»Und dann mach, dass du wegkommst! Geh nach drinnen.«
»Hören Sie«, sagte Harmon. »Das ist kein Benehmen.«
»Ich habe Ihnen schon zu viel Freiheit gelassen«, lautete Billys Antwort.
»Ich habe wohl meine Miete regelmäßig bezahlt, nicht wahr?«
»Und ich sollte Ihnen den Kopf zerschlagen. Ja, und ich kann eigentlich nicht einsehen, warum ich es nicht tun sollte.«
»Wenn du das versuchst, Billy –«, begann Saxon.
»Bist du noch da? Wenn du nicht nach drinnen gehst, dann helfe ich dir.«
Seine Hand umpresste ihren Arm. Einen Augenblick versuchte sie, Widerstand zu leisten, und in dem Augenblick, als ihr Fleisch von seinen Fingern zerquetscht wurde, wurde sie sich seiner unermesslichen Kraft bewusst.
Im Vorderzimmer konnte sie sich nur weinend in den großen Sessel werfen und hören, was in der Küche vorging.
»Ich bleibe jedenfalls bis Ende der Woche«, sagte der Heizer. »Ich habe vorausbezahlt.«
»Dass du dich nur nicht irrst«, ertönte Billys Stimme, so langsam, dass sie schleppend wirkte, und doch zitterte sie vor Wut. »Wenn dir deine Gesundheit lieb ist, kannst du nicht schnell genug wegkommen – mit Sack und Pack. Ich kann jeden Augenblick platzen.«
»Ja, ich weiß, dass Sie ein Raufbold sind –«, begann der Heizer.
Dann hörte Saxon einen Schlag – ein Irrtum war nicht möglich; eine Scheibe wurde zerschlagen. Dann wurde an der Hintertür gerungen und endlich ein schwerer Körper die Treppe hinabgeworfen. Danach hörte sie Billy in die Küche zurückkommen und umhergehen – sie wusste, dass er die Glasscherben zusammenfegte. Dann wusch er sich am Ausguss und begann zu pfeifen, während er sich Gesicht und Hände abtrocknete, und kam dann ins Vorderzimmer. Sie sah ihn nicht an – dazu war sie zu elend und traurig. Er blieb unentschlossen stehen, als könnte er nicht recht mit sich einig werden.
»Ich muss in die Stadt«, sagte er schließlich. »Wir haben Versammlung in der Gewerkschaft. Wenn ich nicht wiederkomme, hat der Schwachkopf mich bei der Polizei angezeigt.«
Er öffnete die Hintertür, blieb aber wieder stehen. Sie wusste, dass er sie ansah. Dann schloss sich die Tür, und sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen.
Saxon war vollkommen betäubt. Sie konnte nicht denken. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Alles war so unfassbar, so unglaublich. Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen im Sessel zurück, ohne einen einzigen klaren Gedanken im Kopf, und zu Boden gedrückt von dem bleischweren Gefühl, dass jetzt alles aus war.
Die Kinder, die auf der Straße spielten, riefen sie in die Wirklichkeit zurück. Es war Abend geworden. Sie suchte tastend nach einer Lampe und zündete sie schließlich an. In der Küche blieb sie stehen und starrte mit bebenden Lippen auf das karge, halbzubereitete Essen. Das Feuer war ausgegangen, das Wasser von den Kartoffeln verkocht. Als sie den Deckel abnahm, stieg ein brenzliger Geruch aus dem Topf auf. Methodisch wie immer, reinigte und wusch sie den Topf, brachte alles in Ordnung und schnitt die Kartoffeln in Scheiben, sodass sie sie am nächsten Tage braten konnte. Und ebenso methodisch entkleidete sie sich und ging zu Bett. Ihre vollkommene Ruhe war unnatürlich, so unnatürlich, dass sie sofort die Augen schloss und fast im selben Augenblick eingeschlafen war.
Es war seit ihrer Verheiratung die erste Nacht, die sie ohne Billy verbrachte. Sie war ganz verblüfft, dass sie nicht wach gelegen und sich um ihn geängstigt hatte. Mit weit offenen Augen, fast ohne Gedanken in ihrem Hirn, blieb sie liegen, bis sie bemerkte, dass ihr Arm schmerzte. Dort hatte Billy sie gepackt. Als sie die schmerzende Stelle untersuchte, sah sie, dass sie ganz schwarz und blau war. Sie war überrascht, nicht darüber, dass der Mensch, den sie über alles auf der Welt liebte, ihr diesen Schaden zugefügt hatte, sondern über das rein Physische, dass ein Druck, der nur einen Augenblick dauerte, solchen Schaden anrichten konnte. Die Kraft eines Mannes war etwas Fürchterliches. Sie ertappte sich dabei, wie sie, ganz unpersönlich, darüber nachdachte, ob Charley Long wohl ebenso stark wie Billy sei.
Erst als sie sich angekleidet und Feuer gemacht hatte, begann sie, an Näherliegendes zu denken. Billy war nicht wiedergekommen – also war er verhaftet worden. Was sollte sie tun? Ihn im Gefängnis lassen, ihrer Wege gehen und ein neues Leben beginnen? Selbstverständlich war es unmöglich, weiter mit einem Mann zusammenzuleben, der sich so wie er benommen hatte. Dann aber tauchte ein anderer Gedanke auf – war es wirklich unmöglich? Trotz allem war er ja ihr Mann. In guten und schlechten Tagen – den Satz wiederholte sie sich immer wieder, als monotone Begleitung zu ihren Gedanken, im Hintergrund ihres Bewusstseins. Ihn zu verlassen, hieß, alles aufzugeben. Sie brachte die Sache vor den Richterstuhl der Erinnerung an ihre Mutter. Nein, Daisy hätte nie aufgegeben. Daisy hatte Kampfblut in den Adern. Also musste auch sie, Saxon, kämpfen. Und zudem – das gab sie willig, wenn auch kalt und tot, zu – zudem war Billy besser als die meisten Ehemänner. Und sie erinnerte sich seines Feingefühls und Taktes bei so vielen früheren Gelegenheiten und namentlich seines ewigen Kehrreims: Nichts ist zu gut für uns.
Um elf Uhr kam Besuch. Es war Bud Stroters, Billys Kamerad bei der Streikwache. Er erzählte ihr, dass Billy sich geweigert hätte, Kaution zu stellen, sich geweigert hätte, einen Rechtsanwalt zu nehmen, gebeten hätte, ihn vor Gericht zu stellen, gestanden hätte und zu einer Strafe von sechzig Dollar oder dreißig Tagen Gefängnis verurteilt wäre. Er hätte sich auch geweigert, die Kameraden die Strafe für ihn bezahlen zu lassen.
»Er ist ganz durchgedreht«, schloss Stroters. »Er will keine Vernunft annehmen. Er sagt, er wolle seine Zeit absitzen. Ich denke, er hat ein bisschen reichlich getrunken und ist etwas wirr im Kopf davon. Aber hören Sie, er gab mir einen Brief für Sie. Wenn Sie etwas entbehren, so schicken Sie nur zu mir. Alle Kameraden werden Billys Frau unterstützen. Sie gehören zu uns. Wie steht es mit Geld?« Sie erklärte stolz, kein Geld zu brauchen, und erst, als ihr Gast Abschied genommen hatte, las sie den Brief:
Liebe Saxon – Bud Stroters hat mir versprochen, Dir diesen Brief zu geben. Mach Dir keine Sorge um mich. Ich will meine Strafe verbüßen. Ich verdiene sie – das weißt Du auch selber. Ich muss ja ganz verrückt gewesen sein. Aber deshalb tut es mir doch leid, dass ich mich so benommen habe. Du sollst mich nicht besuchen. Wenn Du Geld brauchst, wird die Gewerkschaft es Dir geben. In einem Monat komme ich wieder heraus. Und, Saxon, Du weißt ja, dass ich Dich liebe, und sage Dir nur selbst, dass Du mir dies eine Mal verzeihst – dann sollst Du es nicht wieder nötig haben.
Billy.
Bud Stroters war kaum zur Tür hinaus, als auch schon Maggie Donahue und Frau Olsen als gute Nachbarinnen kamen und versuchten, sie ein wenig zu erheitern.
Nachmittags kam James Harmon. Er hinkte ein wenig, und Saxon erriet, dass er sich bemühte, es zu verbergen. Sie versuchte, sich zu entschuldigen, aber er wollte sie nicht anhören.
»Ich mache Ihnen keine Vorwürfe, Frau Roberts«, sagte er. »Ich weiß ja, dass es nicht Ihre Schuld war. Aber Ihr Mann war nicht recht bei Sinnen, denke ich mir. Er war so wild darauf, sich mit irgendjemand zu prügeln, und es war mein gewöhnliches Pech, dass ich ihm gerade in den Weg laufen musste.«
»Aber deshalb –«
Der Heizer schüttelte den Kopf.
»Ich kenne das alles so gut. Ich habe früher auch gern eins getrunken und manche Dummheit gemacht. Und es tut mir leid, dass ich ihn anzeigte. Aber ich war auch wütend. Jetzt bin ich ruhiger geworden, und es tut mir leid, dass ich es getan habe.«
»Das ist furchtbar nett von Ihnen«, sagte sie, und dann begann sie zögernd und stotternd vorzubringen, was sie bedrückte. »Sie – Sie können nicht hierbleiben, während er – fort ist, verstehen Sie?«
»Nein, das geht wohl nicht. Aber ich will Ihnen etwas sagen: Ich packe meine Sachen und gehe weg, und um sechs schicke ich einen Wagen und lasse alles holen. Hier ist der Schlüssel zur Hintertür.«
Trotz aller Einwände zwang sie ihn, das Geld für die restlichen Tage der Woche zurückzunehmen. Er drückte ihr herzlich die Hand beim Abschied und versuchte, ihr das Versprechen abzunehmen, dass sie sich an ihn wenden würde, wenn sie je Geld gebrauchte.
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte er ihr. »Ich bin verheiratet und habe zwei Jungens. Die Lunge von dem einen ist nicht ganz in Ordnung, und meine Frau ist mit ihnen in Arizona. Die Eisenbahn hat ihnen dazu verholfen.«
Und als er die Treppe hinunterging, dachte sie, wie es wohl kam, dass es einen so guten, freundlichen Mann in einer Welt gab, die sonst so schlecht war.
Der kleine Donahue warf eine Abendzeitung zu ihr herein, und sie sah, dass das Blatt Billy eine halbe Spalte geopfert hatte. Es war nicht gerade schmeichelhaft. Es wurde erwähnt, dass er sich dem Gericht mit Augen, die Zeichen früherer Prügeleien trugen, gestellt hätte. Er wurde als Bandit, als Raufbold, professioneller Boxer beschrieben, den zu ihren Mitgliedern zu zählen eine Schande für die Gewerkschaften sei. Der Überfall, dessen er sich schuldig gemacht, wäre widerwärtig, roh und ohne den geringsten Anlass unternommen, und wenn alle streikenden Fuhrleute so wie er wären, dann würde es das einzig Vernünftige für Oakland sein, die Gewerkschaft zu sprengen und alle Mitglieder zur Stadt hinauszujagen. Und endlich beklagte die Zeitung sich darüber, dass das Urteil zu milde sei. Er hätte mindestens sechs Monate haben müssen. Es wurde ein Ausspruch des Richters angeführt, der bedauerte, nicht imstande gewesen zu sein, ihn zu sechs Monaten zu verurteilen, die Sache sei aber, dass die Gefängnisse schon überfüllt wären von den vielen, die sich bei den verschiedenen Streiks Gewalttätigkeiten hätten zuschulden kommen lassen.
Als Saxon sich am Abend zu Bett legte, fühlte sie zum ersten Mal, was Einsamkeit hieß. Es war, als schnurrte ihr alles durch den Kopf, und ihr Schlaf wurde beständig von Versuchen unterbrochen, Billy zu fassen, der, wie sie meinte, neben ihr lag. Schließlich zündete sie die Lampe an, lag da und starrte mit offenen Augen die Decke an, während sie immer wieder in allen Einzelheiten das Unglück überdachte, das sie mit so lähmender Wucht getroffen hatte. Sie konnte verzeihen und konnte es doch nicht. Der gegen ihre Liebe gerichtete Schlag war zu heftig und brutal gewesen. Ihr Stolz war zu sehr misshandelt, als dass sie in ihren Gedanken ganz zu dem anderen Billy hätte zurückkehren können – den sie geliebt hatte. Sie weinte, wie sie allein in dem großen Bett dalag und mit sich kämpfte, um Billys unfassbare Grausamkeit zu vergessen, ja, sogar mit stummer Zärtlichkeit ihre Wange auf den misshandelten Arm legte. Aber immer wieder flammte die Kränkung in ihr auf, ein ewiger heftiger Protest gegen Billy und alles, was Billy getan. Ihre Kehle brannte wie Feuer, in ihrer Brust war ein dumpfer Schmerz, der nie aufhörte, und sie wurde von dem Gefühl bedrückt, dass alles aus war. Warum? Warum? Aber auf dieses Lebensrätsel erhielt sie keine Antwort.
Am Morgen kam Sarah zu Besuch – der zweite Besuch seit ihrer Verheiratung; und es war nicht schwer zu erraten, was die Schwägerin wollte. Saxon brauchte sich nicht anzustrengen, dass ihr Stolz sich aufbäumte. Sie wollte Billy nicht im geringsten verteidigen. Es gab nichts zu verteidigen und nichts zu erklären. Alles war, wie es sein sollte, und jedenfalls ging es keinen etwas an. Das reizte Sarah nur noch mehr.
»Ich warnte dich ja. Ich habe immer gewusst, dass er nichts wert war, ein Zuchthauskandidat, ein Bandit, ein Raufbold. Das Herz sank mir in die Schuhe, als ich hörte, dass du mit einem Berufsboxer gingst. Das sagte ich dir schon damals. Aber nein, du wolltest nicht auf mich hören, du mit deinem Feingefühl und deinen vielen Schuhen – mehr als eine anständige Frau haben sollte. Du warst natürlich klüger als ich. Und da sagte ich zu Tom: ›Tom‹, sagte ich, ›jetzt ist Saxon geliefert.‹ Das waren meine Worte. Wer Pech anrührt, besudelt sich. Wenn du doch nur Charley Long geheiratet hättest! Dann hätte die Familie nicht diese Schande erleben müssen. Das ist nur der Anfang. Denk an das, was ich dir sage, das ist nur der Anfang. Wo es enden soll, das mögen die Götter wissen. Er wird noch gehängt werden wegen Mord, der Bandit, mit dem du verheiratet bist. Ja, warte nur, du wirst ja sehen. Wie man sich bettet, so liegt man, und wenn man einen Zuchthauskandidaten –«
»Ach was«, antwortete Saxon überlegen. »In dieser Zeit scheinen alle einen Vorgeschmack vom Zuchthaus zu bekommen. Ist nicht selbst Tom bei einer sozialistischen Straßenversammlung verhaftet worden? Alle Menschen kommen jetzt ins Gefängnis.«
Sie sah gleich, dass der Pfeil getroffen hatte.
»Aber Tom wurde freigesprochen«, erwiderte Sarah.
»Deshalb hat er aber doch die Nacht gesessen.«
Dagegen war nichts zu sagen, und Sarah ging zu ihrer Lieblingstaktik über und machte einen Flankenangriff.
»Es ist übrigens hübsch, wie es mit dir geendet hat, bei deiner schönen und guten Erziehung – dass du dich mit einem Zimmerherrn einlässt.«
»Wer sagt das?« fragte Saxon in flammendem Zorn, den sie jedoch gleich wieder bezwang.
»Ach, das kann doch ein Blinder zwischen den Zeilen lesen. Ein Zimmerherr, eine junge Frau, die ihre Selbstachtung verloren und einen Boxer geheiratet hat. Weshalb sollten sie sich sonst prügeln?«
»Genau wie jeder andere Familienstreit, nicht wahr?« sagte Saxon mit ruhigem Lächeln.
Sarah wurde so wütend, dass sie im ersten Augenblick kein Wort hervorbringen konnte.
»Und das will ich dir nur sagen«, fuhr Saxon fort. »Eine Frau muss stolz sein, wenn Männer sich um sie schlagen. Und ich bin stolz darauf, hörst du? Ich bin stolz darauf, das kannst du gern all deinen Nachbarn, allen Menschen erzählen. Ich bin keine Kuh, Männer lieben mich, Männer schlagen sich meinetwegen, Männer gehen meinetwegen ins Gefängnis. Und jetzt kannst du gehen, Sarah, und zwar sofort, und den Leuten erzählen, was du zwischen den Zeilen gelesen hast. Erzähl ihnen, dass Billy ein Zuchthauskandidat ist, und dass ich eine schlechte Frau bin, hinter der alle Männer her sind. Ruf es von den Dächern herunter, und möchtest du Freude daran haben. Und nun geh, und setze nie wieder deinen Fuß in mein Haus. Du bist eine zu achtbare Frau, um hierherzukommen. Dein guter Ruf könnte darunter leiden. Und denk an deine Kinder. Aber jetzt geh! Geh!«
Erst als die verblüffte und entsetzte Sarah zur Tür hinaus war, warf Saxon sich heftig weinend aufs Bett. Sie hatte sich bisher nur über Billys Brutalität und Ungerechtigkeit geschämt. Jetzt aber wusste sie, wie andere die Sache ansahen. Das war Saxon bisher nicht eingefallen. Sie war überzeugt, dass es auch Billy nicht eingefallen war. Sie kannte seine Haltung von Anfang an. Er war immer dagegen gewesen, einen Zimmerherrn zu nehmen, weil er zu stolz war, seine Frau arbeiten zu lassen. Nur die harte Not hatte ihm seine Einwilligung abgezwungen. Und jetzt, da sie zurücksah, dachte sie daran, wie sie ihm diese Einwilligung fast mit List abgerungen hatte.
Aber alles das konnte die Anschauung der Nachbarn und aller, die sie gekannt hatten, nicht ändern. Und das war auch Billys Schuld. Das war furchtbarer als alles, was er sonst getan. Sie konnte nie wieder einem Menschen ins Auge sehen. Maggie Donahue und Frau Olsen waren beide sehr freundlich gewesen, aber was mochten sie wohl gedacht haben, als sie mit ihr sprachen? Und was mochten sie wohl miteinander gesprochen haben? Ja, was sagten die Leute überhaupt – an Gartenpforten und auf Hintertreppen? Und die Männer an Straßenecken und in Wirtschaften?
Als sie später vom Weinen völlig erschöpft war und keine Tränen mehr hatte, wurde sie unpersönlicher und dachte an das Unglück, das so viele Frauen seit Ausbruch des Streiks betroffen hatte – Otto Franks Frau, Hendersons Witwe, die hübsche Kittie Brady, all die Frauen anderer Männer, die jetzt in ihrer Gefängniskleidung in San Quentin waren. Ihre Welt wollte zusammenstürzen. Niemand ging frei aus. Aber ihre Schande war größer als die aller anderen. Sie klammerte sich verzweifelt an die Einbildung, dass sie schliefe, dass alles ein böser Traum sei, dass der Wecker im nächsten Augenblick läuten, und dass sie aufstehen würde, um Billys Frühstück zu bereiten. Sie stand an diesem Tage gar nicht auf. Sie schlief auch nicht. Ihre Gedanken arbeiteten unaufhörlich mit rasender Schnelligkeit, verweilten zuerst ausführlich, anhaltend bei dem Unglück, das sie betroffen hatte, um dann den fantastischen Verzweigungen dessen, was sie für ihre Schande ansah, zu folgen und endlich zu den Tagen der Kindheit zurückzukehren. In Gedanken verrichtete sie in all den Berufen, die sie je gehabt hatte, die unzähligen mechanischen Bewegungen, die für jede einzelne Arbeit eigentümlich waren – das Formen und Zusammenkleben der Schachteln in der Kartonagenfabrik, die Webarbeit in der Jutefabrik, das Plätten in der Plätterei, die Behandlung von Obst in der Konservenfabrik. In Gedanken erlebte sie wieder alle die Bälle und Waldausflüge, an denen sie je teilgenommen hatte; sie durchlebte ihre Schultage und erinnerte sich jedes ihrer Klassenkameraden, wie sie aussahen, wie sie hießen und wo sie saßen; erlitt die grauen, trüben Jahre im Kinderheim, zog jede Erinnerung, jede Geschichte von der Mutter hervor und durchlebte wieder ihre Ehe mit Billy. Aber immer wieder – und das war das Quälende – wurden ihre Gedanken, wenn sie noch so weit flogen, zurückgeführt zu der Pein des Augenblicks, zu dem brennenden Gefühl in der Kehle, zu dem dumpfen Schmerz in der Brust und dem nagend-leeren Gefühl, dass alles vorbei war.
*
Die ganze Nacht lag Saxon schlaflos da, ohne sich zu entkleiden, und als sie morgens aufstand, wusch sie sich das Gesicht und machte sich das Haar. Ihr war seltsam zumute, sie war wie betäubt und hatte ein Gefühl, als sei ihr Kopf von einem schweren eisernen Reif zusammengepresst. Das war der Anfang einer Krankheit, die sie nicht bei Namen nennen konnte. Sie wusste nur, dass ihr seltsam zumute war. Es war kein Fieber. Es war keine Erkältung. Körperlich fehlte ihr nichts, und als sie ein wenig nachgedacht hatte, kam sie zu dem Ergebnis, dass es nur die Nerven waren – die Nerven, die nach ihrer Vorstellung und der ihrer Klasse keine Verbindung mit physischem Unwohlsein hatten.
Sie hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie sich selbst fremd geworden war, und dass die Welt, in der sie sich bewegte, eine wie in einen Nebelschleier eingehüllte unklare Welt war, die keine scharfen Konturen hatte, und deren sonstige Klarheit verschwunden war. Ihr Gedächtnis wies große Lücken auf, und sie ertappte sich immer wieder dabei, wie sie Dinge tat, die sie gar nicht hatte tun wollen. So kam sie zu ihrem großen Erstaunen plötzlich zur Besinnung, als sie auf dem Hinterhof stand und die Wäsche der Woche zum Trocknen aufhängte. Sie erinnerte sich nicht, die Arbeit getan zu haben, und doch war es genau das, was sie tun sollte. Sie hatte Laken, Kissenbezüge und Tischwäsche gekocht; Billys Wollwäsche war in warmem Wasser gewaschen, mit selbstverfertigter Seife, deren Rezept Mercedes ihr gegeben hatte. Bei näherem Nachsehen entdeckte sie, dass sie ein Kotelette zum Frühstück gegessen hatte. Das hieß, dass sie beim Schlächter gewesen war, und doch erinnerte sie sich dessen nicht. Neugierig ging sie ins Schlafzimmer. Das Bett war gemacht und alles in Ordnung. In der Dämmerung kam sie zu sich. Sie saß im Vorderzimmer am Fenster und weinte vor überströmender Freude. Anfangs wusste sie nicht, weshalb sie sich so freute, dann aber tauchte plötzlich das Bewusstsein in ihrem Kopfe auf, dass es daher kam, weil sie ihr Kindchen verloren hatte. »Es ist ein Segen, ein Segen!« sang sie laut und rang die Hände, aber aus Freude – sie wusste, dass sie ihre Hände aus Freude rang.
Die Tage kamen und gingen. Sie hatte nur einen vagen Begriff von der Zeit. Zuweilen kam es ihr vor, als seien Jahrhunderte vergangen, seit Billy ins Gefängnis gekommen war. Dann wieder war es, als sei alles am Abend zuvor geschehen. Immer wieder aber tauchten die beiden Gedanken auf: sie durfte Billy nicht im Gefängnis besuchen, und es war ein Segen, dass sie ihr Kind verloren hatte.
Einmal kam Bud Stroters, um nach ihr zu sehen. Er saß im Vorderzimmer und sprach mit ihr, und es beschäftigte sie sehr, als sie sah, dass seine Hosen unten ausgefranst waren. Wieder eines Tages kam der Geschäftsführer der Gewerkschaft. Sie sagte ihm, wie sie Bud Stroters gesagt hatte, dass es ihr ausgezeichnet ginge, dass ihr nichts fehlte, und dass sie bis zu Billys Entlassung leicht durchkommen könnte.
Dann begann eine quälende Angst sie zu verfolgen, wo sie ging und stand. Wenn er entlassen wurde. Nein: das würde nicht geschehen. Es durften keine Kinder mehr kommen. Es konnte ja ein lebendes Kind werden. Nein, nein und tausendmal nein. Das durfte nicht geschehen. Dann eher weglaufen! Sie wollte Billy nicht wiedersehen. Alles, nur das nicht! Alles, nur das nicht!
Die Angst ließ sich nicht verscheuchen. In ihrem Schlaf, den beständig böse Träume störten, wurde es zu einer unumstößlichen Tatsache, sodass sie nur zitternd, in kalten Schweiß gebadet und mit einem lauten Schrei aufwachen konnte. Ihr Schlaf wurde immer unruhiger und immer mehr von bösen Träumen gestört. Zuweilen war sie überzeugt, dass sie gar nicht schlief, sie wusste, dass sie an Schlaflosigkeit litt, und an Schlaflosigkeit war ihre Mutter gestorben.
Eines Tages kam sie in Doktor Hentleys Sprechzimmer zu sich. Er sah sie an, als wüsste er nicht recht, was er glauben sollte.
»Bekommen Sie auch genug zu essen?« fragte er.
Sie nickte.
»Bedrückt etwas Ernsthaftes Sie?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist nichts, Herr Doktor – außer –«
»Nun, was denn?« sagte er ermutigend.
Und jetzt wusste sie, warum sie gekommen war. Klar und offen erzählte sie ihm alles. Er schüttelte langsam den Kopf.
»Das geht nicht, mein Kind«, sagte er.
»Doch, es geht!« rief sie. »Ich weiß, dass es geht.«
»Ach, das meine ich nicht«, antwortete er. »Ich meine nur, dass ich es Ihnen nicht sagen kann. Ich darf es nicht. Es ist ungesetzlich. Ein Arzt sitzt deswegen im Leavenworth-Gefängnis.«
Sie bestürmte ihn vergeblich mit ihren Bitten. Er erzählte, dass er selbst Frau und Kinder hätte und sich ihretwegen nicht in Gefahr bringen dürfte.
»Außerdem besteht augenblicklich keine Wahrscheinlichkeit dafür«, sagte er.
»Aber es kommt, es kommt ganz sicher«, beharrte sie eindringlich.
Aber er schüttelte nur traurig den Kopf.
»Warum wollen Sie es wissen?« fragte er schließlich. Saxon schüttete ihm ihr Herz aus. Sie erzählte ihm von dem ersten glücklichen Jahr mit Billy, von den schweren Zeiten, die infolge der Arbeiterunruhen gekommen waren, von der mit Billy vorgegangenen Veränderung und von ihrer eigenen wahnsinnigen Angst. Nicht, wenn es sterben sollte, schloss sie. Das könnte sie noch einmal ertragen. Aber wenn es leben sollte! Billy würde bald aus dem Gefängnis kommen, und dann sei die Gefahr da. Es seien ja nur ein paar Worte. Sie wolle es keinem Menschen erzählen. Wilde Pferde sollten es nicht aus ihr herausziehen können.
Aber Doktor Hentley schüttelte nur weiter den Kopf.
»Ich kann es Ihnen nicht sagen, mein Kind. Es ist eine Schande, aber ich wage es nicht. Mir sind die Hände gebunden. Es ist ein Fehler in unsern Gesetzen. Ich muss an die denken, die mir teuer sind.«
Erst als sie aufstand, um zu gehen, wurde sein Entschluss wankend.
»Kommen Sie«, sagte er. »Setzen Sie sich dicht zu mir.«
Er wollte ihr etwas zuflüstern, aber in übertriebener Vorsicht stand er plötzlich auf, schritt an das andere Ende der Stube, öffnete die Tür und sah hinaus. Als er sich wieder setzte, zog er seinen Stuhl so dicht an den ihren, dass ihre Arme sich berührten, und als er flüsterte, kitzelte sein Bart ihr Ohr.
»Nein, nein«, sagte er abwehrend, als sie ihre Dankbarkeit auszudrücken versuchte. »Ich habe Ihnen nichts erzählt. Sie sind bei mir gewesen, um mich wegen Ihrer Gesundheit im Allgemeinen zu konsultieren. Sie sind sehr herunter, sind nicht recht bei sich –«
Im Sprechen begleitete er sie zur Tür. Als er sie öffnete, stand ein Patient im Vorzimmer. Doktor Hentley hob die Stimme.
»Sie brauchen das stärkende Mittel, das ich Ihnen aufgeschrieben habe, vergessen Sie das nicht! Und überfüllen Sie nicht Ihren Magen, wenn Sie wieder Appetit bekommen. Aber essen Sie etwas Gutes, Nahrhaftes. Auf Wiedersehen!«
*
Manchmal wurde es ganz unerträglich für Saxon in dem stillen Haus, und dann warf sie sich einen Shawl1 über den Kopf und ging nach der Oakländer Mole oder über das Eisenbahngelände und durch die Sümpfe nach Sandy Beach, wo Billy, wie er ihr erzählt hatte, zu baden pflegte. Oder sie ging nach der Fährstelle, indem sie auf einer unsicheren eisernen Leiter über Holzstapel kletterte, und wenn sie dann über einen Berg von Brennholz kroch, konnte sie zum Rock Wall gelangen, der sich weit in die Bucht hinaus erstreckte und die Schlickfläche von dem in das Oakländer Delta mündenden Kanal trennte. Hier wehte der frische Seewind und Oakland schwand zu einem Rauchfleck hinter ihr, während sie jenseits der Bucht den Rauchfleck sah, der San Franzisko bedeutete. Ozeandampfer fuhren im Delta ein und aus, und Segelschiffe mit hohen Masten wurden von Schleppern mit roten Schornsteinen gezogen.
Sie sah die Seeleute auf den Schiffen und dachte an die langen Reisen, die sie machten, und die fernen Länder, die sie besuchten, und das freie Leben, das sie führen mochten. Oder waren sie vielleicht von einer Welt umgeben, die ebenso unbarmherzig und böse war wie die, welche Oakland mit seinen Bewohnern umgab? Es sah nicht so aus, und manchmal wünschte sie, auf einem der ausfahrenden Schiffe zu sein – und zu fahren, einerlei wohin, nur weit fort von der Welt, der sie ihr Bestes gegeben und die sie dafür mit Füßen getreten hatte.
Sie wusste es nicht immer, wann sie ausging oder wo ihre Füße sie hintrugen. Einmal kam sie zu sich in einer Gegend von Oakland, die sie gar nicht kannte. Die Straße war breit, und zu beiden Seiten waren Reihen schattiger Bäume und sammetweiche Rasenflächen, die nur von zementierten Bürgersteigen unterbrochen wurden, die Häuser lagen etwas auseinander und waren groß – sie bezeichnete sie in Gedanken als Paläste. Was sie wieder ins Bewusstsein riss, war ein junger Mann auf dem Führersitz eines großen Tourenautomobils, das vor einem der Häuser hielt. Er sah sie neugierig an, und sie erkannte ihn. Es war Roy Blanchard, der junge Mann, dem Billy vor dem Forum Prügel angedroht hatte. Neben dem Automobil stand barhaupt ein anderer junger Mann. Auch seiner erinnerte sie sich. Es war der, der – an dem Sonntag, als sie Billy das erstemal getroffen – dem Läufer den Stock zwischen die Beine gesteckt und dadurch das allgemeine Handgemenge verursacht hatte. Wie Blanchard, sah auch er sie neugierig an, und ihr wurde plötzlich klar, dass sie Selbstgespräche geführt hatte. Ihre eigene unzusammenhängende Rede klang ihr noch im Ohr. Sie wurde heiß vor Scham und beschleunigte ihren Gang. Blanchard sprang vom Auto herunter und ging ihr entgegen.
»Ist Ihnen etwas?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf, und obwohl sie stehen blieb, gab sie doch deutlich zu erkennen, dass sie weiterzugehen wünschte.