Als es ihrer Berechnung nach gerade Mitternacht sein musste, kam eine neue Störung. Ein elektrisches Licht zeigte sich wie ein winziger Scheinwerfer in der Türöffnung und bewegte sich durch die Scheune, bis es schließlich auf ihr und Billy haftete, während eine barsche Stimme sagte:
»Aha, jetzt hab’ ich euch. Wollt ihr machen, dass ihr wegkommt!«
Billy setzte sich, halb geblendet von dem Licht, auf. Die Stimme hinter dem Licht näherte sich und wiederholte, dass sie machen sollten wegzukommen.
»Was gibt es?« fragte Billy.
»Ich bin es«, lautete die Antwort, »und ich passe auf, das sage ich euch nur!«
Die Stimme war dicht neben ihnen, nur einen Schritt entfernt, und sie konnten nichts sehen, weil das Licht, das nicht gerade sehr stetig war, jeden Augenblick ausging, wenn der, welcher es bediente, es müde wurde, den Daumen auf den Knopf zu drücken.
»Also ein bisschen schnell!« fuhr die Stimme fort. »Rollt eure Decken zusammen und kommt mit! Ich warte auf euch!«
»Wer sind Sie zum Donnerwetter?« fragte Billy.
»Ich bin Polizist, kommen Sie jetzt!«
»So, was wollen Sie denn hier?«
»Euch beide mitnehmen, selbstverständlich.«
»Warum?«
»Weil ihr Vagabunden seid. Na, ein bisschen schnell! Ich habe keine Lust, hier die ganze Nacht zu stehen!«
»Ach, dann können Sie ja selber machen, dass Sie wegkommen!« sagte Billy. »Ich bin kein Vagabund. Ich bin Arbeiter.«
»Vielleicht – vielleicht auch nicht«, sagte der Polizist.
»Aber das können Sie morgen früh Richter Neusbaumer erzählen.«
»Was, zum Teufel – bildest du dreckiger, stinkender Köter dir ein, dass du mich festnehmen kannst?« fing Billy an. »Dreh das Licht zu dir selber um. Ich will sehen, was für eine hässliche, dreckige Fratze du hast. Mich festnehmen, wie bitte? Mich festnehmen? Ich hätte Lust, herauszukommen und dich kurz und klein zu schlagen.«
»Nein, nein, Billy«, bat Saxon. »Mach keinen Krach, du kommst nur ins Gefängnis.«
»Sehr richtig!« sagte der Schutzmann beifällig. »Hören Sie darauf, was das Mädel sagt!«
»Das ist meine Frau, und ich muss bitten, dass du ordentlich von ihr redest«, sagte Billy drohend. »Aber jetzt mach lieber, dass du wegkommst, sonst hast du es zu bereuen.«
»Ich bin früher schon mit Leuten deines Schlages fertig geworden«, antwortete der Schutzmann. »Und ich habe meinen kleinen Assistenten bei mir. Kannst du sehen?«
Der Lichtstrahl bewegte sich, und sie sahen eine Hand mit einem Revolver, unheimlich stark beleuchtet, aus der Dunkelheit herausragen. Diese Hand war gleichsam etwas für sich, etwas, das kraft seiner selbst existierte und nicht zu einem bestimmten Körper gehörte, und sie tauchte auf und verschwand wieder wie ein Geist, als der Daumen den Knopf losließ. Einen Augenblick starrten sie auf die Hand mit dem Revolver, im nächsten Augenblick herrschte undurchdringliches Dunkel, und dann sahen sie wieder die Hand und den Revolver.
»Nun, ich denke, ihr macht diesmal keine Schwierigkeiten mehr«, sagte der Schutzmann triumphierend.
»Da denkst du falsch«, begann Billy.
Im nächsten Augenblick ging das Licht aus. Sie hörten den Schutzmann eine schnelle Bewegung machen und dann die elektrische Lampe dumpf zu Boden fallen. Sowohl Billy wie der Schutzmann suchten nach ihr, aber Billy war es, der sie fand, und den Lichtstrahl auf den anderen richtete. Sie sahen einen graubärtigen, in triefend nasses Ölzeug gekleideten Mann. Es war ein alter Mann, der Saxon an die alten Männer erinnerte, die sie am dreißigsten Mai in den Veteranenprozessionen gesehen hatte.
»Gib mir meine Lampe!« befahl er.
Billy lachte höhnisch.
»Ja, dann muss ich dir eine Kugel in den Leib schießen, weiß Gott, ich muss!«
Er richtete den Revolver auf Billy, dessen Daumen nicht einen Augenblick den Knopf losließ, und sie konnten im Schein der Laterne in den Revolverlauf hineinsehen.
»Du altes bärtiges Gestell, du hast ja nicht einmal so viel Mut, einen sauern Apfel zu schießen!« antwortete Billy. »Ich kenne Leute deines Schlages – tapfer wie Löwen, wenn ihr elenden Feiglingen und Vagabunden gegenübersteht, aber vorsichtig wie Schakale, wenn ihr einen Mann trefft. Auf mich schießen! Du elendes feiges Stück Dreck, du nimmst den Schwanz zwischen die Beine, wenn ich nur Buh sage!«
Billy ließ die Tat dem Worte folgen und stieß ein Buh aus, und Saxon musste unwillkürlich lachen, als sie den Schutzmann zusammenfahren sah.
»Ich sage es jetzt zum letztenmal«, fauchte der mit zusammengebissenen Zähnen. »Gib mir die Lampe und kommt mit, ohne weitere Schwierigkeiten zu machen – sonst knalle ich dich nieder.«
Saxon fürchtete für Billy, aber doch nur halb. Sie glaubte fest, dass der Mann nicht zu schießen wagte, und wie so oft zuvor wurde sie beim Anblick von Billys Mut von Bewunderung durchbebt. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, wusste aber so sicher, wie wenn sie es gesehen hätte, dass es denselben leidenschaftslosen, erschreckenden Ausdruck hatte, den es gehabt hatte, als er sich mit den drei Irländern schlug.
»Es ist nicht das erstemal, dass ich einen Menschen töte«, sagte der Schutzmann drohend. »Ich bin ein alter Soldat, und ich kann sehr gut Blut sehen –«
»Und Sie sollten sich schämen«, fiel Saxon ihm ins Wort, »herzukommen und mit friedlichen Leuten anzubinden, die Ihnen nichts getan haben.«
»Ihr dürft hier nicht schlafen«, verteidigte er sich. »Das gehört euch hier nicht. Es ist ungesetzlich. Und Leute, die gegen das Gesetz verstoßen, kommen ins Gefängnis, und das werdet ihr beiden auch. Ich habe schon vielen Vagabunden einen ganzen Monat Gefängnis verschafft, nur weil sie in diesem Schuppen geschlafen haben. Ja, es ist eine richtige Falle! Ich habe eure Gesichter gesehen und weiß, dass ihr gefährliche Individuen seid.« Er wandte sich zu Billy. »So, jetzt genug mit den Dummheiten. Wollt ihr euch ergeben und ohne Lärm mitkommen?«
»Jetzt will ich dir etwas sagen, du alter Affe«, antwortete Billy. »Erstens kriegst du uns nicht. Zweitens werden wir heute Nacht hier schlafen.«
»Gib mir die Lampe!« befahl der Schutzmann.
»Halt das Maul, alter Graubart! Und mach jetzt, dass du wegkommst – nimm dir ein Billet. Deine Lampe kannst du dir draußen im Dreck suchen.«
Billy bewegte den Lichtstrahl, bis er auf die Türöffnung fiel, dann schleuderte er die Lampe hinaus. Jetzt war es vollkommen dunkel, und sie konnten ihren zudringlichen Gast vor Wut mit den Zähnen knirschen hören.
»Ja, jetzt kannst du versuchen zu schießen – dann sollst du etwas erleben«, sagte Billy drohend.
Saxon tastete nach Billys Hand, erwischte sie und drückte sie stolz. Der Schutzmann murmelte eine Drohung.
»Was?« fragte Billy scharf. »Bist du noch nicht weg? Jetzt hör mich an, alter Graubart! Jetzt hab ich mir so viel von dir gefallen lassen, wie ich gesonnen bin. Jetzt machst du, dass du wegkommst – sonst helf ich dir auf die Beine. Und wenn du uns hier weitere Scherereien machst, dann kriegst du was. Hinaus mit dir!«
Das Brüllen des Sturmes war so ohrenbetäubend, dass sie nichts hören konnten. Billy drehte sich eine Zigarette. Als er sie anzündete, war die Scheune leer. Billy lachte.
»Weißt du, ich wurde so wütend, dass ich meinen schlechten Finger ganz vergaß. Aber jetzt meldet er sich wieder.«
Saxon brachte ihn dazu, sich hinzulegen, und strich ihm wieder über die Stirn, um ihn zu beruhigen.
»Es ist nicht daran zu denken, dass wir vor morgen früh hier wegkommen«, sagte sie. »Aber sobald es hell wird, fahren wir mit der Straßenbahn nach San José, mieten uns ein Zimmer, frühstücken etwas Warmes und gehen dann in eine Apotheke und kaufen, was zu einem warmen Umschlag gehört, oder was sonst gemacht werden muss.«
»Aber Benson?« wandte Billy ein.
»Du rufst ihn von der Stadt aus an – das kostet nur fünf Cent. Ich sah, dass er Telefon hatte. Und bei dem Regen könntest du ja auch nicht pflügen, selbst wenn du den schlechten Finger nicht hättest. Dann können wir beide uns auf einmal erholen. Meine Ferse wird schon besser sein, wenn es sich aufklärt, und dann können wir ja weiter reisen.«
*
Früh am Montagmorgen, drei Tage darauf, fuhren Saxon und Billy nach der Endstation und machten sich zum zweiten Mal nach San Juan auf. Der Weg war voller Pfützen, aber die Sonne schien, der Himmel war blau, und überall sah man eine schwache Andeutung von keimendem Grün. Vor Bensons Hof wartete Saxon, während Billy hineinging, um sich seine sechs Dollar für die drei Tage Pflugarbeit geben zu lassen.
»Er wütete wie ein Stier, weil ich gehen wollte«, sagte er, als er wiederkam. »Anfangs wollte er gar nichts davon hören – sagte, in ein paar Tagen hätte er wieder Arbeit für mich, es gäbe nicht so viele gute Leute, die mit vier Pferden fahren, dass man sie, ohne zu mucksen, gehen lassen könnte.«
»Und was sagtest du?«
»Ach, ich sagte nur, ich müsste weiter. Dann versuchte er, mich zu überreden, und ich sagte, ich hätte meine Frau mit, und sie hätte es verflucht eilig, weiter zu kommen.«
»Aber das hast du doch auch, Billy?«
»Selbstverständlich, aber nicht so wie du! Teufel auch, eigentlich gefiel mir das Pflügen sehr gut. Vor der Arbeit hab ich keine Angst mehr. Ich hab die Geschichte jetzt weg, und du kannst darauf schwören, dass ich ungefähr ebenso gut pflügen kann wie alle anderen.«
Eine Stunde später hörten sie ein Automobil hinter sich, und sie traten an den Wegrand, um es vorbei zu lassen. Aber das Automobil fuhr nicht vorbei. Es war Benson, der darin saß, und er war allein und hielt bei ihnen an.
»Wo wollen Sie hin?« fragte er Billy, warf aber gleichzeitig Saxon einen hastigen, forschenden Blick zu.
»Nach Monterey – wenn Sie so weit fahren«, lachte Billy.
»Sie können bis Watsonville mitfahren. Das sind zu Fuß und mit dem Gepäck mehrere Tage. Klettern Sie nur herauf!« Dann wandte er sich direkt zu Saxon. »Haben Sie Lust, auf dem Vordersitz zu sitzen?«
Saxon sah Billy an.
»Tu es nur!« sagte er zustimmend. »Es sitzt sich großartig vorn. Ja, das ist übrigens meine Frau, Herr Benson.«
»So, Sie waren es also, die mir den Mann nahm?« sagte Benson gutmütig brummend und wickelte sie in den Mantel.
Saxon gab zu, dass es allerdings ihre Schuld wäre, und bald interessierte sie sich eifrig dafür, wie er den Wagen in Gang setzte.
»Ja, ich wäre ein elender Landwirt, wenn ich nicht mehr Boden hätte, als Sie je gepflügt hatten, ehe Sie zu mir kamen«, sagte Benson pfiffig über die Schulter hinweg zu Billy.
»Ich hatte noch nie einen Pflug in Händen gehabt – außer einem einzigen Mal«, gestand Billy, »aber man muss ja lernen.«
»Für zwei Dollar den Tag?«
»Ja, wenn man jemand findet, der sie einem gibt«, sagte Billy wohlwollend.
Benson lachte herzlich.
»Sie lernen schnell!« sagte er anerkennend. »Ich konnte schon sehen, dass Sie noch keine nähere Bekanntschaft mit einem Pflug gemacht hatten. Aber Sie griffen die Sache sehr vernünftig an. Nicht ein Mann von zehn, die ich auf der Landstraße kriegen kann, könnte leisten, was Sie am dritten Tage geleistet haben. Aber Ihre Stärke ist nun doch Ihr Pferdeverstand. Als ich Sie an dem Morgen aufforderte, die Leinen zu nehmen, tat ich es halb im Scherz. Sie sind ein geübter Kutscher und übrigens auch ein geborener.«
»Er ist so gut zu Pferden«, sagte Saxon.
»Ja, mehr als das«, Benson wandte sich wieder zu ihr. »Ihr Mann hat den richtigen Griff. Das ist schwer zu erklären. Aber das ist es eben – der Griff. Der ist fast wie ein Instinkt. Und wenn es notwendig ist, gut zu Pferden zu sein, so ist es noch notwendiger, den Griff zu haben. Ihr Mann hat den Griff. Die Probe zum Beispiel, die ich mit ihm anstellte, als ich ihn den Wagen mit den vier Pferden fahren ließ! Mit Freundlichkeit allein hätte er es nicht fertiggebracht. Dazu war es zu verwickelt und schwierig. Es gehörte der Griff dazu. Das konnte ich im selben Augenblick sehen, als er anfing. Er hatte nicht den geringsten Zweifel. Und die Pferde hatten auch nicht den geringsten Zweifel. Sie hatten gleich Fühlung mit ihm. Sie wussten, was zu tun war, und wussten, dass sie es zu tun hatten. Sie fürchteten sich nicht, wussten aber doch, dass der Mann auf dem Kutschbock ihnen über war. Als er die Leine fasste, fasste er gleichzeitig die Pferde. Er hatte den Griff, verstehen Sie? Er nahm sie und brachte sie dorthin, wo er sie haben wollte, schwang sie auf und nieder, rechts und links, ließ sie ziehen, lockerte die Zügel und ging rückwärts, und sie wussten, dass es schon gehen sollte. Ach, Pferde können selbstverständlich dumm sein, aber Idioten sind sie auch nicht. Sie wissen, ob der richtige Kutscher mit ihnen fährt, wenn es mir auch ein Rätsel ist, wie sie das so schnell begreifen können.«
Benson hielt inne, ein wenig ärgerlich über seine eigene Redseligkeit, und sah Saxon forschend an, ob sie ihn verstanden hätte. Ihr Gesichtsausdruck befriedigte ihn, und er fügte mit kurzem Lachen hinzu: »Pferde sind nun mal eine meiner Leidenschaften. Ja, das glauben Sie vielleicht nicht, weil ich mit einer solchen Stinkmaschine fahre? Ich würde auch viel lieber mit einem Paar tüchtiger Pferde fahren. Aber das würde mich mehr Zeit kosten und, was noch schlimmer wäre – sie würden mir zu viel Sorge machen. So ein Ding wie das hier hat weder Nerven noch Glieder noch feine Sehnen – man braucht es nur rattern zu lassen.«
Saxon war bald ganz in das Gespräch mit ihrem Wirt vertieft. Sie war sich klar darüber, dass sie hier einen typischen modernen Landwirt vor sich hatte. Das Wissen, das sie schon gesammelt hatte, machte, dass sie sich verhältnismäßig leicht ausdrücken konnte, und wenn Benson sprach, war sie ganz verblüfft, wie viel sie von dem, was er sagte, verstehen konnte. Auf seine direkte Frage erzählte sie ihm von ihren und Billys Aussichten, gab ihm einen kleinen Einblick in ihr Leben in Oakland und verweilte ausführlicher bei ihren Zukunftsplänen.
Es war beinahe wie ein Traum, als sie vor der Baumschule bei Morgans Hügel erfuhr, dass sie schon zwanzig Meilen gefahren waren, eine bedeutend längere Strecke, als sie an diesem Tage zu gehen gedacht hatten. Und immer noch schnurrte die Maschine weiter, und kaum hatte sie irgendeinen Punkt in der Ferne erblickt, so waren sie auch schon vorbei.
»Ich konnte auch nicht begreifen, warum ein so tüchtiger Mensch wie Ihr Mann sich auf der Landstraße herumtreibt!« sagte Benson.
»Ja«, lächelte sie, »er erzählte mir, dass Sie ihn für einen guten Mann hielten, dem es schlecht gegangen sein müsste.«
»Ja, sehen Sie, damals wusste ich nichts von Ihnen. Aber jetzt verstehe ich alles, wenn ich auch sagen muss, dass es heutzutage etwas sehr Ungewöhnliches ist, ein paar junge Leute wie Sie und Ihren Mann mit dem Bündel auf dem Rücken herumziehen und nach Boden suchen zu sehen. Und da fällt mir gerade etwas ein, was ich Ihnen erzählen will.« Er wandte sich zu Billy. »Ich erzählte eben schon Ihrer Frau, dass auf meinem Hof feste Arbeit auf Sie wartet. Und da ist ein hübsches Häuschen mit drei Zimmern, wo Sie und Ihre Frau wohnen können. Vergessen Sie das nicht.«
Unter anderm erfuhr Saxon, dass Benson einen Kursus über Landwirtschaft an der Kalifornischen Universität durchgemacht hatte; sie hatte keine Ahnung gehabt, dass etwas Derartiges existierte. Aber betreffs des Staatsbodens, den sie suchten, konnte er ihnen nicht viel Ermutigendes sagen.
»Der einzige Staatsboden, den es noch gibt«, teilte er ihr mit, »ist Boden, mit dem sich abzugeben aus irgendeinem Grunde nicht lohnt. Wenn dort, wo Sie hin wollen, guter Boden ist, dann ist er zu weit vom Markt entfernt. Ich glaube nicht, dass es dort eine Eisenbahnverbindung gibt.«
»Warten Sie, bis wir nach dem Pajaro-Tal kommen«, sagte er, als sie Gilroy passiert hatten und sich lärmend Sargent näherten. »Ich werde Ihnen zeigen, was aus dem Boden gemacht werden kann – und zwar nicht von Leuten, die landwirtschaftliche Hochschulen besucht haben, sondern von Ausländern ohne die geringste Vorbildung, Leuten, wie die großmächtigen Amerikaner sie immer verspotteten. Jetzt will ich es Ihnen zeigen. Es ist etwas vom Merkwürdigsten, was man im Staate sehen kann.«
Bei Sargent verließ er sie einen Augenblick, um einige Geschäfte zu erledigen.
»O je, das ist doch anders, als zu marschieren!« sagte Billy. »Es ist noch früh am Tage, und wenn er uns absetzt, sind wir noch frisch und können gut ein paar Meilen zu Fuß laufen. Aber deshalb glaube ich doch, dass ich bei Pferden bleiben werde, wenn wir erst festen Boden unter den Füßen und uns ein bisschen zurückgelegt haben. Pferde sind das Beste für mich.«
»So eine Maschine ist nur gut, wenn man schnell irgendwohin fahren muss«, gab Saxon zu. »Selbstverständlich, wenn wir reich würden, sehr reich –«
»Weißt du, Saxon«, fiel Billy ihr ins Wort, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. »Eines habe ich doch gelernt. Ich habe keine Angst mehr, dass ich der Arbeit auf dem Lande nicht gewachsen wäre. Anfangs hatte ich sie, wenn ich dir auch nichts davon erzählte. Aber ich hatte eine Todesangst, als wir bei San Leandro abstiegen. Und jetzt habe ich schon zwei Angebote – von Frau Mortimer und von Benson – für wirklich gute feste Arbeit. Ja, man kann schon Arbeit auf dem Lande kriegen.«
»Nun«, berichtigte Saxon mit einem stolzen kleinen Lächeln, »das stimmt doch nicht ganz. Nur gute Leute bekommen Arbeit auf dem Lande. Die großen Bauern nehmen wohl niemand aus Wohltätigkeit.«
»Nein, natürlich nicht! Zu ihrem Vergnügen betreiben sie ja auch keine Landwirtschaft«, lachte er.
»Und sie sind ganz versessen auf dich. Das kommt, weil du ein guter Mann bist. Das können sie mit einem halben Auge sehen, und – denk nur an all die Vagabunden, die wir unterwegs treffen, und die Arbeit suchen! Nicht einer von ihnen konnte sich mit dir vergleichen. Ich habe sie alle gemustert. Sie sind schwach – schwach im Körper und im Kopfe – schwach in jeder Beziehung.«
»Ja, es ist eine elende Gesellschaft«, pflichtete Billy ihr bescheiden bei.
»Es ist nicht die richtige Jahreszeit, um sich das Pajaro-Tal anzusehen«, sagte Benson, als er wieder neben Saxon saß und Sargent hinter ihnen lag. »Deshalb ist es aber doch sehenswert, welche Jahreszeit es auch sein mag. Denken Sie nur – zwölftausend Morgen mit Apfelbäumen bepflanzt. Wissen Sie, wie man das Pajaro-Tal nennt? Das neue Dalmatien. Wir werden herausgedrängt. Wir Yankees bildeten uns ein, die stärkere Macht zu sein. Ja, und dann kamen die Dalmatiner und zeigten, dass sie noch smarter waren. Es waren die elendesten Auswanderer – arm wie Kirchenmäuse. Zuerst arbeiteten sie in der Obsternte als Tagelöhner. Dann begannen sie in aller Friedlichkeit das Obst von den Bäumen zu kaufen. Je mehr Geld sie verdienten, desto größere Geschäfte machten sie. Bald pachteten sie die Obstgärten auf längere Zeit. Und jetzt beginnen sie selbst, Boden zu kaufen. Es dauert nicht lange, so gehört ihnen das ganze Tal, und der letzte Amerikaner ist verschwunden.«
»Ja gewiss – wir Yankees sind smart! Ja, sehen Sie, als die ersten zerlumpten Slaven ihre Geschäfte mit uns machten, verdienten sie nicht mehr als zwei- bis dreitausend lumpige Prozente. Und jetzt sind sie mit hundert Prozent zufrieden. Es ist ein reines Unglück, wenn ihre Einnahmen auf fünfundzwanzig oder fünfzig Prozent fallen.«
»Ganz wie in San Leandro«, sagte Saxon. »Die ursprünglichen Besitzer des Bodens sind fast alle verschwunden. Das macht die intensive Wirtschaft.« Sie fand selbst, dass das sehr fein klang. »Es kommt nicht darauf an, möglichst viele Morgen zu haben, sondern, möglichst viel herauszuholen.«
»Ja, darauf kommt es an«, antwortete Benson und nickte nachdrücklich mit dem Kopfe. »Da sind massenhaft Leute wie Luke Scurich, der das Geschäft in großem Stil betreibt. Mehrere von ihnen sind schon eine Viertelmillion schwer. Zehn weiß ich allein, die durchschnittlich hundertundfünfzigtausend Dollar schwer sind. Sie haben den Griff mit Äpfeln. Das ist beinahe eine Gabe. Sie kennen ihre Bäume ungefähr ebenso, wie Ihr Mann Pferde kennt. Für sie ist jeder Baum so individuell, wie für mich ein Pferd. Sie kennen jeden Baum, seine ganze Geschichte, alles was diesem Baum je begegnet ist, jede kleinste Eigenart, die er hat. Ihr Finger ruht auf seinem Puls. Sie können sagen, ob er sich heute ebenso gut befindet wie gestern. Und wenn er das nicht tut, dann wissen sie, warum, und können gleich etwas dagegen tun. Sie können einem Baum, der in Blüte steht, ansehen, wie viel Pfund Äpfel er tragen wird – und nicht nur das – sie können sagen, von welcher Güte die Äpfel sein werden. Ja, sie kennen sogar jeden einzelnen Apfel und pflücken ihn mit Sorgfalt und Liebe, damit er nicht beschädigt wird, und sie packen ihn in Kisten und schicken ihn weg, immer mit derselben Sorgfalt und Liebe, und wenn die Äpfel auf den Markt kommen, dann sind sie weder angestoßen noch faul und werden mit den höchsten Preisen bezahlt.«
»Ja, das ist mehr als intensiver Bodenbau. Diese Slaven vom adriatischen Meer verstehen sich auf Geschäfte. Nicht nur, dass sie Äpfel züchten können – sie können auch Äpfel verkaufen. Kein Markt? Nun, wenn schon! Dann schafft man eben einen Markt. So fangen sie es an, während Leute unseres Schlages das Obst in großen Haufen unter den Bäumen verfaulen lassen. Da ist zum Beispiel Peter Mengol! Alljährlich reist er nach England und nimmt hundert Waggons gelbe Newton Pippins mit. Ja, die lieben Dalmatiner haben gerade jetzt Pajaro-Äpfel auf den südafrikanischen Markt geworfen und verdienen mächtig daran.«
»Aber, was tun sie denn mit all dem Geld?« fragte Saxon.
»Sie kaufen natürlich die Amerikaner im Pajaro-Tal aus – wie sie schon angefangen haben.«
»Und dann?« fragte sie.
Benson warf ihr einen hastigen Blick zu.
»Dann kaufen sie die Amerikaner im nächsten Tal aus. Und die Amerikaner brauchen Geld, und von der nächsten Generation an beginnen sie in den Städten zu verfaulen, wie Sie und Ihr Mann verfault wären, wenn Sie nicht herausgekommen wären.«
Saxon konnte einen leisen Schauder nicht unterdrücken. Wie Mary verfault war, dachte sie, wie Bert und alle anderen verfault waren, wie Tom und alle anderen verfaulten.
»Ja, es ist ein großes Land«, fuhr Benson fort. »Aber wir sind kein großes Volk. Kipling hat recht – andere haben uns zu unserm Haus herausgedrängt, und jetzt sitzen wir auf der Schwelle. Und das allerschlimmste ist, dass wir es besser hätten wissen können. Das ist, was wir die Leute in all unsern landwirtschaftlichen Schulen und Versuchsstationen zu lehren versuchen. Aber die Leute wollen es sich nicht aneignen, und die Auswanderer, die in einer harten Schule erzogen sind, nehmen ihnen den Wind aus den Segeln. Als ich mit der Schule fertig war – das war, ehe mein Vater starb, und er war aus der alten Schule und lachte über das, was er meine Theorien nannte – da ging ich ein paar Jahre auf Reisen. Wollte sehen, wie sie in der alten Welt Landwirtschaft betrieben. Oh, ich sah es! –
Jetzt kommen wir bald in das Tal. – Sie können sich darauf verlassen, dass ich es sah. Erstens sah ich – das war in Japan – Berge und Hänge, die in Terrassen eingeteilt waren. Denken Sie sich einen Hang, so steil, dass man nicht mit Pferden hinauffahren kann! Das störte sie nicht. Sie bauten ihre Terrassen – eine Steinmauer – gute Maurerarbeit, sechs Fuß hoch – eine flache Terrasse, sechs Fuß breit, immer höhere Mauern und Terrassen – ganz bis oben hinauf. Mauer auf Mauer, Terrasse auf Terrasse, bis eine Mauer von zehn Fuß nötig war, um einer Terrasse von drei Fuß Raum zu gewähren, und zwanzig Fuß Mauer für vier bis fünf Fuß Boden, wo sie Getreide und Gemüse pflanzen konnten. Und die Erde schleppten sie in Körben auf dem Rücken den Berg hinan.
Und überall, wo ich hinkam, war es dasselbe – in Griechenland, in Irland, in Dalmatien –, denn ich bin überall gewesen. Sie sammelten jedes bisschen Erde, das sie finden konnten, sammelten sie, ja, stahlen sie in Schaufeln und Händen, trugen sie auf dem Rücken Berge hinan und bauten Höfe – bauten sie auf den nackten Felsen. Sehen Sie, in Frankreich habe ich Bergbauern in Wasserläufen nach Humus graben sehen, wie unsere Vorfahren in den kalifornischen Flüssen nach Gold gruben. Der Unterschied ist nur, dass das Gold verschwunden ist, während der Boden der Bauern immer noch da ist, Ernte auf Ernte bringt und beständig etwas erzeugt. Aber jetzt habe ich Ihnen wohl bald genug erzählt.«
»Mein Gott«, murmelte Billy benommen. »Das haben unsere Leute nie getan. Es ist so merkwürdig, dass sie verdrängt wurden.«
»Dort liegt das Tal«, sagte Benson. »Sehen Sie die Bäume! Sehen Sie die Hänge! Das ist ein neues Dalmatien. Sehen Sie hin! Ein Apfelparadies! Sehen Sie den Boden! Sehen Sie, was sie daraus gemacht haben.«
Es war kein großes Tal, das sich Saxons Blick zeigte. Aber überall, auf den flachen Feldern und über den niedrigen Höhenzügen, waren die Zeugnisse vom Fleiß der Dalmatiner zu sehen. Und während sie sah, hörte sie immer noch auf Benson.
»Wissen Sie, was die ersten Pioniere mit ihrem schönen Boden taten? Sie bepflanzten die Ebenen mit Getreide und benutzten die Berghänge als Weiden für das Vieh. Und jetzt werden zwölftausend Morgen als Apfelgärten benutzt. Das ist eine ganze Sehenswürdigkeit für Leute aus dem Osten, die auf Besuch nach Del Monte kommen, und sie fahren mit ihren Automobilen heraus, um die Bäume in der Blüte oder in der Reife zu sehen. Nehmen wir zum Beispiel Matteo Lettunich – er ist einer der ersten Apfelbauer. Er kam aus Castle Garden hierher und wurde Tellerwäscher. Sobald er dieses Tal sah, wusste er, dass es sein Klondike war. Jetzt hat er siebenhundert Morgen gepachtet, besitzt selbst hundertunddreißig – die feinsten Obstsorten im ganzen Tal – und exportiert vierzig- bis fünfzigtausend Kisten jedes Jahr. Er lässt jeden einzelnen Apfel von Dalmatinern pflücken. Eines Tages fragte ich ihn im Scherz, wie teuer er seine hundertunddreißig Morgen verkaufen würde. Er antwortete im vollen Ernst. Er erzählte mir, was sie ihm Jahr auf Jahr eingebracht hatten, und berechnete eine Art Durchschnittseinnahme. Dann sagte er, dass ich das als sechsprozentige Verzinsung rechnen sollte. Das tat ich, und es kamen über dreitausend Dollar den Morgen dabei heraus.«
»Aber was tun denn alle die Chinesen hier im Tal?« fragte Billy. »Bauen die auch Äpfel?«
Benson schüttelte den Kopf.
»Das ist auch ein Punkt, in dem wir Amerikaner zu kurz kommen. Hier im Tal wird nichts vergeudet, nicht ein Apfelgehäuse oder eine Apfelschale, aber es sind nicht Amerikaner, die dieses Sparsystem durchführen. Hier sind siebenundfünfzig Öfen, in denen Äpfel gedörrt werden, gar nicht zu reden von all den Anstalten, wo Äpfel eingemacht werden, und von den Apfelwein- und Essigfabriken. Und es ist unser Freund, der Chinese, der dies Nebengeschäft betreibt. Sie verschiffen jährlich fünfzehntausend Tonnen Apfelwein und Essig.«
»Unsere Väter haben dieses Land geschaffen«, sagte Billy nachdenklich. »Haben dafür gekämpft, es der Umwelt zugänglich gemacht, haben alles getan.«
»Ja, nur nicht seine Möglichkeiten entwickelt«, fiel Benson ihm ins Wort. »Wir taten unser Bestes, um es zu vernichten, wie wir den Boden in Neu-England vernichteten.« Er machte eine Handbewegung irgendwo nach der anderen Seite der Berge hinüber. »Dort drüben liegt Salina. Dort könnte man sich einbilden, in Japan zu sein. Und mehr als ein gutes kleines Obsttal in Kalifornien befindet sich heute in den Händen von Japanern. Ihre Methode ist etwas anders als die der Dalmatiner. Zuerst arbeiten sie als Tagelöhner beim Obstpflücken. Sie sind besser als die amerikanischen Obstpflücker, und die Yankees sind froh, wenn sie sie kriegen können. Wenn sie dann stärker werden, bilden sie Gewerkschaften und verdrängen die amerikanischen Arbeiter. Aber die Obstgartenbesitzer sind immer noch froh. Der nächste Schritt ist, dass die Japaner kein Obst mehr pflücken wollen. Die amerikanische Arbeitskraft ist verschwunden. Die Obstgartenbesitzer sind hilflos. Das Obst verfault an den Bäumen. Dann melden sich die japanischen Arbeiterführer. Sie schwingen schon das Zepter. Sie verkaufen das Obst an den Bäumen. Die Obstgartenbesitzer sind vollkommen in ihren Händen, verstehen Sie. Und bald sind es die Japaner, die im Tal regieren. Die Obstgartenbesitzer brauchen nicht mehr hier zu wohnen und haben bald genug damit zu tun, eine vornehmere Lebensart in den Städten zu lernen und Reisen nach Europa zu machen. Jetzt fehlt nur noch der letzte Schritt. Die Japaner kaufen sie aus. Sie sind gezwungen, zu verkaufen, denn die Japaner beherrschen den Arbeitsmarkt und können sie jeden Augenblick ruinieren.«