Jack London – Gesammelte Werke

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»Er sagt: ›Um Got­tes wil­len, lasst mich doch fort von hier, ich will nicht kämp­fen‹«, mein­te John Har­ned. Das war al­les, mehr sag­te er nicht. Aber er saß da und pass­te auf, warf nur hin und wie­der einen Blick auf Ma­ria Va­len­zue­la, um zu se­hen, wie sie sich be­nahm. Sie war böse auf den Ma­ta­dor. Er war un­ge­schickt, und sie hat­te Ge­schick­lich­keit und Ge­wandt­heit se­hen wol­len.

Der Stier war jetzt sehr müde und schwach we­gen des Blut­ver­lus­tes, wenn er auch noch nicht dar­an dach­te, zu ster­ben. Er ging lang­sam um die Are­na her­um und such­te einen Aus­gang. Er woll­te nicht an­grei­fen. Er hat­te ge­nug da­von. Aber er soll­te ja ge­tö­tet wer­den. Es gibt eine Stel­le auf dem Hals des Stiers, hin­ter den Hör­nern, wo das Rücken­mark un­ge­schützt ist und ein ra­scher, klei­ner Stich au­gen­blick­lich tö­tet. Or­do­nez trat vor den Stier und senk­te das schar­lach­ro­te Tuch. Der Stier woll­te nicht an­grei­fen. Er blieb ste­hen, schnüf­fel­te am Tuch und senk­te den Kopf, um rich­tig schnup­pern zu kön­nen. Or­do­nez stach in die er­wähn­te Stel­le am Hals. Der Stier warf den Kopf hoch. Der Stoß hat­te nicht rich­tig ge­trof­fen. Jetzt ach­te­te der Stier auf die Klin­ge. Als Or­do­nez wie­der das Tuch senk­te, ver­gaß der Stier die Klin­ge und senk­te den Kopf, um das Tuch be­schnup­pern zu kön­nen. Or­do­nez stach noch ein­mal zu, traf aber wie­der nicht. Er ver­such­te es vie­le Male. Es war dumm. Aber John Har­ned sag­te nichts. Schließ­lich traf ein Stoß, und der Stier brach zu­sam­men. Er war so­fort tot, und die Maul­tie­re wur­den vor­ge­spannt und schlepp­ten ihn hin­aus.

»Die Grin­gos sa­gen, es sei ein grau­sa­mer Sport – nicht wahr?« mein­te Luis Cer­val­los. »Es ist un­mensch­lich, es ist scha­de um den Stier, nicht wahr?«

»Nein«, sag­te John Har­ned. »Um den Stier han­delt es sich nicht. Es ist ent­wür­di­gend für die, wel­che zu­se­hen. Der Sinn des Stier­kamp­fes ist, sich über die Lei­den ei­nes Tie­res zu freu­en. Es ist fei­ge, wenn fünf Män­ner mit ei­nem dum­men Stier kämp­fen. Da­durch wer­den auch die, wel­che zu­se­hen, fei­ge. Der Stier stirbt, aber die, wel­che zu­se­hen, le­ben, und das, was sie se­hen, be­ein­flusst sie, Man­nes­mut und Män­ner­her­zen för­dert es nicht, wenn sie ein Schau­spiel der Feig­heit se­hen.«

Ma­ria Va­len­zue­la sag­te nichts. Sie sah ihn auch nicht an, aber sie hör­te je­des Wort, und ihre Wan­gen wa­ren heiß vor Zorn. Sie blick­te in die Are­na und fä­chel­te sich, aber ich sah, dass ihre Hand zit­ter­te, und John Har­ned sah sie nicht an. Er er­zähl­te, als wäre sie gar nicht zu­ge­gen. Auch er war von Zorn, von kal­tem Zorn er­füllt.

»Ach«, sag­te Luis Cer­val­los lei­se. »Sie glau­ben, uns zu ver­ste­hen.«

»Jetzt ver­ste­he ich die spa­ni­sche In­qui­si­ti­on«, sag­te John Har­ned. »Die war si­cher noch herr­li­cher als Stier­kämp­fe.«

Luis Cer­val­los lä­chel­te, sag­te aber nichts. Er sah Ma­ria Va­len­zue­la an und wuss­te, dass das Stier­ge­fecht in der Loge ge­won­nen war. Sie wür­de nie mehr et­was mit dem Grin­go zu tun ha­ben wol­len, der sol­che Wor­te sprach. Aber we­der Luis Cer­val­los noch ich wa­ren dar­auf vor­be­rei­tet, dass der Tag so en­den wür­de. Ich fürch­te, wir ver­ste­hen die­se Grin­gos nicht. Wie konn­ten wir wis­sen, dass John Har­ned, des­sen Zorn so kalt war, plötz­lich ver­rückt wer­den wür­de? Aber ver­rückt wur­de er, wie Sie hö­ren wer­den. Der Stier galt ihm nichts – das hat­te er selbst ge­sagt. Wa­rum galt ihm denn das Pferd so viel, das kann ich nicht ver­ste­hen. John Har­ned be­saß kei­ne Lo­gik, das ist die ein­zi­ge Er­klä­rung.

»In Qui­to ist es nicht ge­bräuch­lich, beim Stier­kampf Pfer­de auf­tre­ten zu las­sen«, sag­te Luis Cer­val­los und sah von sei­nem Pro­gramm auf. »In Spa­ni­en hat man sie im­mer. Aber heu­te be­kom­men wir sie auch auf be­son­de­re Er­laub­nis hin zu se­hen. Wenn der nächs­te Stier auf­tritt, wer­den auch Pfer­de und Pi­ka­do­re kom­men. Sie wis­sen, die Leu­te, die zu Pfer­de sind und Lan­zen tra­gen.«

»Der Stier ist von vorn­her­ein zum Tode ver­ur­teilt«, sag­te John Har­ned. »Sind das die Pfer­de auch?«

»Sie tra­gen Bin­den vor den Au­gen, so­dass sie den Stier nicht se­hen kön­nen«, sag­te Luis Cer­val­los. »Ich habe oft ge­se­hen, wenn Pfer­de ge­tö­tet wur­den. Es ist ein pracht­vol­ler An­blick.«

»Ich habe ge­se­hen, wie der Stier ge­schlach­tet wur­de«, sag­te John Har­ned. »Jetzt will ich auch se­hen, wie das Pferd ge­schlach­tet wird, da­mit ich mehr von den Fein­hei­ten die­ses Sports ver­ste­he.«

»Es sind alte Pfer­de«, sag­te Luis Cer­val­los. »Sie tau­gen sonst zu nichts mehr.«

»Ach so«, sag­te John Har­ned.

Der drit­te Stier kam her­ein, und bald stan­den ihm Ka­pea­do­re und Pi­ka­do­re ge­gen­über. Ein Pi­ka­dor hat­te ge­ra­de un­ter uns Pos­ten ge­fasst.

Ich gebe zu, dass es ein ma­ge­res al­tes Tier war, das er ritt, ein mit räu­di­ger Pfer­de­haut über­zo­ge­nes Ge­rip­pe.

»Es ist un­glaub­lich, dass das arme Vieh das Ge­wicht des Rei­ters tra­gen kann«, sag­te John Har­ned. »Und was für Waf­fen hat das Pferd nun, um mit dem Stier kämp­fen zu kön­nen?«

»Das Pferd kämpft nicht mit dem Stier«, sag­te Luis Cer­val­los.

»Ach«, sag­te John Har­ned, »dann ist das Pferd wohl dazu da, um auf­ge­spießt zu wer­den.«

»Ganz so ist es nicht«, sag­te ich. »Die Lan­ze des Pi­ka­dors soll den Stier da­von ab­hal­ten, das Pferd auf­zu­spie­ßen.«

»Dann wer­den Pfer­de also sel­ten auf­ge­spießt?« frag­te John Har­ned.

»Nein«, ant­wor­te­te Luis Cer­val­los. »In Se­vil­la habe ich ge­se­hen, wie acht­zehn Pfer­de an ei­nem ein­zi­gen Tag auf­ge­spießt wur­den, und das Volk rief nach noch mehr Pfer­den.«

»Wa­ren ih­nen al­len die Au­gen ver­bun­den, wie die­sem Pferd?« frag­te John Har­ned.

»Ja«, sag­te Luis Cer­val­los.

Dann spra­chen sie nicht mehr und be­ob­ach­te­ten den Kampf, und John Har­ned wur­de da­bei ver­rückt, und wir wuss­ten es nicht. Der Stier woll­te das Pferd nicht an­grei­fen. Und das Pferd blieb ste­hen, und da es nichts se­hen konn­te, wuss­te es nicht, dass die Ka­pea­do­re ver­such­ten, den Stier zu ei­nem An­griff zu het­zen. Die Ka­pea­do­re neck­ten den Stier mit ih­ren Um­hän­gen, und als er an­griff, lie­fen sie auf das Pferd zu und dann in De­ckung. Schließ­lich wur­de der Stier wü­tend und er­blick­te das Pferd vor sich.

»Das Pferd weiß es nicht, das Pferd weiß es nicht«, flüs­ter­te John Har­ned vor sich hin, ohne zu mer­ken, dass er sei­ne Ge­dan­ken laut aus­sprach.

Der Stier griff an, und na­tür­lich wuss­te das Pferd nichts, bis der Pi­ka­dor mit sei­ner Lan­ze fehls­tieß und das Pferd von dem Horn des Stiers auf­ge­spießt war. Der Stier war un­ge­wöhn­lich stark. Sei­ne Stär­ke war pracht­voll. Er hob das Pferd em­por, und als es dann zu Bo­den stürz­te und auf die Sei­te fiel, kam der Pi­ka­dor auf sei­ne Füße zu ste­hen und flüch­te­te, wäh­rend die Ka­pea­do­re den Stier fort­lock­ten. Alle wich­ti­gen Or­ga­ne wur­den aus dem Pferd her­aus­ge­presst. Den­noch er­hob es sich mit schril­lem Schmer­zens­schrei. Der Schrei des Pfer­des war es, der John Har­ned völ­lig ver­rückt mach­te. Ich hör­te ihn lei­se flu­chen und tief knur­ren. Kei­nen Au­gen­blick ließ er das Pferd aus den Au­gen, das, im­mer noch schrei­end, fort­zu­lau­fen ver­such­te. Aber nun stürz­te es und fiel auf den Rücken und streck­te alle vier Bei­ne in die Luft. Dann griff der Stier von neu­em an und durch­bohr­te es im­mer wie­der, bis es tot war.

Jetzt stand John Har­ned auf. Sei­ne Au­gen wa­ren nicht mehr kalt wie Stahl. Sie wa­ren wie blaue Flam­men. Er sah Ma­ria Va­len­zue­la an, und sie sah ihn an. Der Wahn­sinn hat­te ihn ge­packt. Jetzt, da das Pferd tot war, blick­ten ihn alle an; und John Har­ned war ein auf­fal­lend großer Mann.

»Set­zen Sie sich«, sag­te Luis Cer­val­los, »sonst ma­chen Sie sich lä­cher­lich.«

John Har­ned ant­wor­te­te nicht. Er ball­te die Faust und schlug zu. Er schlug Luis Cer­val­los ins Ge­sicht, dass er wie ein To­ter über die Stüh­le fiel und nicht wie­der auf­stand. Er sah nichts von dem, was jetzt folg­te. Aber ich sah viel. Ur­ci­si­no Ca­stil­lo beug­te sich über die Lo­gen­brüs­tung und schlug mit sei­nem Stuhl John Har­ned mit­ten ins Ge­sicht. Und John Har­ned schlug ihn mit sei­ner Faust, dass er fiel und im Fal­len Ge­ne­ral Sala­zar mit­riss. John Har­ned hat­te das, was Sie Ber­ser­ker­wut nen­nen, nicht wahr? Die Bes­tie in ihm war los­ge­las­sen und tob­te – die ur­al­te Bes­tie aus den Höh­len und Schlupf­win­keln der Vor­zeit.

»Ihr kamt des Stier­kamp­fes we­gen«, hör­te ich ihn sa­gen. »Aber bei Gott, ich will euch einen Män­ner­kampf zei­gen!«

Und es wur­de ein Kampf. Die Sol­da­ten, die als Wacht­pos­ten ne­ben der Prä­si­den­ten­lo­ge stan­den, spran­gen hin­zu, aber er ent­riss ei­nem von ih­nen das Ge­wehr und schlug sie da­mit auf die Köp­fe. Aus der an­de­ren Loge schoss Oberst Ja­cin­to Fier­ro mit dem Re­vol­ver auf ihn. Der ers­te Schuss tö­te­te einen Sol­da­ten. Der zwei­te Schuss traf John Har­ned in die Sei­te. Da fluch­te er und jag­te das Ba­jo­nett, das auf dem Ge­wehr steck­te, Oberst Ja­cin­to Fier­ro mit ei­nem Stoß durch den Leib. Es war ein schreck­li­cher An­blick. Ame­ri­ka­ner und Eng­län­der sind eine bru­ta­le Ras­se. Sie rümp­fen die Nase über un­se­re Stier­kämp­fe, aber da­bei freut es sie, Blut zu ver­gie­ßen. Es wur­den an die­sem Tage von John Har­ned mehr Män­ner ge­tö­tet, als je ge­tö­tet wor­den sind, seit die Stier­kampf­are­nen in Qui­to, in Gua­ya­quil und den an­de­ren Städ­ten von Ecua­dor be­stan­den ha­ben.

Der Schrei des Pfer­des hat­te die Schuld. Aber warum wur­de John Har­ned nicht wahn­sin­nig, als der Stier ge­tö­tet wur­de? Tier ist Tier, ob es nun ein Stier oder ein Pferd ist. John Har­ned war ver­rückt. Es gibt kei­ne an­de­re Er­klä­rung. Er woll­te Blut se­hen, er war sel­ber eine Bes­tie. Ur­tei­len Sie selbst. Was ist schlim­mer: dass ein Pferd von ei­nem Stier auf­ge­spießt wird, oder Oberst Ja­cin­to Fier­ro von John Har­ned mit dem Ba­jo­nett? Er war wie vom Teu­fel be­ses­sen. Er kämpf­te, ob­wohl er von vie­len Ku­geln ge­trof­fen war, bis zum letz­ten Atem­zug. Ma­ria Va­len­zue­la war eine tap­fe­re Frau. Sie schrie nicht, noch fiel sie in Ohn­macht. Sie saß still in ih­rer Loge und starr­te über die Are­na hin­weg. Ihr Ge­sicht war weiß, und sie fä­chel­te sich, aber sie sah sich nicht ein ein­zi­ges Mal um.

 

Von al­len Sei­ten dräng­ten Sol­da­ten und Of­fi­zie­re und das Volk her­an, um den ver­rück­ten Grin­go zu über­wäl­ti­gen. Es ist wahr – ein Ruf kam aus der Men­ge, alle Grin­gos zu tö­ten. Das ist ein wohl­be­kann­ter Ruf in den la­tein­ame­ri­ka­ni­schen Län­dern, den die Grin­gos selbst durch ihre Un­be­liebt­heit und ihre ro­hen Ma­nie­ren ver­schul­det ha­ben. Man kann nicht leug­nen, dass die­ser Ruf er­tön­te. Aber die tap­fe­ren Ecua­do­ria­ner tö­te­ten nur John Har­ned, nach­dem er sie­ben von ih­nen ge­tö­tet hat­te. Au­ßer­dem gab es vie­le Ver­wun­de­te. Ich habe man­chen Stier­kampf ge­se­hen, nie aber habe ich so et­was Ab­scheu­li­ches ge­se­hen wie die Sze­ne in den Lo­gen, als der Kampf vor­bei war. Es war wie nach ei­ner Wahl. Über­all la­gen die To­ten um­her, und die Ver­wun­de­ten schluchz­ten und stöhn­ten. Ei­ni­ge von ih­nen star­ben. Ein Mann, dem John Har­ned das Ba­jo­nett durch den Bauch ge­sto­ßen hat­te, griff mit bei­den Hän­den nach der Wun­de und schrie vor Schmerz. Ich sage Ih­nen, das war viel schreck­li­cher, als wenn tau­send Pfer­de vor Schmerz ge­schri­en hät­ten.

Nein, Ma­ria Va­len­zue­la hei­ra­te­te Luis Cer­val­los nicht. Das tut mir leid. Er war mein Freund, und ich habe viel Geld in sei­ne Un­ter­neh­mun­gen ge­steckt. Es dau­er­te fünf Wo­chen, ehe die Ärz­te ihm den Ver­band vom Ge­sicht neh­men konn­ten, und noch heu­te hat er eine Nar­be auf der Ba­cke un­ter dem Auge. Und da­bei schlug John Har­ned nur ein ein­zi­ges Mal und nur mit der blo­ßen Faust zu. Ma­ria Va­len­zue­la ist jetzt in Ös­ter­reich. Man sagt, dass sie einen Erz­her­zog hei­ra­ten soll. Ich weiß nichts Nä­he­res da­von. Ich glau­be, dass sie John Har­ned gern hat­te, denn er ging mit ihr nach Qui­to, um den Stier­kampf zu se­hen. Aber warum muss­te das mit dem Pferd kom­men? Das möch­te ich gern wis­sen. Wa­rum konn­te er den Stier se­hen und sa­gen, dass ihm der Stier nicht so­viel gel­te, um dann plötz­lich wahn­sin­nig zu wer­den, weil ein Pferd vor Schmerz schrie? Die Grin­gos sind un­be­greif­li­che Men­schen. Sie sind Bar­ba­ren.

Wer schlug zuerst?

I

Car­ter Wat­son schlen­der­te, ein so­eben er­schie­ne­nes Ma­ga­zin un­ter dem Arm, die Stra­ße hin­ab und sah sich neu­gie­rig um. Zwan­zig Jah­re war es her, dass er die­se Stra­ße be­tre­ten hat­te, und die in ihr er­folg­ten Ver­än­de­run­gen wa­ren groß und über­ra­schend. Die­se Stadt im Wes­ten mit ih­ren drei­hun­dert­tau­send Ein­woh­nern hat­te zu der Zeit, als er als Kna­be ihre Stra­ßen durch­streif­te, nicht mehr als drei­ßig­tau­send ge­habt. Da­mals war die Stra­ße, durch die er jetzt schritt, eine ru­hi­ge Wohn­stra­ße in ei­nem sau­be­ren Ar­bei­ter­vier­tel ge­we­sen. In die­ser spä­ten Nach­mit­tags­stun­de sah er, dass sie von ei­ner zahl­rei­chen und las­ter­haf­ten Be­völ­ke­rung über­schwemmt wur­de. Chi­ne­si­sche und ja­pa­ni­sche Lä­den und Knei­pen wech­sel­ten ab mit ame­ri­ka­ni­schen Ver­gnü­gungs­stät­ten und Bier­quel­len. Die­se ru­hi­ge Stra­ße sei­ner Ju­gend war das St. Pau­li der Stadt ge­wor­den. Er sah auf die Uhr. Es war halb sechs. Es war die stil­le Ta­ges­zeit für eine sol­che Ge­gend, wie er wuss­te, aber er war neu­gie­rig und woll­te et­was se­hen. In all den Jah­ren, die er reis­te, um die so­zia­len Ver­hält­nis­se in der gan­zen Welt zu stu­die­ren, war ihm die­se Stadt in der Erin­ne­rung teu­er und hei­lig ge­we­sen. Die Ver­än­de­rung, die er jetzt sah, war er­staun­lich.

Car­ter Wat­son be­saß ein aus­ge­präg­tes Ge­wis­sen. Un­ab­hän­gig und reich, hat­te er sei­ne Kräf­te nie­mals auf vor­neh­me Tee­ge­sell­schaf­ten und tö­rich­te Di­ners ver­schwen­det, eben­so­we­nig hat­ten ihn Schau­spie­le­rin­nen, Renn­pfer­de und ähn­li­che Ver­gnü­gun­gen in­ter­es­siert. Er war ein Re­for­ma­tor und hat­te sie­ben­und­zwan­zig Bü­cher ge­schrie­ben.

An die­sem spä­ten Som­mer­nach­mit­tag, als er so da­hin­schlen­der­te, blieb er vor ei­nem auf­fal­len­den Lo­kal ste­hen. Auf dem Schild dar­über stand »Ven­dô­me«. Es gab zwei Ein­gän­ge. Der eine führ­te of­fen­bar in die Schank­stu­be. Um den küm­mer­te er sich nicht. Der an­de­re war ein schma­ler Kor­ri­dor. Als er ihn pas­siert hat­te, stand er in ei­nem sehr großen Raum vol­ler Ti­sche und Stüh­le, der aber sonst voll­kom­men leer war. Im Halb­dun­kel er­blick­te er ein Kla­vier.

Im Hin­ter­grund führ­te ein kur­z­er Kor­ri­dor nach ei­ner klei­nen Kü­che, und hier saß Pat­sy Horan, der Be­sit­zer des »Ven­dô­me«, al­lein an ei­nem Tisch und aß has­tig sein Abend­brot vor Be­ginn der Ge­schäfts­zeit. Pat­sy war, auf die gan­ze Welt zor­nig, mit dem lin­ken Fuß zu­erst auf­ge­stan­den, und al­les war ihm an die­sem Tage schief­ge­gan­gen. Hät­te man sei­ne Bar­kee­per ge­fragt, so wür­den sie sei­ne Ge­müts­ver­fas­sung als einen leich­ten Rausch be­zeich­net ha­ben. Aber das wuss­te Car­ter Wat­son nicht. Als er den klei­nen Kor­ri­dor durch­schritt, fie­len die bos­haf­ten Au­gen Pat­sys auf das Ma­ga­zin, das er un­ter dem Arme trug. Pat­sy kann­te Car­ter Wat­son nicht und wuss­te auch nicht, dass es ein Ma­ga­zin war, das er un­ter dem Arme hielt. In sei­nem Rausch ge­lang­te Pat­sy zu dem Er­geb­nis, dass die­ser Frem­de ei­ner je­ner un­ver­schäm­ten Bur­schen wäre, die die Wän­de sei­ner Hin­ter­zim­mer durch das An­na­geln oder Ankle­ben von Pla­ka­ten ver­un­zier­ten und verd­ar­ben. Die Far­be des Ma­ga­zin­um­schla­ges über­zeug­te ihn, dass es sich um ein sol­ches Pla­kat han­de­le. Und so be­gann der Streit. Mit Mes­ser und Ga­bel fuhr Pat­sy auf Car­ter Wat­son los.

»Hin­aus mit Ih­nen!« kläff­te Pat­sy. »Ich weiß, was Sie wol­len!«

Car­ter Wat­son war ver­blüfft. Der Mann war wie der Knüp­pel aus dem Sack über ihn ge­kom­men.

»Wol­len Sie mei­ne Wän­de ver­der­ben«, rief Pat­sy zor­nig und stieß gleich­zei­tig eine lan­ge Rei­he ma­le­ri­scher, aber ge­mei­ner Schimpf­wor­te aus.

»Wenn ich Ih­nen zu nahe ge­tre­ten sein soll, so bit­te ich –«

Aber wei­ter kam Wat­son nicht. Pat­sy un­ter­brach ihn. »Ma­chen Sie, dass Sie wei­ter­kom­men, und hal­ten Sie die Klap­pe«, sag­te Pat­sy und un­ter­strich sei­ne Wor­te, in­dem er Mes­ser und Ga­bel schwang.

Car­ter Wat­son sah im Geist schon die Ga­bel in un­an­ge­neh­mer Wei­se zwi­schen sei­nen Rip­pen ste­cken. Er merk­te, dass es leicht­sin­nig sein wür­de, mehr zu sa­gen, und schick­te sich da­her schnell zum Ge­hen an. Aber der An­blick sei­nes de­mü­ti­gen Rück­zu­ges muss­te Pat­sy Horan noch mehr er­bit­tern, er ließ die Ess­ge­rä­te fal­len und stürz­te sich auf Wat­son.

Pat­sy wog hun­dert­sech­zig Pfund. Wat­son eben­so­viel. In die­sem Punkt wa­ren sie ein­an­der gleich. Aber Pat­sy war ein Drauf­gän­ger und Roh­ling, der sich in Knei­pen her­um­prü­gel­te, Wat­son hin­ge­gen ein ge­üb­ter Bo­xer. In die­ser Be­zie­hung hat­te Wat­son den Vor­teil auf sei­ner Sei­te, denn Pat­sy ging ge­ra­de­wegs auf ihn los und schwang den rech­ten Arm ge­fahr­dro­hend. Wat­son brauch­te ihm nur einen re­gel­rech­ten Lin­ken zu ver­set­zen und dann zu ver­schwin­den. Aber Wat­son hat­te noch einen Vor­teil vor Pat­sy. Sein Bo­xen und sei­ne in den Ar­men­vier­teln der gan­zen Welt ge­schöpf­ten Er­fah­run­gen hat­ten ihn Selbst­be­herr­schung ge­lehrt.

Er dreh­te sich schnell um, pa­rier­te den Schlag und pack­te zu. Aber Pat­sy, der wie ein Stier auf ihn ge­stürzt war, hat­te die Wucht ei­nes Ge­schos­ses. Das Er­geb­nis war, dass bei­de mit ih­ren drei­hun­dertzwan­zig Pfund um­fie­len und einen mäch­ti­gen Spek­ta­kel mach­ten. Wat­son lag nicht ge­ra­de dar­an, hier in sei­ner Va­ter­stadt, wo vie­le sei­ner Ver­wand­ten und vie­le Freun­de sei­ner Fa­mi­lie leb­ten, in die Zei­tun­gen zu kom­men. Des­halb um­schlang er den Mann, der auf ihm lag, mit den Ar­men, press­te ihn fest an sich und war­te­te, dass die Hil­fe kom­men soll­te, die von dem Krach not­wen­di­ger­wei­se her­bei­ge­lockt wer­den muss­te. Es kam auch Hil­fe, sechs Mann ka­men aus der Schank­stu­be ge­lau­fen und stell­ten sich in ei­nem Halb­kreis auf. »Nehmt ihn weg, Jun­gens«, sag­te Wat­son. »Ich habe ihn nicht ge­schla­gen und habe kei­ne Lust, mich mit ihm zu prü­geln.«

Aber der Halb­kreis blieb schwei­gend ste­hen. Wat­son hielt sei­nen Geg­ner wei­ter fest und war­te­te. Pat­sy mach­te nach ei­nem ver­geb­li­chen Ver­such, ihm einen Puff zu ver­set­zen, ein An­ge­bot.

»Las­sen Sie mich los, dann las­se ich Sie auch los«, sag­te er.

Wat­son ließ ihn los, als Pat­sy aber auf die Bei­ne ge­kom­men war, beug­te er sich schlag­be­reit über sei­nen lie­gen­den Geg­ner.

»Ste­hen Sie auf!« kom­man­dier­te Pat­sy. Sei­ne Stim­me war barsch und un­ver­söhn­lich wie die ei­nes rich­ten­den Got­tes, und Wat­son merk­te, dass hier kei­ne Barm­her­zig­keit zu er­war­ten war.

»Tre­ten Sie zu­rück, dann ste­he ich auf«, sag­te er.

»Wenn Sie ein Gent­le­man sind, ste­hen Sie auf«, ver­lang­te Pat­sy; sei­ne blau­en Au­gen flamm­ten vor Zorn, und die Faust war zu ei­nem zer­schmet­tern­den Schla­ge ge­ballt.

Im sel­ben Au­gen­blick zog er den Fuß zu­rück, um dem an­de­ren einen Tritt ins Ge­nick zu ver­set­zen. Wat­son wehr­te den Tritt mit ge­kreuz­ten Ar­men ab und sprang so schnell auf, dass er sei­nem Geg­ner auf dem Lei­be war und ihn ge­packt hat­te, ehe er Zeit zum Schla­gen fand. Er hielt ihn fest und sag­te zu den Zuschau­ern: »Nehmt ihn weg von mir, Jun­gens. Ihr seht, dass ich ihn nicht schla­ge. Ich habe kei­ne Lust zu kämp­fen. Ich will nur fort von hier.«

Der Kreis wich und wank­te nicht und blieb stumm. Das Schwei­gen war un­heil­ver­kün­dend, und es lief Wat­son kalt den Rücken hin­ab. Pat­sy mach­te einen Ver­such, ihn um­zu­wer­fen, aber das Er­geb­nis war, dass Pat­sy auf dem Rücken lag. Wat­son ließ ihn los, sprang auf und lief zur Tür hin. Aber der Kreis von Män­nern stell­te sich wie eine Mau­er da­zwi­schen. Er be­merk­te die wei­ßen, teig­ar­ti­gen Ge­sich­ter, de­nen man an­sah, dass sie sel­ten von der Son­ne be­schie­nen wur­den, und er­kann­te, dass die Män­ner, die ihm den Weg ver­sperr­ten, die nächt­li­chen, beu­te­lüs­ter­nen Bes­ti­en der Stadtd­schun­gel wa­ren. Von ih­nen wur­de er wie­der ge­gen Pat­sy ge­wor­fen, der ihn wie ein an­grei­fen­der Stier an­sprang.

Wie­der kam es zum Clinch, bei dem Wat­son, der sich jetzt in Si­cher­heit be­fand, noch ein­mal an die Ban­de ap­pel­lier­te. Aber er pre­dig­te tau­ben Ohren. Und in die­sem Au­gen­blick wur­de er ängst­lich, denn er hat­te von vie­len ganz ähn­li­chen Si­tua­tio­nen in Knei­pen wie die­ser ge­hört, bei de­nen ein­zel­nen Män­nern Rip­pen und Na­sen­bei­ne ein­ge­schla­gen oder sie zu Tode ge­prü­gelt und ge­tre­ten wor­den wa­ren.

Sie­ben ge­gen einen war un­ter kei­nen Um­stän­den ehr­li­ches Spiel. Auch er war zor­nig, und das kämp­fen­de Tier, das in al­len Män­nern steckt, be­gann sich in ihm zu re­gen. Aber er dach­te an sei­ne Frau und sei­ne Kin­der, an sein un­voll­en­de­tes Buch und die zehn­tau­send Mor­gen wo­gen­den Acker­lan­des um die Ranch, die er im Nor­den be­saß, und die er so heiß lieb­te. Er sah vor sei­nem in­ne­ren Auge so­gar in ei­ner blen­den­den Vi­si­on den blau­en Him­mel und den gol­de­nen Son­nen­schein, der sich über ihn er­goss. Blu­men­über­sä­te Wie­sen, das trä­ge Vieh, das bis zu den Kni­en in den Bä­chen stand, das Auf­blit­zen ei­ner Fo­rel­le in der Strom­schnel­le. Das Le­ben war schön zu schön für ihn, um es dazu aufs Spiel zu set­zen, dass er dem Tier in sich für einen Au­gen­blick die Zü­gel schie­ßen ließ.

Sein Geg­ner, der sich aus der Um­klam­me­rung nicht be­frei­en konn­te, ver­such­te ihn zu wer­fen. Wie­der brach­te Wat­son ihn zu Bo­den und riss sich los, aber wie­der wur­de er von dem teig­ge­sich­ti­gen Kreis zu­rück­ge­wor­fen, muss­te die schwin­gen­de Rech­te Pat­sys pa­rie­ren und einen neu­en Ring­kampf be­gin­nen. Das wie­der­hol­te sich drei­mal. Und Wat­son wur­de, wenn mög­lich, noch kalt­blü­ti­ger, wäh­rend der ent­täusch­te Pat­sy, der sich au­ßer­stan­de sah, ihm et­was zu tun, im­mer wil­der tob­te. In der Um­klam­me­rung be­gann er jetzt mit dem Kopf zu sto­ßen. Das ers­te Mal hieb er mit der Stirn Wat­son ge­ra­de auf die Nase. Von jetzt an barg Wat­son beim Clin­chen sein Ge­sicht an Pat­sys Brust. Aber der wü­ten­de Kerl stieß wei­ter mit dem Kopf um sich und schlug sich selbst Auge, Nase und Ba­cke an dem Schei­tel des an­de­ren. Und je mehr Scha­den Pat­sy sich auf die­se Wei­se zu­füg­te, de­sto öf­ter und här­ter stieß er mit dem Kopf um sich.

 

Die­ser ein­sei­ti­ge Kampf dau­er­te zwölf bis fünf­zehn Mi­nu­ten. Wat­son schlug nicht ein­mal zu, son­dern such­te nur zu ent­kom­men. Zu­wei­len, wenn er in den Au­gen­bli­cken, da er sich los­ge­ris­sen hat­te, bei sei­nen Ver­su­chen, die Tür zu er­rei­chen, um die Ti­sche kreis­te, pack­ten die teig­ge­sich­ti­gen Bur­schen ihn an den Rock­schö­ßen und schleu­der­ten ihn zu­rück, ge­gen die er­ho­be­ne Rech­te des vor­stür­men­den Pat­sy. Im­mer wie­der um­klam­mer­te er Pat­sy und warf ihn auf den Rücken, und da­bei dreh­te er sich je­des Mal um und leg­te ihn in die Rich­tung der Tür, wo­durch er sei­nem Ziel um die Län­ge des Fal­les nä­her­kam. Schließ­lich ge­lang­te Wat­son ohne Hut, atem­los, mit blu­ten­der Nase und ei­nem ge­schwol­le­nen Auge auf die Stra­ße hin­aus und lief ei­nem Schutz­mann in die Arme.

»Ver­haf­ten Sie den Mann!«, ächz­te Wat­son.

»Hal­lo, Pat­sy«, sag­te der Schutz­mann. »Was gibt es hier?«

»Hal­lo, Char­ley«, lau­te­te die Ant­wort. »Der Kerl kommt her –«

»Ver­haf­ten Sie den Mann, Herr Wacht­meis­ter«, wie­der­hol­te Wat­son.

»Mach, dass du weg­kommst! Im­mer ru­hig«, sag­te Pat­sy.

»Im­mer ru­hig«, füg­te der Schutz­mann hin­zu. »Sonst wer­de ich Sie ein­ste­cken.«

»Nicht, wenn Sie den Mann nicht ver­haf­ten. Er hat mich grund­los über­fal­len.«

»Stimmt das, Pat­sy?« frag­te der Schutz­mann.

»Nee, hö­ren Sie, Char­ley, ich habe Zeu­gen, bei Gott. Ich saß in mei­ner Kü­che und aß einen Tel­ler Sup­pe, als der Kerl her­ein­kam und mit mir an­bin­den woll­te. Ich habe ihn mein Leb­tag nicht ge­se­hen. Er ist be­sof­fen. –«

»Se­hen Sie mich an, Herr Wacht­meis­ter«, pro­tes­tier­te der zor­ni­ge Wat­son. »Bin ich be­trun­ken?«

Der Schutz­mann sah ihn mit ei­nem fins­ter dro­hen­den Blick an und nick­te Pat­sy zu, dass er fort­fah­ren soll­te.

»Der Kerl woll­te mit mir an­bin­den. ›Ich bin Tim McGrat‹, sag­te er. ›Hän­de hoch!‹ Ich lächle, und im sel­ben Au­gen­blick schmeißt er mich – bums – zwei­mal hin und ver­gießt mei­ne Sup­pe. Se­hen Sie mein Auge an, ich bin halb tot­ge­schla­gen.«

»Was ge­den­ken Sie zu tun, Herr Wacht­meis­ter?« frag­te Wat­son.

»Ge­hen Sie wei­ter und ver­hal­ten Sie sich ru­hig«, lau­te­te die Ant­wort, »sonst ste­cke ich Sie ein.«

Die Lie­be zur Ge­rech­tig­keit flamm­te in Car­ter Wat­son auf. »Herr Wacht­meis­ter, ich pro­tes­tie­re.«

Aber im sel­ben Au­gen­blick pack­te der Schutz­mann sei­nen Arm mit ei­nem kräf­ti­gen Ruck, dass er fast ge­fal­len wäre. »Los, Sie sind ver­haf­tet.«

»Ver­haf­ten Sie ihn auch«, schrie Wat­son.

»Dazu liegt kein Grund vor«, lau­te­te die Ant­wort. »Was müs­sen Sie ihn auch über­fal­len, wenn er fried­lich sei­ne Sup­pe isst?«