Jack London – Gesammelte Werke

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»Ich ken­ne Sie gut«, sag­te er und sah ihr for­schend ins Ge­sicht. »Sie wa­ren mit dem strei­ken­den Ar­bei­ter zu­sam­men, der mir eine Tracht Prü­gel ver­sprach.«

»Das ist mein Mann«, sag­te sie.

»Nun, da kann er sich freu­en.« Er sah sie mit ei­nem wohl­wol­len­den, frei­mü­ti­gen Blick an. »Aber was ist mit Ih­nen? Kann ich et­was für Sie tun?«

»Nein, mir geht es gut«, ant­wor­te­te sie. »Ich bin krank ge­we­sen.« Sie glaub­te zu lü­gen, denn ihr fiel nicht einen Au­gen­blick ein, dass ihre merk­wür­di­ge Ver­fas­sung et­was mit Krank­heit zu tun ha­ben könn­te.

»Sie se­hen müde aus«, sag­te er ein­dring­lich. »Ich will Sie ein Stück­chen fah­ren. Sa­gen Sie mir nur, wo Sie hin­wol­len. Es macht mir nichts aus –«

Sa­xon schüt­tel­te den Kopf.

»Wenn – wenn Sie mir nur er­klä­ren wol­len, wo ich die Stra­ßen­bahn nach der Ach­ten Stra­ße fin­de. Ich kom­me nicht oft in die­se Ge­gend.«

Er sag­te ihr, wo die Stra­ßen­bahn war, und wo sie um­zu­stei­gen hat­te, und sie war er­staunt, wie weit sie ge­gan­gen war.

»Dan­ke«, sag­te sie. »Auf Wie­der­se­hen!«

»Und Sie sind ganz si­cher, dass ich nichts für Sie tun kann?«

»Ganz si­cher.«

»Nun ja, auf Wie­der­se­hen denn!« Er lä­chel­te gut­mü­tig. »Und sa­gen Sie Ihrem Mann, er soll se­hen, dass er in Form bleibt. Er wird sei­ne Kräf­te brau­chen, wenn wir bei­de auf­ein­an­der los­ge­hen.«

»Aber Sie dür­fen nicht mit ihm kämp­fen«, warn­te sie ihn. »Sie dür­fen es nicht tun. Sie ha­ben nicht die ge­rings­te Chan­ce.«

»So hab’ ich es gern«, sag­te er be­wun­dernd. »So müs­sen Frau­en an ihre Män­ner glau­ben! Eine ge­wöhn­li­che Frau wür­de fürch­ten, dass ihr Mann Prü­gel be­käme –«

»Ja, ich fürch­te mich nicht – sei­net­we­gen. Nur Ihret­we­gen. Er ist ein glän­zen­der Bo­xer. Sie hät­ten nicht die ge­rings­te Chan­ce – es wäre wie – wie –«

»Wie wenn man ei­nem Säug­ling den Schnul­ler stäh­le?« be­en­de­te Blan­chard den Satz für sie.

»Ja«, nick­te sie. »Genau so wür­de er sa­gen. Und des­halb sage ich, neh­men Sie sich in acht. Aber jetzt muss ich ge­hen. Auf Wie­der­se­hen, und noch­mals vie­len Dank.«

Sie ging den Bür­ger­steig ent­lang, wäh­rend sein freund­li­ches »Auf Wie­der­se­hen« ihr noch in den Ohren klang. Er war gut – das ge­stand sie sich ganz ehr­lich – und doch war er ei­ner der klu­gen Leu­te, ei­ner der Gro­ßen, die nach Bil­lys Mei­nung ver­ant­wort­lich wa­ren für all das Böse, das den Ar­bei­tern wi­der­fuhr, für die Lei­den der Frau­en und die Stra­fen, die die Män­ner er­tru­gen, die in ih­rer ge­streif­ten Ge­fäng­nis­tracht in San Quen­tin her­um­gin­gen oder in der To­des­zel­le dar­auf war­te­ten, das Scha­fott zu be­stei­gen. Und doch war er freund­lich, lie­bens­wür­dig, rein und gut. Sie konn­te ihm den Cha­rak­ter vom Ge­sicht ab­le­sen. Wie aber konn­te das sein, wenn er für das vie­le Böse ver­ant­wort­lich war? Sie schüt­tel­te müde den Kopf. Es gab kei­ne Er­klä­rung, nichts, das ihr zum Ver­ständ­nis ei­ner Welt ver­hel­fen konn­te, die klei­ne Kin­der ver­nich­te­te und Frau­en­brüs­te miss­han­del­te.

Es er­staun­te sie nicht, dass sie sich zwi­schen all die­se fei­nen Häu­ser ver­irrt hat­te, das ent­sprach gut all den an­de­ren selt­sa­men Din­gen, die sie tat. Sie tat so vie­les, ohne es zu wis­sen. Aber sie muss­te vor­sich­tig sein. Es war bes­ser, bei den Sümp­fen und dem Rock Wall zu blei­ben.

Na­ment­lich den Rock Wall lieb­te sie. Hier drau­ßen war es frei, weit und groß, und das ver­such­te sie in­stink­tiv ein­zuat­men, in­dem sie die Arme aus­brei­te­te, um es zu um­fas­sen und zu ei­nem Teil ih­rer selbst zu ma­chen. Es war eine na­tür­li­che­re Welt, eine ver­nünf­ti­ge­re Welt. Sie ver­stand sie – ver­stand die grü­nen Krab­ben mit den ver­bli­che­nen Klau­en, die we­geil­ten, wenn man sich nä­her­te, und die sie bei Ebbe auf Fels­stücken mit grü­nen See­gras­wei­den se­hen konn­te. Wenn auch der große Deich si­cher von Men­schen­hän­den ver­fer­tigt war, so schi­en doch nichts Künst­li­ches dar­an zu sein. Es gab kei­ne Men­schen hier, kein Ge­setz, kei­nen Kampf zwi­schen Men­schen. Das Meer stieg und sank, je nach­dem Flut oder Ebbe war. Die Son­ne ging auf und un­ter; re­gel­mä­ßig je­den Nach­mit­tag kam der star­ke West­wind durch das Gol­de­ne Tor her­ein­ge­tanzt, ver­dun­kel­te das Was­ser, setz­te Schaum­wip­fel auf die win­zi­gen Wel­len und ließ die Se­gel­boo­te über das Was­ser flie­gen. Al­les war frei. Hier lag Brenn­holz, das man nur auf­zu­le­sen brauch­te. Klei­ne Kna­ben fisch­ten mit Ru­ten von den Fel­sen aus, denn nie­mand ver­jag­te sie, und sie fin­gen Fi­sche, wie Bil­ly als Kna­be Fi­sche ge­fan­gen hat­te.

Und hier war Nah­rung, Nah­rung, die je­der neh­men konn­te. Sie sah die klei­nen Kna­ben ei­nes Ta­ges bei Ebbe Mu­scheln auf den Fel­sen sam­meln und sie an der Glut ei­nes Feu­ers bra­ten, das sie auf dem Deich an­zün­de­ten. Sie schmeck­ten glän­zend. Sa­xon lern­te, die klei­nen Aus­tern von den Fels­blö­cken bre­chen, und ein­mal fand sie ein klei­nes Bün­del frisch­ge­fan­ge­ner Fi­sche, das ein Kna­be ver­ges­sen hat­te.

Aber auch hier trie­ben Zeug­nis­se von den bö­sen Ta­ten der Men­schen an Land – aus den fer­nen Städ­ten. Ei­nes Ta­ges bei Hoch­was­ser war der gan­ze Was­ser­spie­gel von Me­lo­nen be­deckt. Tau­sen­de und aber Tau­sen­de von Me­lo­nen hüpf­ten und tanz­ten im Del­ta. Wenn sie an die Fel­sen trie­ben, konn­te sie sie auf­fi­schen. Aber alle wie eine – und sie ver­such­te es ge­dul­dig mit Dut­zen­den – wa­ren durch einen tie­fen Schnitt, in den das Salz­was­ser hin­ein­drang, ver­dor­ben. Sie konn­te es nicht ver­ste­hen und frag­te eine alte Por­tu­gie­sin, die Treib­holz auf­fisch­te.

»Das tun die Leu­te, die zu viel ha­ben«, er­klär­te die alte Frau und reck­te ih­ren Rücken, der steif von der Ar­beit war, mit sol­cher Mühe, dass Sa­xon ihn fast knir­schen hör­te. Die schwar­zen Au­gen der al­ten Frau leuch­te­ten zor­nig, und ihre runz­li­gen Lip­pen, die sich straff über den zahn­lo­sen Gau­men spann­ten, wa­ren vor Zorn ganz ver­zerrt. »Die Leu­te, die zu viel ha­ben. Um die Prei­se hoch­zu­hal­ten. Sie wer­fen sie in San Fran­zis­ko ins Was­ser.«

»Aber warum ge­ben sie sie denn nicht den Ar­men?« frag­te Sa­xon.

»Sie müs­sen die Prei­se hal­ten.«

»Aber die Ar­men kön­nen sie ja doch nicht kau­fen«, wand­te Sa­xon ein. »Das könn­te doch den Prei­sen nichts scha­den.«

Die alte Frau zuck­te die Ach­seln.

»Ich weiß es nicht. So ma­chen sie es nun ein­mal. Sie zer­schnei­den jede Me­lo­ne, so­dass die Ar­men sie nicht auf­fi­schen und es­sen kön­nen. Eben­so ma­chen sie es mit Ap­fel­si­nen und Äp­feln. Auch mit Fi­schen. Ja, es ist ein Trust. Wenn die Boo­te zu vie­le Fi­sche fan­gen, wirft der Trust sie beim Fi­scher­kai ins Was­ser. Boot auf Boot voll von all den herr­li­chen Fi­schen. Die herr­li­chen Fi­sche sin­ken und ver­schwin­den. Nie­mand be­kommt sie. Ja, und das, ob­wohl sie tot sind und nur zum Es­sen tau­gen.«

Und Sa­xon konn­te eine Welt nicht ver­ste­hen, die der­lei tat – eine Welt, wo ei­ni­ge Men­schen so viel zu es­sen hat­ten, dass sie es weg­war­fen, Leu­te be­zahl­ten, um es zu ver­nich­ten, ehe sie es weg­war­fen. Wäh­rend in der­sel­ben Welt so vie­le Men­schen wa­ren, die nicht ge­nug zu es­sen hat­ten, de­ren Kin­der star­ben, weil die Milch ih­rer Müt­ter nicht nahr­haft ge­nug war, de­ren jun­ge Män­ner kämpf­ten und ein­an­der tot­schlu­gen, um Ar­beit zu be­kom­men, de­ren alte Män­ner und Frau­en ins Ar­men­haus wan­dern muss­ten, weil es nicht ge­nug in den elen­den klei­nen Lö­chern zu es­sen gab, die sie wei­nend ver­lie­ßen. Und so war es in der gan­zen Welt. Hat­te Mer­ce­des nicht zehn­tau­send Fa­mi­li­en im fer­nen In­di­en ver­hun­gern se­hen, ob­wohl, wie sie selbst ge­sagt hat­te, die Ju­we­len, die sie trug, sie alle vom Hun­ger­to­de hät­te er­ret­ten kön­nen?

Eine Wei­le saß Sa­xon zer­schmet­tert, hilf­los da. Dann aber be­gann in ihr ein Drang nach Pro­test, nach Aufruhr zu schwe­len. Sie frag­te sich ver­ge­bens, warum Gott so mit ihr um­ge­sprun­gen war. Wo­mit hat­te sie ein sol­ches Schick­sal ver­schul­det? Sie war ih­rer Mut­ter ge­hor­sam ge­we­sen, sie war Cady, dem Gast­wirt, und sei­ner Frau ge­hor­sam ge­we­sen. Sie war der Vor­ste­he­rin und den an­de­ren Frau­en im Wai­sen­haus ge­hor­sam ge­we­sen. Sie war Tom ge­hor­sam ge­we­sen, als sie zu ihm kam, und sie war nie auf die Stra­ße ge­lau­fen, weil er es nicht woll­te. In der Schu­le war sie im­mer mit Lob ver­setzt wor­den, und ihr Be­neh­men war stets ta­del­los ge­we­sen. Von dem Tage an, da sie die Schu­le ver­ließ, bis zu dem Tage, da sie Hoch­zeit hielt, hat­te sie ge­ar­bei­tet. Und sie war eine tüch­ti­ge Ar­bei­te­rin ge­we­sen. Der klei­ne Jude, dem die Kar­to­na­gen­fa­brik ge­hör­te, hat­te fast ge­weint, als sie ihn ver­ließ. Eben­so ging es in der Kon­ser­ven­fa­brik. Sie hat­te zu den best­be­zahl­ten We­be­rin­nen ge­hört, als die Ju­te­fa­brik schloss. Und sie hat­te sich brav ge­hal­ten. Und dann war Bil­ly ge­kom­men – ihre Be­loh­nung. Sie hat­te all ihre Zeit ihm, sei­nem Haus, al­lem, was sei­ner Lie­be Nah­rung ge­ben konn­te, ge­op­fert, und jetzt soll­ten sie und Bil­ly in die­sem sinn­lo­sen Wir­bel von Elend und Verzweif­lung ver­sin­ken? Nein, Gott war ver­ant­wort­lich da­für. Sie hät­te selbst eine bes­se­re Welt schaf­fen kön­nen – eine schö­ne­re, ge­rech­te­re Welt. Wenn es aber so war, dann gab es kei­nen Gott. Gott konn­te ein sol­ches Pfusch­werk nicht ma­chen. Die Vor­ste­he­rin hat­te un­recht ge­habt, ihre Mut­ter hat­te un­recht ge­habt. Aber dann gab es kei­ne Uns­terb­lich­keit, und Bert, der wil­de, tol­le Bert, der mit sei­nem furcht­ba­ren To­des­schrei vor ih­rer Gar­ten­pfor­te nie­der­ge­stürzt war, hat­te recht ge­habt. Wenn man tot war, war man tot.

 

Und wie Sa­xon das Le­ben so al­les Her­kömm­li­chen und Über­sinn­li­chen be­raubt be­trach­te­te, war es, als ge­rie­te sie in einen Sumpf des Pes­si­mis­mus, wo sie kei­nen Grund fin­den konn­te. Es gab nichts im Uni­ver­sum, das die For­de­rung recht­fer­tig­te, dass man sich gut auf­füh­ren soll­te, kei­ne ehr­li­che Chan­ce für sie, die die Be­loh­nung ver­dient hat­te, für die Mil­lio­nen, die wie Tie­re ar­bei­te­ten, wie Tie­re star­ben und für alle Ewig­keit tot wa­ren. Wie die Heer­scha­ren ge­lehr­ter Den­ker vor ihr kam sie zu dem Er­geb­nis, dass das Uni­ver­sum ohne Moral und ohne In­ter­es­se an den Men­schen war.

Jetzt aber saß sie hier, ge­lähmt von ei­ner noch grö­ße­ren Hilf­lo­sig­keit als der, die sie ge­fühlt hat­te, als sie noch Got­tes Platz in der großen Un­ge­rech­tig­keit an­er­kann­te. So­lan­ge Gott exis­tier­te, gab es im­mer die Mög­lich­keit ei­nes Wun­ders, ei­nes Da­zwi­schen­tre­tens auf über­na­tür­li­che Wei­se, ei­ner Be­loh­nung mit un­be­schreib­li­cher Se­lig­keit. Wenn es aber kei­nen Gott gab, dann war die Welt wie eine Fal­le. Das Le­ben war eine Fal­le. Sie war wie ein Hänf­ling, den klei­ne Kna­ben ge­fan­gen und in einen Kä­fig ge­setzt hat­ten. Es kam da­her, weil der Hänf­ling dumm war. Aber sie em­pör­te sich. Sie flat­ter­te und schlug ihre See­le ge­gen die har­te Wirk­lich­keit, wie der Hänf­ling sei­ne Flü­gel ge­gen das Draht­git­ter schlug. Sie war nicht dumm, und sie ge­hör­te nicht in die Fal­le. Sie woll­te her­aus aus der Fal­le. Es muss­te einen Weg ge­ben. Wenn Schiffs­jun­gen und Holz­ha­cker, die Ge­rings­ten der Dum­men und Ge­rin­gen, einen Weg hin­auf­fan­den, Prä­si­den­ten der gan­zen Na­ti­on wer­den und all die klu­gen Leu­te in den Au­to­mo­bi­len be­herr­schen konn­ten, dann muss­te auch sie einen Weg nach oben fin­den und die win­zi­ge Be­loh­nung ge­win­nen kön­nen, nach der sie trach­te­te: Bil­ly, ein klein we­nig Lie­be, ein klein we­nig Glück.

Wie woll­te sie für die­ses Glück ar­bei­ten! Aber wo ging der Weg? Sie sah ihn nicht. Ihre Au­gen sa­hen nur den dunklen Fleck, der San Fran­zis­ko war, den dunklen Fleck, der Oa­k­land war, wo Män­ner ein­an­der die Köp­fe zer­schlu­gen und tö­te­ten, wo klei­ne Kin­der, ge­bo­re­ne und un­ge­bo­re­ne, star­ben, und wo Frau­en mit miss­han­del­ten Brüs­ten wein­ten.

Ihr va­ges, un­wirk­li­ches Da­sein ging wei­ter. Ihr war, als sei es ein frü­he­res Le­ben, in dem Bil­ly sie ver­las­sen, und als kön­ne noch ein gan­zes Le­ben ver­ge­hen, ehe er wie­der­kehr­te. Sie litt im­mer noch an Schlaf­lo­sig­keit. Es ver­gin­gen vie­le Näch­te, eine nach der an­de­ren, in de­nen sie nicht ein ein­zi­ges Mal die Au­gen schloss. Dann wie­der schlief sie lan­ge Schwä­che­pe­ri­oden hin­durch, er­wach­te be­täubt und ge­lähmt, kaum im­stan­de, die schlaf­schwe­ren Au­gen zu öff­nen und die mü­den Glie­der zu be­we­gen. Der Druck des ei­ser­nen Rei­fens um ih­ren Kopf schwand nicht einen Au­gen­blick. Sie war un­ter­er­nährt und hat­te nicht einen Pfen­nig. Oft be­kam sie den gan­zen Tag lang nichts zu es­sen. Ein­mal ver­gin­gen zwei­und­sieb­zig Stun­den, ohne dass sie das ge­rings­te zu es­sen hat­te. Sie such­te Schal­tie­re im Sumpf, lös­te die win­zi­gen Aus­tern von den Fels­blö­cken und sam­mel­te Mu­scheln.

Als aber Bud Stro­ters kam, um nach ihr zu se­hen, ver­si­cher­te sie ihm doch, dass es ihr aus­ge­zeich­net gin­ge. Ei­nes Abends nach der Ar­beits­zeit kam Tom und zwang sie, zwei Dol­lar zu neh­men. Er war schreck­lich be­sorgt und hät­te ihr gern mehr ge­hol­fen, aber Sa­rah er­war­te­te in der nächs­ten Zeit ein Kind. Es wa­ren schlech­te Zei­ten für sei­nen ei­ge­nen Be­ruf, weil in so vie­len an­de­ren Be­ru­fen ge­streikt wur­de. Er konn­te nicht be­grei­fen, was mit dem gan­zen Land los war. Und doch war al­les so ein­fach. Man brauch­te nur die Din­ge so zu se­hen, wie er sie sah, und so zu stim­men, wie er stimm­te. Dann gab es Ge­rech­tig­keit für alle. Chris­tus selbst war So­zia­list, er­zähl­te er ihr.

»Aber Chris­tus starb vor zwei­tau­send Jah­ren«, sag­te Sa­xon.

»Ja, und wenn schon?« frag­te Tom, der nicht ver­stand, wo sie hin­aus­woll­te.

»Denk nur«, sag­te sie, »denk nur an alle die Män­ner und Frau­en, die in den zwei­tau­send Jah­ren ge­stor­ben sind, und der So­zia­lis­mus ist noch im­mer nicht ge­kom­men. Und wenn noch zwei­tau­send Jah­re ver­gan­gen sind, ist er viel­leicht fer­ner als je. Tom, dein So­zia­lis­mus hat dir nicht im ge­rings­ten genützt. Er ist ein Traum.«

Ein trau­ri­ger Aus­druck trat in das müde Ge­sicht ih­res Bru­ders, er nick­te und seufz­te:

»Ja, ja, Sa­xon, aber wenn es ein Traum ist, dann ist es ein schö­ner Traum.«

»Aber ich will nicht träu­men«, ant­wor­te­te sie. »Ich will, dass al­les Wirk­lich­keit wird. Ich will es jetzt ha­ben.«

Für die zwei Dol­lar kauf­te sie sich einen Sack Mehl und einen hal­b­en Sack Kar­tof­feln und er­ziel­te da­durch ei­ni­ge Ab­wechs­lung in ih­rer ein­för­mi­gen Kost, die sonst aus­schließ­lich aus Mu­scheln und Schal­tie­ren be­stand. Wie die ita­lie­ni­schen und por­tu­gie­si­schen Frau­en sam­mel­te sie Treib­holz und trug es heim, wenn sie es auch im­mer als eine De­mü­ti­gung ih­res Stol­zes emp­fand und es so ein­rich­te­te, dass sie erst nach Ein­tritt der Dun­kel­heit heim­kam. Ei­nes Ta­ges war ein ita­lie­ni­sches Fi­scher­boot vom Bag­ger im Kanal auf den Sand ge­zo­gen wor­den und lag auf der dem Sumpf zu­ge­kehr­ten Sei­te des Rock Walls. Sa­xon saß auf dem Deich und sah auf die Män­ner hin­ab, die sich um das Koh­len­be­cken ver­sam­melt hat­ten und har­tes ita­lie­ni­sches Brot nebst ei­nem Ge­richt aus ge­stov­tem Ge­mü­se und Fleisch aßen, das sie mit dün­nem ro­ten Wein hin­ab­spül­ten. Spä­ter zo­gen sie ein Grund­netz durch das schlam­mi­ge Was­ser über den Sand und be­ka­men eine Men­ge Fi­sche, wo­bei sie sich für ih­ren ei­ge­nen Ge­brauch die größ­ten aus­wähl­ten. Vie­le Tau­sen­de klei­ner Fi­sche von Sar­di­nen­grö­ße lie­ßen sie ster­bend auf dem San­de lie­gen, als sie fort­se­gel­ten. Sa­xon be­kam einen gan­zen Sack voll und muss­te sie in zwei­mal heim­schlep­pen, wor­auf sie sie in ei­nem Holz­zu­ber ein­salz­te.

Aber im­mer noch gab es Zei­ten, da sie nicht bei vol­lem Be­wusst­sein war. Das merk­wür­digs­te von al­lem, was sie in die­sen Pe­ri­oden un­ter­nahm, war, wie sie an ei­nem stür­mi­schen Nach­mit­tag in ei­nem selbst­ge­gra­be­nen Loch, mit Sä­cken be­deckt, auf­wach­te. Sie hat­te sich so­gar eine Art pri­mi­ti­ven Da­ches aus Treib­holz und Schilf über dem Kopf ver­fer­tigt. Und das Schilf hat­te sie mit Sand be­schwert.

Ein an­der­mal kam sie zu sich, wie sie mit ei­nem Bün­del Treib­holz auf dem Rücken, das durch ein Tau­en­de zu­sam­men­ge­bun­den war, durch den Sumpf ging. Char­ley Long ging ne­ben ihr. Sie konn­te sein Ge­sicht im Schein der Ster­ne se­hen. Sie dach­te matt dar­über nach, wie lan­ge er wohl zu ihr ge­spro­chen und was er ge­sagt ha­ben moch­te. Dann wur­de sie neu­gie­rig, was er sag­te. Sie fürch­te­te sich nicht, ob­wohl sie sei­ne Stär­ke und Bos­heit kann­te und wuss­te, wie ein­sam und dun­kel es im Sumpf war.

»Es ist eine Schan­de, dass ein Mä­del wie du sol­che Ar­beit tun muss«, sag­te er, of­fen­bar als Wie­der­ho­lung frü­he­rer Vor­stel­lun­gen. »Nun, Sa­xon, was sagst du nun? Du brauchst nur ein Wort zu sa­gen.«

Sa­xon stell­te sich ru­hig vor ihn hin.

»Hör zu, Char­ley Long. Bil­ly hat nur drei­ßig Tage zu sit­zen, und die drei­ßig Tage sind bei­na­he um. Kommt er her­aus, so ist dein Le­ben nicht einen Pfif­fer­ling wert, wenn ich ihm er­zäh­le, dass du mich be­läs­tigt hast. Hör zu! Wenn du so­fort gehst und dich weg­hältst, wer­de ich ihm nichts er­zäh­len. Das ist al­les, was ich zu sa­gen habe.«

Der große Schmied stand fins­ter und un­ent­schlos­sen da mit ei­nem Ge­sicht, das in sei­ner wil­den Sehn­sucht ganz rüh­rend war, und sei­ne Hän­de krampf­ten sich un­be­wusst zu­sam­men, als woll­te er et­was pa­cken.

»Ach, du schwa­ches, klei­nes Ding«, sag­te er hef­tig. »Ich könn­te dich mit ei­ner Hand zer­quet­schen. Ich könn­te, ja – ich könn­te tun, was ich woll­te. Ich will dir nichts tun, Sa­xon, das weißt du gut. Sag nur, dass du –«

»Ich habe al­les ge­sagt, was ich in die­ser Sa­che zu sa­gen habe.«

»Don­ner­wet­ter!« mur­mel­te er in un­frei­wil­li­ger Be­wun­de­rung. »Du hast kei­ne Angst. Nein, wahr­haf­tig, du hast kei­ne Angst.«

Ei­ni­ge lan­ge Mi­nu­ten stan­den sie An­ge­sicht zu An­ge­sicht, ohne ein Wort zu spre­chen.

»Wa­rum hast du kei­ne Angst?« frag­te er schließ­lich, nach­dem er in das Dun­kel um sie her ge­blickt hat­te, um zu se­hen, ob sie viel­leicht heim­li­che Bun­des­ge­nos­sen hät­te.

»Weil ich mit ei­nem rich­ti­gen Mann ver­hei­ra­tet bin«, sag­te Sa­xon kurz. »Und jetzt geh lie­ber.«

Als er ge­gan­gen war, schob sie ihre Last auf die an­de­re Schul­ter und ging wei­ter, und ihr Herz wur­de von ei­nem stil­len Stolz auf Bil­ly durch­bebt. Selbst hin­ter den Ge­fäng­nis­mau­ern konn­te er sie im­mer noch mit sei­ner Kraft be­schir­men. Sein Name al­lein ge­nüg­te, um einen bru­ta­len Bur­schen wie Char­ley Long zu ver­ja­gen.

An dem Tage, als Otto Frank ge­hängt wur­de, blieb sie im Hau­se. Die Abend­zei­tun­gen schrie­ben über die Hin­rich­tung. Es war kei­ne Rede von Auf­schub ge­we­sen. In Sa­cra­men­to wohn­te der Ge­ne­ral­di­rek­tor ei­ner Ei­sen­bahn, der Auf­schub oder so­gar Frei­spruch für Leu­te er­wir­ken konn­te, die Ban­ken ge­plün­dert oder Be­ste­chung an­ge­nom­men hat­ten, der es aber nicht wag­te, einen Fin­ger für einen Ar­bei­ter zu rüh­ren.

Am nächs­ten Tage ging Sa­xon über den Rock Wall, und ne­ben ihr wan­der­te das Ge­s­penst Otto Franks. Aber in sei­ner Ge­sell­schaft war ein an­de­res, noch un­deut­li­che­res Ge­s­penst, in dem sie Bil­ly er­kann­te. War es denn der Wil­le des Schick­sals, dass er sein Le­ben eben­so un­heim­lich wie Frank be­schlie­ßen soll­te? Das tat er si­cher, wenn all dies Blut­ver­gie­ßen und die­ser Kampf an­dau­er­te. Er war eine Kampf­na­tur. Er fühl­te, dass er für das Rech­te kämpf­te. Man kam so leicht dazu, einen Mann zu tö­ten. Wenn man auch nicht die Ab­sicht hat­te, es zu tun, so konn­te ei­nem Streik­bre­cher, wenn man ihn ver­prü­gel­te, der Kopf auf dem ze­men­tier­ten Bür­ger­steig oder an ei­ner Stein­kan­te zer­schla­gen. Und dann wür­de Bil­ly ge­hängt wer­den. Des­halb war Otto Frank ge­hängt wor­den. Er hat­te nicht die Ab­sicht ge­habt, Hen­der­son zu tö­ten. Es war der rei­ne Zu­fall, dass Hen­der­son der Kopf zer­schla­gen wor­den war. Und doch hat­te man Otto Frank des­halb ge­hängt.

Sie rang die Hän­de und wein­te laut, wäh­rend sie zwi­schen den windum­weh­ten Fel­sen da­hin­wank­te. Die Stun­den ver­gin­gen, ohne dass sie et­was von sich oder ih­rem Kum­mer wuss­te. Als das Be­wusst­sein wie­der­kehr­te, be­fand sie sich am äu­ßers­ten Ende des Dei­ches, wo er, zwi­schen Oa­k­land und der Ala­me­da-Mole, ins Was­ser hin­aus­ging. Aber sie konn­te kei­nen Deich se­hen. Es war bald Voll­mond, und das Was­ser, das un­ge­wöhn­lich hoch stand, ström­te über die Klip­pen her­ein. Sie stand bis zu den Kni­en im Was­ser, und rings um sie her schwam­men Dut­zen­de großer Was­ser­rat­ten, die pfei­fend und win­selnd mit­ein­an­der kämpf­ten, um, au­ßer Reich­wei­te des Was­sers, zu ihr her­auf­zu­klet­tern. Sie schrie laut vor Angst und Schre­cken und trat nach ih­nen. Ei­ni­ge tauch­ten und schwam­men un­ter Was­ser fort; an­de­re schwam­men wei­ter in an­ge­mes­se­ner Ent­fer­nung um sie her­um, und eine große Rat­te hieb die Zäh­ne in ih­ren Schuh. Sie zer­trat sie mit dem frei­en Fuß. Ob­wohl sie im­mer noch hef­tig zit­ter­te, war sie jetzt doch im­stan­de, ru­hig zu über­le­gen. Sie wa­te­te zu ei­nem fes­ten Stück Treib­holz hin­aus, das ei­ni­ge Fuß ent­fernt schwamm, und schaff­te sich da­mit bald Platz.

Ein grin­sen­der klei­ner Jun­ge in ei­ner klei­nen Jol­le, die in schim­mern­den Far­ben ge­stri­chen und mit ei­nem Halb­deck ver­se­hen war, se­gel­te dicht an den Deich her­an und ließ die Schot nach.

»Wol­len Sie an Bord kom­men?« rief er.

»Ja«, ant­wor­te­te sie. »Hier gibt es so vie­le große Rat­ten. Ich habe Angst vor ih­nen.«

Er nick­te, lief dicht an die Küs­te und gab die Schot lose, so­dass die Se­gel kill­ten und die Strö­mung das Boot zu ihr trieb.

»Schie­ben Sie den Bug hin­aus!« kom­man­dier­te er. »So. Ich möch­te nicht gern das Schwert ab­bre­chen – und jetzt sprin­gen Sie ins Heck, hier ne­ben mich, schnell.«

Sie ge­horch­te und sprang ge­wandt ins Heck des Boo­tes. Der Jun­ge hielt das Ru­der mit dem Ell­bo­gen fest, hol­te die Schot an, und als das Se­gel sich füll­te, flog das Boot über die ge­kräu­sel­ten Wel­len da­hin.

 

»Sie ver­ste­hen wohl was vom Se­geln?« sag­te der Jun­ge be­wun­dernd.

Es war ein schlan­ker, fein­ge­bau­ter Kna­be von zwölf oder drei­zehn Jah­ren, und er sah ge­sund und frisch aus mit sei­nem son­nen­ver­brann­ten, som­mer­spros­si­gen Ge­sicht und ei­nem Paar großer grau­er Au­gen, die klar und träu­me­risch wa­ren. Trotz dem hüb­schen Boot war Sa­xon sich gleich klar, dass er ein Kind ih­rer Klas­se war.

»Es ist das ers­te­mal, dass ich in ei­nem Boot bin, au­ßer in ei­ner Fäh­re«, lach­te sie.

Er sah sie for­schend an.

»Nun ja, Sie sind wie ein Fisch im Was­ser, das ist al­les, was ich sa­gen kann. Wo soll ich Sie ab­set­zen?«

»Wo du willst.«

Er öff­ne­te den Mund, um et­was zu sa­gen, sah sie wie­der mit ei­nem lan­gen, for­schen­den Blick an, be­dach­te sich einen Au­gen­blick und frag­te dann plötz­lich:

»Ha­ben Sie Zeit?«

Sie nick­te.

»Den gan­zen Tag?«

Sie nick­te wie­der.

»Wis­sen Sie was – ich fah­re mit der Ebbe nach der Zie­gen­in­sel, um Dor­sche zu fan­gen, und kom­me abends wie­der, wenn die Flut kommt. Ich habe mas­sen­haft An­gel­lei­nen und Kö­der. Wol­len Sie mit­kom­men? Wir kön­nen bei­de fi­schen! Was Sie fan­gen, kön­nen Sie selbst be­hal­ten.«

Sa­xon be­dach­te sich. Et­was von der Frei­heit und Be­weg­lich­keit des klei­nen Boo­tes sprach sie an. Wie die Schif­fe, die sie be­nei­det hat­te, steu­er­te sie hin­aus.

»Also gut«, er­klär­te sie. »Aber ver­giss nicht, dass ich nichts von Se­geln ver­ste­he.«

»Ach, es wird schon ge­hen. – Aber jetzt muss ich wen­den. Wenn ich sage: Ree!, dann du­cken Sie den Kopf, dass der Baum Sie nicht trifft, und rücken nach der an­de­ren Sei­te.«

Er führ­te das Ma­nö­ver aus, und Sa­xon tat, wie ihr ge­hei­ßen. Im nächs­ten Au­gen­blick saß sie ne­ben ihm auf der ent­ge­gen­ge­setz­ten Re­ling, wäh­rend die Jol­le nach dem lan­gen Kai hin­über­steu­er­te, wo die Koh­len­bun­ker la­gen.

»Wo hast du das ge­lernt?« frag­te sie.

»Das habe ich mir selbst bei­ge­bracht, di­rekt von selbst ge­lernt. Es mach­te mir Spaß, wis­sen Sie, und was ei­nem Spaß macht, das lernt man auch schnell. Was, glau­ben Sie, habe ich für das Boot ge­ge­ben? Wie Sie es se­hen, ist es fünf­und­zwan­zig Dol­lar wert. Was, glau­ben Sie, habe ich da­für ge­ge­ben?«

»Das kann ich nicht ra­ten«, sag­te Sa­xon. »Wie viel?«

»Sechs Dol­lar! Den­ken Sie sich – ein sol­ches Boot für sechs Dol­lar! Na­tür­lich habe ich eine Men­ge dar­an ge­macht, und das Se­gel hat zwei Dol­lar ge­kos­tet, die Rie­men einen Dol­lar vier­zig und der An­strich einen Dol­lar fünf­und­sieb­zig. Aber für elf Dol­lar fünf­zehn ist es doch bil­lig ge­kauft. Und ich muss­te lan­ge spa­ren, bis ich es krieg­te. Ich tra­ge Mor­gen- und Abend­zei­tun­gen aus – ein an­de­rer Jun­ge hat mir den Nach­mit­tags­gang ab­ge­nom­men – und ich gebe ihm da­für zehn Cent – und alle ›Ex­tras‹, die er ver­kauft, ge­hö­ren ihm; und ich wür­de das Boot schnel­ler be­kom­men ha­ben, wenn ich nicht mei­ne Ste­no­gra­fie­stun­den hät­te be­zah­len müs­sen. Mei­ne Mut­ter woll­te, dass ich Ge­richtss­te­no­graf wür­de. Die krie­gen manch­mal gan­ze zwan­zig Dol­lar den Tag. Nun ja, aber ich ma­che mir nichts dar­aus. Es ist Sün­de und Schan­de, Geld für die Stun­den raus­zu­schmei­ßen.«

»Woraus machst du dir denn et­was?« frag­te sie, halb, um ihre Ge­dan­ken zu be­schäf­ti­gen, und halb, weil sie wirk­lich neu­gie­rig war. Denn sie fühl­te sich von die­sem Jun­gen an­ge­zo­gen, der so ver­trau­ens­voll und gleich­zei­tig so merk­wür­dig ver­träumt war.

»Woraus ich mir et­was ma­che?« wie­der­hol­te er.

Er dreh­te lang­sam den Kopf, folg­te dem Ho­ri­zont, sein Blick weil­te einen Au­gen­blick auf den brau­nen Con­tra-Cos­ta-Ber­gen und schweif­te dann wei­ter, hin­aus auf die See, an Al­ca­traz und dem Gol­de­nen Tor vor­bei. In sei­nen Au­gen lag ein un­sag­bar träu­me­ri­scher Aus­druck, der ihr ans Herz griff.

»Aus dem!« sag­te er und mach­te eine Arm­be­we­gung, die den gan­zen Erd­kreis um­fass­te.

»Aus dem?« frag­te sie.

Er sah sie an, ganz ver­blüfft, dass er ihr noch nicht be­greif­lich ge­macht hat­te, was er mein­te.

»Ken­nen Sie das Ge­fühl gar nicht?« frag­te er mit ei­nem Ver­such, ihre Sym­pa­thie für sei­nen Traum zu ge­win­nen. »Ha­ben Sie nie das Ge­fühl, dass Sie ster­ben wür­den, wenn Sie nicht er­füh­ren, was jen­seits der Ber­ge und was jen­seits der an­de­ren Ber­ge, hin­ter den Ber­gen ist? Und hin­ter dem Gol­de­nen Tor! Der Stil­le Ozean liegt da­hin­ter, und Chi­na und Ja­pan und In­di­en und – alle Koral­len­in­seln. Man kann durch das Gol­de­ne Tor über­all hin­kom­men, nach Aus­tra­li­en, nach Afri­ka, nach den Rob­ben­in­seln, nach dem Nord­pol, nach Kap Horn. Und al­les das war­tet auf mich, und ich wer­de auch schon hin­kom­men und es se­hen.«

Und wie­der, als hät­te er kei­ne Wor­te, um sein all­um­fas­sen­des Ver­lan­gen aus­zu­drücken, mach­te er eine Arm­be­we­gung nach dem Ho­ri­zont.

Auch Sa­xon durch­beb­te es. Sie hat­te, mit Aus­nah­me ih­rer frü­he­s­ten Kind­heit, ihr gan­zes Le­ben in Oa­k­land ver­bracht. Und dort war es gut ge­we­sen – bis jetzt. Jetzt aber, bei al­len die­sen Schre­cken, die wie böse Träu­me wa­ren, jetzt war es ein Ort, von dem man weg­kom­men muss­te, wie ihre Vor­fah­ren vom Os­ten hat­ten weg­kom­men müs­sen. Und warum nicht? Die große Welt riss und zerr­te an ihr, und der Wunsch des Kna­ben hall­te in ihr wi­der. Ihre Ge­dan­ken gin­gen zu­rück zu den Er­zäh­lun­gen ih­rer Mut­ter und zu den Holz­schnit­ten in ih­rem Poe­sie­al­bum, wo ihre halb­nack­ten Vor­fah­ren mit dem Schwert in der Hand aus ih­ren schma­len, lan­gen Boo­ten ge­sprun­gen wa­ren, um am blu­ti­gen Stran­de Eng­lands zu kämp­fen.

»Hast du je von den An­gel­sach­sen ge­hört?« frag­te sie.

»Und ob!« Sei­ne Au­gen leuch­te­ten, und er sah sie mit wach­sen­dem In­ter­es­se an. »Ich bin An­gel­sach­se durch und durch. Se­hen Sie mei­ne Au­gen und mei­ne Haut – wie hell ich bin. Ich bin schreck­lich weiß, wo ich nicht von der Son­ne ver­brannt bin. Und mein Haar war gelb, als ich klein war. Mei­ne Mut­ter sagt, es wür­de dun­kel­braun, wenn ich er­wach­sen wäre, und dar­über är­ge­re ich mich. Aber des­halb bin ich doch An­gel­sach­se. Wir sind über die Welt ge­wan­dert und ha­ben alle an­de­ren ver­prü­gelt.«

Sa­xon nick­te, wäh­rend er in sei­nen Be­trach­tun­gen fort­fuhr; ihre Au­gen leuch­te­ten, sie er­kann­te plötz­lich, wel­che Herr­lich­keit es sein muss­te, einen sol­chen Kna­ben zur Welt zu brin­gen. Ihr Kör­per schmerz­te so, dass sie sich fast ein­bil­de­te, ein un­ge­bo­re­nes We­sen be­käme Le­ben in ihr. Ein neu­es Ge­schlecht, ein gu­tes Ge­schlecht, dach­te sie bei sich. Und sie dach­te an sich sel­ber und an Bil­ly, ge­sun­de Schöß­lin­ge des­sel­ben Ge­schlechts, und doch zur Kin­der­lo­sig­keit ver­dammt, weil die Welt, die die Men­schen ge­schaf­fen, sie in eine Fal­le ge­lockt hat­te, und weil sie ver­flucht wa­ren, in der Schar der Dum­men zu le­ben.

Dann wand­te sie ihre Auf­merk­sam­keit wie­der dem Kna­ben zu.

»Mein Va­ter war Sol­dat im Bür­ger­krieg«, er­zähl­te er ihr. »Pfad­fin­der und Spi­on. Die Auf­rüh­rer woll­ten ihn zwei­mal als Spi­on hän­gen. In der Schlacht am Wil­son Creek lief er eine hal­be Mei­le mit sei­nem ver­wun­de­ten Ka­pi­tän auf dem Rücken. Vor dem Krieg war er Büf­fel­jä­ger und Pelz­jä­ger. Er ist fast in je­dem Staat von Ame­ri­ka ge­we­sen. Als er jung war, konn­te er mit je­dem rin­gen. Als ganz jun­ger Bur­sche hat­te er schon das Kom­man­do über alle Flö­ßer von Sus­que­han­na. Sein Va­ter tö­te­te einen Mann in ei­ner Prü­ge­lei. Mit ei­nem Schlag sei­ner blo­ßen Faust, und das mit sech­zig Jah­ren. Und als er vierund­sieb­zig war, be­kam sei­ne Frau Zwil­lin­ge. Er starb, als er ein Feld mit Och­sen pflüg­te, und da war er neun­und­sieb­zig. Er konn­te ge­ra­de noch die Och­sen ab­schir­ren, dann setz­te er sich un­ter einen Baum und starb. Und mein Va­ter ist ge­nau so. Er ist jetzt ziem­lich alt, aber er fürch­tet sich vor gar nichts. Er ist ein rich­ti­ger An­gel­sach­se, wis­sen Sie.«