Jack London – Gesammelte Werke

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Ein sol­cher Aus­bruch Bil­lys war in­des­sen sehr sel­ten, und es war das ers­te­mal, dass Sa­xon ihn hör­te. Er war im­mer mür­risch, ei­gen­sin­nig und zähe, und der Whis­ky trug dazu bei, die Wür­mer der Selbst­si­cher­heit in sei­nem Ge­hirn zu wim­meln­dem Le­ben zu er­we­cken.

Ei­nes Abends kam Bil­ly erst nach zwölf Uhr heim. Sa­x­ons Angst stieg, weil sie ein Gerücht ge­hört hat­te, dass es eine Prü­ge­lei zwi­schen Po­li­zei und Strei­ken­den ge­ge­ben hät­te. Als Bil­ly kam, sah sie gleich, dass das Gerücht die Wahr­heit ge­spro­chen hat­te. Die Rock­är­mel wa­ren ihm halb ab­ge­ris­sen, die Kra­wat­te war ver­schwun­den und alle Hemd­knöp­fe auf der Brust wa­ren ab­ge­ris­sen. Als er den Hut ab­nahm, sah Sa­xon zu ih­rem Schre­cken, dass er eine Beu­le von der Grö­ße ei­nes Ap­fels am Kop­fe hat­te.

»Weißt du, wer das ge­tan hat? Der ver­fluch­te Deut­sche Her­man­mann, und zwar mit ei­nem Knüp­pel. Aber ich will ihn leh­ren und so, dass er es nicht wie­der ver­gisst. Und auch einen an­de­ren Bur­schen habe ich mir ge­merkt und wer­de ihn mir kau­fen, wenn der Streik vor­bei ist und wir ein biss­chen zur Ruhe ge­kom­men sind. Er heißt Blan­chard, Roy Blan­chard.«

»Doch nicht von der Fir­ma Blan­chard, Per­kins & Co.?« frag­te Sa­xon, die Bil­lys Wun­de aus­wusch und wie ge­wöhn­lich al­les, was in ih­rer Macht stand, tat, um ihn zu be­ru­hi­gen.

»Eben – nur dass er der Sohn des Al­ten ist! Was tut er, der nie et­was an­de­res ge­tan hat, als mit dem Geld des Al­ten um sich zu schmei­ßen? Spielt den Streik­bre­cher! Ja­wohl. Sein Name kommt in die Zei­tung, und alle Un­ter­rö­cke, de­nen er nach­rennt, wer­den Feu­er und Flam­me und sa­gen: ›Gott, der Roy Blan­chard, das ist ein Kerl, ein rich­ti­ger Kerl!‹ Ein Kerl – der Schwach­kopf! Ei­nes Ta­ges wer­de ich ihn schon zu fas­sen krie­gen. Noch nie ha­ben mich die Fin­ger so nach et­was ge­juckt.

Und – ja, den deut­schen Po­ly­pen wer­de ich mir auch vor­neh­men. Er hat üb­ri­gens sein Fett ab­ge­kriegt. Ei­ner schlug ihm ein Stück Koh­le, so groß wie ein Was­serei­mer, auf den Kopf. Sie wag­ten nicht, das Mi­li­tär zu ru­fen. Und sie fürch­te­ten sich zu schie­ßen. Ja, wir ha­ben mit der Po­li­zei auf­ge­räumt, und Kran­ken- und Pa­trouil­len­wa­gen muss­ten Über­stun­den ma­chen. Weißt du – wir stopp­ten die gan­ze Pro­zes­si­on auf der Vier­zehn­ten und dem Broad­way, di­rekt vor dem Rat­haus, grif­fen sie am hin­te­ren Ende an, zer­schnit­ten den Pfer­den an fünf Wa­gen die Strän­ge und ga­ben im Vor­bei­fah­ren den Ben­geln von der Uni­ver­si­tät ein paar zärt­li­che Klap­se.«

»Aber was tat Blan­chard denn?« kam Sa­xon wie­der auf ihre Fra­ge zu­rück.

»Er führ­te die Pro­zes­si­on an und lenk­te mein Ge­spann. Alle Ge­span­ne wa­ren aus mei­nem Stall. Er hat­te eine gan­ze Schar von die­sen Uni­ver­si­täts­idio­ten ge­sam­melt – Lüm­mel, die aus der Ta­sche ih­res Va­ters le­ben. Sie ka­men mit großen Krem­sern in die Stäl­le ge­fah­ren und zo­gen die Wa­gen her­aus, und die hal­be Po­li­zei von Oa­k­land half ih­nen. Ja, das war eine Vor­stel­lung! Es reg­ne­te di­rekt Pflas­ter­stei­ne, und du hät­test hö­ren sol­len, wie die Knüp­pel auf un­se­re Häup­ter schlu­gen – ra­ta­ta­ta, ra­ta­ta­ta! Acht von un­se­ren Leu­ten wur­den fest­ge­nom­men und dazu zehn Kut­scher aus San Fran­zis­ko, die uns zu Hil­fe ge­kom­men wa­ren. Das sind die rei­nen Teu­fel, die­se San Fran­zis­ko­er Kut­scher. Es sah aus, als sei die hal­be Ar­bei­ter­be­völ­ke­rung von Oa­k­land uns zu Hil­fe ge­kom­men, und ein gan­zes Heer von ih­nen muss in den Ge­fäng­nis­sen sit­zen. Un­se­re Rechts­an­wäl­te müs­sen sich ih­rer an­neh­men.

Aber dar­auf kannst du dich ver­las­sen, es ist das letz­te­mal, dass Roy Blan­chard und sei­nes­glei­chen sich in un­se­re Sa­chen ein­ge­mischt ha­ben. Blan­chard fuhr im ers­ten Wa­gen, und er wur­de ein­mal vom Bock her­un­ter­ge­wor­fen, aber er hielt doch stand.«

»Er muss ein mu­ti­ger Mann sein«, warf Sa­xon ein.

»Mu­tig?« rief Bil­ly hit­zig. »Mit der Po­li­zei und dem Heer und der Flot­te hin­ter sich? Schließ­lich nimmst du auch noch sei­ne Par­tei! Mu­tig? Nimmt un­sern Frau­en und Kin­dern das Brot aus dem Mun­de!«

Am Mor­gen las Sa­xon in der Zei­tung von dem frucht­lo­sen Ver­such, den Fuhr­leu­te­streik zu be­en­den. Roy Blan­chard wur­de als Held und Vor­bild al­ler rei­chen Bür­ger be­grüßt, und Sa­xon konn­te, und wenn es ihr Le­ben ge­kos­tet hät­te, eine ge­wis­se Be­wun­de­rung für sei­nen Mut nicht un­ter­drücken, ihr schi­en et­was Gro­ßes an der Art, wie er Front ge­gen den heu­len­den Pö­bel­hau­fen ge­macht hat­te. Es wur­de der Auss­pruch ei­nes Bri­ga­de­ge­ne­rals an­ge­führt, der be­dau­er­te, dass das Mi­li­tär nicht hin­zu­ge­ru­fen wor­den war, um den Pö­bel an der Keh­le zu pa­cken und Ge­hor­sam ge­gen Ge­setz und Ord­nung hin­ein­zu­schüt­teln.

Am Abend gin­gen Sa­xon und Bil­ly in die Stadt. Als er bei sei­ner Heim­kehr nichts zu es­sen vor­ge­fun­den, hat­te er Sa­xon un­ter den einen Arm und sei­nen Über­zie­her un­ter den an­de­ren ge­nom­men. Den Über­zie­her hat­te er ver­setzt, und er und Sa­xon hat­ten in trau­ri­ger, düs­te­rer Stim­mung in ei­nem ja­pa­ni­schen Re­stau­rant ge­ges­sen, das auf ir­gend­ei­ne wun­der­ba­re Wei­se eine ei­ni­ger­ma­ßen ge­nü­gen­de Mahl­zeit für zehn Cent ser­vier­te. Nach dem Es­sen woll­ten sie in ein Kino ge­hen, was fünf Cent für je­den kos­te­te.

Vor der Zen­tral­bank wur­de Bil­ly von zwei strei­ken­den Kut­schern an­ge­spro­chen, die ihn mit­nah­men. Sa­xon war­te­te an der Ecke, und als er nach drei­vier­tel Stun­den wie­der­kam, wuss­te sie, dass er ge­trun­ken hat­te.

Ein Stück­chen wei­ter­hin, vor dem Forum-Café, blieb er plötz­lich ste­hen. An der Bord­schwel­le stand ein Pri­vat­au­to­mo­bil, und ein jun­ger Mann half zwei sehr ele­gant ge­klei­de­ten Da­men hin­ein. Auf dem Füh­rer­sitz saß ein Chauf­feur. Bil­ly leg­te dem jun­gen Mann die Hand auf den Arm. Er war eben­so breit­schul­te­rig wie Bil­ly und eine Klei­nig­keit grö­ßer. Er hat­te blaue Au­gen, kräf­ti­ge Züge, und Sa­xon fand, dass er ein schö­ner Mann war.

»Darf ich ein paar Wor­te mit Ih­nen spre­chen, Ka­me­rad?« sag­te Bil­ly mit lei­ser, schlep­pen­der Stim­me.

Der jun­ge Mann warf einen has­ti­gen Blick auf Bil­ly und Sa­xon und frag­te un­ge­dul­dig:

»Was gibt es?«

»Sie sind Blan­chard«, be­gann Bil­ly. »Ich sah Sie ges­tern. Sie fuh­ren an der Spit­ze des Zu­ges.«

»Ja, hab ich das nicht gut ge­macht?« frag­te Blan­chard hei­ter mit ei­nem has­ti­gen Blick auf Sa­xon.

»Ge­wiss. Aber des­halb will ich nicht mit Ih­nen re­den.«

»Wer sind Sie?« frag­te der an­de­re, der jetzt plötz­lich miss­trau­isch ge­wor­den war.

»Ei­ner von den strei­ken­den Kut­schern. Die Sa­che ist näm­lich, dass Sie mein Ge­spann fuh­ren, ja, das ist al­les. Nein, las­sen Sie Ihr Schieß­ei­sen ste­cken!« – Blan­chard hat­te die Hand halb in die Ta­sche ge­steckt. – »Ich will hier kei­nen Krach ma­chen. Aber ich will Ih­nen nur et­was sa­gen.«

»Dann be­ei­len Sie sich.«

Blan­chard hob den Fuß, um ins Auto zu stei­gen.

»Ja­wohl«, fuhr Bil­ly fort, ohne im ge­rings­ten sei­ne auf­rei­zen­de Lang­sam­keit fal­len zu las­sen. »Ich will Ih­nen nur sa­gen, dass ich Sie fin­den wer­de. Nicht, so­lan­ge der Streik dau­ert. Aber spä­ter ein­mal, und dann wer­de ich Ih­nen eine sol­che Tracht Prü­gel ge­ben, wie Sie sie noch nie im Le­ben be­kom­men ha­ben.«

Blan­chard sah Bil­ly for­schend und mit In­ter­es­se an, und ein be­wun­dern­der Schim­mer trat in sei­ne Au­gen. »Sie sind ein star­ker Bur­sche«, sag­te er. »Aber glau­ben Sie auch, dass Sie das kön­nen?«

»Ge­wiss kann ich es. Ich wer­de es Ih­nen schon zei­gen.«

»Nun ja, Ka­me­rad. Kom­men Sie zu mir, wenn der Streik be­en­det ist – dann wer­den wir ja se­hen, wer der Stär­ke­re ist.«

»Ver­ges­sen Sie es nicht«, sag­te Bil­ly. »Ich werd es Ih­nen zei­gen.«

Roy Blan­chard nick­te bei­den freund­lich lä­chelnd zu, lüf­te­te den Hut vor Sa­xon und stieg ins Auto.

*

Von jetzt an schi­en es Sa­xon, als sei ihr Da­sein ganz ohne Sinn und Zu­sam­men­hang. Sie leb­te wie in ei­nem bö­sen Traum. Al­les war mög­lich, selbst das Un­wahr­schein­lichs­te. Es gab kei­nen Halt in der Strö­mung der Ge­setz­lo­sig­keit, die sie zu ei­ner Ka­ta­stro­phe trieb – sie wuss­te selbst nicht, zu wel­cher. Hät­te sie sich auf Bil­ly ver­las­sen kön­nen, so wür­de sie nichts ge­fürch­tet ha­ben. Aber er war ihr ent­ris­sen in dem Wahn­sinn, der alle an­de­ren ge­packt hat­te. So voll­kom­men war die Ver­än­de­rung, die mit ihm vor­ge­gan­gen war, dass er fast wie ein zu­dring­li­cher Frem­der in sei­nem ei­ge­nen Hau­se wirk­te. Es war ein an­de­rer Mann, des­sen Blick ihr aus sei­nen Au­gen ent­ge­gen­leuch­te­te – ein an­de­rer Mann mit ge­walt­sa­men, has­s­er­füll­ten Ge­dan­ken; ein Mann, der es nir­gends gut hat­te, und der ein eif­ri­ger Vor­kämp­fer für al­les Zucht­lo­se und Böse die­ser Zeit wur­de. Die­ser Mann ver­ur­teil­te Bert nicht mehr, son­dern mur­mel­te selbst heim­lich von Dy­na­mit und Re­vo­lu­ti­on.

Sa­xon kämpf­te schwer, um sich das geis­ti­ge Gleich­ge­wicht und die Kalt­blü­tig­keit, so­wie die kör­per­li­che Rein­heit und Küh­le zu be­wah­ren, auf die Bil­ly frü­her sol­chen Wert ge­legt hat­te. Nur ein­mal ver­lor sie die Selbst­be­herr­schung. Er war sehr schlech­ter Lau­ne ge­we­sen, und eine be­son­ders bru­ta­le, un­ge­rech­te Be­mer­kung brach­te sie schließ­lich auf.

»Mit wem sprichst du?« frag­te sie hef­tig.

Er war sprach­los und ver­blüfft und konn­te nur ihr Ge­sicht an­star­ren, das lei­chen­blass vor Zorn war.

»Wage nicht noch ein­mal, so zu mir zu spre­chen, Bil­ly«, sag­te sie ge­bie­te­risch.

 

»Ach, kannst du denn nicht be­grei­fen, dass ich nur schlech­ter Lau­ne bin?« frag­te er, halb zur Ent­schul­di­gung, halb im Trotz. »Gott weiß, dass ich ge­nug um die Ohren habe.«

Als er ge­gan­gen war, warf sie sich aufs Bett und wein­te, als ob ihr das Herz bre­chen soll­te. Denn sie, die so tief de­mü­tig lie­ben konn­te, war ein stol­zes Weib. Nur die Stol­zen kön­nen wirk­lich de­mü­tig, nur die Star­ken wahr­haft sanft sein. Was nutz­te es, so frag­te sie sich, wenn der ein­zi­ge auf der Welt, der et­was für sie be­deu­te­te, sei­nen ei­ge­nen Stolz, sei­ne Kampf­be­reit­schaft und sei­nen Ge­rech­tig­keits­sinn ver­lor und sie den schwers­ten Teil der ge­mein­sa­men Last tra­gen ließ?

Und wie sie im Kum­mer über den Ver­lust ih­res Kin­des – die­sem tie­fen Kum­mer, der in ih­rem Or­ga­nis­mus selbst wur­zel­te – al­lein ge­we­sen war, so trug sie auch die­sen neu­en Kum­mer, der in ge­wis­sem Sin­ne noch grö­ßer war, al­lein. Sie lieb­te Bil­ly viel­leicht nicht we­ni­ger, aber ihre Lie­be war im Be­griff, einen an­de­ren Cha­rak­ter an­zu­neh­men, we­ni­ger stolz und we­ni­ger zu­ver­sicht­lich zu wer­den. Sie woll­te sich mit Mit­leid mi­schen – dem Mit­leid, das zur Ver­ach­tung füh­ren kann, und da­vor schau­der­te es sie.

Sie kämpf­te um die Kraft, die­ser neu­en Si­tua­ti­on ins Auge zu bli­cken. Die Ver­zei­hung schlich sich in ihr Herz, und es war ihr eine Er­leich­te­rung, bis ihr ein­fiel, dass in der wahrs­ten, höchs­ten Lie­be kein Raum für Ver­zei­hung sein durf­te. Und sie wein­te wie­der, wäh­rend der Kampf von neu­em be­gann. Schließ­lich war ei­nes un­um­stöß­lich: die­ser Bil­ly war nicht der Bil­ly, den sie ge­liebt hat­te. Die­ser Bil­ly war ein ganz an­de­rer, ein kran­ker Mann, und er war eben­so­we­nig ver­ant­wort­lich wie ein Fie­ber­pa­ti­ent für sei­ne wil­den Fan­tasi­en. Sie muss­te Bil­lys Pfle­ge­rin sein, ohne Stolz, ohne Ver­ach­tung, ohne et­was ver­zei­hen zu müs­sen. Zu­dem stand er auch wirk­lich mit­ten im Kamp­fe und war schwind­lig von den Schlä­gen, die er ge­gen an­de­re rich­te­te und die an­de­re ge­gen ihn rich­te­ten.

Und so rüs­te­te Sa­xon sich zum Kampf, dem schwers­ten von al­len, die in der Wel­ta­re­na aus­ge­foch­ten wer­den – dem Kampf des Wei­bes. Sie ver­trieb alle Zwei­fel, al­les Miss­trau­en aus ih­rem Ge­müt. Sie ver­zieh nichts, weil es nichts gab, das Ver­zei­hung er­for­der­te. Sie ver­pflich­te­te sich zu ei­nem ab­so­lu­ten Glau­ben an die Un­be­fleckt­heit und Un­be­rührt­heit von Bil­lys Lie­be – so un­er­schüt­ter­lich, wie sie stets ge­we­sen, soll­te sie wie­der wer­den, wenn die Welt wie­der ins Gleich­ge­wicht kam.

Als er an die­sem Abend heim­kam, schlug sie ihm als letz­ten Aus­weg vor, ihre Näh­ar­beit wie­der auf­zu­neh­men, bis der Streik vor­bei war. Aber da­von woll­te Bil­ly nichts hö­ren.

»Es wird schon al­les ge­hen«, ver­si­cher­te er ihr im­mer wie­der. »Du brauchst nicht zu ar­bei­ten. Ich wer­de schon Geld ver­schaf­fen, ehe die Wo­che um ist, und dann kriegst du al­les. Und Sonn­abend abend ge­hen wir aus und amü­sie­ren uns – in ein rich­ti­ges Thea­ter, nicht ins Kino. Sonn­abend abend – bis da­hin habe ich Geld, so si­cher wie nur was.«

Am Frei­tag kam er abends nicht heim, und Sa­xon är­ger­te sich, denn Mag­gie Do­na­hue hat­te ihr eine Pfan­ne voll Kar­tof­feln und zwei Pfund Mehl, die sie vo­ri­ge Wo­che ge­lie­hen hat­te, wie­der­ge­bracht, und ein tüch­ti­ges Es­sen war­te­te auf ihn. Sa­xon hielt bis neun Uhr das Feu­er im Herd, dann ging sie wi­der­stre­bend zu Bett. Sie wäre viel lie­ber auf­ge­blie­ben, bis er kam, aber sie wag­te es nicht, denn sie wuss­te, wie das auf ihn wirk­te, wenn er be­trun­ken heim­kam.

Es hat­te ge­ra­de eins ge­schla­gen, als sie die Gar­ten­pfor­te zu­schla­gen hör­te. Sie hör­te ihn – lang­sam, schwer, auf eine Art, die nichts Gu­tes ver­hieß – die Trep­pe her­auf­kom­men und das Schlüs­sel­loch su­chen. Dann trat er ins Schlaf­zim­mer, und sie hör­te, wie er sich mit ei­nem tie­fen Seuf­zer setz­te. Sie lag ganz still da, denn sie wuss­te, wie über­trie­ben emp­find­lich die Leu­te wur­den, wenn sie be­trun­ken wa­ren, und sie fürch­te­te sehr, ihn zu ver­let­zen, wenn sie ihn ver­ste­hen lie­ße, dass sie wach ge­le­gen und auf ihn ge­war­tet hät­te. Es war nicht leicht. Sie ball­te die Fäus­te, dass die Nä­gel ihr ins Fleisch dran­gen und ihr Kör­per fast in dem hef­ti­gen Be­mü­hen, sich ru­hig zu ver­hal­ten, er­starr­te. Noch nie war er in ei­ner sol­chen Ver­fas­sung heim­ge­kom­men.

»Sa­xon!« rief er mit be­leg­ter Stim­me. »Sa­xon!«

Sie reck­te sich und gähn­te.

»Was ist?« frag­te sie.

»Willst du nicht Licht ma­chen? Mei­ne Fin­ger sind wie lau­ter Dau­men.«

Sie tat, wie er sag­te, ohne ihn je­doch an­zu­se­hen, aber ihre Hän­de zit­ter­ten so hef­tig, dass der Lam­pen­zy­lin­der klir­rend ge­gen die Kup­pel schlug und das Streich­holz aus­ging.

»Ich bin nicht be­trun­ken«, sag­te er in der Dun­kel­heit, und sei­ne hei­se­re Stim­me zit­ter­te. »Ich habe nur zwei oder drei Ohr­fei­gen ge­kriegt.«

Sie ver­such­te wie­der, die Lam­pe an­zu­zün­den, und dies­mal glück­te es. Als sie sich um­dreh­te, um ihn an­zu­se­hen, schrie sie laut auf vor Angst. Ob­wohl sie sei­ne Stim­me ge­hört hat­te und wuss­te, dass es Bil­ly war, er­kann­te sie ihn doch im ers­ten Au­gen­blick nicht. Dies Ge­sicht hat­te sie noch nie ge­se­hen. Ge­schwol­len, zer­schla­gen war es, als hät­te je­der Zug die Ähn­lich­keit mit dem Ge­sicht ver­lo­ren, das sie so gut kann­te. Das eine Auge war voll­kom­men ge­schlos­sen, das an­de­re guck­te aus ei­nem schma­len Spalt in dem blut­un­ter­lau­fe­nen Fleisch her­vor. Es sah aus, als wäre die Haut am einen Ohr fast ab­ge­ris­sen. Das gan­ze Ge­sicht war eine blu­ti­ge, ge­schwol­le­ne Mas­se, und sein rech­ter Kinn­ba­cken war dop­pelt so dick wie der lin­ke. Kein Wun­der, dass er be­legt spricht, dach­te sie, als sie die furcht­bar zer­schla­ge­nen und ge­schwol­le­nen Lip­pen be­trach­te­te, die im­mer noch blu­te­ten. Sie wur­de ganz krank bei dem An­blick, und eine Woge von Zärt­lich­keit stieg in ihr auf und trieb sie zu ihm hin. Sie sehn­te sich da­nach, ihn in die Arme zu schlie­ßen, ihn zu strei­cheln und zu lieb­ko­sen; aber ihr ge­sun­der Ver­stand ver­bot es ihr.

»Mein ar­mer, ar­mer Jun­ge«, rief sie. »Sag mir nur, was ich tun soll. Ich ver­ste­he nichts von die­sen Din­gen.«

»Wenn du mir nur hel­fen willst, mich aus­zu­zie­hen«, sag­te er de­mü­tig und mit hei­se­rer Stim­me. »Ich bin so steif.«

»Und dann war­mes Was­ser – das wird dir gut tun«, sag­te sie und be­gann vor­sich­tig, sei­nen Rock­är­mel über eine ge­schwol­le­ne, hilflo­se Hand zu zie­hen.

»Ich sag­te dir ja, dass sie wie lau­ter Dau­men sind.« Er schnitt ein Ge­sicht, hob die Hand und schiel­te dar­auf, so­weit er noch se­hen konn­te.

»Setz dich«, sag­te sie, »setz dich und war­te, bis ich Feu­er an­ge­macht und das Was­ser ge­wärmt habe. Es dau­ert nur einen Au­gen­blick. Dann hel­fe ich dir wei­ter beim Aus­zie­hen.«

Als sie in der Kü­che war, konn­te sie ihn lei­se mur­meln hö­ren, und noch als sie wie­der­kam, wie­der­hol­te er im­mer wie­der:

»Wir brauch­ten das Geld, Sa­xon. Wir brauch­ten das Geld.«

Sie konn­te se­hen, dass er nicht be­trun­ken war, und aus sei­nen un­zu­sam­men­hän­gen­den Wor­ten wur­de ihr klar, dass er Fie­ber hat­te.

»Er war eine Über­ra­schung«, fuhr er in sei­nen Be­trach­tun­gen fort, wäh­rend sie ihm beim Aus­zie­hen half und all­mäh­lich bruch­stück­wei­se er­fuhr, was ge­sche­hen war. »Er war ein un­be­kann­ter Bo­xer aus Chi­ca­go. Sie sag­ten nicht ein Wort vor­her. Ja, der Se­kre­tär vom Eli­te-Club mein­te al­ler­dings, dass er mir zu schaf­fen ma­chen wür­de. Und ich wür­de ge­won­nen ha­ben, wenn ich in Form ge­we­sen wäre. Aber fünf­zehn Pfund we­ni­ger im Ge­wicht und kein Trai­ning – das ist kei­ne Form. Dazu habe ich auch die letz­te Zeit ziem­lich viel ge­trun­ken, und so konn­te ich nicht fest ste­hen.«

Aber Sa­xon, die ihm das Hemd aus­zog, hör­te nicht mehr zu. Wie sein Ge­sicht, so war auch sein präch­ti­ger mus­ku­lö­ser Rücken – sie kann­te ihn nicht wie­der. Die wei­ße glat­te Haut war zer­ris­sen und blu­tig. Die meis­ten der Ris­se gin­gen quer über den Kör­per, ei­ni­ge aber gin­gen auch von oben nach un­ten.

»Wo hast du das nur be­kom­men?« frag­te sie.

»Am Seil. Ich war mehr­mals am Seil, und der Ge­dan­ke macht mich nicht ge­ra­de stolz. Nun ja, er hat mir mein Fett ge­ge­ben. Aber ich führ­te ihn doch an. Knock out krieg­te er mich nicht. Ich hielt alle zwan­zig Run­den durch, und ich will dir nur sa­gen – er hat ein paar ab­ge­kriegt, an die er auch den­ken wird. Aber wel­che Prü­gel! Oha, wel­che Prü­gel! So et­was hab ich noch nicht er­lebt. Den ›Schre­cken von Chi­ka­go‹ nen­nen sie ihn, und ich zie­he mei­nen Hut vor ihm. Er ist ein tüch­ti­ger Kerl. Aber wenn ich in Form ge­we­sen wäre und mehr Luft ge­habt hät­te, wür­de ich doch mit ihm fer­tig ge­wor­den sein. Au, au, pass auf. Das ist wie eine Beu­le!«

Sa­xon hat­te nach sei­nem Leib­rie­men ge­sucht und hat­te da­bei einen flam­mend­ro­ten Fleck, so groß wie ein Sup­pen­tel­ler, be­rührt.

»Das kommt von den Nie­ren­schlä­gen«, er­klär­te Bil­ly. »Da­rin war er der rei­ne Teu­fel. Fast je­des Mal, wenn wir im Clinch wa­ren, stieß er zu, so si­cher wie ein Uhr­werk. Es wur­de so emp­find­lich, dass ich da­bei di­rekt zu­sam­men­fuhr – bis ich un­si­cher auf den Bei­nen wur­de und nicht mehr viel von mir wuss­te. Es ist kein Schlag, der einen er­le­digt, aber er ent­kräf­tet schreck­lich, wenn man lan­ge kämpft. Man wird so merk­wür­dig schlapp da­von.«

Sa­xon hat­te Trä­nen in den Au­gen, und sie hät­te wei­nen mö­gen über die Be­hand­lung, die dem Kör­per ih­res schö­nen, kran­ken Jun­gen zu­teil ge­wor­den war.

Als sie sei­ne Ho­sen am an­de­ren Ende der Stu­be auf­hän­gen woll­te, hör­te sie das Klir­ren von Geld­stücken. Er rief sie zu­rück und zog eine Hand­voll Sil­ber aus der Ta­sche.

»Wir brauch­ten das Geld, wir brauch­ten das Geld«, mur­mel­te er im­mer wie­der, wäh­rend er ver­such­te, die Mün­zen zu zäh­len, und Sa­xon wuss­te, dass er wie­der irre re­de­te.

Es schnitt ihr ins Herz, denn sie muss­te sich der bit­tern Ge­dan­ken er­in­nern, die in der letz­ten Wo­che ih­ren Glau­ben an Bil­ly fast nie­der­ge­ris­sen hat­ten. Und schließ­lich war er ja doch mit sei­nem gan­zen wun­der­ba­ren Kör­per nur ein Jun­ge, ihr Jun­ge. Um ih­ret­wil­len, um des Hau­ses und der Mö­bel wil­len, die ihr Haus und ihre Mö­bel wa­ren, hat­te er sich die­ser furcht­ba­ren Stra­fe aus­ge­setzt. Er sag­te es jetzt, als er kaum noch wuss­te, was er sag­te: »Wir brauch­ten das Geld.« Hier, in sei­nem halb be­wusst­lo­sen Zu­stand, als die Ban­de, die sei­ne See­le fes­sel­ten, ge­löst schie­nen, trat der Ge­dan­ke an sie wie­der an die Ober­flä­che. Wir brauch­ten das Geld. Wir!

Die Trä­nen lie­fen ihr über die Wan­gen, als sie sich zu ihm hin­ab­beug­te, und es war ihr, als hät­te sie ihn nie so heiß ge­liebt wie in die­sem Au­gen­blick.

»Hier, zähl du das Geld«, sag­te er, die an­stren­gen­de Ar­beit auf­ge­bend, und reich­te es ihr. »Wie viel kriegst du her­aus?«

»Neun­zehn Dol­lar und fünf­und­drei­ßig Cent.«

»Das stimmt – so­viel kriegt der Be­sieg­te – zwan­zig Dol­lar. Ich trank ein paar Glas und trak­tier­te auch die an­de­ren, und dann die Stra­ßen­bahn. Hät­te ich ge­won­nen, so wür­de ich hun­dert ge­kriegt ha­ben. Da­für hat­te ich ge­kämpft. Dann wä­ren wir jetzt aus dem Dreck her­aus – vor­läu­fig je­den­falls. Aber nimm das Geld und be­hal­te es. Es ist doch je­den­falls bes­ser als gar nichts.«

Als er ins Bett kam, konn­te er nicht schla­fen, so schmerz­ten ihm alle Glie­der, und Stun­de auf Stun­de war sie um ihn be­müht, leg­te ihm fri­sche war­me Um­schlä­ge auf die ge­schwol­le­nen Stel­len und ver­schaff­te ihm Lin­de­rung, in­dem sie die Ris­se so be­hut­sam wie mög­lich mit Cold­cream ein­rieb. Und un­ter­des­sen schwatz­te er, hin und wie­der von ei­nem kla­gen­den Stöh­nen un­ter­bro­chen, und durch­leb­te wie­der den gan­zen Kampf, klag­te über das Geld, das ihm ent­gan­gen war, und groll­te über die Krän­kung, die sein Stolz er­lit­ten hat­te. Denn schlim­mer als al­les, was er kör­per­lich litt, war die Krän­kung, die sei­nem Stolz zu­ge­fügt war.

Schließ­lich, als der Tag an­brach, schlief Bil­ly ein. Er stöhn­te und jam­mer­te, sein Ge­sicht war von Schmerz ver­zerrt, und er warf sich hin und her in sei­nen ver­geb­li­chen Ver­su­chen, Ruhe und Lin­de­rung zu fin­den.

 

Also das ist Bo­xen, dach­te Sa­xon. Es war viel schlim­mer, als sie es sich ge­dacht hat­te. Sie hat­te nicht ge­ahnt, dass man mit Box­hand­schu­hen sol­chen Scha­den an­rich­ten konn­te. Er durf­te nie wie­der bo­xen. Dann lie­ber Ra­dau auf der Stra­ße. Sie dach­te dar­über nach, wie viel von sei­ner Sei­de wohl ver­lo­ren ge­gan­gen sein moch­te, als er et­was mur­mel­te und die Au­gen auf­schlug.

»Was ist?« frag­te sie, aber im sel­ben Au­gen­blick er­kann­te sie, dass sei­ne Au­gen nichts sa­hen, und dass er im Fie­ber sprach.

»Sa­xon! – Sa­xon!« rief er.

»Ja, Bil­ly. Was ist?«

Er tas­te­te mit der Hand dort­hin, wo er sie un­ter nor­ma­len Ver­hält­nis­sen ge­fun­den hät­te.

Dann rief er sie wie­der, und sie rief ihm ins Ohr, dass sie bei ihm wäre. Er seufz­te er­leich­tert und mur­mel­te mit ge­bro­che­ner Stim­me:

»Ich muss­te es tun – wir brauch­ten das Geld.«

Er schloss die Au­gen und schlief jetzt ru­hi­ger, wenn er auch im­mer noch im Schla­fe mur­mel­te. Sie hat­te von Ge­hirn­er­schüt­te­run­gen ge­hört und war sehr ängst­lich. Da fiel ihr ein, dass er ihr er­zählt hat­te, Bil­ly Mur­phy hät­te ihm Eis auf den Na­cken ge­legt.

Sie warf einen Schal über und lief in die Wirt­schaft an der Ecke. Der Kell­ner hat­te ge­ra­de auf­ge­macht und feg­te aus. Er gab ihr so­viel Eis, wie sie tra­gen konn­te, und zer­hieb es ihr in klei­ne Stücke. Als sie zu­rück­kam, leg­te sie Bil­ly das Eis in den Na­cken und ein war­mes Plätt­ei­sen un­ter die Füße und rieb ihm das Ge­sicht mit Cold­cream, die sie auf Eis ge­legt hat­te, um sie ab­zu­küh­len.

Er schlief bei her­un­ter­ge­las­se­nen Gar­di­nen bis spät am Nach­mit­tag, dann aber woll­te er zu Sa­x­ons großer Sor­ge auf­ste­hen.

»Ich muss mich zei­gen«, er­klär­te er. »Ich will nicht, dass sie mich aus­la­chen.«

Sie half ihm beim An­zie­hen, was ihm furcht­ba­re Qua­len ver­ur­sach­te, und in furcht­ba­ren Qua­len ver­ließ er sein Heim, da­mit die Män­ner, die sei­ne Welt aus­mach­ten, mit ei­ge­nen Au­gen se­hen konn­ten, dass die Prü­gel, die er ge­kriegt hat­te, ihn nicht ans Bett zu fes­seln ver­moch­ten.

Es war ein an­de­rer Stolz als der ei­nes Wei­bes, und Sa­xon muss­te dar­über nach­den­ken, ob er des­halb we­ni­ger be­wun­derns­wert war.

*

In den fol­gen­den Ta­gen gin­gen die Schwel­lun­gen an Bil­lys Kör­per mit er­staun­li­cher Schnel­lig­keit zu­rück. Dass die Ris­se so schnell heil­ten, be­wies, wie ge­sund sein Blut war. Das ein­zi­ge, was noch blieb, wa­ren die »blau­en Au­gen«, die dop­pelt auf­fie­len in ei­nem so hel­len Ge­sicht wie dem sei­nen. Es dau­er­te vier­zehn Tage, bis die Um­ge­bung sei­ner Au­gen ihre nor­ma­le Far­be wie­der an­nahm, und in die­sen vier­zehn Ta­gen tra­ten ver­schie­de­ne be­deu­tungs­vol­le Be­ge­ben­hei­ten ein.

Otto Frank wur­de in größ­ter Eile ver­hört, und, nach­dem er von ei­ner, haupt­säch­lich aus Ge­schäfts­leu­ten und An­ge­stell­ten be­ste­hen­den Jury für schul­dig er­klärt wor­den war, zum Tode ver­ur­teilt und nach San Quen­tin ge­schafft, wo die Hin­rich­tung er­folg­te.

Der Pro­zess ge­gen Che­s­ter John­son und die vier­zehn an­de­ren hat­te län­ge­re Zeit ge­dau­ert, war aber auch vor Ablauf der vier­zehn Tage be­en­det. Che­s­ter John­son wur­de zum Tode ver­ur­teilt, zwei er­hiel­ten le­bens­läng­li­ches Zucht­haus, drei je zwan­zig Jah­re. Nur zwei wur­den frei­ge­spro­chen, die an­de­ren sie­ben er­hiel­ten je zwei bis sie­ben Jah­re.

Die­se Ent­schei­dung ver­senk­te Sa­xon in tie­fe Me­lan­cho­lie. Bil­ly ging es auch nahe, aber sein Kampfei­fer war nicht un­ter­drückt.

»In ei­ner Schlacht ster­ben im­mer wel­che«, sag­te er. »Da­rauf muss man ge­fasst sein. Aber die Art, wie sie ab­ge­ur­teilt wer­den, kann ich nicht in den Kopf krie­gen. Sie wa­ren doch alle ver­ant­wort­lich für die Mord­ta­ten, die schul­dig Er­klär­ten ge­nau wie die an­de­ren. Oder es war kei­ner ver­ant­wort­lich. Wa­ren sie es aber alle, so hät­ten sie doch alle ver­ur­teilt wer­den müs­sen. Sie muss­ten alle ge­hängt wer­den wie Che­s­ter John­son, oder es durf­te kei­ner ge­hängt wer­den.«

»Ich habe so oft mit Che­s­ter John­son ge­tanzt«, sag­te Sa­xon. »Und ich habe sei­ne Frau, Kit­tie Bra­dy, vor vie­len, vie­len Jah­ren ge­kannt. Sie saß ne­ben mir in der Kar­to­na­gen­fa­brik. Sie er­war­tet auch ein Kind. Sie war sehr hübsch und hat­te im­mer eine gan­ze Schar jun­ger Bur­schen hin­ter sich her.«

Die Wir­kung, die die har­ten Ur­tei­le auf die Ge­werk­schaft­ler aus­üb­ten, war sehr un­güns­tig. Statt ih­ren Mut zu kni­cken, mach­ten sie sie nur noch er­bit­ter­ter. Bil­lys Reue über den Box­kampf und al­les Gute und Lie­be, das in den Ta­gen, als Sa­xon ihn pfleg­te, bei ihm zum Vor­schein ge­kom­men war, war jetzt wie aus­ge­tauscht. Zu Hau­se brü­te­te er über sei­nen fins­te­ren Ge­dan­ken, und wenn er sprach, tat er es im sel­ben Geist, wie Bert in den letz­ten Ta­gen ge­spro­chen hat­te, ehe er, der bra­ve Mo­hi­ka­ner, starb. Er war auch län­ger fort und trank jetzt wie­der an­hal­tend.

Sa­xon woll­te schon alle Hoff­nung auf­ge­ben. Sie war schon fast auf die un­ver­meid­li­che Tra­gö­die vor­be­rei­tet, die ihre krank­haft ge­reiz­te Fan­ta­sie ihr un­ter tau­send For­men vor­gau­kel­te. Meis­tens stell­te sie sich vor, dass man ihr Bil­ly auf ei­ner Bah­re heim­brach­te, oder sie wur­de ans Te­le­fon beim Krä­mer an der Ecke ge­ru­fen und hör­te eine frem­de Stim­me, die ihr kurz mit­teil­te, dass ihr Mann ins Ho­spi­tal oder ins Lei­chen­schau­haus ge­bracht wäre. Und als die mys­ti­schen Ver­gif­tun­gen von Pfer­den vor­ka­men und ei­nem der großen Fuhr­leu­te sein Haus von Dy­na­mit halb zer­stört wur­de, sah sie Bil­ly im Zucht­haus oder in der ge­streif­ten Ge­fäng­nis­tracht oder auf dem Scha­fott in San Quen­tin, wäh­rend sie gleich­zei­tig das klei­ne Haus in der Pine Street von Zei­tungs­re­por­tern und Fo­to­gra­fen be­la­gert sah.

Und doch hat­te sie sich in ih­rer leb­haf­ten Fan­ta­sie die Ka­ta­stro­phe nicht in der Ge­stalt vor­ge­stellt, in der sie schließ­lich ein­traf. Har­mon, der Hei­zer, der bei ih­nen wohn­te, war, als er sich zur Ar­beit be­ge­ben woll­te, in der Kü­che ste­hen­ge­blie­ben, um Sa­xon von ei­nem Ei­sen­bahn­zu­sam­men­stoß in den Al­vi­so-Sümp­fen zu er­zäh­len. Als er die Er­zäh­lung fast be­en­det hat­te, kam Bil­ly, und aus der dunklen Glut in den Au­gen un­ter den schwe­ren Li­dern konn­te Sa­xon se­hen, dass er zu viel ge­trun­ken hat­te. Er warf Har­mon einen ge­reiz­ten Blick zu und stell­te sich, ohne ihn oder Sa­xon zu be­grü­ßen, an die Wand.

Har­mon fühl­te das Drücken­de der Si­tua­ti­on und ver­such­te zu tun, als be­mer­ke er nichts.

»Ich er­zähl­te Ih­rer Frau ge­ra­de –«, be­gann er, aber Bil­ly un­ter­brach ihn wü­tend.

»Es ist mir gleich­gül­tig, was Sie ihr er­zähl­ten. Aber ich will Ih­nen et­was sa­gen. Mei­ne Frau hat Ih­nen Ihr Bett viel öf­ter ge­macht, als mir ge­fällt.«

»Bil­ly!« rief Sa­xon, von Zorn und Krän­kung flam­mend.

Bil­ly tat, als hör­te er sie gar nicht. Har­mon sag­te:

»Ich ver­ste­he nicht –«

»Nun ja, ich kann Ihre Frat­ze nicht aus­ste­hen«, er­klär­te Bil­ly. »Ma­chen Sie, dass Sie weg­kom­men! Hin­aus! Ver­stan­den?«

»Ich weiß nicht, was mit ihm ist«, sag­te Sa­xon schnell und atem­los zu dem Hei­zer. »Er ist nicht bei Sin­nen. Ach, wie ich mich schä­me, ach, wie ich mich schä­me.«

Bil­ly wand­te sich zu ihr.

»Willst du ge­fäl­ligst das Maul hal­ten! Es geht dich gar nichts an.«

»Aber Bil­ly!« wand­te sie ein.