»Er sagt: ›Um Gottes willen, lasst mich doch fort von hier, ich will nicht kämpfen‹«, meinte John Harned. Das war alles, mehr sagte er nicht. Aber er saß da und passte auf, warf nur hin und wieder einen Blick auf Maria Valenzuela, um zu sehen, wie sie sich benahm. Sie war böse auf den Matador. Er war ungeschickt, und sie hatte Geschicklichkeit und Gewandtheit sehen wollen.
Der Stier war jetzt sehr müde und schwach wegen des Blutverlustes, wenn er auch noch nicht daran dachte, zu sterben. Er ging langsam um die Arena herum und suchte einen Ausgang. Er wollte nicht angreifen. Er hatte genug davon. Aber er sollte ja getötet werden. Es gibt eine Stelle auf dem Hals des Stiers, hinter den Hörnern, wo das Rückenmark ungeschützt ist und ein rascher, kleiner Stich augenblicklich tötet. Ordonez trat vor den Stier und senkte das scharlachrote Tuch. Der Stier wollte nicht angreifen. Er blieb stehen, schnüffelte am Tuch und senkte den Kopf, um richtig schnuppern zu können. Ordonez stach in die erwähnte Stelle am Hals. Der Stier warf den Kopf hoch. Der Stoß hatte nicht richtig getroffen. Jetzt achtete der Stier auf die Klinge. Als Ordonez wieder das Tuch senkte, vergaß der Stier die Klinge und senkte den Kopf, um das Tuch beschnuppern zu können. Ordonez stach noch einmal zu, traf aber wieder nicht. Er versuchte es viele Male. Es war dumm. Aber John Harned sagte nichts. Schließlich traf ein Stoß, und der Stier brach zusammen. Er war sofort tot, und die Maultiere wurden vorgespannt und schleppten ihn hinaus.
»Die Gringos sagen, es sei ein grausamer Sport – nicht wahr?« meinte Luis Cervallos. »Es ist unmenschlich, es ist schade um den Stier, nicht wahr?«
»Nein«, sagte John Harned. »Um den Stier handelt es sich nicht. Es ist entwürdigend für die, welche zusehen. Der Sinn des Stierkampfes ist, sich über die Leiden eines Tieres zu freuen. Es ist feige, wenn fünf Männer mit einem dummen Stier kämpfen. Dadurch werden auch die, welche zusehen, feige. Der Stier stirbt, aber die, welche zusehen, leben, und das, was sie sehen, beeinflusst sie, Mannesmut und Männerherzen fördert es nicht, wenn sie ein Schauspiel der Feigheit sehen.«
Maria Valenzuela sagte nichts. Sie sah ihn auch nicht an, aber sie hörte jedes Wort, und ihre Wangen waren heiß vor Zorn. Sie blickte in die Arena und fächelte sich, aber ich sah, dass ihre Hand zitterte, und John Harned sah sie nicht an. Er erzählte, als wäre sie gar nicht zugegen. Auch er war von Zorn, von kaltem Zorn erfüllt.
»Ach«, sagte Luis Cervallos leise. »Sie glauben, uns zu verstehen.«
»Jetzt verstehe ich die spanische Inquisition«, sagte John Harned. »Die war sicher noch herrlicher als Stierkämpfe.«
Luis Cervallos lächelte, sagte aber nichts. Er sah Maria Valenzuela an und wusste, dass das Stiergefecht in der Loge gewonnen war. Sie würde nie mehr etwas mit dem Gringo zu tun haben wollen, der solche Worte sprach. Aber weder Luis Cervallos noch ich waren darauf vorbereitet, dass der Tag so enden würde. Ich fürchte, wir verstehen diese Gringos nicht. Wie konnten wir wissen, dass John Harned, dessen Zorn so kalt war, plötzlich verrückt werden würde? Aber verrückt wurde er, wie Sie hören werden. Der Stier galt ihm nichts – das hatte er selbst gesagt. Warum galt ihm denn das Pferd so viel, das kann ich nicht verstehen. John Harned besaß keine Logik, das ist die einzige Erklärung.
»In Quito ist es nicht gebräuchlich, beim Stierkampf Pferde auftreten zu lassen«, sagte Luis Cervallos und sah von seinem Programm auf. »In Spanien hat man sie immer. Aber heute bekommen wir sie auch auf besondere Erlaubnis hin zu sehen. Wenn der nächste Stier auftritt, werden auch Pferde und Pikadore kommen. Sie wissen, die Leute, die zu Pferde sind und Lanzen tragen.«
»Der Stier ist von vornherein zum Tode verurteilt«, sagte John Harned. »Sind das die Pferde auch?«
»Sie tragen Binden vor den Augen, sodass sie den Stier nicht sehen können«, sagte Luis Cervallos. »Ich habe oft gesehen, wenn Pferde getötet wurden. Es ist ein prachtvoller Anblick.«
»Ich habe gesehen, wie der Stier geschlachtet wurde«, sagte John Harned. »Jetzt will ich auch sehen, wie das Pferd geschlachtet wird, damit ich mehr von den Feinheiten dieses Sports verstehe.«
»Es sind alte Pferde«, sagte Luis Cervallos. »Sie taugen sonst zu nichts mehr.«
»Ach so«, sagte John Harned.
Der dritte Stier kam herein, und bald standen ihm Kapeadore und Pikadore gegenüber. Ein Pikador hatte gerade unter uns Posten gefasst.
Ich gebe zu, dass es ein mageres altes Tier war, das er ritt, ein mit räudiger Pferdehaut überzogenes Gerippe.
»Es ist unglaublich, dass das arme Vieh das Gewicht des Reiters tragen kann«, sagte John Harned. »Und was für Waffen hat das Pferd nun, um mit dem Stier kämpfen zu können?«
»Das Pferd kämpft nicht mit dem Stier«, sagte Luis Cervallos.
»Ach«, sagte John Harned, »dann ist das Pferd wohl dazu da, um aufgespießt zu werden.«
»Ganz so ist es nicht«, sagte ich. »Die Lanze des Pikadors soll den Stier davon abhalten, das Pferd aufzuspießen.«
»Dann werden Pferde also selten aufgespießt?« fragte John Harned.
»Nein«, antwortete Luis Cervallos. »In Sevilla habe ich gesehen, wie achtzehn Pferde an einem einzigen Tag aufgespießt wurden, und das Volk rief nach noch mehr Pferden.«
»Waren ihnen allen die Augen verbunden, wie diesem Pferd?« fragte John Harned.
»Ja«, sagte Luis Cervallos.
Dann sprachen sie nicht mehr und beobachteten den Kampf, und John Harned wurde dabei verrückt, und wir wussten es nicht. Der Stier wollte das Pferd nicht angreifen. Und das Pferd blieb stehen, und da es nichts sehen konnte, wusste es nicht, dass die Kapeadore versuchten, den Stier zu einem Angriff zu hetzen. Die Kapeadore neckten den Stier mit ihren Umhängen, und als er angriff, liefen sie auf das Pferd zu und dann in Deckung. Schließlich wurde der Stier wütend und erblickte das Pferd vor sich.
»Das Pferd weiß es nicht, das Pferd weiß es nicht«, flüsterte John Harned vor sich hin, ohne zu merken, dass er seine Gedanken laut aussprach.
Der Stier griff an, und natürlich wusste das Pferd nichts, bis der Pikador mit seiner Lanze fehlstieß und das Pferd von dem Horn des Stiers aufgespießt war. Der Stier war ungewöhnlich stark. Seine Stärke war prachtvoll. Er hob das Pferd empor, und als es dann zu Boden stürzte und auf die Seite fiel, kam der Pikador auf seine Füße zu stehen und flüchtete, während die Kapeadore den Stier fortlockten. Alle wichtigen Organe wurden aus dem Pferd herausgepresst. Dennoch erhob es sich mit schrillem Schmerzensschrei. Der Schrei des Pferdes war es, der John Harned völlig verrückt machte. Ich hörte ihn leise fluchen und tief knurren. Keinen Augenblick ließ er das Pferd aus den Augen, das, immer noch schreiend, fortzulaufen versuchte. Aber nun stürzte es und fiel auf den Rücken und streckte alle vier Beine in die Luft. Dann griff der Stier von neuem an und durchbohrte es immer wieder, bis es tot war.
Jetzt stand John Harned auf. Seine Augen waren nicht mehr kalt wie Stahl. Sie waren wie blaue Flammen. Er sah Maria Valenzuela an, und sie sah ihn an. Der Wahnsinn hatte ihn gepackt. Jetzt, da das Pferd tot war, blickten ihn alle an; und John Harned war ein auffallend großer Mann.
»Setzen Sie sich«, sagte Luis Cervallos, »sonst machen Sie sich lächerlich.«
John Harned antwortete nicht. Er ballte die Faust und schlug zu. Er schlug Luis Cervallos ins Gesicht, dass er wie ein Toter über die Stühle fiel und nicht wieder aufstand. Er sah nichts von dem, was jetzt folgte. Aber ich sah viel. Urcisino Castillo beugte sich über die Logenbrüstung und schlug mit seinem Stuhl John Harned mitten ins Gesicht. Und John Harned schlug ihn mit seiner Faust, dass er fiel und im Fallen General Salazar mitriss. John Harned hatte das, was Sie Berserkerwut nennen, nicht wahr? Die Bestie in ihm war losgelassen und tobte – die uralte Bestie aus den Höhlen und Schlupfwinkeln der Vorzeit.
»Ihr kamt des Stierkampfes wegen«, hörte ich ihn sagen. »Aber bei Gott, ich will euch einen Männerkampf zeigen!«
Und es wurde ein Kampf. Die Soldaten, die als Wachtposten neben der Präsidentenloge standen, sprangen hinzu, aber er entriss einem von ihnen das Gewehr und schlug sie damit auf die Köpfe. Aus der anderen Loge schoss Oberst Jacinto Fierro mit dem Revolver auf ihn. Der erste Schuss tötete einen Soldaten. Der zweite Schuss traf John Harned in die Seite. Da fluchte er und jagte das Bajonett, das auf dem Gewehr steckte, Oberst Jacinto Fierro mit einem Stoß durch den Leib. Es war ein schrecklicher Anblick. Amerikaner und Engländer sind eine brutale Rasse. Sie rümpfen die Nase über unsere Stierkämpfe, aber dabei freut es sie, Blut zu vergießen. Es wurden an diesem Tage von John Harned mehr Männer getötet, als je getötet worden sind, seit die Stierkampfarenen in Quito, in Guayaquil und den anderen Städten von Ecuador bestanden haben.
Der Schrei des Pferdes hatte die Schuld. Aber warum wurde John Harned nicht wahnsinnig, als der Stier getötet wurde? Tier ist Tier, ob es nun ein Stier oder ein Pferd ist. John Harned war verrückt. Es gibt keine andere Erklärung. Er wollte Blut sehen, er war selber eine Bestie. Urteilen Sie selbst. Was ist schlimmer: dass ein Pferd von einem Stier aufgespießt wird, oder Oberst Jacinto Fierro von John Harned mit dem Bajonett? Er war wie vom Teufel besessen. Er kämpfte, obwohl er von vielen Kugeln getroffen war, bis zum letzten Atemzug. Maria Valenzuela war eine tapfere Frau. Sie schrie nicht, noch fiel sie in Ohnmacht. Sie saß still in ihrer Loge und starrte über die Arena hinweg. Ihr Gesicht war weiß, und sie fächelte sich, aber sie sah sich nicht ein einziges Mal um.
Von allen Seiten drängten Soldaten und Offiziere und das Volk heran, um den verrückten Gringo zu überwältigen. Es ist wahr – ein Ruf kam aus der Menge, alle Gringos zu töten. Das ist ein wohlbekannter Ruf in den lateinamerikanischen Ländern, den die Gringos selbst durch ihre Unbeliebtheit und ihre rohen Manieren verschuldet haben. Man kann nicht leugnen, dass dieser Ruf ertönte. Aber die tapferen Ecuadorianer töteten nur John Harned, nachdem er sieben von ihnen getötet hatte. Außerdem gab es viele Verwundete. Ich habe manchen Stierkampf gesehen, nie aber habe ich so etwas Abscheuliches gesehen wie die Szene in den Logen, als der Kampf vorbei war. Es war wie nach einer Wahl. Überall lagen die Toten umher, und die Verwundeten schluchzten und stöhnten. Einige von ihnen starben. Ein Mann, dem John Harned das Bajonett durch den Bauch gestoßen hatte, griff mit beiden Händen nach der Wunde und schrie vor Schmerz. Ich sage Ihnen, das war viel schrecklicher, als wenn tausend Pferde vor Schmerz geschrien hätten.
Nein, Maria Valenzuela heiratete Luis Cervallos nicht. Das tut mir leid. Er war mein Freund, und ich habe viel Geld in seine Unternehmungen gesteckt. Es dauerte fünf Wochen, ehe die Ärzte ihm den Verband vom Gesicht nehmen konnten, und noch heute hat er eine Narbe auf der Backe unter dem Auge. Und dabei schlug John Harned nur ein einziges Mal und nur mit der bloßen Faust zu. Maria Valenzuela ist jetzt in Österreich. Man sagt, dass sie einen Erzherzog heiraten soll. Ich weiß nichts Näheres davon. Ich glaube, dass sie John Harned gern hatte, denn er ging mit ihr nach Quito, um den Stierkampf zu sehen. Aber warum musste das mit dem Pferd kommen? Das möchte ich gern wissen. Warum konnte er den Stier sehen und sagen, dass ihm der Stier nicht soviel gelte, um dann plötzlich wahnsinnig zu werden, weil ein Pferd vor Schmerz schrie? Die Gringos sind unbegreifliche Menschen. Sie sind Barbaren.
Carter Watson schlenderte, ein soeben erschienenes Magazin unter dem Arm, die Straße hinab und sah sich neugierig um. Zwanzig Jahre war es her, dass er diese Straße betreten hatte, und die in ihr erfolgten Veränderungen waren groß und überraschend. Diese Stadt im Westen mit ihren dreihunderttausend Einwohnern hatte zu der Zeit, als er als Knabe ihre Straßen durchstreifte, nicht mehr als dreißigtausend gehabt. Damals war die Straße, durch die er jetzt schritt, eine ruhige Wohnstraße in einem sauberen Arbeiterviertel gewesen. In dieser späten Nachmittagsstunde sah er, dass sie von einer zahlreichen und lasterhaften Bevölkerung überschwemmt wurde. Chinesische und japanische Läden und Kneipen wechselten ab mit amerikanischen Vergnügungsstätten und Bierquellen. Diese ruhige Straße seiner Jugend war das St. Pauli der Stadt geworden. Er sah auf die Uhr. Es war halb sechs. Es war die stille Tageszeit für eine solche Gegend, wie er wusste, aber er war neugierig und wollte etwas sehen. In all den Jahren, die er reiste, um die sozialen Verhältnisse in der ganzen Welt zu studieren, war ihm diese Stadt in der Erinnerung teuer und heilig gewesen. Die Veränderung, die er jetzt sah, war erstaunlich.
Carter Watson besaß ein ausgeprägtes Gewissen. Unabhängig und reich, hatte er seine Kräfte niemals auf vornehme Teegesellschaften und törichte Diners verschwendet, ebensowenig hatten ihn Schauspielerinnen, Rennpferde und ähnliche Vergnügungen interessiert. Er war ein Reformator und hatte siebenundzwanzig Bücher geschrieben.
An diesem späten Sommernachmittag, als er so dahinschlenderte, blieb er vor einem auffallenden Lokal stehen. Auf dem Schild darüber stand »Vendôme«. Es gab zwei Eingänge. Der eine führte offenbar in die Schankstube. Um den kümmerte er sich nicht. Der andere war ein schmaler Korridor. Als er ihn passiert hatte, stand er in einem sehr großen Raum voller Tische und Stühle, der aber sonst vollkommen leer war. Im Halbdunkel erblickte er ein Klavier.
Im Hintergrund führte ein kurzer Korridor nach einer kleinen Küche, und hier saß Patsy Horan, der Besitzer des »Vendôme«, allein an einem Tisch und aß hastig sein Abendbrot vor Beginn der Geschäftszeit. Patsy war, auf die ganze Welt zornig, mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden, und alles war ihm an diesem Tage schiefgegangen. Hätte man seine Barkeeper gefragt, so würden sie seine Gemütsverfassung als einen leichten Rausch bezeichnet haben. Aber das wusste Carter Watson nicht. Als er den kleinen Korridor durchschritt, fielen die boshaften Augen Patsys auf das Magazin, das er unter dem Arme trug. Patsy kannte Carter Watson nicht und wusste auch nicht, dass es ein Magazin war, das er unter dem Arme hielt. In seinem Rausch gelangte Patsy zu dem Ergebnis, dass dieser Fremde einer jener unverschämten Burschen wäre, die die Wände seiner Hinterzimmer durch das Annageln oder Ankleben von Plakaten verunzierten und verdarben. Die Farbe des Magazinumschlages überzeugte ihn, dass es sich um ein solches Plakat handele. Und so begann der Streit. Mit Messer und Gabel fuhr Patsy auf Carter Watson los.
»Hinaus mit Ihnen!« kläffte Patsy. »Ich weiß, was Sie wollen!«
Carter Watson war verblüfft. Der Mann war wie der Knüppel aus dem Sack über ihn gekommen.
»Wollen Sie meine Wände verderben«, rief Patsy zornig und stieß gleichzeitig eine lange Reihe malerischer, aber gemeiner Schimpfworte aus.
»Wenn ich Ihnen zu nahe getreten sein soll, so bitte ich –«
Aber weiter kam Watson nicht. Patsy unterbrach ihn. »Machen Sie, dass Sie weiterkommen, und halten Sie die Klappe«, sagte Patsy und unterstrich seine Worte, indem er Messer und Gabel schwang.
Carter Watson sah im Geist schon die Gabel in unangenehmer Weise zwischen seinen Rippen stecken. Er merkte, dass es leichtsinnig sein würde, mehr zu sagen, und schickte sich daher schnell zum Gehen an. Aber der Anblick seines demütigen Rückzuges musste Patsy Horan noch mehr erbittern, er ließ die Essgeräte fallen und stürzte sich auf Watson.
Patsy wog hundertsechzig Pfund. Watson ebensoviel. In diesem Punkt waren sie einander gleich. Aber Patsy war ein Draufgänger und Rohling, der sich in Kneipen herumprügelte, Watson hingegen ein geübter Boxer. In dieser Beziehung hatte Watson den Vorteil auf seiner Seite, denn Patsy ging geradewegs auf ihn los und schwang den rechten Arm gefahrdrohend. Watson brauchte ihm nur einen regelrechten Linken zu versetzen und dann zu verschwinden. Aber Watson hatte noch einen Vorteil vor Patsy. Sein Boxen und seine in den Armenvierteln der ganzen Welt geschöpften Erfahrungen hatten ihn Selbstbeherrschung gelehrt.
Er drehte sich schnell um, parierte den Schlag und packte zu. Aber Patsy, der wie ein Stier auf ihn gestürzt war, hatte die Wucht eines Geschosses. Das Ergebnis war, dass beide mit ihren dreihundertzwanzig Pfund umfielen und einen mächtigen Spektakel machten. Watson lag nicht gerade daran, hier in seiner Vaterstadt, wo viele seiner Verwandten und viele Freunde seiner Familie lebten, in die Zeitungen zu kommen. Deshalb umschlang er den Mann, der auf ihm lag, mit den Armen, presste ihn fest an sich und wartete, dass die Hilfe kommen sollte, die von dem Krach notwendigerweise herbeigelockt werden musste. Es kam auch Hilfe, sechs Mann kamen aus der Schankstube gelaufen und stellten sich in einem Halbkreis auf. »Nehmt ihn weg, Jungens«, sagte Watson. »Ich habe ihn nicht geschlagen und habe keine Lust, mich mit ihm zu prügeln.«
Aber der Halbkreis blieb schweigend stehen. Watson hielt seinen Gegner weiter fest und wartete. Patsy machte nach einem vergeblichen Versuch, ihm einen Puff zu versetzen, ein Angebot.
»Lassen Sie mich los, dann lasse ich Sie auch los«, sagte er.
Watson ließ ihn los, als Patsy aber auf die Beine gekommen war, beugte er sich schlagbereit über seinen liegenden Gegner.
»Stehen Sie auf!« kommandierte Patsy. Seine Stimme war barsch und unversöhnlich wie die eines richtenden Gottes, und Watson merkte, dass hier keine Barmherzigkeit zu erwarten war.
»Treten Sie zurück, dann stehe ich auf«, sagte er.
»Wenn Sie ein Gentleman sind, stehen Sie auf«, verlangte Patsy; seine blauen Augen flammten vor Zorn, und die Faust war zu einem zerschmetternden Schlage geballt.
Im selben Augenblick zog er den Fuß zurück, um dem anderen einen Tritt ins Genick zu versetzen. Watson wehrte den Tritt mit gekreuzten Armen ab und sprang so schnell auf, dass er seinem Gegner auf dem Leibe war und ihn gepackt hatte, ehe er Zeit zum Schlagen fand. Er hielt ihn fest und sagte zu den Zuschauern: »Nehmt ihn weg von mir, Jungens. Ihr seht, dass ich ihn nicht schlage. Ich habe keine Lust zu kämpfen. Ich will nur fort von hier.«
Der Kreis wich und wankte nicht und blieb stumm. Das Schweigen war unheilverkündend, und es lief Watson kalt den Rücken hinab. Patsy machte einen Versuch, ihn umzuwerfen, aber das Ergebnis war, dass Patsy auf dem Rücken lag. Watson ließ ihn los, sprang auf und lief zur Tür hin. Aber der Kreis von Männern stellte sich wie eine Mauer dazwischen. Er bemerkte die weißen, teigartigen Gesichter, denen man ansah, dass sie selten von der Sonne beschienen wurden, und erkannte, dass die Männer, die ihm den Weg versperrten, die nächtlichen, beutelüsternen Bestien der Stadtdschungel waren. Von ihnen wurde er wieder gegen Patsy geworfen, der ihn wie ein angreifender Stier ansprang.
Wieder kam es zum Clinch, bei dem Watson, der sich jetzt in Sicherheit befand, noch einmal an die Bande appellierte. Aber er predigte tauben Ohren. Und in diesem Augenblick wurde er ängstlich, denn er hatte von vielen ganz ähnlichen Situationen in Kneipen wie dieser gehört, bei denen einzelnen Männern Rippen und Nasenbeine eingeschlagen oder sie zu Tode geprügelt und getreten worden waren.
Sieben gegen einen war unter keinen Umständen ehrliches Spiel. Auch er war zornig, und das kämpfende Tier, das in allen Männern steckt, begann sich in ihm zu regen. Aber er dachte an seine Frau und seine Kinder, an sein unvollendetes Buch und die zehntausend Morgen wogenden Ackerlandes um die Ranch, die er im Norden besaß, und die er so heiß liebte. Er sah vor seinem inneren Auge sogar in einer blendenden Vision den blauen Himmel und den goldenen Sonnenschein, der sich über ihn ergoss. Blumenübersäte Wiesen, das träge Vieh, das bis zu den Knien in den Bächen stand, das Aufblitzen einer Forelle in der Stromschnelle. Das Leben war schön zu schön für ihn, um es dazu aufs Spiel zu setzen, dass er dem Tier in sich für einen Augenblick die Zügel schießen ließ.
Sein Gegner, der sich aus der Umklammerung nicht befreien konnte, versuchte ihn zu werfen. Wieder brachte Watson ihn zu Boden und riss sich los, aber wieder wurde er von dem teiggesichtigen Kreis zurückgeworfen, musste die schwingende Rechte Patsys parieren und einen neuen Ringkampf beginnen. Das wiederholte sich dreimal. Und Watson wurde, wenn möglich, noch kaltblütiger, während der enttäuschte Patsy, der sich außerstande sah, ihm etwas zu tun, immer wilder tobte. In der Umklammerung begann er jetzt mit dem Kopf zu stoßen. Das erste Mal hieb er mit der Stirn Watson gerade auf die Nase. Von jetzt an barg Watson beim Clinchen sein Gesicht an Patsys Brust. Aber der wütende Kerl stieß weiter mit dem Kopf um sich und schlug sich selbst Auge, Nase und Backe an dem Scheitel des anderen. Und je mehr Schaden Patsy sich auf diese Weise zufügte, desto öfter und härter stieß er mit dem Kopf um sich.
Dieser einseitige Kampf dauerte zwölf bis fünfzehn Minuten. Watson schlug nicht einmal zu, sondern suchte nur zu entkommen. Zuweilen, wenn er in den Augenblicken, da er sich losgerissen hatte, bei seinen Versuchen, die Tür zu erreichen, um die Tische kreiste, packten die teiggesichtigen Burschen ihn an den Rockschößen und schleuderten ihn zurück, gegen die erhobene Rechte des vorstürmenden Patsy. Immer wieder umklammerte er Patsy und warf ihn auf den Rücken, und dabei drehte er sich jedes Mal um und legte ihn in die Richtung der Tür, wodurch er seinem Ziel um die Länge des Falles näherkam. Schließlich gelangte Watson ohne Hut, atemlos, mit blutender Nase und einem geschwollenen Auge auf die Straße hinaus und lief einem Schutzmann in die Arme.
»Verhaften Sie den Mann!«, ächzte Watson.
»Hallo, Patsy«, sagte der Schutzmann. »Was gibt es hier?«
»Hallo, Charley«, lautete die Antwort. »Der Kerl kommt her –«
»Verhaften Sie den Mann, Herr Wachtmeister«, wiederholte Watson.
»Mach, dass du wegkommst! Immer ruhig«, sagte Patsy.
»Immer ruhig«, fügte der Schutzmann hinzu. »Sonst werde ich Sie einstecken.«
»Nicht, wenn Sie den Mann nicht verhaften. Er hat mich grundlos überfallen.«
»Stimmt das, Patsy?« fragte der Schutzmann.
»Nee, hören Sie, Charley, ich habe Zeugen, bei Gott. Ich saß in meiner Küche und aß einen Teller Suppe, als der Kerl hereinkam und mit mir anbinden wollte. Ich habe ihn mein Lebtag nicht gesehen. Er ist besoffen. –«
»Sehen Sie mich an, Herr Wachtmeister«, protestierte der zornige Watson. »Bin ich betrunken?«
Der Schutzmann sah ihn mit einem finster drohenden Blick an und nickte Patsy zu, dass er fortfahren sollte.
»Der Kerl wollte mit mir anbinden. ›Ich bin Tim McGrat‹, sagte er. ›Hände hoch!‹ Ich lächle, und im selben Augenblick schmeißt er mich – bums – zweimal hin und vergießt meine Suppe. Sehen Sie mein Auge an, ich bin halb totgeschlagen.«
»Was gedenken Sie zu tun, Herr Wachtmeister?« fragte Watson.
»Gehen Sie weiter und verhalten Sie sich ruhig«, lautete die Antwort, »sonst stecke ich Sie ein.«
Die Liebe zur Gerechtigkeit flammte in Carter Watson auf. »Herr Wachtmeister, ich protestiere.«
Aber im selben Augenblick packte der Schutzmann seinen Arm mit einem kräftigen Ruck, dass er fast gefallen wäre. »Los, Sie sind verhaftet.«
»Verhaften Sie ihn auch«, schrie Watson.
»Dazu liegt kein Grund vor«, lautete die Antwort. »Was müssen Sie ihn auch überfallen, wenn er friedlich seine Suppe isst?«