Jack London – Gesammelte Werke

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»Und dann mach, dass du weg­kommst! Geh nach drin­nen.«

»Hö­ren Sie«, sag­te Har­mon. »Das ist kein Be­neh­men.«

»Ich habe Ih­nen schon zu viel Frei­heit ge­las­sen«, lau­te­te Bil­lys Ant­wort.

»Ich habe wohl mei­ne Mie­te re­gel­mä­ßig be­zahlt, nicht wahr?«

»Und ich soll­te Ih­nen den Kopf zer­schla­gen. Ja, und ich kann ei­gent­lich nicht ein­se­hen, warum ich es nicht tun soll­te.«

»Wenn du das ver­suchst, Bil­ly –«, be­gann Sa­xon.

»Bist du noch da? Wenn du nicht nach drin­nen gehst, dann hel­fe ich dir.«

Sei­ne Hand um­press­te ih­ren Arm. Ei­nen Au­gen­blick ver­such­te sie, Wi­der­stand zu leis­ten, und in dem Au­gen­blick, als ihr Fleisch von sei­nen Fin­gern zer­quetscht wur­de, wur­de sie sich sei­ner un­er­mess­li­chen Kraft be­wusst.

Im Vor­der­zim­mer konn­te sie sich nur wei­nend in den großen Ses­sel wer­fen und hö­ren, was in der Kü­che vor­ging.

»Ich blei­be je­den­falls bis Ende der Wo­che«, sag­te der Hei­zer. »Ich habe vor­aus­be­zahlt.«

»Dass du dich nur nicht irrst«, er­tön­te Bil­lys Stim­me, so lang­sam, dass sie schlep­pend wirk­te, und doch zit­ter­te sie vor Wut. »Wenn dir dei­ne Ge­sund­heit lieb ist, kannst du nicht schnell ge­nug weg­kom­men – mit Sack und Pack. Ich kann je­den Au­gen­blick plat­zen.«

»Ja, ich weiß, dass Sie ein Rauf­bold sind –«, be­gann der Hei­zer.

Dann hör­te Sa­xon einen Schlag – ein Irr­tum war nicht mög­lich; eine Schei­be wur­de zer­schla­gen. Dann wur­de an der Hin­ter­tür ge­run­gen und end­lich ein schwe­rer Kör­per die Trep­pe hin­ab­ge­wor­fen. Da­nach hör­te sie Bil­ly in die Kü­che zu­rück­kom­men und um­her­ge­hen – sie wuss­te, dass er die Glas­scher­ben zu­sam­men­feg­te. Dann wusch er sich am Aus­guss und be­gann zu pfei­fen, wäh­rend er sich Ge­sicht und Hän­de ab­trock­ne­te, und kam dann ins Vor­der­zim­mer. Sie sah ihn nicht an – dazu war sie zu elend und trau­rig. Er blieb un­ent­schlos­sen ste­hen, als könn­te er nicht recht mit sich ei­nig wer­den.

»Ich muss in die Stadt«, sag­te er schließ­lich. »Wir ha­ben Ver­samm­lung in der Ge­werk­schaft. Wenn ich nicht wie­der­kom­me, hat der Schwach­kopf mich bei der Po­li­zei an­ge­zeigt.«

Er öff­ne­te die Hin­ter­tür, blieb aber wie­der ste­hen. Sie wuss­te, dass er sie an­sah. Dann schloss sich die Tür, und sie hör­te ihn die Trep­pe hin­un­ter­ge­hen.

Sa­xon war voll­kom­men be­täubt. Sie konn­te nicht den­ken. Sie wuss­te nicht, was sie den­ken soll­te. Al­les war so un­fass­bar, so un­glaub­lich. Sie lehn­te sich mit ge­schlos­se­nen Au­gen im Ses­sel zu­rück, ohne einen ein­zi­gen kla­ren Ge­dan­ken im Kopf, und zu Bo­den ge­drückt von dem bleischwe­ren Ge­fühl, dass jetzt al­les aus war.

Die Kin­der, die auf der Stra­ße spiel­ten, rie­fen sie in die Wirk­lich­keit zu­rück. Es war Abend ge­wor­den. Sie such­te tas­tend nach ei­ner Lam­pe und zün­de­te sie schließ­lich an. In der Kü­che blieb sie ste­hen und starr­te mit be­ben­den Lip­pen auf das kar­ge, halb­zu­be­rei­te­te Es­sen. Das Feu­er war aus­ge­gan­gen, das Was­ser von den Kar­tof­feln ver­kocht. Als sie den De­ckel ab­nahm, stieg ein brenz­li­ger Ge­ruch aus dem Topf auf. Metho­disch wie im­mer, rei­nig­te und wusch sie den Topf, brach­te al­les in Ord­nung und schnitt die Kar­tof­feln in Schei­ben, so­dass sie sie am nächs­ten Tage bra­ten konn­te. Und eben­so me­tho­disch ent­klei­de­te sie sich und ging zu Bett. Ihre voll­kom­me­ne Ruhe war un­na­tür­lich, so un­na­tür­lich, dass sie so­fort die Au­gen schloss und fast im sel­ben Au­gen­blick ein­ge­schla­fen war.

Es war seit ih­rer Ver­hei­ra­tung die ers­te Nacht, die sie ohne Bil­ly ver­brach­te. Sie war ganz ver­blüfft, dass sie nicht wach ge­le­gen und sich um ihn ge­ängs­tigt hat­te. Mit weit of­fe­nen Au­gen, fast ohne Ge­dan­ken in ih­rem Hirn, blieb sie lie­gen, bis sie be­merk­te, dass ihr Arm schmerz­te. Dort hat­te Bil­ly sie ge­packt. Als sie die schmer­zen­de Stel­le un­ter­such­te, sah sie, dass sie ganz schwarz und blau war. Sie war über­rascht, nicht dar­über, dass der Mensch, den sie über al­les auf der Welt lieb­te, ihr die­sen Scha­den zu­ge­fügt hat­te, son­dern über das rein Phy­si­sche, dass ein Druck, der nur einen Au­gen­blick dau­er­te, sol­chen Scha­den an­rich­ten konn­te. Die Kraft ei­nes Man­nes war et­was Fürch­ter­li­ches. Sie er­tapp­te sich da­bei, wie sie, ganz un­per­sön­lich, dar­über nach­dach­te, ob Char­ley Long wohl eben­so stark wie Bil­ly sei.

Erst als sie sich an­ge­klei­det und Feu­er ge­macht hat­te, be­gann sie, an Nä­her­lie­gen­des zu den­ken. Bil­ly war nicht wie­der­ge­kom­men – also war er ver­haf­tet wor­den. Was soll­te sie tun? Ihn im Ge­fäng­nis las­sen, ih­rer Wege ge­hen und ein neu­es Le­ben be­gin­nen? Selbst­ver­ständ­lich war es un­mög­lich, wei­ter mit ei­nem Mann zu­sam­men­zu­le­ben, der sich so wie er be­nom­men hat­te. Dann aber tauch­te ein an­de­rer Ge­dan­ke auf – war es wirk­lich un­mög­lich? Trotz al­lem war er ja ihr Mann. In gu­ten und schlech­ten Ta­gen – den Satz wie­der­hol­te sie sich im­mer wie­der, als mo­no­to­ne Beglei­tung zu ih­ren Ge­dan­ken, im Hin­ter­grund ih­res Be­wusst­seins. Ihn zu ver­las­sen, hieß, al­les auf­zu­ge­ben. Sie brach­te die Sa­che vor den Richter­stuhl der Erin­ne­rung an ihre Mut­ter. Nein, Dai­sy hät­te nie auf­ge­ge­ben. Dai­sy hat­te Kampf­blut in den Adern. Also muss­te auch sie, Sa­xon, kämp­fen. Und zu­dem – das gab sie wil­lig, wenn auch kalt und tot, zu – zu­dem war Bil­ly bes­ser als die meis­ten Ehe­män­ner. Und sie er­in­ner­te sich sei­nes Fein­ge­fühls und Tak­tes bei so vie­len frü­he­ren Ge­le­gen­hei­ten und na­ment­lich sei­nes ewi­gen Kehr­reims: Nichts ist zu gut für uns.

Um elf Uhr kam Be­such. Es war Bud Stro­ters, Bil­lys Ka­me­rad bei der Streik­wa­che. Er er­zähl­te ihr, dass Bil­ly sich ge­wei­gert hät­te, Kau­ti­on zu stel­len, sich ge­wei­gert hät­te, einen Rechts­an­walt zu neh­men, ge­be­ten hät­te, ihn vor Ge­richt zu stel­len, ge­stan­den hät­te und zu ei­ner Stra­fe von sech­zig Dol­lar oder drei­ßig Ta­gen Ge­fäng­nis ver­ur­teilt wäre. Er hät­te sich auch ge­wei­gert, die Ka­me­ra­den die Stra­fe für ihn be­zah­len zu las­sen.

»Er ist ganz durch­ge­dreht«, schloss Stro­ters. »Er will kei­ne Ver­nunft an­neh­men. Er sagt, er wol­le sei­ne Zeit ab­sit­zen. Ich den­ke, er hat ein biss­chen reich­lich ge­trun­ken und ist et­was wirr im Kopf da­von. Aber hö­ren Sie, er gab mir einen Brief für Sie. Wenn Sie et­was ent­beh­ren, so schi­cken Sie nur zu mir. Alle Ka­me­ra­den wer­den Bil­lys Frau un­ter­stüt­zen. Sie ge­hö­ren zu uns. Wie steht es mit Geld?« Sie er­klär­te stolz, kein Geld zu brau­chen, und erst, als ihr Gast Ab­schied ge­nom­men hat­te, las sie den Brief:

Lie­be Sa­xon – Bud Stro­ters hat mir ver­spro­chen, Dir die­sen Brief zu ge­ben. Mach Dir kei­ne Sor­ge um mich. Ich will mei­ne Stra­fe ver­bü­ßen. Ich ver­die­ne sie – das weißt Du auch sel­ber. Ich muss ja ganz ver­rückt ge­we­sen sein. Aber des­halb tut es mir doch leid, dass ich mich so be­nom­men habe. Du sollst mich nicht be­su­chen. Wenn Du Geld brauchst, wird die Ge­werk­schaft es Dir ge­ben. In ei­nem Mo­nat kom­me ich wie­der her­aus. Und, Sa­xon, Du weißt ja, dass ich Dich lie­be, und sage Dir nur selbst, dass Du mir dies eine Mal ver­zeihst – dann sollst Du es nicht wie­der nö­tig ha­ben.

Bil­ly.

Bud Stro­ters war kaum zur Tür hin­aus, als auch schon Mag­gie Do­na­hue und Frau Ol­sen als gute Nach­ba­rin­nen ka­men und ver­such­ten, sie ein we­nig zu er­hei­tern.

Nach­mit­tags kam Ja­mes Har­mon. Er hin­k­te ein we­nig, und Sa­xon er­riet, dass er sich be­müh­te, es zu ver­ber­gen. Sie ver­such­te, sich zu ent­schul­di­gen, aber er woll­te sie nicht an­hö­ren.

»Ich ma­che Ih­nen kei­ne Vor­wür­fe, Frau Ro­berts«, sag­te er. »Ich weiß ja, dass es nicht Ihre Schuld war. Aber Ihr Mann war nicht recht bei Sin­nen, den­ke ich mir. Er war so wild dar­auf, sich mit ir­gend­je­mand zu prü­geln, und es war mein ge­wöhn­li­ches Pech, dass ich ihm ge­ra­de in den Weg lau­fen muss­te.«

»Aber des­halb –«

Der Hei­zer schüt­tel­te den Kopf.

»Ich ken­ne das al­les so gut. Ich habe frü­her auch gern eins ge­trun­ken und man­che Dumm­heit ge­macht. Und es tut mir leid, dass ich ihn an­zeig­te. Aber ich war auch wü­tend. Jetzt bin ich ru­hi­ger ge­wor­den, und es tut mir leid, dass ich es ge­tan habe.«

»Das ist furcht­bar nett von Ih­nen«, sag­te sie, und dann be­gann sie zö­gernd und stot­ternd vor­zu­brin­gen, was sie be­drück­te. »Sie – Sie kön­nen nicht hier­blei­ben, wäh­rend er – fort ist, ver­ste­hen Sie?«

»Nein, das geht wohl nicht. Aber ich will Ih­nen et­was sa­gen: Ich pa­cke mei­ne Sa­chen und gehe weg, und um sechs schi­cke ich einen Wa­gen und las­se al­les ho­len. Hier ist der Schlüs­sel zur Hin­ter­tür.«

Trotz al­ler Ein­wän­de zwang sie ihn, das Geld für die rest­li­chen Tage der Wo­che zu­rück­zu­neh­men. Er drück­te ihr herz­lich die Hand beim Ab­schied und ver­such­te, ihr das Ver­spre­chen ab­zu­neh­men, dass sie sich an ihn wen­den wür­de, wenn sie je Geld ge­brauch­te.

»Es ist al­les in Ord­nung«, ver­si­cher­te er ihr. »Ich bin ver­hei­ra­tet und habe zwei Jun­gens. Die Lun­ge von dem einen ist nicht ganz in Ord­nung, und mei­ne Frau ist mit ih­nen in Ari­zo­na. Die Ei­sen­bahn hat ih­nen dazu ver­hol­fen.«

Und als er die Trep­pe hin­un­ter­ging, dach­te sie, wie es wohl kam, dass es einen so gu­ten, freund­li­chen Mann in ei­ner Welt gab, die sonst so schlecht war.

Der klei­ne Do­na­hue warf eine Abend­zei­tung zu ihr her­ein, und sie sah, dass das Blatt Bil­ly eine hal­be Spal­te ge­op­fert hat­te. Es war nicht ge­ra­de schmei­chel­haft. Es wur­de er­wähnt, dass er sich dem Ge­richt mit Au­gen, die Zei­chen frü­he­rer Prü­ge­lei­en tru­gen, ge­stellt hät­te. Er wur­de als Ban­dit, als Rauf­bold, pro­fes­sio­nel­ler Bo­xer be­schrie­ben, den zu ih­ren Mit­glie­dern zu zäh­len eine Schan­de für die Ge­werk­schaf­ten sei. Der Über­fall, des­sen er sich schul­dig ge­macht, wäre wi­der­wär­tig, roh und ohne den ge­rings­ten An­lass un­ter­nom­men, und wenn alle strei­ken­den Fuhr­leu­te so wie er wä­ren, dann wür­de es das ein­zig Ver­nünf­ti­ge für Oa­k­land sein, die Ge­werk­schaft zu spren­gen und alle Mit­glie­der zur Stadt hin­aus­zu­ja­gen. Und end­lich be­klag­te die Zei­tung sich dar­über, dass das Ur­teil zu mil­de sei. Er hät­te min­des­tens sechs Mo­na­te ha­ben müs­sen. Es wur­de ein Auss­pruch des Rich­ters an­ge­führt, der be­dau­er­te, nicht im­stan­de ge­we­sen zu sein, ihn zu sechs Mo­na­ten zu ver­ur­tei­len, die Sa­che sei aber, dass die Ge­fäng­nis­se schon über­füllt wä­ren von den vie­len, die sich bei den ver­schie­de­nen Streiks Ge­walt­tä­tig­kei­ten hät­ten zu­schul­den kom­men las­sen.

 

Als Sa­xon sich am Abend zu Bett leg­te, fühl­te sie zum ers­ten Mal, was Ein­sam­keit hieß. Es war, als schnurr­te ihr al­les durch den Kopf, und ihr Schlaf wur­de be­stän­dig von Ver­su­chen un­ter­bro­chen, Bil­ly zu fas­sen, der, wie sie mein­te, ne­ben ihr lag. Schließ­lich zün­de­te sie die Lam­pe an, lag da und starr­te mit of­fe­nen Au­gen die De­cke an, wäh­rend sie im­mer wie­der in al­len Ein­zel­hei­ten das Un­glück über­dach­te, das sie mit so läh­men­der Wucht ge­trof­fen hat­te. Sie konn­te ver­zei­hen und konn­te es doch nicht. Der ge­gen ihre Lie­be ge­rich­te­te Schlag war zu hef­tig und bru­tal ge­we­sen. Ihr Stolz war zu sehr miss­han­delt, als dass sie in ih­ren Ge­dan­ken ganz zu dem an­de­ren Bil­ly hät­te zu­rück­keh­ren kön­nen – den sie ge­liebt hat­te. Sie wein­te, wie sie al­lein in dem großen Bett dalag und mit sich kämpf­te, um Bil­lys un­fass­ba­re Grau­sam­keit zu ver­ges­sen, ja, so­gar mit stum­mer Zärt­lich­keit ihre Wan­ge auf den miss­han­del­ten Arm leg­te. Aber im­mer wie­der flamm­te die Krän­kung in ihr auf, ein ewi­ger hef­ti­ger Pro­test ge­gen Bil­ly und al­les, was Bil­ly ge­tan. Ihre Keh­le brann­te wie Feu­er, in ih­rer Brust war ein dump­fer Schmerz, der nie auf­hör­te, und sie wur­de von dem Ge­fühl be­drückt, dass al­les aus war. Wa­rum? Wa­rum? Aber auf die­ses Le­bens­rät­sel er­hielt sie kei­ne Ant­wort.

Am Mor­gen kam Sa­rah zu Be­such – der zwei­te Be­such seit ih­rer Ver­hei­ra­tung; und es war nicht schwer zu er­ra­ten, was die Schwä­ge­rin woll­te. Sa­xon brauch­te sich nicht an­zu­stren­gen, dass ihr Stolz sich auf­bäum­te. Sie woll­te Bil­ly nicht im ge­rings­ten ver­tei­di­gen. Es gab nichts zu ver­tei­di­gen und nichts zu er­klä­ren. Al­les war, wie es sein soll­te, und je­den­falls ging es kei­nen et­was an. Das reiz­te Sa­rah nur noch mehr.

»Ich warn­te dich ja. Ich habe im­mer ge­wusst, dass er nichts wert war, ein Zucht­haus­kan­di­dat, ein Ban­dit, ein Rauf­bold. Das Herz sank mir in die Schu­he, als ich hör­te, dass du mit ei­nem Be­rufs­bo­xer gingst. Das sag­te ich dir schon da­mals. Aber nein, du woll­test nicht auf mich hö­ren, du mit dei­nem Fein­ge­fühl und dei­nen vie­len Schu­hen – mehr als eine an­stän­di­ge Frau ha­ben soll­te. Du warst na­tür­lich klü­ger als ich. Und da sag­te ich zu Tom: ›Tom‹, sag­te ich, ›jetzt ist Sa­xon ge­lie­fert.‹ Das wa­ren mei­ne Wor­te. Wer Pech an­rührt, be­su­delt sich. Wenn du doch nur Char­ley Long ge­hei­ra­tet hät­test! Dann hät­te die Fa­mi­lie nicht die­se Schan­de er­le­ben müs­sen. Das ist nur der An­fang. Denk an das, was ich dir sage, das ist nur der An­fang. Wo es en­den soll, das mö­gen die Göt­ter wis­sen. Er wird noch ge­hängt wer­den we­gen Mord, der Ban­dit, mit dem du ver­hei­ra­tet bist. Ja, war­te nur, du wirst ja se­hen. Wie man sich bet­tet, so liegt man, und wenn man einen Zucht­haus­kan­di­da­ten –«

»Ach was«, ant­wor­te­te Sa­xon über­le­gen. »In die­ser Zeit schei­nen alle einen Vor­ge­schmack vom Zucht­haus zu be­kom­men. Ist nicht selbst Tom bei ei­ner so­zia­lis­ti­schen Stra­ßen­ver­samm­lung ver­haf­tet wor­den? Alle Men­schen kom­men jetzt ins Ge­fäng­nis.«

Sie sah gleich, dass der Pfeil ge­trof­fen hat­te.

»Aber Tom wur­de frei­ge­spro­chen«, er­wi­der­te Sa­rah.

»Des­halb hat er aber doch die Nacht ge­ses­sen.«

Da­ge­gen war nichts zu sa­gen, und Sa­rah ging zu ih­rer Lieb­ling­s­tak­tik über und mach­te einen Flan­ken­an­griff.

»Es ist üb­ri­gens hübsch, wie es mit dir ge­en­det hat, bei dei­ner schö­nen und gu­ten Er­zie­hung – dass du dich mit ei­nem Zim­mer­herrn ein­lässt.«

»Wer sagt das?« frag­te Sa­xon in flam­men­dem Zorn, den sie je­doch gleich wie­der be­zwang.

»Ach, das kann doch ein Blin­der zwi­schen den Zei­len le­sen. Ein Zim­mer­herr, eine jun­ge Frau, die ihre Selb­st­ach­tung ver­lo­ren und einen Bo­xer ge­hei­ra­tet hat. Wes­halb soll­ten sie sich sonst prü­geln?«

»Genau wie je­der an­de­re Fa­mi­li­en­streit, nicht wahr?« sag­te Sa­xon mit ru­hi­gem Lä­cheln.

Sa­rah wur­de so wü­tend, dass sie im ers­ten Au­gen­blick kein Wort her­vor­brin­gen konn­te.

»Und das will ich dir nur sa­gen«, fuhr Sa­xon fort. »Eine Frau muss stolz sein, wenn Män­ner sich um sie schla­gen. Und ich bin stolz dar­auf, hörst du? Ich bin stolz dar­auf, das kannst du gern all dei­nen Nach­barn, al­len Men­schen er­zäh­len. Ich bin kei­ne Kuh, Män­ner lie­ben mich, Män­ner schla­gen sich mei­net­we­gen, Män­ner ge­hen mei­net­we­gen ins Ge­fäng­nis. Und jetzt kannst du ge­hen, Sa­rah, und zwar so­fort, und den Leu­ten er­zäh­len, was du zwi­schen den Zei­len ge­le­sen hast. Er­zähl ih­nen, dass Bil­ly ein Zucht­haus­kan­di­dat ist, und dass ich eine schlech­te Frau bin, hin­ter der alle Män­ner her sind. Ruf es von den Dä­chern her­un­ter, und möch­test du Freu­de dar­an ha­ben. Und nun geh, und set­ze nie wie­der dei­nen Fuß in mein Haus. Du bist eine zu acht­ba­re Frau, um hier­her­zu­kom­men. Dein gu­ter Ruf könn­te dar­un­ter lei­den. Und denk an dei­ne Kin­der. Aber jetzt geh! Geh!«

Erst als die ver­blüff­te und ent­setz­te Sa­rah zur Tür hin­aus war, warf Sa­xon sich hef­tig wei­nend aufs Bett. Sie hat­te sich bis­her nur über Bil­lys Bru­ta­li­tät und Un­ge­rech­tig­keit ge­schämt. Jetzt aber wuss­te sie, wie an­de­re die Sa­che an­sa­hen. Das war Sa­xon bis­her nicht ein­ge­fal­len. Sie war über­zeugt, dass es auch Bil­ly nicht ein­ge­fal­len war. Sie kann­te sei­ne Hal­tung von An­fang an. Er war im­mer da­ge­gen ge­we­sen, einen Zim­mer­herrn zu neh­men, weil er zu stolz war, sei­ne Frau ar­bei­ten zu las­sen. Nur die har­te Not hat­te ihm sei­ne Ein­wil­li­gung ab­ge­zwun­gen. Und jetzt, da sie zu­rück­sah, dach­te sie dar­an, wie sie ihm die­se Ein­wil­li­gung fast mit List ab­ge­run­gen hat­te.

Aber al­les das konn­te die An­schau­ung der Nach­barn und al­ler, die sie ge­kannt hat­ten, nicht än­dern. Und das war auch Bil­lys Schuld. Das war furcht­ba­rer als al­les, was er sonst ge­tan. Sie konn­te nie wie­der ei­nem Men­schen ins Auge se­hen. Mag­gie Do­na­hue und Frau Ol­sen wa­ren bei­de sehr freund­lich ge­we­sen, aber was moch­ten sie wohl ge­dacht ha­ben, als sie mit ihr spra­chen? Und was moch­ten sie wohl mit­ein­an­der ge­spro­chen ha­ben? Ja, was sag­ten die Leu­te über­haupt – an Gar­ten­pfor­ten und auf Hin­ter­trep­pen? Und die Män­ner an Stra­ßen­e­cken und in Wirt­schaf­ten?

Als sie spä­ter vom Wei­nen völ­lig er­schöpft war und kei­ne Trä­nen mehr hat­te, wur­de sie un­per­sön­li­cher und dach­te an das Un­glück, das so vie­le Frau­en seit Aus­bruch des Streiks be­trof­fen hat­te – Otto Franks Frau, Hen­der­sons Wit­we, die hüb­sche Kit­tie Bra­dy, all die Frau­en an­de­rer Män­ner, die jetzt in ih­rer Ge­fäng­nis­klei­dung in San Quen­tin wa­ren. Ihre Welt woll­te zu­sam­men­stür­zen. Nie­mand ging frei aus. Aber ihre Schan­de war grö­ßer als die al­ler an­de­ren. Sie klam­mer­te sich ver­zwei­felt an die Ein­bil­dung, dass sie schlie­fe, dass al­les ein bö­ser Traum sei, dass der We­cker im nächs­ten Au­gen­blick läu­ten, und dass sie auf­ste­hen wür­de, um Bil­lys Früh­stück zu be­rei­ten. Sie stand an die­sem Tage gar nicht auf. Sie schlief auch nicht. Ihre Ge­dan­ken ar­bei­te­ten un­auf­hör­lich mit ra­sen­der Schnel­lig­keit, ver­weil­ten zu­erst aus­führ­lich, an­hal­tend bei dem Un­glück, das sie be­trof­fen hat­te, um dann den fan­tas­ti­schen Verzwei­gun­gen des­sen, was sie für ihre Schan­de an­sah, zu fol­gen und end­lich zu den Ta­gen der Kind­heit zu­rück­zu­keh­ren. In Ge­dan­ken ver­rich­te­te sie in all den Be­ru­fen, die sie je ge­habt hat­te, die un­zäh­li­gen me­cha­ni­schen Be­we­gun­gen, die für jede ein­zel­ne Ar­beit ei­gen­tüm­lich wa­ren – das For­men und Zu­sam­menkle­ben der Schach­teln in der Kar­to­na­gen­fa­brik, die We­b­ar­beit in der Ju­te­fa­brik, das Plät­ten in der Plät­te­rei, die Be­hand­lung von Obst in der Kon­ser­ven­fa­brik. In Ge­dan­ken er­leb­te sie wie­der alle die Bäl­le und Wald­aus­flü­ge, an de­nen sie je teil­ge­nom­men hat­te; sie durch­leb­te ihre Schul­ta­ge und er­in­ner­te sich je­des ih­rer Klas­sen­ka­me­ra­den, wie sie aus­sa­hen, wie sie hie­ßen und wo sie sa­ßen; er­litt die grau­en, trü­ben Jah­re im Kin­der­heim, zog jede Erin­ne­rung, jede Ge­schich­te von der Mut­ter her­vor und durch­leb­te wie­der ihre Ehe mit Bil­ly. Aber im­mer wie­der – und das war das Quä­len­de – wur­den ihre Ge­dan­ken, wenn sie noch so weit flo­gen, zu­rück­ge­führt zu der Pein des Au­gen­blicks, zu dem bren­nen­den Ge­fühl in der Keh­le, zu dem dump­fen Schmerz in der Brust und dem na­gend-lee­ren Ge­fühl, dass al­les vor­bei war.

*

Die gan­ze Nacht lag Sa­xon schlaf­los da, ohne sich zu ent­klei­den, und als sie mor­gens auf­stand, wusch sie sich das Ge­sicht und mach­te sich das Haar. Ihr war selt­sam zu­mu­te, sie war wie be­täubt und hat­te ein Ge­fühl, als sei ihr Kopf von ei­nem schwe­ren ei­ser­nen Reif zu­sam­men­ge­presst. Das war der An­fang ei­ner Krank­heit, die sie nicht bei Na­men nen­nen konn­te. Sie wuss­te nur, dass ihr selt­sam zu­mu­te war. Es war kein Fie­ber. Es war kei­ne Er­käl­tung. Kör­per­lich fehl­te ihr nichts, und als sie ein we­nig nach­ge­dacht hat­te, kam sie zu dem Er­geb­nis, dass es nur die Ner­ven wa­ren – die Ner­ven, die nach ih­rer Vor­stel­lung und der ih­rer Klas­se kei­ne Ver­bin­dung mit phy­si­schem Un­wohl­sein hat­ten.

Sie hat­te das merk­wür­di­ge Ge­fühl, dass sie sich selbst fremd ge­wor­den war, und dass die Welt, in der sie sich be­weg­te, eine wie in einen Ne­bel­schlei­er ein­gehüll­te un­kla­re Welt war, die kei­ne schar­fen Kon­tu­ren hat­te, und de­ren sons­ti­ge Klar­heit ver­schwun­den war. Ihr Ge­dächt­nis wies große Lücken auf, und sie er­tapp­te sich im­mer wie­der da­bei, wie sie Din­ge tat, die sie gar nicht hat­te tun wol­len. So kam sie zu ih­rem großen Er­stau­nen plötz­lich zur Be­sin­nung, als sie auf dem Hin­ter­hof stand und die Wä­sche der Wo­che zum Trock­nen auf­häng­te. Sie er­in­ner­te sich nicht, die Ar­beit ge­tan zu ha­ben, und doch war es ge­nau das, was sie tun soll­te. Sie hat­te La­ken, Kis­sen­be­zü­ge und Tischwä­sche ge­kocht; Bil­lys Woll­wä­sche war in war­mem Was­ser ge­wa­schen, mit selbst­ver­fer­tig­ter Sei­fe, de­ren Re­zept Mer­ce­des ihr ge­ge­ben hat­te. Bei nä­he­rem Nach­se­hen ent­deck­te sie, dass sie ein Ko­te­let­te zum Früh­stück ge­ges­sen hat­te. Das hieß, dass sie beim Schläch­ter ge­we­sen war, und doch er­in­ner­te sie sich des­sen nicht. Neu­gie­rig ging sie ins Schlaf­zim­mer. Das Bett war ge­macht und al­les in Ord­nung. In der Däm­me­rung kam sie zu sich. Sie saß im Vor­der­zim­mer am Fens­ter und wein­te vor über­strö­men­der Freu­de. An­fangs wuss­te sie nicht, wes­halb sie sich so freu­te, dann aber tauch­te plötz­lich das Be­wusst­sein in ih­rem Kop­fe auf, dass es da­her kam, weil sie ihr Kind­chen ver­lo­ren hat­te. »Es ist ein Se­gen, ein Se­gen!« sang sie laut und rang die Hän­de, aber aus Freu­de – sie wuss­te, dass sie ihre Hän­de aus Freu­de rang.

Die Tage ka­men und gin­gen. Sie hat­te nur einen va­gen Be­griff von der Zeit. Zu­wei­len kam es ihr vor, als sei­en Jahr­hun­der­te ver­gan­gen, seit Bil­ly ins Ge­fäng­nis ge­kom­men war. Dann wie­der war es, als sei al­les am Abend zu­vor ge­sche­hen. Im­mer wie­der aber tauch­ten die bei­den Ge­dan­ken auf: sie durf­te Bil­ly nicht im Ge­fäng­nis be­su­chen, und es war ein Se­gen, dass sie ihr Kind ver­lo­ren hat­te.

Ein­mal kam Bud Stro­ters, um nach ihr zu se­hen. Er saß im Vor­der­zim­mer und sprach mit ihr, und es be­schäf­tig­te sie sehr, als sie sah, dass sei­ne Ho­sen un­ten aus­ge­franst wa­ren. Wie­der ei­nes Ta­ges kam der Ge­schäfts­füh­rer der Ge­werk­schaft. Sie sag­te ihm, wie sie Bud Stro­ters ge­sagt hat­te, dass es ihr aus­ge­zeich­net gin­ge, dass ihr nichts fehl­te, und dass sie bis zu Bil­lys Ent­las­sung leicht durch­kom­men könn­te.

 

Dann be­gann eine quä­len­de Angst sie zu ver­fol­gen, wo sie ging und stand. Wenn er ent­las­sen wur­de. Nein: das wür­de nicht ge­sche­hen. Es durf­ten kei­ne Kin­der mehr kom­men. Es konn­te ja ein le­ben­des Kind wer­den. Nein, nein und tau­send­mal nein. Das durf­te nicht ge­sche­hen. Dann eher weg­lau­fen! Sie woll­te Bil­ly nicht wie­der­se­hen. Al­les, nur das nicht! Al­les, nur das nicht!

Die Angst ließ sich nicht ver­scheu­chen. In ih­rem Schlaf, den be­stän­dig böse Träu­me stör­ten, wur­de es zu ei­ner un­um­stöß­li­chen Tat­sa­che, so­dass sie nur zit­ternd, in kal­ten Schweiß ge­ba­det und mit ei­nem lau­ten Schrei auf­wa­chen konn­te. Ihr Schlaf wur­de im­mer un­ru­hi­ger und im­mer mehr von bö­sen Träu­men ge­stört. Zu­wei­len war sie über­zeugt, dass sie gar nicht schlief, sie wuss­te, dass sie an Schlaf­lo­sig­keit litt, und an Schlaf­lo­sig­keit war ihre Mut­ter ge­stor­ben.

Ei­nes Ta­ges kam sie in Dok­tor Hent­leys Sprech­zim­mer zu sich. Er sah sie an, als wüss­te er nicht recht, was er glau­ben soll­te.

»Be­kom­men Sie auch ge­nug zu es­sen?« frag­te er.

Sie nick­te.

»Be­drückt et­was Ernst­haf­tes Sie?«

Sie schüt­tel­te den Kopf.

»Nein, es ist nichts, Herr Dok­tor – au­ßer –«

»Nun, was denn?« sag­te er er­mu­ti­gend.

Und jetzt wuss­te sie, warum sie ge­kom­men war. Klar und of­fen er­zähl­te sie ihm al­les. Er schüt­tel­te lang­sam den Kopf.

»Das geht nicht, mein Kind«, sag­te er.

»Doch, es geht!« rief sie. »Ich weiß, dass es geht.«

»Ach, das mei­ne ich nicht«, ant­wor­te­te er. »Ich mei­ne nur, dass ich es Ih­nen nicht sa­gen kann. Ich darf es nicht. Es ist un­ge­setz­lich. Ein Arzt sitzt des­we­gen im Lea­ven­worth-Ge­fäng­nis.«

Sie be­stürm­te ihn ver­geb­lich mit ih­ren Bit­ten. Er er­zähl­te, dass er selbst Frau und Kin­der hät­te und sich ih­ret­we­gen nicht in Ge­fahr brin­gen dürf­te.

»Au­ßer­dem be­steht au­gen­blick­lich kei­ne Wahr­schein­lich­keit da­für«, sag­te er.

»Aber es kommt, es kommt ganz si­cher«, be­harr­te sie ein­dring­lich.

Aber er schüt­tel­te nur trau­rig den Kopf.

»Wa­rum wol­len Sie es wis­sen?« frag­te er schließ­lich. Sa­xon schüt­te­te ihm ihr Herz aus. Sie er­zähl­te ihm von dem ers­ten glück­li­chen Jahr mit Bil­ly, von den schwe­ren Zei­ten, die in­fol­ge der Ar­bei­te­run­ru­hen ge­kom­men wa­ren, von der mit Bil­ly vor­ge­gan­ge­nen Ver­än­de­rung und von ih­rer ei­ge­nen wahn­sin­ni­gen Angst. Nicht, wenn es ster­ben soll­te, schloss sie. Das könn­te sie noch ein­mal er­tra­gen. Aber wenn es le­ben soll­te! Bil­ly wür­de bald aus dem Ge­fäng­nis kom­men, und dann sei die Ge­fahr da. Es sei­en ja nur ein paar Wor­te. Sie wol­le es kei­nem Men­schen er­zäh­len. Wil­de Pfer­de soll­ten es nicht aus ihr her­aus­zie­hen kön­nen.

Aber Dok­tor Hent­ley schüt­tel­te nur wei­ter den Kopf.

»Ich kann es Ih­nen nicht sa­gen, mein Kind. Es ist eine Schan­de, aber ich wage es nicht. Mir sind die Hän­de ge­bun­den. Es ist ein Feh­ler in un­sern Ge­set­zen. Ich muss an die den­ken, die mir teu­er sind.«

Erst als sie auf­stand, um zu ge­hen, wur­de sein Ent­schluss wan­kend.

»Kom­men Sie«, sag­te er. »Set­zen Sie sich dicht zu mir.«

Er woll­te ihr et­was zu­flüs­tern, aber in über­trie­be­ner Vor­sicht stand er plötz­lich auf, schritt an das an­de­re Ende der Stu­be, öff­ne­te die Tür und sah hin­aus. Als er sich wie­der setz­te, zog er sei­nen Stuhl so dicht an den ih­ren, dass ihre Arme sich be­rühr­ten, und als er flüs­ter­te, kit­zel­te sein Bart ihr Ohr.

»Nein, nein«, sag­te er ab­weh­rend, als sie ihre Dank­bar­keit aus­zu­drücken ver­such­te. »Ich habe Ih­nen nichts er­zählt. Sie sind bei mir ge­we­sen, um mich we­gen Ih­rer Ge­sund­heit im All­ge­mei­nen zu kon­sul­tie­ren. Sie sind sehr her­un­ter, sind nicht recht bei sich –«

Im Spre­chen be­glei­te­te er sie zur Tür. Als er sie öff­ne­te, stand ein Pa­ti­ent im Vor­zim­mer. Dok­tor Hent­ley hob die Stim­me.

»Sie brau­chen das stär­ken­de Mit­tel, das ich Ih­nen auf­ge­schrie­ben habe, ver­ges­sen Sie das nicht! Und über­fül­len Sie nicht Ihren Ma­gen, wenn Sie wie­der Ap­pe­tit be­kom­men. Aber es­sen Sie et­was Gu­tes, Nahr­haf­tes. Auf Wie­der­se­hen!«

*

Manch­mal wur­de es ganz un­er­träg­lich für Sa­xon in dem stil­len Haus, und dann warf sie sich einen Shawl1 über den Kopf und ging nach der Oa­k­län­der Mole oder über das Ei­sen­bahn­ge­län­de und durch die Sümp­fe nach San­dy Be­ach, wo Bil­ly, wie er ihr er­zählt hat­te, zu ba­den pfleg­te. Oder sie ging nach der Fähr­stel­le, in­dem sie auf ei­ner un­si­che­ren ei­ser­nen Lei­ter über Holz­sta­pel klet­ter­te, und wenn sie dann über einen Berg von Brenn­holz kroch, konn­te sie zum Rock Wall ge­lan­gen, der sich weit in die Bucht hin­aus er­streck­te und die Schlick­flä­che von dem in das Oa­k­län­der Del­ta mün­den­den Kanal trenn­te. Hier weh­te der fri­sche See­wind und Oa­k­land schwand zu ei­nem Rauch­fleck hin­ter ihr, wäh­rend sie jen­seits der Bucht den Rauch­fleck sah, der San Fran­zis­ko be­deu­te­te. Oze­an­damp­fer fuh­ren im Del­ta ein und aus, und Se­gel­schif­fe mit ho­hen Mas­ten wur­den von Schlep­pern mit ro­ten Schorn­stei­nen ge­zo­gen.

Sie sah die See­leu­te auf den Schif­fen und dach­te an die lan­gen Rei­sen, die sie mach­ten, und die fer­nen Län­der, die sie be­such­ten, und das freie Le­ben, das sie füh­ren moch­ten. Oder wa­ren sie viel­leicht von ei­ner Welt um­ge­ben, die eben­so un­barm­her­zig und böse war wie die, wel­che Oa­k­land mit sei­nen Be­woh­nern um­gab? Es sah nicht so aus, und manch­mal wünsch­te sie, auf ei­nem der aus­fah­ren­den Schif­fe zu sein – und zu fah­ren, ei­ner­lei wo­hin, nur weit fort von der Welt, der sie ihr Bes­tes ge­ge­ben und die sie da­für mit Fü­ßen ge­tre­ten hat­te.

Sie wuss­te es nicht im­mer, wann sie aus­ging oder wo ihre Füße sie hin­tru­gen. Ein­mal kam sie zu sich in ei­ner Ge­gend von Oa­k­land, die sie gar nicht kann­te. Die Stra­ße war breit, und zu bei­den Sei­ten wa­ren Rei­hen schat­ti­ger Bäu­me und sam­met­wei­che Ra­sen­flä­chen, die nur von ze­men­tier­ten Bür­ger­stei­gen un­ter­bro­chen wur­den, die Häu­ser la­gen et­was aus­ein­an­der und wa­ren groß – sie be­zeich­ne­te sie in Ge­dan­ken als Pa­läs­te. Was sie wie­der ins Be­wusst­sein riss, war ein jun­ger Mann auf dem Füh­rer­sitz ei­nes großen Tou­ren­au­to­mo­bils, das vor ei­nem der Häu­ser hielt. Er sah sie neu­gie­rig an, und sie er­kann­te ihn. Es war Roy Blan­chard, der jun­ge Mann, dem Bil­ly vor dem Forum Prü­gel an­ge­droht hat­te. Ne­ben dem Au­to­mo­bil stand bar­haupt ein an­de­rer jun­ger Mann. Auch sei­ner er­in­ner­te sie sich. Es war der, der – an dem Sonn­tag, als sie Bil­ly das ers­te­mal ge­trof­fen – dem Läu­fer den Stock zwi­schen die Bei­ne ge­steckt und da­durch das all­ge­mei­ne Hand­ge­men­ge ver­ur­sacht hat­te. Wie Blan­chard, sah auch er sie neu­gie­rig an, und ihr wur­de plötz­lich klar, dass sie Selbst­ge­sprä­che ge­führt hat­te. Ihre ei­ge­ne un­zu­sam­men­hän­gen­de Rede klang ihr noch im Ohr. Sie wur­de heiß vor Scham und be­schleu­nig­te ih­ren Gang. Blan­chard sprang vom Auto her­un­ter und ging ihr ent­ge­gen.

»Ist Ih­nen et­was?« frag­te er.

Sie schüt­tel­te den Kopf, und ob­wohl sie ste­hen blieb, gab sie doch deut­lich zu er­ken­nen, dass sie wei­ter­zu­ge­hen wünsch­te.