Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende

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„Bitte für das werte Kommando vorbereiten“, brachte er sein Anliegen vor, als er vor den Gelehrten hintrat.

„Natürlich. Dauert ein halbes Glas.“

Der Gelehrte war freundlich, das musste man ihm lassen. Irwin setzte sich in sicheren drei Schritt Entfernung auf den Boden und beobachtete, wie Lefnui behutsam in der Flüssigkeit herumrührte. Dann schüttete er irgendetwas hinein. Und schließlich hieß es Warten, was Irwin nur recht war. Leider war das Warten irgendwann zu Ende.

Lefnui überreichte ihm das Behältnis, als handelte es sich dabei um den Reichsapfel des albischen Königshauses. „Geht behutsam damit um“, bat er flehentlich. Irwin hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den Behälter so anzufassen, dass es möglichst wenig Berührungsfläche zwischen dem Glas und seinen Händen gab. Wer wusste schon, ob das Ding hielt, was es versprach.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machte er sich auf den Weg zu Darcean und dem Rest des Kommandos. Schnell, schnell, weg mit dem Vieh! Den Slarpon so weit wie möglich von seinem Körper weghaltend galoppierte er Richtung Kommandolager, wo er umgehend Siralen ansteuerte. Als er über die Schulter lugte, sah er Lefnui, der ihm eiligst folgte.

„Ich habe, was Ihr wolltet …“, rief er nach vorne. Dann … seine Zehen! Wo …

Irwin stolperte. Im Fallen hoffte er noch darauf, dass Garan Lefnui ihn auffangen würde, doch anscheinend war der Gelehrte zurückgefallen. Stattdessen sprang Darcean auf und griff nach ihm. Zu spät! Das Glasbehältnis rutschte ihm aus den Fingern, kippte und fiel. Es krachte auf den Felsboden und zersprang in tausend Scherben. Noch während Irwin zu Boden ging wie ein geschlagener Held, sah er, wie der Slarpon auf einer kleinen Welle aus dem Glas schwappte, wie sein langer, ekelhafter Schwanz wie wild zu zucken begann und das Vieh richtig schnell wurde. Zu seinem Glück reagierte der Slarpon nicht auf ihn, sondern auf Darcean. Zu seinem Pech hatte sein Glück weitreichende Konsequenzen. Zu aller Leute Entsetzen geschah genau das, was man bei einem Slarpon, der unter erheblichem Stress stand, annehmen musste. Er suchte nach einem Wirt, der ihn vor dem Tod bewahrte. Und dieser Wirt hieß Darcean Dahoccu.

Noch ehe der Elf seine Hände zurückziehen konnte, schoss das Tier seinen schlanken Körper hoch, schlang ihm den Schwanz um den Hals und ließ die Spitze unter seinen Kragen zucken. Was danach kam, wusste man, wenn man beim Slarponunterricht achtgegeben hatte. Überraschenderweise hatte Irwin das. Das Vieh verband sich mit Hilfe seines Schwanzes und den darauf befindlichen feinen Härchen mit Darceans Rückgrat. Es war eine so gewaltsame Übernahme, dass der Elf aufstöhnte und auf die Knie fiel. Drei Herzschläge lang starrten ihn alle an. Auch der bleichgewordene Lefnui, der endlich auch am Ort des Geschehens eingetroffen war.

„Ihr gedankenloser, selbstherrlicher, völlig verblödeter Albi!“

Es war Siralen, die tobte. Und eines gab Irwin zu denken: Die Elfe tobte nicht, nie.

Siralen war hundemüde. Die magischen Heiler hatten sich gerade um ihre schweren Verletzungen gekümmert, und sie erholte sich langsam von dem Schock der unerwartet aufgetauchten Wesen der Zwischenwelt, die sich (zum Entsetzen aller, die noch nicht völlig verroht waren) auch noch an den halbtoten Soldaten vergriffen hatten. Und nun? Nun war vor ihren Augen das passiert, womit keiner rechnen konnte. Darcean starb nicht durch die Klinge des Feindes, sondern durch die Narretei eines Verbündeten, der sich betrug wie ein Kleinkind. Nach qualvoller Inbesitznahme durch einen Parasiten, der danach trachtete, seine Eier in ihm abzulegen. Ihr Herzensfreund würde sterben.

Siralen kämpfte sich wie Chara auf die Füße. Während die Assassinin Irwin packte und auf die Füße riss, hockte sie sich vor Darcean und nahm seine Hände.

„Dahenecra! Tilve bihelain anan Amja anliu“, flüsterte sie und spürte, wie sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel stahl.

Darcean schluckte, kämpfte gegen das Entsetzen an, das sein Gesicht in eine seltsame Starre gezwungen hatte, und siegte. „Chan nea, Siralen.“ Seine Züge entspannten sich. „Es ist gut. Der Weltgeist hat entschieden. So sei es denn“, fügte er auf Aschranisch hinzu.

Oh guter, weiser Darcean!

Langsam erhob er sich und zog Siralen mit auf die Füße. Er griff nach dem glitschigen Schwanz, der sich schlingengleich um seinen Hals gelegt hatte, und sah, dass der Slarpon sein einziges Auge geschlossen hielt. Ein Blick zu Lefnui und ein stummes Kopfschütteln des Gelehrten bestätigte ihm seine Befürchtungen: Das Vieh würde sich nicht wieder abnehmen lassen.

„Dann werde ich wohl mit dir leben und sterben müssen“, flüsterte Darcean. „Ich hoffe, dein Dasein hat eine Berechtigung, die mir noch nicht offenbar ist. Denn wenn sich dein Nutzen darauf beschränkt, uns lediglich als Übersetzer zu dienen, wäre mein Opfer blanker Hohn.“

Siralen fuhr zu Irwin herum. „Was habt Ihr Euch eigentlich dabei gedacht, mit diesem unhandlichen Gefäß über Stock und Stein zu laufen wie ein Verrückter, und keinen Gedanken an Eure und unsere Sicherheit zu verschwenden? Als hätten wir nicht auch ohne Euch genug Probleme. Wieso nur seid Ihr ein so unsäglich impertinenter Albi!“

Irwin stand mit zittrigen Knien neben Chara, die ihn zwar am Kragen gepackt hatte, aber nicht so aussah, als würde sie mit ihm ins Gericht gehen wollen. Vielmehr hatte es den Anschein, als helfe sie ihm dabei, die Haltung zu bewahren.

„Ich … es tut mir …“

„Verschwindet! Geht mir aus den Augen.“ Siralen wandte sich ab und griff erneut nach Darceans Hand. „Wir sprechen jetzt mit einem Heiler.“

„Der wird Euch nicht helfen können“, bemerkte Lefnui mit zittriger Stimme.

Chara ließ Irwin los und gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er besser daran tat, Land zu gewinnen.

„Kann sein, dass ein Heiler hier am Ende ist. Wir sind es noch nicht. Wir bekommen das Ding von dir runter, Darcean. Ohne, dass du dabei draufgehst.“

Der Barde schlug einen großen Bogen um Siralen und Darcean und trottete wie ein begossener Pudel von dannen. Chara setzte sich wieder auf ihr Lager und machte es sich bequem. „Wir sollten uns mit dem Brigadier besprechen und danach eine Weile schlafen. Weiß jemand, wo Lindawen ist?“

Siralen schüttelte den Kopf. Als hätte ihr der Lichtjäger je gesagt, wohin er wann ging. Sie hatte das Gefühl, Lindawen verschloss sich ihr, und auch anderen, mehr denn je. Vielleicht, weil Chara mehr denn je auf Abstand ging. Jedenfalls in letzter Zeit.

„Du willst mir helfen?“, fragte Darcean. Er musterte Chara argwöhnisch. „Weißt du wie?“

Chara zuckte mit den Schultern. „Noch nicht. Aber es gibt eine Lösung. Irgendeine gibt es immer.“

„Und wie sieht dein Motiv aus?“

Ein halbfertiges Lächeln. „Vielleicht kann ich damit eine alte Schuld begleichen.“

Wohl wahr! Chara hatte Darcean mit dem Tode gedroht, sollte er das kleine Geheimnis über die Schwarzen Assassinen ausplaudern. Und dabei war ihr eigenes Verfehlen der Grund dafür gewesen, dass Darcean überhaupt davon erfahren hatte.

Siralen beobachtete Darcean von der Seite. Ihr Freund schwieg, schien darüber nachzudenken, ob er Chara vertrauen sollte – wenigstens in dieser Angelegenheit. Dann nickte er und sein Blick wurde einen Deut wärmer. Fast sah es aus, als gäbe es zum ersten Mal eine Art Brückenschlag zwischen dem elfischen Druiden und der menschlichen Assassinin.

Es war noch dunkel. Sie wusste, sie hatte kurz geschlafen. Jetzt war sie wach. Die Erschütterungen, die sie spürte, nahm sie nur am Rande wahr. Ihr dröhnte der Schädel, und die Wüstengegend, durch die sie hindurchglitt, als würde sie schweben, wackelte bedrohlich. Als hätte sie einen ganzen Eimer Jhu-Ju geraucht und keine Kontrolle über die Bilder in ihrem Kopf. Was passierte hier gerade mit ihr? Wieso bewegte sie sich? Träumte sie noch?

Sie bewegte sich durch die Nacht, eindeutig. Aber sie befand sich in der Waagrechten, und ihr Kopf hing seltsam nach unten. Ihr Genick schmerzte. Ihre Augenlider waren zu schwer, um sie lange offen zu halten, wie kleine, wulstige Sandsäckchen. Die Eindrücke der Umgebung zuckten wie nächtliche Blitzlichter in ihren Verstand. Sand, Düne, Stein, Düne, Düne, Stein …

Es war anstrengend, den Kopf zu heben. Und unsäglich befremdlich, was sie zu Gesicht bekam, als sie es doch schaffte. Vor ihren Augen wuchs ein menschlicher, nackter Torso in den Himmel. Zu massiv, um tatsächlich einem Menschen zu gehören … Darum war Chara auch schnell klar, was sich unterhalb der Taille befand.

Sie wurde von einem Scorpio getragen. Sie lag in den Armen eines riesigen Insektenmenschen, der sie vor seiner Brust trug, als wöge sie nicht mehr als ein Kind. Und sie konnte sich deshalb nicht bewegen, weil sie gefesselt war. Die Scorpios hatten sie offensichtlich bewusstlos geschlagen, gefesselt und aus dem Allianzlager gestohlen. Was nicht allzu schwer gewesen sein dürfte. Sie hatte zusammen mit Siralen und Irwin, der den restlichen Abend nicht von ihrer Seite gewichen war, am Rande des Felsplateaus geschlafen.

Chara versuchte, einen Blick hinter sich und ihren Entführer zu werfen, und erspähte weitere Skorpionmenschen. Mindestens einer davon trug ebenfalls ein verschnürtes Bündel in den Armen. Und wenn sie nicht ganz daneben lag, hieß das Bündel Siralen. Die Elfe trug noch immer den Slarpon, den sie nach Darceans Unfall ohne lange nachzudenken angelegt hatte, um erneut mit dem Feind Kontakt aufzunehmen. Lefnui hatte den nötigen Weitblick gehabt, um zwei der Tiere mitzunehmen. Sie hatten sich allerdings dazu entschlossen, mit der Kontaktaufnahme bis zum nächsten Morgen zu warten. Und da jedes neue Anlegen des Slarpons Risiken barg, schlief Siralen einfach mit dem Tier auf ihrer Schulter.

 

Konsequenzanalyse: Man hatte also mindestens zwei Kommandanten der Allianzflotte entführt. Warum? Doch nicht, weil man die Fremden, die ihr Land in Besitz genommen hatten, auslöschen wollte. Die Scorpios waren neugierig geworden, vielleicht wegen der MacDragul, vielleicht wegen etwas anderem. Aber eines war sicher – man hatte sie nicht entführt, um sie zu töten. Man wollte mit ihnen reden. Und sie möglicherweise danach töten. Aber das war zumindest eine Gelegenheit, eine neue Tür, eine unvorhergesehene Wende nach einer Schlacht mit entmutigend blutigem Ausgang.

Chara richtete ihr Augenmerk erneut auf „ihren“ Scorpio. Er beachtete sie gar nicht, blickte stur gerade aus. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass sie wach war. Und wenn doch, stellte sie keine Gefahr für ihn dar. Gefährlich waren nur die MacDragul – für ihn, sein Volk. Wesen, die sich vom Blut der Menschen ernährten und mehr tot als lebendig waren … Und Siki, ihr Siki, ihr Dad Siki Na, der nun Geschichte war.

Lomond … Der Name war noch immer wie ein Alarmsignal, das zugleich eine tiefe Sehnsucht in ihr weckte. Und irgendetwas sagte ihr, dass sie nur nach dem MacDragul rufen müsste, um ihn auf den Plan zu bringen Vielleicht war das aber auch nur eine dieser Fantasien …

Egal. Würde er kommen, um sie und Siralen zu retten, wäre ihre Gelegenheit auf eine Unterredung mit den wohl attraktivsten potentiellen Verbündeten dahin. Dann konnten sie nur noch darauf hoffen, mit ihrem Leben davonzukommen. Und diese Mission war noch lange nicht erfüllt.

Hier in El’Chan herrschten nicht die MacDragul und nicht die Goygoa. Hier herrschten Wesen, halb Mensch, halb Skorpion. Krieger, wie die Allianz sie sich nur wünschen konnte.

Was hatte ihnen der Großkönig der Fischmenschen auf dem Grund des Meeres gesagt – über die Bewohner des südlichen Kontinents? Sie wären primitiv und würden ES nicht erkennen. Aber sie wären auch äußerst robust. Die Beschreibung traf für Charas Dafürhalten zumindest auf die Scorpios zu. Und die Schwarzen Assassinen? Es gab immer noch das Seemannsgarn über „verbrannte Menschen im Süden“. Al’Jebal hatte ihnen von ebendiesen erzählt. Und er hatte ihnen erzählt, dass er einige davon angeblich in einer Höhle in Aschran gefunden und zu seinen Schwarzen Assassinen ausgebildet hatte. Chara hatte den Kontinent nicht umsonst nach dem Obersten der Schwarzen Assassinen El’Chan benannt.

Die Scorpios und die Schwarzen Assassinen – beide Wesen waren hier am südlichsten Punkt der Welt beheimatet, sprich, auf ein und demselben Kontinent. Eines der beiden Wesen hatte Angst vor dem anderen. Vielleicht traf das auch auf das andere zu. Folglich waren sie einander Feind. So jedenfalls die Theorie.

Wieder gefangen

Als Siralen die Augen aufschlug, lag sie in einem unbefriedigenden Schatten, der nur von einer Zeltplane herrühren konnte, niemals aber von einem Baum oder Felsen. Unter ihr eine unbequeme, sandige Unterlage, auf ihren Schultern ein widerlich glitschiges Objekt und um sie herum ein unangenehmer Geruch, der ihr in die Nase stieß wie faule Eier.

Siralen rieb sich die Augen und schärfte ihren Blick. MacOsborn. Er lag unweit von ihr und hatte … nun, der Geruch sprach Bände. So sehr es sie auch grämte, diese Wahrheit zu akzeptieren, er hatte offenbar seinen Darm entleert. Akut, nicht etwa kontrolliert, wie man es von einem erwachsenen Mann hätte erwarten können. Siralen ahnte, wo sie sich befanden. Und das schickte auch durch ihren Bauch ein nervöses Beißen. Die Scorpios hatten sie verschleppt. Sie befanden sich in einem riesigen Zelt mitten in der Wüste in einem feindlichen Lager. Das Zelt war gewiss an die sechs Schritt hoch, sodass selbst ein Skorpionmensch der ihnen bekannten Größe genug Platz hatte, sich darin frei zu bewegen.

Siralen setzte sich auf, schob den Slarpon zur Seite und blickte sich um … Chara. Offensichtlich hatten sich die Scorpios jene Leute herausgepickt, die mit ihnen vor der Schlacht zu verhandeln versucht hatten. Abgesehen von Irwin, der nur zufällig bei ihnen gelegen hatte. Zum ersten Mal seit Siralen Chara kannte, war die Assassinin ohne ihre Leibwachen vom Stamm der Goygoa. Wie ihr das wohl bekam?

Wieso sind wir hier?

Chara hatte Schangra erwähnt. Damit wusste sie, aus Perspektive der Scorpios, möglicherweise etwas, das einer weiteren Nachforschung bedurfte. Jetzt saß die Assassinin mit dem Gesicht zum Zelteingang im Sand, die Arme auf die angezogenen Knie gestützt und schwer in Gedanken versunken.

„Nachdem wir nicht gefesselt sind, nehme ich an, wir werden bewacht“, bemerkte Siralen. MacOsborn stieß ein leises Wimmern aus.

„Da hast du recht“, erwiderte Chara, ohne sich umzudrehen. „Von einem großen Schwarzen. Er steht vor unserem Zelt.“

Siralen nickte und erhob sich. Ihre Beine fühlten sich wie Stelzen an. Sie hatte sich zu lange nicht bewegt. Vorsichtig testete sie die Geschmeidigkeit ihrer Fußgelenke, indem sie auf- und abwippte. Sie meinte, ein leises Knirschen zu hören.

„Was, denkst du, haben sie mit uns vor?“

„Zuerst herausfinden, was es mit uns auf sich hat. Dann beseitigen.“ Chara drehte sich um und lächelte schief. „Ich schätze, sie werden nichts erfahren, was sie dazu veranlassen wird, Gnade walten zu lassen. Es sei denn wir finden heraus, was ein Volk wie ihres wirklich interessiert.“

„Dann lass uns gemeinsam darüber nachdenken.“

„Ich fürchte, wir müssen sie erst beobachten und studieren.“

„Das hieße dann ja, erst handeln, wenn wir uns bereits in tödlicher Gefahr befinden.“

„Genau.“

Siralen lächelte schwach. „Warum muss deine Version eines Plans immer ein tödliches Risiko bergen?“

„Weil die Praxis nun mal riskant ist. Das Problem ist, dass zu viele denken, die risikofreie Theorie hielte der Praxis stand.“

Siralen hockte sich neben den Barden und rümpfte die Nase. „Das gefällt mir nicht.“

„Sei nicht so streng mit ihm. Er hatte einiges zu verdauen.“

„Ich meinte deinen Plan, Chara.“

„Ach so.“

Irwins Augen öffneten sich kurz und schlossen sich dann gleich wieder.

„Er stellt sich schlafend.“

„Wenn es ihm dann besser geht …“ Chara stand ruckartig auf. „Wir bekommen Besuch.“

Siralen ließ den Barden Barden sein und spähte zum Zelteingang. Ein leises Rasseln war zu hören. Dann wurde die Plane zur Seite gerissen und ein roter Scorpio zeichnete sich in gewaltiger Präsenz vor dem einfallenden Sonnenlicht ab. Dahinter waren die Schatten einiger großer Schwarzer zu erkennen.

Wieder erklang der seltsam rasselnde Laut. Leider konnte Siralen nichts verstehen. Was sie auch sofort deutlich machte, indem sie hilfesuchend die Schultern und Hände hob. Dann deutete sie auf den Slarpon. Es folgten weitere Rassel- und Zischlaute. Und endlich wurde die Kreatur auf ihrer Schulter rege und begann zu übersetzen – in ihrem Kopf, ihren Gedanken.

„Wasss wollt ihr?“, kam die Frage, die unangenehm vertraut in ihren Ohren widerhallte. Das letzte Mal hatte sie ein nicht gerade erbauliches Gespräch eingeläutet. Indes, der Inhalt der Frage materialisierte sich auf faszinierende Weise in ihrem Geist. Wie eine Art ganzheitlicher Ein- oder Abdruck, der sich aus Bild, Ton und Empfindung speiste. Der Slarpon selbst mochte grausig sein, seine Veranschaulichung fremder Gedanken und Worte war wundersam und faszinierend.

„Wir suchen Verbündete für den Krieg in unserer Heimat“, erwiderte sie und entschloss sich, keine großen Reden zu schwingen.

Chara trat einen Schritt auf den Roten zu. „Was hat er gesagt?“

„Er wollte wissen, was wir wollen.“

„Wer ssseid ihr?“ Und weiter ging es in ähnlicher Manier wie am Grunde des Ozeans beim Großkönig der Fischmenschen.

„Wir kommen aus einer Welt jenseits des großen Sturms. Ich bin vom Volk der Elfen und Chara …“

„Tisssahnen.“

„Wie bitte?“

Das Gesicht des Scorpios verzog sich zu einem verächtlichen Ausdruck. „Ssseid ihr Tisssahnen oder deren Abkömmlinge?“

Siralen holte tief Luft und übersetzte für Chara.

„Wovon redet er?“, kam die erwartete Frage.

„Mache ich etwa den Eindruck, als hätte ich ihn verstanden?“

„Ihr Elfen macht häufiger den Eindruck, als hättet ihr nichts verstanden. Und doch begreift ihr mehr, als man meinen könnte.“

Siralen hätte Chara ein, zwei Wörtchen Ilf beigebracht, wenn sie nicht in einer derart prekären Situation gewesen wären.

„Ihr sssucht Helfer?“, zischte der Rote und beantwortete sich seine Frage selbst: „Dann ssseid ihr keine Tisssahnen.“

„Was sind Tisssahnen?“, fragte Siralen und versuchte, das Wort möglichst so auszusprechen, wie der Scorpio es in ihrem Kopf hinterließ.

Wieder war da dieser verächtliche Ausdruck auf seinem Gesicht. Aber da war auch etwas, das aussah wie Respekt, was bei einem Wesen wie diesem nicht unbedingt zu erwarten war.

„Mächtige Wesssen auf zssswei Beinen. Wesssen, die keine Hilfe von anderen Wesssen brauchen.“

Siralen hatte das Gefühl, als würde eine Erkenntnis zaghaft an die Tür ihres Verstandes klopfen, sich aber nicht durchsetzen können.

„Ihr riecht andersss. Ihr ssseid ein ssschwacher Abklatsssch der Tisssahnen“, meldete sich der Rote erneut zu Wort. „Ihr habt keine Macht.“

Das schien ein Standardspruch jenseits des Großen Abgrunds zu sein. Resigniert übersetzte Siralen für Chara.

„Wer genau von uns hat keine Macht?“, wollte die Assassinin wissen, und Siralen gab die Frage vorsichtig weiter.

„Niemand. Am Allerwenigsssten die, die die Umgebung mit den bloßssen Gedanken verändern können.“

„Er meint die Zauberkundigen“, seufzte Siralen. Sie fühlte schon jetzt, wie sie das Gespräch zermürbte. Wieso war nichts je einfach?

Der Rote kniff die Augen zusammen – als wollte er seinen Worten einen besonderen Nachdruck verleihen. „Nur eure Metall-Krieger sssind ssstark.“

„Na, immerhin haben die MacDragul Eindruck gemacht“, bemerkte Chara, nachdem Siralen die Übersetzung wiedergegeben hatte. „Womit wir beim ersten Punkt sind, der sie interessieren könnte. Das sind Kämpfer, keine Denker. Was die interessiert sind andere Kämpfer, die eine Bedrohung für sie und ihr Herrschaftsgebiet darstellen könnten.“

Siralen nickte. Ein Segen, dass Chara nicht verstanden wurde. So konnte wenigsten sie sagen, was sie dachte. Vielleicht kamen sie ja auf diese Weise zu einer Lösung.

„Ssschangra“, zischte der Scorpio. Dann folgte die eigentliche Frage: „Woher kennt ihr ihn?“

„Sag es ihm“, drängte Chara, als Siralen seine Frage wiederholt hatte.

„Er war in unserer Heimat. Er kämpfte an unserer Seite gegen unseren Feind.“

Die Zeltplane schwang zur Seite und einer der braunen Scorpios betrat den Eingangsbereich. Er war etwas größer als der Rote, aber kleiner als die Schwarzen. Und er sagte nichts, tat nichts. Der Rote setzte das Gespräch fort, als wäre nichts gewesen.

„Wo issst er?“

„Er wurde krank“, gab Siralen zu. „Und starb. Es tut uns leid.“

„Nein, tut es nicht“, bemerkte Chara. „Behaupte nichts, das schwach wirkt.“

„Wieso sollte Mitgefühl eine Schwäche sein?“

„Mitleid ist eine Schwäche. Jedenfalls in ihren Augen.“

Siralen blies sich entnervt eine ihrer kinnlangen Strähnen aus dem Gesicht. „Vielleicht bin ich nicht die Richtige, um …“

Sie spähte zu dem roten Scorpio zurück, der sie und Chara beobachtete, als müsste er ihre Bedeutsamkeit einer eingehenden Prüfung unterziehen. Noch fiel sein Urteil ganz eindeutig ernüchternd aus: Unbrauchbar.

„Wiessso kämpfte er an eurer Ssseite?“, wollte er wissen.

„Weil unsere Seite für die Rettung der Welt kämpft, und die andere für deren Zerstörung“, antwortete Siralen.

Eine Weile fiel kein Wort. Die beiden Scorpios starrten sie nur an. Dann stieß Irwin erneut ein leises Wimmern aus, das sogar für diese fremden Wesen als ein Ausdruck der Angst zu interpretieren war. Was, so stand zu befürchten, nicht unbedingt auf Wohlwollen traf.

„Wie sssah er ausss?“

Siralen sah den Roten unschlüssig an.

„Welche Farbe hatte er?“

Ach das! Leider wusste sie darauf keine Antwort und schwieg. Der Rote schien das ebenfalls bedauerlich zu finden. Und damit wusste er vermutlich alles, was er wissen wollte. Doch offensichtlich war er noch nicht fertig mit ihnen.

„Wiessso sind Blaksss unter euch?“, zischte er bedrohlich.

„Ich verstehe nicht …“

„Was sagt er?“, drängte Chara.

 

„Ich versuche, mich hier zu konzentrieren, Chara. Würdest du bitte …“

„Wiederhol’s einfach.“

Siralen stöhnte auf. „Er will wissen, weshalb Blaksss unter uns sind.“ Sie betonte das Zischen am Ende des Wortes mehr als nötig. „Und behaupte jetzt nicht, du weißt, wen oder was er damit meint.“

„Weiß ich nicht.“

„Würdest du mich dann bitte meine Arbeit machen lassen?“

Chara hob beschwichtigend die Hände und begnügte sich wieder damit, die beiden riesigen Wesen zu observieren.

„Wie macht ihr esss, dasss sssie euch folgen? Wie kontrolliert ihr sssie?“

Siralen entschloss sich, ehrlich zu bleiben. „Wen meint ihr?“

„Die Ssschwarzen. Die, die ssschneller und ssstärker sssind alsss ihr, aber langsssamer als die Metall-Krieger.“

Jetzt fiel die Münze. Siralen übersetzte schnell für Chara und hoffte darauf, dass sie eine adäquate Antwort wusste.

„Sie folgen dem, für den wir kämpfen“, sagte Chara. „Sie folgen dem, der uns hierhergeschickt hat. Nicht wir, er kontrolliert sie.“

Eine Weile musterte der Rote Chara, nachdem Siralen ihre Worte weitergegeben hatte. In seinem ehernen, aber dennoch menschlichen Gesicht spielte sich ein skurriler Wechsel von plötzlichem Verstehen und flammendem Zorn ab. Was genau er verstanden hatte, war freilich nicht auszumachen. Weshalb er zornig war, ebensowenig. Schließlich wurden seine Züge weicher und mit einem Mal sah es aus, als würde sich ein undefinierbarer Schmerz in sein Gesicht graben. Die Metamorphose war befremdlich, beängstigend unerwartet.

Durch den Schlitz in der Zeltplane brachen die Strahlen der Sonne und warfen die riesigen Schatten der beiden mächtigen Wesen an die rückwärtige Zeltplane. Sachte zupfte der Wind an dem Leinen. Es knisterte, dann wurde es wieder still. Irwin zuckte in gekünsteltem Schlaf.

„Issst er ein Tisssahne?“, fragte der Rote leise.

Siralen sah ihn verständnislos an, übersetzte aber für Chara.

„Thanatane“, flüsterte Chara. „Tisssahne heißt Thanatane.“

„Nein, das ist er nicht“, erwiderte Siralen auf die Frage des Scorpios und sah aus dem Augenwinkel, wie Chara nachdenklich die Stirn runzelte. Oder etwa doch?

Der Scorpio wechselte mit seinem braunen Gefährten erneut Blicke. Schließlich, als hätten sie sich in stummer Übereinkunft zum Rückzug entschieden, drehten sich die beiden um, verließen den Zelteingang und rückten mitsamt ihrer Eskorte aus schwarzen Wüstenkriegern ab. Nur zwei Wachen blieben neben dem Zelteingang zurück.

Irwin MacOsborn richtete sich auf und inspizierte mit angewidertem Gesicht seine Beinkleider. Siralen ließ sich in den Sand fallen und zog die Knie an. „Wasser“, sagte sie. „Ich hoffe, sie denken daran, dass wir Wasser brauchen.“

„Das hoffen wir alle“, jammerte der Barde. „Meine Hosen müssen unbedingt gewaschen werden.“

„Nicht dafür, MacOsborn“, stöhnte Siralen. „Wir verdursten hier, wenn die Scorpios uns kein Wasser bringen.“

Irwin sah sie hilflos an. „Aber ich kann doch nicht in diesen vollgesch….“

„Verschont uns!“

Die Hoffnungslosigkeit, die mit der ersten Meldung über die unbekannten Wesen, die den Stützpunkt am Strand angegriffen hatten, aufgekommen war, verdichtete sich mit jedem Moment, da sie hier waren. Als würde eine Weberin emsig die Fäden eines zu locker gewobenen Teppichs straffen. Zuerst der Verlust der vielen Männer im Hauptlager, dann die Meuterei der Landstreitkräfte unter dem Brigadier, der Tod des Brigadiers als Folge des Aufstandes, die zahllosen Toten und die Niederlage im Wüstenkessel. Darceans Schicksal durch Irwins Versagen. Und nun waren sie Gefangene im Lager der undiplomatischsten Wesen, die Siralen je zu Gesicht bekommen hatte, wenn man von den Fischmenschen mal absah. Die Scorpios erschienen ihr wir die Verkörperung des Knöchernen, des Wort- und Verständnislosen. Damit hatte eine Diplomatin hier nichts zu sagen. Und Siralen war sehr bewusst, dass ihr die Diplomatie immer mehr zu eigen wurde, während ihr der Kampfgeist, den sie irgendwann vielleicht gehabt hatte, zusehends verloren ging. Was also konnte sie hier tun, abgesehen davon, auf den Tod zu warten? Aber wenn sie schon sterben musste, wollte sie es auf keinen Fall, ohne noch ein letztes Mal Tauron gesehen zu haben. Ihn noch ein letztes Mal berühren, spüren, seine Stimme hören, in seine Augen sehen … Sie musste zurück auf die Meerjungfrau! Allein dafür lohnte es sich, stark zu bleiben und ums Überleben zu kämpfen.

„Sie halten sich für mächtiger als alles, was wir sind oder bei uns in Amalea haben, mal abgesehen von den MacDragul. Die können mit ihnen mithalten, wie wir gesehen haben“, schnitt sich Charas Stimme in ihre Gedanken. „Sie halten uns für einen schwachen Abklatsch der Thanatanen. Sie halten die Thanatanen wiederum für mächtig genug, um sich mit ihrem Volk näher zu befassen.“

„Ja, Chara“, seufzte Siralen. „Sie legen Wert auf Stärke. Und sie halten sich selbst für etwas Besseres.“

„Sie erwägen nur die Gefahr, die von jemandem wie uns für jemanden wie sie ausgeht. Sie halten sich deshalb noch nicht für etwas Besseres.“ Chara grinste. „Die Elfen halten sich für etwas Besseres.“

Irgendwie war Siralen nicht zum Lachen zumute.

„Tat ich nie.“

„Nicht?“ Die Assassinin setzte sich ihr gegenüber. In einem gut berechneten Abstand, wohlgemerkt.

„Dein Volk jedenfalls nimmt sich gerne raus. Da hilft ihm die Tatsache, dass seine Rasse im Verhältnis zu den Menschen vernichtend klein ist. Aber du, als einzelne Elfe, bist nur eine von Vielen.“

„Und damit bin ich zufrieden. Ich war nie daran interessiert, eine Sonderstellung einzunehmen.“

„Wieso wurdest du dann zur Kommandantin einer Elfeneinheit, schließlich zur Kommandantin einer ganzen Streitmacht und jetzt zur Kommandantin der Landstreitkräfte?“

„Was ist mit dir Chara, Flottenoberkommandantin?“

„Ich habe nie um das Flottenoberkommando gebeten.“

„Habe ich denn um das Kommando über die Landstreitkräfte gebeten?“

„Nein, aber du hast dich lange vorher dafür ins Zeug gelegt, eine Befehlshaberin der Streitkräfte Albions zu werden. Du versuchst, irgendjemandem etwas zu beweisen.“

„So wie du.“

Chara schloss einen nichtigen Moment die Augen. „Ich wäre lieber unsichtbar geblieben.“

„Worüber reden wir hier, Chara?“

„Wovor hast du Angst, Siralen? Wieso legst du so viel Wert darauf, was ein Brigadier oder ein bestimmter Elf von dir hält? Wieso fürchtest du jeden, der eine Position einnimmt, die es ihm erlaubt, über dich zu urteilen?“

Siralen presste die Lippen aufeinander. Sie konnte Chara nicht erzählen, was es mit ihrem Vater auf sich hatte. Wüsste sie davon … sie würde es trotzdem nicht verstehen. Chara hatte keine Eltern. Sie war nicht der Spross eines Vorfahren, der in den Augen aller Nachkommen versagt hatte. Sie würde nicht verstehen, wieso jemand Angst davor hatte, zu versagen, sein Volk zu verraten. Oder einfach nur davor, schwach zu sein.

„Hast du denn einen Rat für mich, Chara?“, fragte sie, statt eine Antwort zu geben.

„Nein.“

„Du hast einen Rat, nicht wahr?“

Chara zuckte mit den Schultern. „Wenn du keine Angst davor hast zu scheitern, wirst du leisten, anstatt zu zögern. Du wirst aufrecht gehen und kämpfen. Dann wird man dich respektieren.“

„Wie einfach das klingt.“ Die Ironie in ihrer Stimme war selbst für Siralen vernehmbar.

„Vielleicht wäre es an der Zeit aufzugeben, sich ein anderes Ziel zu setzen …“, murmelte Siralen und blickte auf die Wüste jenseits des Zelteingangs. „… die Idee von der kompetenten Kommandantin der Landstreitkräfte fallen zu lassen. Vielleicht wäre es besser, etwas anderes zu tun.“

„Ja, vielleicht“, erwiderte Chara. „Vielleicht redest du lieber, als zu kämpfen.“

Wenn sie Chara nicht besser gekannt hätte, hätte sie die Aussage als Beleidigung aufgefasst. Chara hatte aber nicht beabsichtigt, sie zu beleidigen. Sie sagte nur, was sie dachte – unverblümt und direkt, wie immer.