Ein solcher Ausbruch Billys war indessen sehr selten, und es war das erstemal, dass Saxon ihn hörte. Er war immer mürrisch, eigensinnig und zähe, und der Whisky trug dazu bei, die Würmer der Selbstsicherheit in seinem Gehirn zu wimmelndem Leben zu erwecken.
Eines Abends kam Billy erst nach zwölf Uhr heim. Saxons Angst stieg, weil sie ein Gerücht gehört hatte, dass es eine Prügelei zwischen Polizei und Streikenden gegeben hätte. Als Billy kam, sah sie gleich, dass das Gerücht die Wahrheit gesprochen hatte. Die Rockärmel waren ihm halb abgerissen, die Krawatte war verschwunden und alle Hemdknöpfe auf der Brust waren abgerissen. Als er den Hut abnahm, sah Saxon zu ihrem Schrecken, dass er eine Beule von der Größe eines Apfels am Kopfe hatte.
»Weißt du, wer das getan hat? Der verfluchte Deutsche Hermanmann, und zwar mit einem Knüppel. Aber ich will ihn lehren und so, dass er es nicht wieder vergisst. Und auch einen anderen Burschen habe ich mir gemerkt und werde ihn mir kaufen, wenn der Streik vorbei ist und wir ein bisschen zur Ruhe gekommen sind. Er heißt Blanchard, Roy Blanchard.«
»Doch nicht von der Firma Blanchard, Perkins & Co.?« fragte Saxon, die Billys Wunde auswusch und wie gewöhnlich alles, was in ihrer Macht stand, tat, um ihn zu beruhigen.
»Eben – nur dass er der Sohn des Alten ist! Was tut er, der nie etwas anderes getan hat, als mit dem Geld des Alten um sich zu schmeißen? Spielt den Streikbrecher! Jawohl. Sein Name kommt in die Zeitung, und alle Unterröcke, denen er nachrennt, werden Feuer und Flamme und sagen: ›Gott, der Roy Blanchard, das ist ein Kerl, ein richtiger Kerl!‹ Ein Kerl – der Schwachkopf! Eines Tages werde ich ihn schon zu fassen kriegen. Noch nie haben mich die Finger so nach etwas gejuckt.
Und – ja, den deutschen Polypen werde ich mir auch vornehmen. Er hat übrigens sein Fett abgekriegt. Einer schlug ihm ein Stück Kohle, so groß wie ein Wassereimer, auf den Kopf. Sie wagten nicht, das Militär zu rufen. Und sie fürchteten sich zu schießen. Ja, wir haben mit der Polizei aufgeräumt, und Kranken- und Patrouillenwagen mussten Überstunden machen. Weißt du – wir stoppten die ganze Prozession auf der Vierzehnten und dem Broadway, direkt vor dem Rathaus, griffen sie am hinteren Ende an, zerschnitten den Pferden an fünf Wagen die Stränge und gaben im Vorbeifahren den Bengeln von der Universität ein paar zärtliche Klapse.«
»Aber was tat Blanchard denn?« kam Saxon wieder auf ihre Frage zurück.
»Er führte die Prozession an und lenkte mein Gespann. Alle Gespanne waren aus meinem Stall. Er hatte eine ganze Schar von diesen Universitätsidioten gesammelt – Lümmel, die aus der Tasche ihres Vaters leben. Sie kamen mit großen Kremsern in die Ställe gefahren und zogen die Wagen heraus, und die halbe Polizei von Oakland half ihnen. Ja, das war eine Vorstellung! Es regnete direkt Pflastersteine, und du hättest hören sollen, wie die Knüppel auf unsere Häupter schlugen – ratatata, ratatata! Acht von unseren Leuten wurden festgenommen und dazu zehn Kutscher aus San Franzisko, die uns zu Hilfe gekommen waren. Das sind die reinen Teufel, diese San Franziskoer Kutscher. Es sah aus, als sei die halbe Arbeiterbevölkerung von Oakland uns zu Hilfe gekommen, und ein ganzes Heer von ihnen muss in den Gefängnissen sitzen. Unsere Rechtsanwälte müssen sich ihrer annehmen.
Aber darauf kannst du dich verlassen, es ist das letztemal, dass Roy Blanchard und seinesgleichen sich in unsere Sachen eingemischt haben. Blanchard fuhr im ersten Wagen, und er wurde einmal vom Bock heruntergeworfen, aber er hielt doch stand.«
»Er muss ein mutiger Mann sein«, warf Saxon ein.
»Mutig?« rief Billy hitzig. »Mit der Polizei und dem Heer und der Flotte hinter sich? Schließlich nimmst du auch noch seine Partei! Mutig? Nimmt unsern Frauen und Kindern das Brot aus dem Munde!«
Am Morgen las Saxon in der Zeitung von dem fruchtlosen Versuch, den Fuhrleutestreik zu beenden. Roy Blanchard wurde als Held und Vorbild aller reichen Bürger begrüßt, und Saxon konnte, und wenn es ihr Leben gekostet hätte, eine gewisse Bewunderung für seinen Mut nicht unterdrücken, ihr schien etwas Großes an der Art, wie er Front gegen den heulenden Pöbelhaufen gemacht hatte. Es wurde der Ausspruch eines Brigadegenerals angeführt, der bedauerte, dass das Militär nicht hinzugerufen worden war, um den Pöbel an der Kehle zu packen und Gehorsam gegen Gesetz und Ordnung hineinzuschütteln.
Am Abend gingen Saxon und Billy in die Stadt. Als er bei seiner Heimkehr nichts zu essen vorgefunden, hatte er Saxon unter den einen Arm und seinen Überzieher unter den anderen genommen. Den Überzieher hatte er versetzt, und er und Saxon hatten in trauriger, düsterer Stimmung in einem japanischen Restaurant gegessen, das auf irgendeine wunderbare Weise eine einigermaßen genügende Mahlzeit für zehn Cent servierte. Nach dem Essen wollten sie in ein Kino gehen, was fünf Cent für jeden kostete.
Vor der Zentralbank wurde Billy von zwei streikenden Kutschern angesprochen, die ihn mitnahmen. Saxon wartete an der Ecke, und als er nach dreiviertel Stunden wiederkam, wusste sie, dass er getrunken hatte.
Ein Stückchen weiterhin, vor dem Forum-Café, blieb er plötzlich stehen. An der Bordschwelle stand ein Privatautomobil, und ein junger Mann half zwei sehr elegant gekleideten Damen hinein. Auf dem Führersitz saß ein Chauffeur. Billy legte dem jungen Mann die Hand auf den Arm. Er war ebenso breitschulterig wie Billy und eine Kleinigkeit größer. Er hatte blaue Augen, kräftige Züge, und Saxon fand, dass er ein schöner Mann war.
»Darf ich ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Kamerad?« sagte Billy mit leiser, schleppender Stimme.
Der junge Mann warf einen hastigen Blick auf Billy und Saxon und fragte ungeduldig:
»Was gibt es?«
»Sie sind Blanchard«, begann Billy. »Ich sah Sie gestern. Sie fuhren an der Spitze des Zuges.«
»Ja, hab ich das nicht gut gemacht?« fragte Blanchard heiter mit einem hastigen Blick auf Saxon.
»Gewiss. Aber deshalb will ich nicht mit Ihnen reden.«
»Wer sind Sie?« fragte der andere, der jetzt plötzlich misstrauisch geworden war.
»Einer von den streikenden Kutschern. Die Sache ist nämlich, dass Sie mein Gespann fuhren, ja, das ist alles. Nein, lassen Sie Ihr Schießeisen stecken!« – Blanchard hatte die Hand halb in die Tasche gesteckt. – »Ich will hier keinen Krach machen. Aber ich will Ihnen nur etwas sagen.«
»Dann beeilen Sie sich.«
Blanchard hob den Fuß, um ins Auto zu steigen.
»Jawohl«, fuhr Billy fort, ohne im geringsten seine aufreizende Langsamkeit fallen zu lassen. »Ich will Ihnen nur sagen, dass ich Sie finden werde. Nicht, solange der Streik dauert. Aber später einmal, und dann werde ich Ihnen eine solche Tracht Prügel geben, wie Sie sie noch nie im Leben bekommen haben.«
Blanchard sah Billy forschend und mit Interesse an, und ein bewundernder Schimmer trat in seine Augen. »Sie sind ein starker Bursche«, sagte er. »Aber glauben Sie auch, dass Sie das können?«
»Gewiss kann ich es. Ich werde es Ihnen schon zeigen.«
»Nun ja, Kamerad. Kommen Sie zu mir, wenn der Streik beendet ist – dann werden wir ja sehen, wer der Stärkere ist.«
»Vergessen Sie es nicht«, sagte Billy. »Ich werd es Ihnen zeigen.«
Roy Blanchard nickte beiden freundlich lächelnd zu, lüftete den Hut vor Saxon und stieg ins Auto.
*
Von jetzt an schien es Saxon, als sei ihr Dasein ganz ohne Sinn und Zusammenhang. Sie lebte wie in einem bösen Traum. Alles war möglich, selbst das Unwahrscheinlichste. Es gab keinen Halt in der Strömung der Gesetzlosigkeit, die sie zu einer Katastrophe trieb – sie wusste selbst nicht, zu welcher. Hätte sie sich auf Billy verlassen können, so würde sie nichts gefürchtet haben. Aber er war ihr entrissen in dem Wahnsinn, der alle anderen gepackt hatte. So vollkommen war die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, dass er fast wie ein zudringlicher Fremder in seinem eigenen Hause wirkte. Es war ein anderer Mann, dessen Blick ihr aus seinen Augen entgegenleuchtete – ein anderer Mann mit gewaltsamen, hasserfüllten Gedanken; ein Mann, der es nirgends gut hatte, und der ein eifriger Vorkämpfer für alles Zuchtlose und Böse dieser Zeit wurde. Dieser Mann verurteilte Bert nicht mehr, sondern murmelte selbst heimlich von Dynamit und Revolution.
Saxon kämpfte schwer, um sich das geistige Gleichgewicht und die Kaltblütigkeit, sowie die körperliche Reinheit und Kühle zu bewahren, auf die Billy früher solchen Wert gelegt hatte. Nur einmal verlor sie die Selbstbeherrschung. Er war sehr schlechter Laune gewesen, und eine besonders brutale, ungerechte Bemerkung brachte sie schließlich auf.
»Mit wem sprichst du?« fragte sie heftig.
Er war sprachlos und verblüfft und konnte nur ihr Gesicht anstarren, das leichenblass vor Zorn war.
»Wage nicht noch einmal, so zu mir zu sprechen, Billy«, sagte sie gebieterisch.
»Ach, kannst du denn nicht begreifen, dass ich nur schlechter Laune bin?« fragte er, halb zur Entschuldigung, halb im Trotz. »Gott weiß, dass ich genug um die Ohren habe.«
Als er gegangen war, warf sie sich aufs Bett und weinte, als ob ihr das Herz brechen sollte. Denn sie, die so tief demütig lieben konnte, war ein stolzes Weib. Nur die Stolzen können wirklich demütig, nur die Starken wahrhaft sanft sein. Was nutzte es, so fragte sie sich, wenn der einzige auf der Welt, der etwas für sie bedeutete, seinen eigenen Stolz, seine Kampfbereitschaft und seinen Gerechtigkeitssinn verlor und sie den schwersten Teil der gemeinsamen Last tragen ließ?
Und wie sie im Kummer über den Verlust ihres Kindes – diesem tiefen Kummer, der in ihrem Organismus selbst wurzelte – allein gewesen war, so trug sie auch diesen neuen Kummer, der in gewissem Sinne noch größer war, allein. Sie liebte Billy vielleicht nicht weniger, aber ihre Liebe war im Begriff, einen anderen Charakter anzunehmen, weniger stolz und weniger zuversichtlich zu werden. Sie wollte sich mit Mitleid mischen – dem Mitleid, das zur Verachtung führen kann, und davor schauderte es sie.
Sie kämpfte um die Kraft, dieser neuen Situation ins Auge zu blicken. Die Verzeihung schlich sich in ihr Herz, und es war ihr eine Erleichterung, bis ihr einfiel, dass in der wahrsten, höchsten Liebe kein Raum für Verzeihung sein durfte. Und sie weinte wieder, während der Kampf von neuem begann. Schließlich war eines unumstößlich: dieser Billy war nicht der Billy, den sie geliebt hatte. Dieser Billy war ein ganz anderer, ein kranker Mann, und er war ebensowenig verantwortlich wie ein Fieberpatient für seine wilden Fantasien. Sie musste Billys Pflegerin sein, ohne Stolz, ohne Verachtung, ohne etwas verzeihen zu müssen. Zudem stand er auch wirklich mitten im Kampfe und war schwindlig von den Schlägen, die er gegen andere richtete und die andere gegen ihn richteten.
Und so rüstete Saxon sich zum Kampf, dem schwersten von allen, die in der Weltarena ausgefochten werden – dem Kampf des Weibes. Sie vertrieb alle Zweifel, alles Misstrauen aus ihrem Gemüt. Sie verzieh nichts, weil es nichts gab, das Verzeihung erforderte. Sie verpflichtete sich zu einem absoluten Glauben an die Unbeflecktheit und Unberührtheit von Billys Liebe – so unerschütterlich, wie sie stets gewesen, sollte sie wieder werden, wenn die Welt wieder ins Gleichgewicht kam.
Als er an diesem Abend heimkam, schlug sie ihm als letzten Ausweg vor, ihre Näharbeit wieder aufzunehmen, bis der Streik vorbei war. Aber davon wollte Billy nichts hören.
»Es wird schon alles gehen«, versicherte er ihr immer wieder. »Du brauchst nicht zu arbeiten. Ich werde schon Geld verschaffen, ehe die Woche um ist, und dann kriegst du alles. Und Sonnabend abend gehen wir aus und amüsieren uns – in ein richtiges Theater, nicht ins Kino. Sonnabend abend – bis dahin habe ich Geld, so sicher wie nur was.«
Am Freitag kam er abends nicht heim, und Saxon ärgerte sich, denn Maggie Donahue hatte ihr eine Pfanne voll Kartoffeln und zwei Pfund Mehl, die sie vorige Woche geliehen hatte, wiedergebracht, und ein tüchtiges Essen wartete auf ihn. Saxon hielt bis neun Uhr das Feuer im Herd, dann ging sie widerstrebend zu Bett. Sie wäre viel lieber aufgeblieben, bis er kam, aber sie wagte es nicht, denn sie wusste, wie das auf ihn wirkte, wenn er betrunken heimkam.
Es hatte gerade eins geschlagen, als sie die Gartenpforte zuschlagen hörte. Sie hörte ihn – langsam, schwer, auf eine Art, die nichts Gutes verhieß – die Treppe heraufkommen und das Schlüsselloch suchen. Dann trat er ins Schlafzimmer, und sie hörte, wie er sich mit einem tiefen Seufzer setzte. Sie lag ganz still da, denn sie wusste, wie übertrieben empfindlich die Leute wurden, wenn sie betrunken waren, und sie fürchtete sehr, ihn zu verletzen, wenn sie ihn verstehen ließe, dass sie wach gelegen und auf ihn gewartet hätte. Es war nicht leicht. Sie ballte die Fäuste, dass die Nägel ihr ins Fleisch drangen und ihr Körper fast in dem heftigen Bemühen, sich ruhig zu verhalten, erstarrte. Noch nie war er in einer solchen Verfassung heimgekommen.
»Saxon!« rief er mit belegter Stimme. »Saxon!«
Sie reckte sich und gähnte.
»Was ist?« fragte sie.
»Willst du nicht Licht machen? Meine Finger sind wie lauter Daumen.«
Sie tat, wie er sagte, ohne ihn jedoch anzusehen, aber ihre Hände zitterten so heftig, dass der Lampenzylinder klirrend gegen die Kuppel schlug und das Streichholz ausging.
»Ich bin nicht betrunken«, sagte er in der Dunkelheit, und seine heisere Stimme zitterte. »Ich habe nur zwei oder drei Ohrfeigen gekriegt.«
Sie versuchte wieder, die Lampe anzuzünden, und diesmal glückte es. Als sie sich umdrehte, um ihn anzusehen, schrie sie laut auf vor Angst. Obwohl sie seine Stimme gehört hatte und wusste, dass es Billy war, erkannte sie ihn doch im ersten Augenblick nicht. Dies Gesicht hatte sie noch nie gesehen. Geschwollen, zerschlagen war es, als hätte jeder Zug die Ähnlichkeit mit dem Gesicht verloren, das sie so gut kannte. Das eine Auge war vollkommen geschlossen, das andere guckte aus einem schmalen Spalt in dem blutunterlaufenen Fleisch hervor. Es sah aus, als wäre die Haut am einen Ohr fast abgerissen. Das ganze Gesicht war eine blutige, geschwollene Masse, und sein rechter Kinnbacken war doppelt so dick wie der linke. Kein Wunder, dass er belegt spricht, dachte sie, als sie die furchtbar zerschlagenen und geschwollenen Lippen betrachtete, die immer noch bluteten. Sie wurde ganz krank bei dem Anblick, und eine Woge von Zärtlichkeit stieg in ihr auf und trieb sie zu ihm hin. Sie sehnte sich danach, ihn in die Arme zu schließen, ihn zu streicheln und zu liebkosen; aber ihr gesunder Verstand verbot es ihr.
»Mein armer, armer Junge«, rief sie. »Sag mir nur, was ich tun soll. Ich verstehe nichts von diesen Dingen.«
»Wenn du mir nur helfen willst, mich auszuziehen«, sagte er demütig und mit heiserer Stimme. »Ich bin so steif.«
»Und dann warmes Wasser – das wird dir gut tun«, sagte sie und begann vorsichtig, seinen Rockärmel über eine geschwollene, hilflose Hand zu ziehen.
»Ich sagte dir ja, dass sie wie lauter Daumen sind.« Er schnitt ein Gesicht, hob die Hand und schielte darauf, soweit er noch sehen konnte.
»Setz dich«, sagte sie, »setz dich und warte, bis ich Feuer angemacht und das Wasser gewärmt habe. Es dauert nur einen Augenblick. Dann helfe ich dir weiter beim Ausziehen.«
Als sie in der Küche war, konnte sie ihn leise murmeln hören, und noch als sie wiederkam, wiederholte er immer wieder:
»Wir brauchten das Geld, Saxon. Wir brauchten das Geld.«
Sie konnte sehen, dass er nicht betrunken war, und aus seinen unzusammenhängenden Worten wurde ihr klar, dass er Fieber hatte.
»Er war eine Überraschung«, fuhr er in seinen Betrachtungen fort, während sie ihm beim Ausziehen half und allmählich bruchstückweise erfuhr, was geschehen war. »Er war ein unbekannter Boxer aus Chicago. Sie sagten nicht ein Wort vorher. Ja, der Sekretär vom Elite-Club meinte allerdings, dass er mir zu schaffen machen würde. Und ich würde gewonnen haben, wenn ich in Form gewesen wäre. Aber fünfzehn Pfund weniger im Gewicht und kein Training – das ist keine Form. Dazu habe ich auch die letzte Zeit ziemlich viel getrunken, und so konnte ich nicht fest stehen.«
Aber Saxon, die ihm das Hemd auszog, hörte nicht mehr zu. Wie sein Gesicht, so war auch sein prächtiger muskulöser Rücken – sie kannte ihn nicht wieder. Die weiße glatte Haut war zerrissen und blutig. Die meisten der Risse gingen quer über den Körper, einige aber gingen auch von oben nach unten.
»Wo hast du das nur bekommen?« fragte sie.
»Am Seil. Ich war mehrmals am Seil, und der Gedanke macht mich nicht gerade stolz. Nun ja, er hat mir mein Fett gegeben. Aber ich führte ihn doch an. Knock out kriegte er mich nicht. Ich hielt alle zwanzig Runden durch, und ich will dir nur sagen – er hat ein paar abgekriegt, an die er auch denken wird. Aber welche Prügel! Oha, welche Prügel! So etwas hab ich noch nicht erlebt. Den ›Schrecken von Chikago‹ nennen sie ihn, und ich ziehe meinen Hut vor ihm. Er ist ein tüchtiger Kerl. Aber wenn ich in Form gewesen wäre und mehr Luft gehabt hätte, würde ich doch mit ihm fertig geworden sein. Au, au, pass auf. Das ist wie eine Beule!«
Saxon hatte nach seinem Leibriemen gesucht und hatte dabei einen flammendroten Fleck, so groß wie ein Suppenteller, berührt.
»Das kommt von den Nierenschlägen«, erklärte Billy. »Darin war er der reine Teufel. Fast jedes Mal, wenn wir im Clinch waren, stieß er zu, so sicher wie ein Uhrwerk. Es wurde so empfindlich, dass ich dabei direkt zusammenfuhr – bis ich unsicher auf den Beinen wurde und nicht mehr viel von mir wusste. Es ist kein Schlag, der einen erledigt, aber er entkräftet schrecklich, wenn man lange kämpft. Man wird so merkwürdig schlapp davon.«
Saxon hatte Tränen in den Augen, und sie hätte weinen mögen über die Behandlung, die dem Körper ihres schönen, kranken Jungen zuteil geworden war.
Als sie seine Hosen am anderen Ende der Stube aufhängen wollte, hörte sie das Klirren von Geldstücken. Er rief sie zurück und zog eine Handvoll Silber aus der Tasche.
»Wir brauchten das Geld, wir brauchten das Geld«, murmelte er immer wieder, während er versuchte, die Münzen zu zählen, und Saxon wusste, dass er wieder irre redete.
Es schnitt ihr ins Herz, denn sie musste sich der bittern Gedanken erinnern, die in der letzten Woche ihren Glauben an Billy fast niedergerissen hatten. Und schließlich war er ja doch mit seinem ganzen wunderbaren Körper nur ein Junge, ihr Junge. Um ihretwillen, um des Hauses und der Möbel willen, die ihr Haus und ihre Möbel waren, hatte er sich dieser furchtbaren Strafe ausgesetzt. Er sagte es jetzt, als er kaum noch wusste, was er sagte: »Wir brauchten das Geld.« Hier, in seinem halb bewusstlosen Zustand, als die Bande, die seine Seele fesselten, gelöst schienen, trat der Gedanke an sie wieder an die Oberfläche. Wir brauchten das Geld. Wir!
Die Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie sich zu ihm hinabbeugte, und es war ihr, als hätte sie ihn nie so heiß geliebt wie in diesem Augenblick.
»Hier, zähl du das Geld«, sagte er, die anstrengende Arbeit aufgebend, und reichte es ihr. »Wie viel kriegst du heraus?«
»Neunzehn Dollar und fünfunddreißig Cent.«
»Das stimmt – soviel kriegt der Besiegte – zwanzig Dollar. Ich trank ein paar Glas und traktierte auch die anderen, und dann die Straßenbahn. Hätte ich gewonnen, so würde ich hundert gekriegt haben. Dafür hatte ich gekämpft. Dann wären wir jetzt aus dem Dreck heraus – vorläufig jedenfalls. Aber nimm das Geld und behalte es. Es ist doch jedenfalls besser als gar nichts.«
Als er ins Bett kam, konnte er nicht schlafen, so schmerzten ihm alle Glieder, und Stunde auf Stunde war sie um ihn bemüht, legte ihm frische warme Umschläge auf die geschwollenen Stellen und verschaffte ihm Linderung, indem sie die Risse so behutsam wie möglich mit Coldcream einrieb. Und unterdessen schwatzte er, hin und wieder von einem klagenden Stöhnen unterbrochen, und durchlebte wieder den ganzen Kampf, klagte über das Geld, das ihm entgangen war, und grollte über die Kränkung, die sein Stolz erlitten hatte. Denn schlimmer als alles, was er körperlich litt, war die Kränkung, die seinem Stolz zugefügt war.
Schließlich, als der Tag anbrach, schlief Billy ein. Er stöhnte und jammerte, sein Gesicht war von Schmerz verzerrt, und er warf sich hin und her in seinen vergeblichen Versuchen, Ruhe und Linderung zu finden.
Also das ist Boxen, dachte Saxon. Es war viel schlimmer, als sie es sich gedacht hatte. Sie hatte nicht geahnt, dass man mit Boxhandschuhen solchen Schaden anrichten konnte. Er durfte nie wieder boxen. Dann lieber Radau auf der Straße. Sie dachte darüber nach, wie viel von seiner Seide wohl verloren gegangen sein mochte, als er etwas murmelte und die Augen aufschlug.
»Was ist?« fragte sie, aber im selben Augenblick erkannte sie, dass seine Augen nichts sahen, und dass er im Fieber sprach.
»Saxon! – Saxon!« rief er.
»Ja, Billy. Was ist?«
Er tastete mit der Hand dorthin, wo er sie unter normalen Verhältnissen gefunden hätte.
Dann rief er sie wieder, und sie rief ihm ins Ohr, dass sie bei ihm wäre. Er seufzte erleichtert und murmelte mit gebrochener Stimme:
»Ich musste es tun – wir brauchten das Geld.«
Er schloss die Augen und schlief jetzt ruhiger, wenn er auch immer noch im Schlafe murmelte. Sie hatte von Gehirnerschütterungen gehört und war sehr ängstlich. Da fiel ihr ein, dass er ihr erzählt hatte, Billy Murphy hätte ihm Eis auf den Nacken gelegt.
Sie warf einen Schal über und lief in die Wirtschaft an der Ecke. Der Kellner hatte gerade aufgemacht und fegte aus. Er gab ihr soviel Eis, wie sie tragen konnte, und zerhieb es ihr in kleine Stücke. Als sie zurückkam, legte sie Billy das Eis in den Nacken und ein warmes Plätteisen unter die Füße und rieb ihm das Gesicht mit Coldcream, die sie auf Eis gelegt hatte, um sie abzukühlen.
Er schlief bei heruntergelassenen Gardinen bis spät am Nachmittag, dann aber wollte er zu Saxons großer Sorge aufstehen.
»Ich muss mich zeigen«, erklärte er. »Ich will nicht, dass sie mich auslachen.«
Sie half ihm beim Anziehen, was ihm furchtbare Qualen verursachte, und in furchtbaren Qualen verließ er sein Heim, damit die Männer, die seine Welt ausmachten, mit eigenen Augen sehen konnten, dass die Prügel, die er gekriegt hatte, ihn nicht ans Bett zu fesseln vermochten.
Es war ein anderer Stolz als der eines Weibes, und Saxon musste darüber nachdenken, ob er deshalb weniger bewundernswert war.
*
In den folgenden Tagen gingen die Schwellungen an Billys Körper mit erstaunlicher Schnelligkeit zurück. Dass die Risse so schnell heilten, bewies, wie gesund sein Blut war. Das einzige, was noch blieb, waren die »blauen Augen«, die doppelt auffielen in einem so hellen Gesicht wie dem seinen. Es dauerte vierzehn Tage, bis die Umgebung seiner Augen ihre normale Farbe wieder annahm, und in diesen vierzehn Tagen traten verschiedene bedeutungsvolle Begebenheiten ein.
Otto Frank wurde in größter Eile verhört, und, nachdem er von einer, hauptsächlich aus Geschäftsleuten und Angestellten bestehenden Jury für schuldig erklärt worden war, zum Tode verurteilt und nach San Quentin geschafft, wo die Hinrichtung erfolgte.
Der Prozess gegen Chester Johnson und die vierzehn anderen hatte längere Zeit gedauert, war aber auch vor Ablauf der vierzehn Tage beendet. Chester Johnson wurde zum Tode verurteilt, zwei erhielten lebenslängliches Zuchthaus, drei je zwanzig Jahre. Nur zwei wurden freigesprochen, die anderen sieben erhielten je zwei bis sieben Jahre.
Diese Entscheidung versenkte Saxon in tiefe Melancholie. Billy ging es auch nahe, aber sein Kampfeifer war nicht unterdrückt.
»In einer Schlacht sterben immer welche«, sagte er. »Darauf muss man gefasst sein. Aber die Art, wie sie abgeurteilt werden, kann ich nicht in den Kopf kriegen. Sie waren doch alle verantwortlich für die Mordtaten, die schuldig Erklärten genau wie die anderen. Oder es war keiner verantwortlich. Waren sie es aber alle, so hätten sie doch alle verurteilt werden müssen. Sie mussten alle gehängt werden wie Chester Johnson, oder es durfte keiner gehängt werden.«
»Ich habe so oft mit Chester Johnson getanzt«, sagte Saxon. »Und ich habe seine Frau, Kittie Brady, vor vielen, vielen Jahren gekannt. Sie saß neben mir in der Kartonagenfabrik. Sie erwartet auch ein Kind. Sie war sehr hübsch und hatte immer eine ganze Schar junger Burschen hinter sich her.«
Die Wirkung, die die harten Urteile auf die Gewerkschaftler ausübten, war sehr ungünstig. Statt ihren Mut zu knicken, machten sie sie nur noch erbitterter. Billys Reue über den Boxkampf und alles Gute und Liebe, das in den Tagen, als Saxon ihn pflegte, bei ihm zum Vorschein gekommen war, war jetzt wie ausgetauscht. Zu Hause brütete er über seinen finsteren Gedanken, und wenn er sprach, tat er es im selben Geist, wie Bert in den letzten Tagen gesprochen hatte, ehe er, der brave Mohikaner, starb. Er war auch länger fort und trank jetzt wieder anhaltend.
Saxon wollte schon alle Hoffnung aufgeben. Sie war schon fast auf die unvermeidliche Tragödie vorbereitet, die ihre krankhaft gereizte Fantasie ihr unter tausend Formen vorgaukelte. Meistens stellte sie sich vor, dass man ihr Billy auf einer Bahre heimbrachte, oder sie wurde ans Telefon beim Krämer an der Ecke gerufen und hörte eine fremde Stimme, die ihr kurz mitteilte, dass ihr Mann ins Hospital oder ins Leichenschauhaus gebracht wäre. Und als die mystischen Vergiftungen von Pferden vorkamen und einem der großen Fuhrleute sein Haus von Dynamit halb zerstört wurde, sah sie Billy im Zuchthaus oder in der gestreiften Gefängnistracht oder auf dem Schafott in San Quentin, während sie gleichzeitig das kleine Haus in der Pine Street von Zeitungsreportern und Fotografen belagert sah.
Und doch hatte sie sich in ihrer lebhaften Fantasie die Katastrophe nicht in der Gestalt vorgestellt, in der sie schließlich eintraf. Harmon, der Heizer, der bei ihnen wohnte, war, als er sich zur Arbeit begeben wollte, in der Küche stehengeblieben, um Saxon von einem Eisenbahnzusammenstoß in den Alviso-Sümpfen zu erzählen. Als er die Erzählung fast beendet hatte, kam Billy, und aus der dunklen Glut in den Augen unter den schweren Lidern konnte Saxon sehen, dass er zu viel getrunken hatte. Er warf Harmon einen gereizten Blick zu und stellte sich, ohne ihn oder Saxon zu begrüßen, an die Wand.
Harmon fühlte das Drückende der Situation und versuchte zu tun, als bemerke er nichts.
»Ich erzählte Ihrer Frau gerade –«, begann er, aber Billy unterbrach ihn wütend.
»Es ist mir gleichgültig, was Sie ihr erzählten. Aber ich will Ihnen etwas sagen. Meine Frau hat Ihnen Ihr Bett viel öfter gemacht, als mir gefällt.«
»Billy!« rief Saxon, von Zorn und Kränkung flammend.
Billy tat, als hörte er sie gar nicht. Harmon sagte:
»Ich verstehe nicht –«
»Nun ja, ich kann Ihre Fratze nicht ausstehen«, erklärte Billy. »Machen Sie, dass Sie wegkommen! Hinaus! Verstanden?«
»Ich weiß nicht, was mit ihm ist«, sagte Saxon schnell und atemlos zu dem Heizer. »Er ist nicht bei Sinnen. Ach, wie ich mich schäme, ach, wie ich mich schäme.«
Billy wandte sich zu ihr.
»Willst du gefälligst das Maul halten! Es geht dich gar nichts an.«
»Aber Billy!« wandte sie ein.