Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 6: Irwin MacOsborn. Legende

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Das ist die Ironie in einer Welt wie dieser.

Ob die Entscheidung, jemanden bluten zu lassen, ihn über die Klinge springen oder sterben zu lassen, gut oder schlecht ist, wissen wir nicht. Wir wissen nicht, ob wir gute oder schlechte Kommandanten sind, denn wir sind weder noch. Wir wissen nicht, ob wir wahre oder falsche Ideale vertreten, denn kein Ideal kann als absolut bezeichnet werden. Also ist es weder noch.

Die Welt ist keine Scheibe. Es gibt keine zwei Seiten. Es gibt unendlich viele Seiten, unendlich viele Halbwahrheiten und ebenso viele Scheinerkenntnisse.

Also, warum fragen? Warum zweifeln?

Ein kurzes Gespräch

Als Chara nach diesem langen Tag und der Bestattung des Brigadiers am Abend endlich an Bord der Meerjungfrau ging und sich in ihre Kajüte zurückzog, hatte sich ein unerwarteter Gast in ihrer privatesten Kammer einquartiert. Der Gast hieß Zweifel. Er hatte sie bereits einige Male besucht. Das erste Mal, als sie von Al’Jebal den Befehl erhalten hatte, Bargh zu ermorden. Das zweite Mal musste irgendwann in Isahara gewesen sein. Doch dieses Mal war er von anderer Qualität. Nicht zu wissen, ob man mit den eigenen Entscheidungen richtig lag, war, als ob man über eine morsche Brücke lief, die jeden Moment durchzubrechen drohte. Darunter der gähnende Abgrund. Chara hatte das erste Mal ohne konkreten Auftrag ihres Namai gehandelt. Verdammt! Sie hatte ja gar keinen Namai mehr.

Nachdem der Aufstand beendet gewesen war und sich Siralen mit dem neuen Brigadier zurückgezogen hatte, um ein vermutlich nicht sehr angenehmes Gespräch zu führen, hatte Telos Chara in ihrem Zelt besucht.

„Ich bin, wie du weißt, nicht mehr der Sprecher der Priesterschaften“, hatte er gesagt, was einer Warnung gleichgekommen war. Na sicher! Dieses Amt besetzte ja jetzt ihr allerbester Freund, Oberhohepriester Laurin MacArgyll.

„Und mir ist schleierhaft, weshalb du es abgegeben hast“, hatte sie geantwortet. Dabei war ihr klar, weshalb. Telos hatte es ihr längst erklärt. Sie konnte die Erklärung nur einfach nicht akzeptieren. Telos hatte Skrupel, aufgrund seiner Befangenheit einer Expeditionskommandantin gegenüber, nämlich ihr, die falschen Entscheidungen als Sprecher der Priesterschaften zu treffen. Spätestens als Chara Lask Cischs Empfehlung, mit den Dragatisten einen Handel abzuschließen, für diskussionswürdig erachtet hatte und mit dem Gedanken spielte, dem Rat des Schicksalskünders zu folgen, war ihm klar geworden, dass er im Zweifelsfall gegen seine alte Weggefährtin vorgehen musste. Und das wollte er offenbar unter keinen Umständen. Dabei ging es hier um so viel mehr als die Prinzipientreue eines Priesters wie Telos Malakin. Nur, mit dieser Argumentationslinie hatte Chara bei Telos noch nie landen können: Der Auftrag ist wichtiger als du und dein Wertesystem, ja wichtiger als Agramon selbst. Es war schon verrückt. Telos kannte nur einen Bruchteil ihrer „Verbrechen“ und zog bereits Konsequenzen, die ihm bestimmt nicht leichtgefallen waren. Wenn der Freund nur wüsste …

Chara hatte sich gerade ihres Rucksacks entledigt, die Stiefel ausgezogen und in ihre Ecke der Kajüte geworfen, als die Tür aufging.

„Hat es dich geärgert, dass ich dir den Schuss verweigert habe?“, murmelte sie, ohne aufzusehen. Stattdessen fischte sie in ihrer Truhe nach einem Handtuch.

„Nein.“ Es klickte, als sich die Tür leise schloss. „Der Schuss wäre nur die sicherere Variante gewesen.“

Chara warf sich das Tuch über die Schulter und stand auf. „Mag sein. Aber nicht die befriedigendste.“

„Nicht für dich.“ Chara drehte sich um. Lindawen hängte gerade Bogen und Köcher neben die Tür und löste die Schnallen seiner Rüstung. „Gehst du an Deck?“

„Ja. Schätze, ich sollte mich mal wieder waschen.“

Ein halbfertiges Lächeln hob seinen Mundwinkel. „Haben wir heute noch etwas vor?“

Schön wäre wenn. Gut wäre auch, wenn sie überhaupt mehr miteinander täten. Aber nach Lindawens Geständnis hatte sich der Abstand zwischen ihnen vergrößert. Chara wusste nicht, wie sie mit dem Lichtjäger und seiner Rolle in ihrem Leben umgehen sollte. Sie verstand Lindawen nicht. Sie verstand sich selbst nicht. Sie verstand einfach nichts von diesen Dingen, die Siralen so leicht von der Hand zu gehen schienen. Liebesdinge …

„Keine Ahnung, haben wir?“, spielte sie den Ball zurück.

Er legte Arm- und Beinschienen ab und verstaute sie in seiner Truhe. „Wenn du es willst?“

Genau das war es. Das machte sie so wütend. Er reagierte nur auf sie und ihre Wünsche, anstatt selbst etwas zu wollen. Vielleicht waren Elfen einfach so. Vielleicht gehörte es sogar zu ihren Stärken, zu beobachten und auf die Zeichen des Gegenübers adäquat zu reagieren. So ging man ja auch bekanntlich jedem Konflikt aus dem Weg. Und nach allem, was Chara über das Volk aus Albion in Erfahrung gebracht hatte, mied es direkte Konfrontationen in der Regel – vermutlich, um das innere Gleichgewicht ihres Alleinen nicht zu gefährden.

Chara zog ein sauberes, knielanges Hemd aus der Truhe und begab sich mit Hemd und Handtuch kommentarlos zur Tür.

„Chara …“

Sie öffnete die Tür und spürte, wie Lindawen hinter sie trat. Seine Finger strichen über ihren Nacken und glitten dann zwischen die Schulterblätter, wo sich erst seit kurzem ihre neue Tätowierung befand.

„Du hast mir noch nicht gesagt, was es bedeutet.“

Chara holte tief Luft. „Vielleicht, weil es keine Bedeutung hat.“ Vielleicht, weil es mir alles bedeutet.

„Es ist schön.“

„Du musst es ja wissen.“ Immerhin war Schönheit in den Augen Lindawens das höchste Gut.

„Ich habe Euch nicht für so oberflächlich gehalten“, hatte sie damals geantwortet.

„Es gibt nicht nur äußere Schönheit, Chara“, hatte er dagegengehalten. Das war ein halbes Jahr her. So lange gab es sie beide schon. Aber was am Anfang so einfach schien, war plötzlich kompliziert geworden. Am Anfang war es ein Spiel gewesen, ein Kräftemessen, ein Risiko … Damit hatte sie umgehen können. Jetzt hatte er es ausgesprochen. Er hatte ihr gesagt, was er für sie fühlte: „Du verstehst es noch immer nicht, oder? Ich liebe dich …“

Ja, genau das hatte er gesagt. Chara trat durch die Tür, und Lindawens Berührung endete abrupt.

„Bis dann“, sagte sie und setzte sich Richtung Mannschaftsquartier in Bewegung. Als sie die Treppe zum Hauptdeck hochgestiegen war und sich vor dem Waschfass unterhalb des Vordecks entkleidet hatte, griff sie sich wie selbstverständlich in den Nacken. Die feine Narbe, die Noks Tätowierung hinterlassen hatte, war noch spürbar. Chara fuhr mit dem Finger die vier Lichtlanzen nach, die zwischen den flammenden Strahlen aus dem Kugelleib stachen. Licht und Dunkel in ein schlichtes, schwarzes Zeichen gegossen … Die schwarze Sonne.

Die Wüste

Es war lange vor Morgengrauen des Naondags in der ersten Trideade im Bärenmond 349 nGF, als sich die Soldaten des zweiten Bataillons zusammen mit einer Einheit der Kermes-Elite-Zwergensöldner, der Einfachheit halber auch KEZS genannt, einer Gruppe Zauberkundiger unter Magus Secundus Minor Mirok Jamaharon und einem Trupp Assassinen, darunter vier Schwarze, hinter dem Nordtor zum Aufbruch in die Wüste sammelten. Es war das erste Mal, dass Siralen zusammen mit den berühmtberüchtigten Zwergenkriegern in einen Kampf ziehen sollte. Und ohne es je laut gesagt zu haben, sie war neugierig auf die kriegerische Leistung der exzentrischen Zwerge.

Der Morgen würde noch eine Weile auf sich warten lassen. Gut so, denn die Wüste folgte ihren eigenen Gesetzen. In ihr war die Nacht die eindeutig bessere Wahl, um einen Gewaltmarsch der geplanten Art hinter sich zu bringen. Die Hitze des Tages zwang bisweilen auch die hartgesottensten Krieger in die Knie.

Noch am Vortag wurde die Meldung seitens der Magier laut, dass gut achtzig VALM westlich des Stützpunktes aller Wahrscheinlichkeit nach die Schatten aus der Wüste gesichtet wurden – unbekannte Kreaturen, die lediglich erkennen ließen, dass sie größer als Menschen waren und, den Spuren nach zu urteilen, acht Beine hatten. Sie hielten sich am Rande eines Hügellandes auf, in der näheren Umgebung einer Oase. Etwaige Siedlungen hatte man nirgendwo finden können. Wahrscheinlich lebten diese Wesen wie Tiere unter dem Sand … Das war, zugegeben, reine Spekulation.

Mit der Sichtung des Feindes stand auch die Marschrichtung fest. Die Marschformation folgte auf dem Fuß, als der neue Brigadier O’Hara zusammen mit der Offizierin des zweiten Bataillons Sislin Frejasdöttir, einem Unteroffizier und zwei Unteroffiziersanwärtern vor seine Männer trat und in knappen Worten seine Instruktionen gab: „Lockere Formation in Kolonne! Eilmarsch bis Sonnenaufgang! Danach Schritttempo!“

Allein die Art des Befehls war Siralen fremd. Als Kommandantin der Albionischen Streitkräfte hätte sie es wohl ungefähr folgendermaßen formuliert: „Nehmt am besten keine starre Formation ein, bewegt euch in einer Kolonne und schreitet zügig voran. Sobald die Sonne aufgeht, wäre es ratsam, das Tempo zu drosseln, um der Hitze ihre destruktive Macht zu nehmen.“ Siralen war sich relativ sicher, dass sie mit dieser Art der Befehlsausgabe hier nicht weit gekommen wäre.

O’Hara bekam auf jeden Fall, was er wollte. Die Truppen formierten sich in achtundzwanzig Kompanien und bildeten eine zehn Mann breite Kolonne, bevor der Brigadier zum Aufbruch rief. Zwei Aufklärungskompanien waren bereits losgezogen und sicherten das Gebiet, das vor ihnen lag. Das Tempo war den nächtlichen Temperaturen angepasst und zu Beginn des Marsches zügig. Alles lief planmäßig, und hätte Siralen nicht das untrügliche Gefühl, sie liefen in eine Falle, wäre die Expedition in die Wüste nichts weiter als ein Routineeinsatz zur diplomatischen Kontaktaufnahme mit einem potentiellen Verbündeten. Indes, der Stern, unter dem sie wandelten, leuchtete nicht.

 

Am Vorabend hatte der neue Brigadier Siralen aufgesucht, um mit ihr nochmals über die betrüblichen Vorfälle am Stützpunkt zu sprechen und Maßnahmen für die Zukunft zu treffen. Die Wahrheit war, es gab keine Maßnahmen. Es gab nur zwei Kommandierende, die sehr unterschiedliche Methoden hatten, ihre Truppen zu führen. Es gab Siralen Befendiku Issirimen und Agawen O’Hara. Der Gedanke fiel von ihrem Verstand in ihren Bauch und hinterließ ein hohles Gefühl in ihren Eingeweiden. Vieles war schwieriger geworden, als es zu Anfang der Mission gewesen war.

Siralen prüfte ein letztes Mal den Inhalt ihrer Gürteltaschen, schnallte den Gürtel enger und ließ ihren Blick über die marschierenden Soldaten schweifen. Die Sichtverhältnisse waren aufgrund des hellen Sandes selbst im Dunkeln recht gut. Bei Chara und ihren Leibwachen, die sich unmittelbar vor der Soldatenkolonne aufhielten, machten ihre Augen Halt.

Chara … Die Assassinin hatte einmal mehr bewiesen, dass sie auf ihrer Seite stand. Oder stand sie genau dort, wo sie sich den größtmöglichen Nutzen für sich und ihre Ambitionen als Al’Jebals Handlangerin versprach? Ein Kopfschütteln war die einzige Antwort, die Siralen sich selbst geben wollte. Chara kämpfte für ihre eigenen Überzeugungen. Und die deckten sich im Augenblick mit ihren, was die Assassinin aber offenbar für gut befand.

Zurück zu ihrem eigentlichen Problem … Sie war eine Kommandantin elfischen Bluts, wenn sie auch, wie Lindawen es ihr in schmerzhafter Direktheit deutlich gemacht hatte, äußerst menschliche Züge angenommen hatte. Eine Elfe wollten die menschlichen Soldaten nicht als Befehlshaber. Menschliche Krieger waren anders als elfische. Sie waren ungezähmt und wollten kriegerische Anführer, die sie bewundern und denen sie voll Zuversicht aufs Schlachtfeld folgen konnten. In aller unschönen Klarheit: Menschliche Krieger waren schwach. Darum brauchten sie eine starke Führung. Und wie Brigadier Ragna MacGythrun – er mochte im Alleinen aufgehen – sehr anschaulich demonstriert hatte, war sie seiner Meinung nach nicht stark genug. Sie war keine Kriegerin, wie es die Menschen von ihrem Anführer erwarteten. Aber wer weiß, vielleicht konnte sie ja eine werden.

Eine Vorkehrung hatten sie und der neue Brigadier auf jeden Fall getroffen. Der längst in Auftrag gegebene Adjutant für sie sollte bei ihrer Rückkehr auf der Meerjungfrau bereitstehen. Blieb zu hoffen, dass es sich dabei nicht um einen weiteren Attentäter wie im Falle Hulda Moirens handelte. Blieb zu hoffen, dass er kein Elfenfeind war.

Siralen hatte sich an die Spitze der Kolonne begeben und blickte in den klaren Nachthimmel. Noch herrschten kühle Temperaturen, und der Marsch durch den Wüstensand war nicht allzu beschwerlich, abgesehen von dem unsteten Sandboden, der bei jedem Schritt seine Oberfläche änderte. Der Morgen und damit die unbarmherzige Wüstensonne waren aber nicht mehr weit, und ihr graute davor, was Letztere mit ihnen machen würde.

Ein Seitenblick erinnerte sie daran, dass Darcean ein wahrer Herzensfreund war. Er hatte sich nicht davon abbringen lassen, sie auf diesen Einsatz zu begleiten, obgleich es wohl keinen Elfen gab, der sich gerne der Hitze der Wüste aussetzte. Es war schön, ihn bei sich zu wissen. Sie vermisste Tauron, der selbstverständlich bei der Flotte hatte bleiben müssen.

Darceans gestraffte Schultern verrieten Siralen, dass er so angespannt war wie sie. Und dann war da noch der Barde zu ihrer Linken, der den angespanntesten Eindruck von ihnen allen machte.

„Was ist das?“, fragte Siralen und schielte auf das seltsame Holzgestell in Irwin MacOsborns Hand.

„Ein Sonnenschirm“, jammerte er. „Aber er funktioniert nicht richtig. Ich kann ihn nicht aufspannen. Wenn die Sonne aufgeht, wird sie mir die Haut verbrennen. Und das wird in spätestens zwei Glas so weit sein.“

Siralen war schwer versucht, ihn nach hinten zu schicken, nur um sein weinerliches Gesicht nicht sehen zu müssen. Der Tod des Brigadiers Ragna MacGythrun hatte den Barden sehr mitgenommen, was sie natürlich verstehen konnte. Es hieß, die beiden hatte so etwas wie Freundschaft verbunden. Andererseits schien Irwin MacOsborn von allem mitgenommen, und sei es auch noch so unbedeutend.

„Ihr werdet es überleben.“

„Meint Ihr? Ich weiß nicht …“ Er hob das traurige Gestell hoch und schob die Unterlippe vor. „Niemand wollte mir einen bauen, nicht einmal einer dieser KEZS-Zwerge. Dabei sind die doch für unsere Ausrüstung zuständig, oder nicht? Die Zwerge … Ich musste glatt selbst zu Schnitzmesser, Stoff, Nadel und Faden …“

„Ich bedauere Euren Kummer aufgrund des Hinscheidens Ragna MacGythruns, aber verschont mich mit Euren anderen Leiden, Irwin. Und im Übrigen seht Ihr das falsch. Die KEZS sind Pioniere und keine Handwerker. Sie sind keinesfalls dazu da, uns auszustatten.“

Das beleidigte Gesicht des Barden sah sie nicht mehr. Der beunruhigte Ruf eines Kentauren-Spähers drang von einer der Dünen: „Unbekannte Lebensform einen VALM westlich!“

Ein „Kommandant“ am Ende des Satzes blieb erwartungsgemäß aus. Siralen hatte noch keinen Kentauren erlebt, der sich unterordnete, egal wie angesehen ein möglicher Vorgesetzter auch war. Kentauren waren nur dann eine Hilfe, wenn sie aus eigenem Antrieb handelten. Dann war ihre Hilfe allerdings eine unermessliche Bereicherung. So wie jetzt. Ein Kentaur war auf seinen vier Hufen wesentlich schneller als ein Mensch oder Elf auf zwei Beinen.

Siralen drehte sich zu O’Hara um. „Gebt den Befehl zum Halten, Brigadier!“

„Haaaaalt!“, wandte sich der Brigadier an seine Truppen und blieb stehen. Sobald das zweite Bataillon stillstand, erreichte sie auch der Späher und trabte an Siralens Seite. Er hieß Kyllaros und war einer der jüngsten Kentauren, die sie auf die Expedition begleitet hatten. Siralen fand, er sah stattlich aus. Und hätte er keinen derart animalischen Unterbau, hätte sie sogar Gefallen an ihm finden können.

„Die gesichtete Lebensform hat das Aussehen eines Wurmkäfers auf tausenden Beinchen“, berichtete er. „Die Kreatur ist an die zwölf Schritt lang. Eine Art … Insekt, nehme ich an.“

„Hat es Euch angegriffen?“

Kyllaros zog fragend die Stirn in Falten. „Nein. Ich war aber auch nicht in der Stimmung, mich ihm zu nähern“, erklärte er trocken.

Siralen nickte. „Danke. Lasst uns weitergehen“, wandte sie sich an den Brigadier, der umgehend Marschbefehl gab.

Chara stieß dazu, und der Kentaur setzte sich ab. Schwer zu sagen, ob es da einen kausalen Zusammenhang gab.

Die Assassinin hatte sich bis jetzt in der personenfreien Zone zwischen Soldaten und Spähern in düstere Schweigsamkeit gehüllt. In letzter Zeit lag auf ihrem Gesicht ein permanenter Schatten.

Nachdenklich blickte Siralen über die Schulter und suchte den Lichtjäger. Er war nirgendwo zu sehen. Vermutlich bildete er das Schlusslicht. Wie Chara darum bemüht, einen gemessenen Abstand zum Rest der Expeditionstruppe zu halten … sich ebenso wie Chara in Schweigsamkeit hüllend und die Einsamkeit suchend. Und vermutlich war Kerrim irgendwo in seiner Nähe. Der Lichtjäger und der Assassine waren scheint’s beste Freunde geworden. Man sah selten den Einen ohne den Anderen. Die vier Schwarzen Assassinen, die den Trupp begleiteten und die Siralen, gelinde gesagt, unheimlich waren, hielten sich wie ihre „weißen“ Kollegen gewöhnlich in Kerrims Nähe auf.

„Machst du dir Sorgen, Siralen?“

Siralen blickte zu Chara. „Natürlich. Du etwa nicht?“

„Ich schätze, niemand hat mir je beigebracht, dass es lohnt, sich Sorgen zu machen.“

„Ich nehme an, das ist ein nicht von der Hand zu weisender Vorteil, wenn man Entscheidungen zu treffen hat. Keinerlei Sorgen, wie die Konsequenzen aussehen könnten …“

„Da hast du wahrscheinlich recht.“ Sie beschleunigte ihren Schritt, als wollte sie sich samt ihren Leibwachen wieder nach vorne absetzen. Siralen blieb an ihr dran und ließ Irwin und Darcean zurückfallen.

„Denkst du, dass es sich bei den Angreifern auf den Stützpunkt um jene Wesen handelt, von welchen eines einst in Amalea auftauchte und sich Al’Jebals Leuten anschloss?“

„Eines wie Schangra?“ Ein Schulterzucken, dann wechselte Chara das Thema. „Wir sollten spätestens ein Glas vor Mittag lagern und frühestens drei Glas später weitermarschieren.“

Das war der Rat, den Siralen als Befehlshaberin der Expedition leider mehr als nötig hatte. Chara war einigermaßen vertraut mit den Bedingungen in der Wüste. Es hieß, bevor sie in Al’Jebals Dienste getreten war, hatte sie mit Telos Malakin und zwei weiteren mittlerweile verstorbenen Begleitern die aschranische Wüste durchquert – vom Valianischen Imperium über Icarian bis nach Billus, oder zumindest fast. Man erzählte sich, dass sie kurz vor Billus von Al’Jebals Orks und Assassinen aufgegriffen und in den Kerker geworfen worden war, zusammen mit ihren drei Begleitern. Erst danach schworen sie und Telos Al’Jebal die Treue. Und Chara wurde eine von seinen Hatschmaschin, obgleich man dem Alten vom Berg nachsagte, er würde niemals einen von anderer Hand ausgebildeten Assassinen in seinen Reihen tolerieren. Wie dem auch sei, Chara kannte die Tücken eines Marsches durch die Wüste. Darum gaben auch sie und Kerrim die nötigen Instruktionen an die Landstreitkräfte weiter, mit anderen Worten an sie, Siralen, und Brigadier O’Hara.

Gerade schob die Sonne ihren leuchtenden Kugelleib über den Horizont. Der Morgen brach an. Und so erhaben und schön das Bild auch sein mochte, es kündete von gleißendem Licht und sengender Hitze. Beides würde ihren Marsch durch die Wüste zum grauenvollen Gewaltmarsch werden lassen. Spätestens in zwei Glas stand die Sonne an einem Punkt des blassblauen Himmelszeltes, an dem sie ihre Strahlen wie glühende Pfeile durch ihre Körper jagen und ihnen den Schweiß auf die Haut treiben würde. Spätestens dann wäre selbst Lindawen zur Abwechslung mal ihrer Meinung und würde nicht, wie sonst, gegen sie arbeiten. Es gab nun mal keinen Elfen, den die Hitze kalt ließ.

Ein Blick zur Seite signalisierte Siralen, dass sie noch immer an dem kleinen Flüsschen entlangmarschierten, das sich Richtung Westen durch die Wüste schlängelte. So würden sie sich bis zur von den Zauberkundigen gesichteten Quelle durchschlagen und danach das lebensspendende Wasser Richtung Südwesten verlassen, um in die „echte“ Wüstenödnis vorzustoßen. Damit sie den tödlichen Kreaturen begegnen konnten, die sich am Rande des gesichteten Hügellandes aufhielten und sie aller Wahrscheinlichkeit nach erwarteten.

„Ich hab’s ja gesagt!“, drang MacOsborns verzweifelte Stimme an ihre Ohren. „Die Sonne versengt mir die Haut. Gibt es denn niemanden, der meinen Sonnenschirm reparieren kann?“

Es gab jedenfalls niemanden, der es für wert befand, Irwin MacOsborn zu antworten.

Siralen zog sich die Kapuze ihrer Leinentunika über den Kopf und schielte erneut zu Chara. Sie verbarg ihr Gesicht bereits unter einem schwarzen Schal. MacOsborn hingegen … Siralen musste lächeln. Vielleicht sollte sie ihm den Gefallen tun, ihm ihr Tuch zu reichen, damit er sein Gesicht darunter verbergen konnte. Andererseits … Nachdem sie noch vor Mittag ein Lager aufschlagen würden, sollte der Barde die Folgen des Sonnenglasts eigentlich überleben.

„Nicht schlapp machen, Irwin!“, rief Chara über die Schulter. „Noch zwei Glas, dann bist du die Sonne für ein Weilchen los.“

Nicht schlapp machen, Siralen!, sagte sie sich selbst. Jeder schweißtreibende Schritt weiter in die mörderische Wüste machte die Last auf ihren Schultern schwerer. Was erwarteten die Soldaten von der Kommandantin der Landstreitkräfte, wenn sie erst dem Feind gegenüberstanden? Wie viele Fehler würden ihr in der kommenden Schlacht unterlaufen? Denn sie ging davon aus, dass es eine Schlacht geben würde. Eine große, eine vernichtende. Vielleicht ihre letzte. In Gedanken zeichnete sie ein Bild von Schangra, einem monströsen Ungetüm, mindestens doppelt so groß wie ein Mensch und mindestens dreimal so gefährlich wie ihre fähigsten Krieger …

Endlich verzog sich die Hitze und Chara blieb stehen. Es war dämmrig geworden, und die Nacht würde bald über die Wüste hereinbrechen.

„Eilmarsch!“, donnerte der Befehl des Brigadiers über die Köpfe der Soldaten hinweg, die sofort einen Zahn zulegten. Nicht mehr lange, und Lindawen würde an ihrer Seite auftauchen, so, wie er es auch die letzten zwei Tage während ihres Fußmarsches getan hatte. Nicht mehr lange, und sie würden das Nachtlager nebeneinander aufschlagen. Nicht mehr lange, und sie würde neben dem Lichtjäger liegen, und sich einmal mehr fragen, was sie so eng aneinanderfesselte, dass sie den Gedanken nicht ertragen konnte, ihn zu verlieren. Lindawen hatte ihren Handel mit den Dragatisten vertuscht und sie damit geschützt. Aus Liebe? Aus Pflichtgefühl dem Sandkorn gegenüber? Oder weil er sich einen bestimmten Nutzen davon versprach? Weil er an ihr dranbleiben und dafür ihr Vertrauen gewinnen musste – als Lichtjäger, als ein das Chaos jagender Elfenspion, der sie als Chaossympathisantin entlarvt hatte und sein Naheverhältnis zu ihr ausnutzen wollte?

 

Die Wüste hatte sie verschlungen. Seit sie das Flüsschen hinter sich gelassen und gen Südwesten gezogen waren, fühlte es sich an, als würde ihr Trupp Schritt für Schritt im Sand verloren gehen. Und Chara spürte das anhaltende Verlangen, sich selbst in dieser Ödnis zu verlieren. Ihr neues, herrenloses Ich. Die Wüste war wie ein Spiegel ihrer selbst – leer, gleichförmig und ohne sichtbare Grenze, an der man sich orientieren konnte. Verloren zu gehen war ein verlockender Gedanke – in Lindawen, in der Mission, die sie vor einem Jahr und vier Monden begonnen hatte, in sich selbst, wo nichts war … Plötzlich erschienen ihr Lask Cischs Worte wie die Rettung aus der Nichtigkeit aller Dinge, wie ein Wegweiser, der sie aus der Orientierungslosigkeit führen konnte:

Doch ich ziehe in Zweifel, dass dieser Weg, dass der einfache Weg der weisere ist.

Das waren seine Worte gewesen. Das waren ihre Worte.

Ihr alle, die ihr da draußen zusammen mit mir um die Wahrheit kämpft und Licht ins Dunkel bringen wollt – denkt nach! Erschafft euch neu, findet Prinzipien, die es würdig sind, ihnen zu folgen. Erkennt die Grenzen, doch nehmt sie nicht als endgültig wahr. Wenn ihr einen Weg findet, überrennt sie, sprengt sie, schreitet über sie hinweg. Das ist es, was das Chaos beherrscht und wofür es sich lohnt, chaotisch ambitioniert zu sein …

Drei Glas später fand Chara sich auf ihrer Lagerstatt unter freiem Himmel wieder. Sie konnte nicht schlafen. Lindawen neben ihr schlief prächtig, oder zumindest tat er so als ob.

Sie hatten auf einem steinernen Plateau über einem Talkessel nahe dem Hügelland ihr Lager aufgeschlagen. Nördlich und nordwestlich des Plateaus wuchs schroffer Fels in den Himmel. Es war die dritte Nacht nach ihrem Aufbruch vom Stützpunkt. Die ersten beiden hatten sie ohne unliebsame Unterbrechung überstanden.

Chara starrte in die Dunkelheit. Es war kalt geworden, eine jener Wüstennächte mit sternenklarem Himmel. Es würde eine von vielen schlaflosen Nächten werden. Wie lange schlief sie eigentlich schon nicht mehr? War Al’Jebals Freispruch der Auslöser für ihre Schlaflosigkeit gewesen? Oder die Nacht mit Lomond? Oder … Wann hatte das Problem mit der Schlaflosigkeit angefangen?

Chara warf sich frustriert auf die andere Seite. Einen Lidschlag später war sie eingeschlafen.

Die Sonne stand im Zenit und brannte unbarmherzig auf den staubigen Boden in dem Wüstenkessel hinab, trocknete ihn aus, riss seine Haut auf, bis sie unter all dem Sand brüchig und schorfig geworden war. Hier und da lag wie irrtümlich fallengelassen ein Felsen oder Stein.

Eine Vibration wie von einem leichten Erdbeben erschütterte den Boden dort unten in der Senke. Seltsam unnatürlich in einer leblosen Ödnis wie dieser … der Sand brodelte wie kochendes Wasser. Als gäbe es knapp unter der Oberfläche dieser schorfigen, trockenen Wüstenhaut Leben. Ein Leben, das für eine Umgebung wie diese bestens getarnt war. Eines, das es gewohnt war, sich unter dem Sand zu verstecken, und allen Grund hatte, dort zu lauern. Ein Leben, das trotz seiner enormen Größe verdammt schnell und verdammt leise sein konnte.

Das kaum erkennbare Brodeln schien sich durch den ganzen Wüstenkessel fortzusetzen. Unzählige kleine Erdbeben, die den Sand über den Boden tanzen ließen wie Perlen über Schiffsplanken.

Dann wurde es wieder still, reglos. Die Wüste schien sich zu beruhigen, abzuwarten. Als wüsste sie, dass die Stille trügerisch war. Als spürte sie ein leises Kitzeln unter ihrer ausgetrockneten Haut. Als fühlte sie, dass etwas darunter unruhig scharrte und kurz davor war auszubrechen.

Eine heftige Unruhe fuhr ihr in die Glieder, und sie warf sich auf die andere Seite. Das Bild der Wüste zerfiel. Eine Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit und kam auf sie zu. Sie war … sie sagte etwas … Ihre Worte, ihre Stimme … bemächtigten sich ihres Verstandes und zogen sie in eine seltsam vertraute Schwärze …

„Während ich schlafe, ändert Liebe ihre Tonart.

Ich leere meinen Geist, und eine Erinnerung verblasst.

Während ich schlafe, wird eine neue Sonne geboren,

in völliger Ruhe tobt am Horizont ein Sturm.

Während ich schlafe, treiben Rätsel und Geschichten

unaufhaltsam auf ihr wahres Schicksal zu.

Während ich schlafe, werden Würfel neu geworfen,

ich schlucke Feuer und ersticke an der Glut …“♫