen, überwand die Bewusstlosigkeit, die sich an ihn heranschlich, und wartete auf dies Geschöpf, das sich an ihm sättigen wollte – und an dem er sich zu sättigen entschlossen war. Hin und wieder quoll die Woge der Ohnmacht über ihn herein, und er träumte lange Träume. Aber stets – ob wachend oder träumend – wartete er auf das Schnaufen des Tieres und die raue Liebkosung der Zunge.
Er hörte nicht einmal das Atmen des Tieres und glitt nur langsam aus irgendeinem Traum auf, um die Zunge an seiner Hand zu spüren. Er wartete immer noch. Die Pfoten begannen leise zuzudrücken, und der Druck wurde stärker … Der Wolf spannte seine letzten Kräfte an, um die Zähne in die Beute zu setzen, auf die er so lange gewartet hatte. Aber auch der Mann hatte lange gewartet, und die eine erschöpfte Hand schloss sich um den Kiefer. Der Wolf konnte nur schwach kämpfen, aber die Hand hatte auch nicht viel Kraft. Deshalb gelang es der anderen Hand nur sehr schwerfällig und langsam, sich zu einem zweiten Griff zu heben. Fünf Minuten darauf ruhte das ganze Gewicht des Mannes auf dem Vorderteil des Wolfes. Die Hände hatten nicht Kraft genug, das Tier zu erwürgen, aber der Mann drückte sein Gesicht dicht an die Kehle des Wolfes, und sein Mund füllte sich mit Haaren. Als eine halbe Stunde vergangen war, fühlte er ein warmes Rieseln durch seinen Hals. Angenehm war es nicht. Es war ungefähr, wie wenn er geschmolzenes Blei in den Magen goss, und nur eine starke Willensanspannung ermöglichte es ihm. Darauf drehte der Mann sich auf den Rücken und schlief ein.
An Bord des Walfängerschiffes »Bedford« befanden sich die Mitglieder einer wissenschaftlichen Expedition. Vom Deck sahen sie ein seltsames Ding am Ufer. Es bewegte sich den Strand hinunter auf das Schiff zu. Sie waren nicht imstande festzustellen, was es sein mochte, und da sie Forscher waren, kletterten sie in das Großboot, das längsseits am Schiffe lag, und gingen an Land, es sich anzusehen. Und da erblickten sie etwas, das lebendig war, aber kaum Anspruch darauf erheben konnte, ein Mensch genannt zu werden. Es war blind und bewusstlos. Es kroch am Boden wie ein unheimliches Gewürm. Die meisten Anstrengungen, die es machte, waren vergeblich, aber es war voll zäher Energie, und es wand und krümmte und schlängelte sich weiter, sodass es vielleicht ein halbes Dutzend Schritte in der Stunde weiterkam.
Drei Stunden später lag der Mann in einer Koje des Walfängers »Bedford«. Tränen strömten über seine ausgemergelten Wangen, als er berichtete, wer er war, und was er durchgemacht hatte. Er schwätzte auch unzusammenhängendes Zeug von einer Mutter, von dem sonnigen Kalifornien und von einem Heim zwischen Orangenhainen und Blumen.
Es dauerte nicht mehr viele Tage, so saß er mit den Gelehrten und den Offizieren des Schiffes bei Tisch. Er machte ein ganz dummes Gesicht, als er die vielen Gerichte sah, und folgte mit ängstlichen Blicken jedem Bissen, der im Munde eines anderen verschwand. Und jedes Mal, wenn der Bissen verschwunden war, kam ein seltsamer Ausdruck von tiefem Bedauern in seine Augen. Sein Verstand war völlig intakt, aber dennoch hasste er bei jeder Mahlzeit die anderen Männer. Er wurde von der Furcht geplagt, dass die Lebensmittel nicht ausreichen könnten. Er fragte den Kapitän, den Koch, den Kajütsjungen über die Lebensmittelbestände aus. Sie gaben ihm unzählige Male beruhigende Erklärungen. Aber er hatte nicht den Mut, ihnen zu glauben, und bat händeringend, den Vorratsraum besichtigen und mit eigenen Augen die Bestände feststellen zu dürfen.
Man sah, dass der Mann immer dicker wurde. Er nahm tatsächlich mit jedem Tag an Umfang zu. Die Gelehrten schüttelten die Köpfe und versuchten allerlei Erklärungen. Sie setzten seine Rationen bei den Mahlzeiten herab, aber dennoch wurde er immer dicker, und man konnte sehen, wie sein Körper in unheimlicherweise unter dem Hemd anschwoll.
Die Matrosen grinsten. Sie wussten nämlich Bescheid. Und als die Forscher ihn überwachen ließen, dauerte es nicht lange, so wussten sie auch Bescheid. Sie sahen, wie er sich nach dem Frühstück nach vorn schlich und sich wie ein Bettler mit ausgestreckter Hand einem Matrosen näherte. Der Seemann grinste und reichte ihm einen Brocken von einem Zwieback. Er nahm ihn gierig, betrachtete ihn, wie ein Armer einen Goldklumpen betrachten würde, und steckte ihn unter sein Hemd. Von den anderen grinsenden Matrosen bekam er ähnliche Geschenke.
Die Forscher waren diskret und ließen ihn gewähren. In aller Stille untersuchten sie aber seine Koje. Und da entdeckten sie, dass die Koje mit Zwiebäcken gefüttert war. Die Matratzen waren mit Zwiebäcken ausgestopft. Jeder Winkel und jede Ritze war mit Zwiebäcken ausgefüllt. Und doch war sein Verstand völlig in Ordnung. Er wollte sich nur gegen die Möglichkeit eines neuen Verhungerns sicheren – das war alles. Die Forscher erklärten, dass er gesund werden würde. Und er war es auch, schon ehe die »Bedford« in der Bucht von San Franzisko vor Anker ging.
Ich weiß kaum, wo beginnen, wenn ich zuweilen auch im Scherz Charley Furuseth alle Schuld gebe. Er besaß ein Sommerhaus auf dem Lande, in Mill Valley, im Schatten des Tamalpais, bezog es aber nur, wenn er sich die Wintermonate vertreiben und, um auszuspannen, Nietzsche und Schopenhauer lesen wollte. Kam der Sommer, so gab er einem heißen, staubigen Dasein in der Stadt mit unablässiger Arbeit den Vorzug. Wäre es nicht meine Gewohnheit gewesen, ihn allwöchentlich von Sonnabend nachmittag bis Montag morgen zu besuchen, so hätte mich eben dieser Januar-Montagmorgen nicht auf der Bucht von San Francisco gesehen.
Das Schiff, auf dem ich mich befand, bot alle Sicherheit. Die ›Martinez‹ war eine neue Dampffähre, die ihre vierte oder fünfte Fahrt auf der Route Sausalito-San Francisco zurücklegte. Aber der dichte Nebel, der die Bucht wie mit einer Decke überzog, und von dem ich als Landratte keine rechte Vorstellung hatte, war gefahrdrohend. In der Tat erinnere ich mich noch der sanften Erregung, mit der ich meinen Platz vorn auf dem Oberdeck gerade unterhalb des Lotsenhauses eingenommen hatte, während die Geheimnisse des Nebels meine Fantasie umspannen. Es wehte eine frische Brise, und eine Zeit lang befand ich mich allein, in feuchte Finsternis gehüllt – allein und doch nicht allein, denn ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass sich der Lotse und noch ein Wesen, das ich für den Kapitän hielt, oben im Glashause über meinem Kopfe befanden.
Ich dachte daran, wie bequem die Arbeitsteilung war, die mich der Mühe enthob, Nebel, Winde, Gezeiten und Schifffahrtskunde zu studieren, und mir doch erlaubte, meinen Freund jenseits der Bucht zu besuchen. Ich stellte Betrachtungen über den Vorteil der Spezialisierung des Menschen an. Das Sonderwissen eines Lotsen und eines Kapitäns genügte für viele Tausende, die ebensowenig von See und Schifffahrt verstanden wie ich. Und ich wiederum hatte es nicht nötig, meine Kräfte auf das Studium unzähliger Dinge zu verschwenden, sondern konnte mich auf einige wenige konzentrieren, wie augenblicklich auf eine Untersuchung der Stellung Poes zu der übrigen amerikanischen Literatur – worüber ich, nebenbei bemerkt, gerade einen Aufsatz in der Zeitschrift ›Atlantic‹ geschrieben hatte. Als ich an Bord gekommen war, hatte ich beim Durchschreiten der Kajüte einen starken Herrn mit den Augen verschlungen, der in die, ›Atlantic‹ und offenbar gerade in meinen Aufsatz vertieft war. Und auch hier wieder das System der Arbeitsteilung: Das Sonderwissen von Lotsen und Kapitän brachten den starken Herrn sicher von Sausalito nach San Francisco und erlaubten ihm dabei, sich an den Früchten meines Sonderwissens über Poe zu laben.
Ein Mann mit rotem Gesicht unterbrach meine Betrachtungen. Er warf geräuschvoll die Kajütentür hinter sich zu und stapfte schwerfällig aufs Deck hinaus. Er warf einen raschen Blick auf das Lotsenhaus, betrachtete den Nebel, stapfte hin und zurück über das Deck (es sah aus, als hätte er künstliche Beine) und blieb endlich spreizbeinig und mit einem Ausdruck herber Freude im Gesicht neben mir stehen. Ich ging wohl nicht fehl in meiner Vermutung, dass er seine Tage auf dem Meere verbracht hatte.
»Scheußliches Wetter! Ein Wetter, das einem vorzeitig graue Haare verschafft!« rief er und nickte in der Richtung des Lotsenhauses.
»Ich hätte nicht geglaubt, dass hier besondere Kunst nötig sei!« antwortete ich. »Es sieht so einfach aus wie das Abc. Der Kompass gibt die Richtung an. Entfernung und Fahrgeschwindigkeit sind bekannt. Ich sollte meinen, dass alles mit mathematischer Genauigkeit zu berechnen wäre!«
»Kunst!« schnaubte er. »Einfach wie das Abc! Mathematische Genauigkeit!«
Er schien sich zu recken, stemmte sich nach hinten gegen den Wind und starrte mich an: »Wie steht es zum Beispiel mit Ebbe und Flut hier im ›Goldenen Tor‹?« fragte oder brüllte er vielmehr. »Welche Fahrt macht die Ebbe? Wie läuft die Strömung, he? Bitte, horchen Sie mal! Die Glocke einer Ankerboje. Wir sind gerade darüber! Merken Sie, wie wir den Kurs ändern?«
Aus dem Nebel erklang das klagende Stöhnen einer Schiffsglocke, und ich sah, wie der Lotse das Steuerrad mit großer Schnelligkeit drehte. Das Läuten, das eben noch vor uns zu tönen schien, kam jetzt von der Seite. Unsere eigene Schiffspfeife fauchte heiser, und von Zeit zu Zeit quollen die Töne anderer Pfeifen aus dem Nebel hervor.
»Das ist eine Fähre!« sagte der Fremde, als jetzt rechts Pfeifen ertönte. »Und da! Hören Sie? Da bläst einer mit dem Munde! Höchstwahrscheinlich ein kleiner Schoner. Aufpassen, Mr. Schoner! Ach, hab’ ich’s nicht gedacht! Jetzt ist bei denen die Hölle los!«
Die unsichtbare Fähre stieß ein Nebelhornsignal nach dem anderen aus, und das kleine Horn tutete schreckenerregend.
»Und jetzt beweisen sie sich gegenseitig ihre Hochachtung und versuchen klarzukommen«, fuhr der Mann mit dem roten Gesicht fort, als das rasende Pfeifen aufhörte.
Sein Gesicht glänzte, seine Augen blitzten vor Aufregung, während er mir die Laute der Nebelhörner und Sirenen in die menschliche Sprache übersetzte. »Das da links ist eine Dampfsirene. Und hören Sie bloß diesen Burschen, der schreit, als säße ihm ein Frosch in der Kehle: meiner Meinung nach ein Motorschoner, der gegen die Ebbe ankämpft!«
Eine schrille kleine Pfeife, die wie verrückt pfiff, war gerade vor uns und anscheinend sehr nahe. Auf der ›Martinez‹ wurden Gongs angeschlagen.
Unsere Schaufelräder hielten an, ihr Pulsschlag starb, setzte dann wieder ein. Die schrille kleine Pfeife voraus klang wie das Zirpen einer Grille in dem Geschrei großer Tiere, schoss seitwärts durch den Nebel und wurde schnell schwach und immer schwächer. Durch einen Blick versuchte ich meinen Gefährten um Aufklärung.
»Den sticht der Haber«, sagte er. »Ich wünschte fast, wir hätten den kleinen Hammel in den Grund gebohrt! Diese Bengels machen die Verwirrung nur noch ärger. Und wozu sind sie nütze? Da ist Gott weiß was für ein Esel an Bord, fährt von Pontius zu Pilatus, macht mit seiner Pfeife einen Höllenlärm und erzählt der ganzen Welt: Passt auf, hier komme ich! Und dabei kann er selber nicht aufpassen. Die Kerle haben auch nicht das geringste Anstandsgefühl!«
Sein unberechtigter Wutausbruch belustigte mich sehr, und während er in seiner Empörung auf und ab stapfte, überließ ich mich wieder der Romantik des Nebels. Und wahrlich: Romantisch war dieser Nebel, wie der graue Schatten unendlicher Mysterien, die über diesem dahingleitenden Fleckchen Erde brüteten, während die Menschen, winzige Sonnenstäubchen und -fünkchen, zu krankhaftem Wohlgefallen an der Arbeit verdammt, ihre Holz- und Stahlmechanismen durch das Herz dieses Mysteriums zu jagen suchten, sich blindlings ihren Weg durchs Unsichtbare bahnten und sich Worte der Zuversicht zuschrien, obgleich ihnen das Herz vor Ungewissheit und Furcht zitterte. Das Lachen meines Gefährten brachte mich wieder zu mir. Auch ich hatte getastet und gezappelt, während ich mir einbildete, scharfsichtig das Mysterium zu durchschauen.
»Holla! Da kommt uns jemand ins Gehege!« sagte er. »Hören Sie? Er kommt schnell. Gerade voraus! Ich wette, er hört uns noch nicht. Es weht in der falschen Richtung.«
Die frische Brise kam uns gerade entgegen, und ich hörte deutlich die Schiffspfeife ein wenig seitwärts und dabei dicht vor uns.
»Dampffähre?« fragte ich.
Er nickte und fügte dann hinzu: »Würde sonst nicht so wie nach der Richtschnur laufen!« Er lachte unterdrückt. »Da oben werden sie unruhig.«
Ich blickte hinauf. Der Kapitän hatte Kopf und Schultern zum Lotsenhaus herausgesteckt und starrte gespannt in den Nebel, als könnte er ihn durch bloße Willensanstrengung durchdringen. Sein Gesicht war unruhig, wie jetzt auch das meines Gefährten, der an die Reling gestapft war und ebenso gespannt in die Richtung starrte, aus der er die unmittelbare Gefahr vermutete.
Dann kam es. Es geschah mit unfassbarer Schnelligkeit. Der Nebel wich, wie von einem Keil gespalten. Der Bug eines Dampfschiffes tauchte auf, zu beiden Seiten Nebelfetzen mitziehend wie Seegras auf der Schnauze des Leviathans. Ich konnte das Lotsenhaus sehen und bemerkte einen weißbärtigen Mann, der sich, auf die Ellbogen gestützt, weit herauslehnte. Er trug eine blaue Uniform, und ich entsinne mich noch, wie sauber und freundlich er aussah. Seine Ruhe wirkte unter diesen Umständen furchtbar. Er beugte sich dem Geschick, marschierte Schulter an Schulter mit ihm und berechnete kühl den Schlag. Wie er so dalehnte, warf er uns einen ruhigen und nachdenklichen Blick zu, als berechne er genau den Punkt des Zusammenstoßes, und nahm nicht die geringste Notiz von unserm Lotsen, der, blass vor Wut, schrie: »Nun habt ihr’s fertiggebracht!«
Als ich mich umsah, nahm ich wahr, dass die Bemerkung zu einleuchtend war, um noch einer Erläuterung zu bedürfen.
»Halten Sie sich an irgend etwas fest«, sagte der Mann mit dem roten Gesicht zu mir. Er polterte nicht mehr, es schien, als wäre er von der übernatürlichen Ruhe des anderen angesteckt. »Hören Sie das Kreischen der Frauen«, sagte er grimmig – fast bitter. Mir kam es vor, als hätte er das alles schon einmal durchgemacht. Ehe ich noch seinen Rat befolgen konnte, war der Zusammenstoß schon erfolgt. Wir mussten wohl gerade mittschiffs getroffen worden sein, denn ich sah nichts, und der fremde Dampfer war schon aus meinem Gesichtskreis geglitten. Die ›Martinez‹ krengte stark, das Holzwerk krachte und splitterte. Ich wurde auf das feuchte Deck geschleudert, und bevor ich mich aufrichten konnte, hörte ich auch schon das Kreischen der Frauen. Es waren die unbeschreiblichsten, haarsträubendsten Töne, die ich je gehört, und mich packte panischer Schrecken. Mir fiel ein, dass in der Kajüte ein Haufen Rettungsgürtel lag, ich wurde aber von der wildstürmenden Menge Männer und Frauen an der Tür aufgehalten und zurückgedrängt. Ich weiß nicht mehr, was in den nächsten Minuten geschah, wenn ich auch die deutliche Vorstellung habe, dass ich von den Gestellen an Deck Rettungsgürtel herunterriss, die der Mann mit dem roten Gesicht den hysterischen Frauen umlegte. Dieses Bild ist meinem Gedächtnis so scharf und deutlich eingeprägt wie ein wirkliches Bild. Es ist ein Gemälde, das ich immer noch vor mir sehe: die zackigen Ränder des Loches in der Kajütenwand, durch das der graue Nebel hereinwirbelte und kreiste; die leeren Sitze, auf denen alles herumlag, was den Eindruck plötzlicher wilder Flucht erweckte: Pakete, Handtäschchen, Schirme, Überzieher; der starke Herr, der meinen Aufsatz studiert hatte und jetzt, in Kork und Segelleinen eingeschlossen, die Zeitschrift noch in der Hand hielt und mich mit eintöniger Dringlichkeit fragte, ob ich an eine Gefahr glaube; der Mann mit dem roten Gesicht, der schwerfällig auf seinen künstlichen Beinen stapfte und tapfer einer Frau nach der anderen den Rettungsgürtel umschnallte, und schließlich das Tollhaus kreischender Weiber.