Chroniken von Chaos und Ordnung. Band 4: Lucretia L'Incarto

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Wenig später wanderte Siralen durch die vage beleuchteten Gänge in Richtung ihres Zimmers. Als sie sicher war, dass sich niemand mehr in ihrer Nähe aufhielt, blieb sie stehen, lehnte sich gegen die Felswand und schloss die Augen.



Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sich auf einen Auftrag wie diesen einzulassen? Wieso hatte sie Al’Jebal ihre Zustimmung gegeben, ohne zu wissen, was genau er von ihr wollte? Hatte sie sich etwas beweisen wollen? Sie war eine Kriegerin, gewiss eine gute Bogenschützin, aber als Kommandantin hatte sie bislang nur eine überschaubare Anzahl von Schützen und Nahkämpfern aus Albion befehligt. Wie sollte sie dann ein Regiment von viertausend Soldaten anführen, die noch dazu vom Blut der Menschen waren? Sie hatte keine Erfahrung mit Menschen, und sie hatte auch wenig Verständnis für diese kurzlebige Rasse. Davon abgesehen war sie auch noch die Sprecherin aller in den Flottenverband integrierten Elfen. Sie, Siralen, Tochter von Verrätern! Ausgerechnet sie sollte ihr Volk nun würdig vertreten. Wenn auch nur ein winziger Keim des Wesens ihres Vaters in ihr spross, war auch sie nicht weit davon entfernt, die Elfen zu verraten.



Müde fuhr sie sich über das Gesicht und schlug die Augen auf. Der Gedanke an den weiten blauen Ozean pflanzte schon jetzt ein Gefühl der Fremde in ihre Brust. Sie war die Hüterin der Waldesstille, sie war Desin Suren Illju. Was suchte ein Geschöpf des Waldes auf den Wassern des unergründlichen Ozeans?



Siralen atmete tief durch. Ich bin, was ich bin und tue, was ich kann.



Mit Mut und Zuversicht konnte sie all das sein, was ihre Eltern nie waren. Der Weltgeist würde sie an sanfter Hand ins Unbekannte geleiten und sie in seine allumfassende Umarmung schließen, wenn sie ihren Platz im Weltgefüge erst gefunden hatte. Mit diesem Gedanken drückte sie sich von der Wand ab, zog sich die Kapuze ihres hellgrauen Umhangs über den Kopf und nahm ihren Weg durch die Tunnel Tamangs wieder auf.




Rosengarten



Chara amtete tief in den Bauch und der Gedanke an Lomond verpuffte. Sie hatte bereits die Hand an der Tür zu ihrem Zimmer, da fiel ein Schatten auf ihr Gesicht.



„Hast du dich wieder in der Gewalt?“, vernahm sie eine Stimme in ihrem Nacken. Intuitiv senkte sie den Kopf. „Ich denke schon.“



„Dann folge mir.“



Als sie sich umdrehte, schritt Al’Jebal bereits den Gang entlang und Chara beeilte sich, ihn einzuholen. Einige Gänge später öffnete der Namai eine Tür aus massivem Holz. Er trat zur Seite, wartete darauf, dass sie vorausging.



Chara folgte seiner stummen Aufforderung. Während Al’Jebal hinter ihr die Tür schloss, sah sie sich um. Bäume … Da waren Bäume mitten in einer unterirdischen Grotte. Als hätte der Wald den Berg erobert, strebten sie der Felsendecke entgegen, teilten sich mit Sträuchern, weichem Gras und weißen winzigen Blumen den Boden – ein Pflanzengeschwür im steinernen Leib seines Wirten. Sie befanden sich inmitten eines unterirdischen Parks.



Ein schmaler, von Kieselsteinen ausgestreuter Weg schlängelte sich durch das Unterholz. Al’Jebal nahm ihn ohne Worte in Angriff und Chara setzte sich in Bewegung. Eine Weile schritten sie schweigend nebeneinander her. Lediglich das Knirschen der Kiesel unter ihren Stiefeln und das Rascheln des Laubs begleiteten sie. Alles hier war in Bewegung – die Grashalme, die Blätter, die Zweige. Als hätte der Wind auf heimlichen Wegen in das Herz des Berges gefunden. Es war weder hell noch dunkel in der Grotte. Es schien, als würde der Mond in seiner vollen runden Pracht irgendwo dort oben in einer Felsnische hängen und ihnen sanft den Weg beleuchten.



„Wie geht es dir?“, fragte Al’Jebal und die Härte seiner Stimme verebbte in den Schwingungen der tiefen Samtigkeit, die Chara schon so vertraut war.



„Gut.“



Ihre Gedanken kreisten um die Rosen, und obgleich es sie drängte, darüber zu reden, hatte sie keine Ahnung, was sie hätte sagen sollen. Was, wenn die Rosen gar nicht von ihm waren? Und falls doch, sie wusste ja nicht einmal, ob er ihr damit ein Geschenk machen oder sie bestrafen wollte. Al’Jebal hatte sie dazu verpflichtet, diese Weltenretter-Mission zu kommandieren und von ihm fortzugehen. Er hatte sie Lomond überlassen. Und der hatte sie von der Seite ihres Namai gerissen. War ihm denn nicht klar, welche Macht der MacDragul hatte?



Ein Kiesel knackte auffallend unter ihrem Stiefel. Der Ärmel einer Robe streifte ihre Hand und Chara zuckte zusammen.



„Die schwarze Rose ist dem Verfall gewachsen und hält dem Tod stand.“



„Was?“, flüsterte sie.



Al’Jebal blieb stehen und zwang sie dazu, ihm in die Augen zu sehen.



„Solange du am Leben bleibst, lebt auch die schwarze Rose. Stirbst du, stirbt sie.“



Die Worte drangen durch ihre Haut und schlugen in ihrem Zentrum Wurzeln.



„Was ist mit der weißen?“, flüsterte sie und strich sich gedankenverloren über die Tätowierung an ihrem linken Unterarm.



„Die weiße Rose gehört dir. Tu mit ihr, was du willst. Aber vergiss nicht, wer du bist. Wer wir sind.“



Danach nahm er den Weg wieder auf und Chara setzte sich zögernd in Bewegung. Verstohlen beobachtete sie ihn, seine bedachten Schritte, die Konturen seines markanten Gesichts … Er war so still, so voller Geheimnisse. Er hatte diese Stille perfektioniert, sie zu einem mystischen Mantel gewoben, in den er sich hüllte wie ein Nachtvogel in sein schwarzes Gefieder. Al’Jebal war wie der tiefe Ozean – voller unerforschter Wahrheiten, voll von Wissen, das nur er zu haben schien. War er ein Mensch? Die Zeitlosigkeit seines Gesichtes erzählte eine andere Geschichte. Chara dachte an Thanatos.



Sie war nie dort gewesen, hatte die vom Rest Amaleas abgeschottete Insel des magischen Volks nie gesehen. Niemand hatte das. Die Thanatanen bewahren sich etwas, das den Menschen verloren ging … War Al’Jebal einer von ihnen? Warum aber war er dann hier und nicht in Thanatos unter seinesgleichen? Wie sahen Thanatanen aus? Konnte man sie von den Menschen unterscheiden? Es hieß, sie sahen aus wie Menschen.



„Chara“, holte Al’Jebal sie in die Wirklichkeit zurück. „Ich werde während deiner Mission mit dir Kontakt halten.“



Chara blieb stehen. „Wie?“



„Über Kerrim Ben Yussef. Er wird ein dafür geeignetes magisches Artefakt dabei haben.“



„Wir hatten Streit … in Isahara. Kerrim und ich.“ Sie spähte an ihm vorbei und entdeckte einen abgebrochenen Ast, der im Fallen an der spröden Rinde des Baumstammes hängen geblieben war … abgestoßen und doch nicht imstande, sich von seinem Ursprung zu lösen. Wie ein Kind, das sich an die starken Beine des Vaters klammerte, um nicht selbstständig gehen zu müssen. „Ich habe mit ihm darüber gesprochen, aber ich weiß nicht, ob er mir verziehen hat. Vielleicht ist er nicht begeistert davon, mich zu begleiten.“



„Als ob das eine Rolle spielen würde.“



Chara sah zu ihm zurück. Es war das erste Mal, dass er einen derart lapidaren und zudem auch noch überflüssigen Satz sagte. Jetzt wirkte er fast wie ein Mensch und sie spürte, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln teilten.



„Kann ich auch Lomond bekommen?“, wurde sie mutig.



Seine Augen wurden schmal. „Weder auf die eine, noch auf die andere Weise.“



Alles klar. Themenwechsel. „Ihr wisst, dass ich denkbar ungeeignet für ein Kommando dieser Größenordnung bin. Zwar hab ich in Erainn einiges mitbekommen, aber mir fehlt die Anlage dafür, jemanden anzuführen.“



Al’Jebal trat vor sie hin und sie tauchte in den Schatten seiner ominösen Gestalt. „Du bist, was du bist. Hör auf deine Intuition, finde und gehe deinen Weg.“



Was du bist … Die Formulierung wirkte fehl am Platz. Wer du bist wäre passender gewesen …



„Ich habe dich auf das hier vorbereitet. Du bist so weit.“



Eine Weile sah er sie nur an und sie spürte, wie sich ihr Herz flatternd in seinen Panzer zurückzuziehen versuchte. Es gelang ihm nicht.



„Werde ich Euch wiedersehen?“, fragte sie gedämpft.



Seine Hand glitt in Richtung ihres Herzens und Chara verspannte sich.



„Du wirst zu mir zurückkehren.“



„Warum sollte ich?“



„Weil du es musst.“



Das leise Wispern der Blätter rückte in die Ferne. Chara sah nur noch ihn … einen Körper unter rotem Stoff, der vielleicht ebenso ihre Leidenschaft hätte zum Leben erwecken können wie der Lomonds … der Körper eines Mannes, nicht der eines Namai, welcher über allen Dingen stand. Doch kaum, dass sie sich in dieser Erkenntnis verlor, wurde es wieder kalt zwischen ihnen. Al’Jebal trat zurück. Der forschende Blick des Mannes wich dem nüchternen Blick des Meisters.



„Lass uns gehen“, sagte er. Dann folgte er dem Weg zurück, den sie gekommen waren. An der Tür zum Gang blieb er stehen.



„Die Zeit drängt, Chara. Der Krieg zwischen Chaos und Ordnung hat begonnen. Die Allianz ist dem Chaos nicht gewachsen. Sie werden uns vernichten.“



Chara fühlte, wie sich ihr Magen zusammenzog.



„Die Zukunft Amaleas liegt in deinen und den Händen der anderen Expeditonskommandanten. Ihr müsst schnell sein. Ihr müsst schnell entscheiden, schnell handeln und so bald wie möglich zurückkehren.“



„Wieviel Zeit haben wir?“



„Nicht viel. Je länger ihr braucht, desto weniger von uns werden noch leben, wenn ihr zurückkehrt.“



Langsam nickte sie. Dann öffnete Al’Jebal die Tür und trat in den Gang.



„Brauchst du noch etwas?“



„Nein“, murmelte sie und schob die Hände in ihre Hosentaschen. Dann gab sie sich einen Ruck. „Was genau seid Ihr?“



Seine linke Braue glitt kaum merklich nach oben. „Ich denke, es ist Zeit, die Höflichkeiten hinter uns zu lassen, Chara.“



Oh nein! Er wollte … wollte er etwa? Sie würde ihn nie beim Namen nennen können.

 



„Das kann ich nicht.“



„Dann lerne es.“



„Meine Frage …“, kam sie zum Thema zurück.



Die Schatten unter Al’Jebals Augen vertieften sich. „Wer oder was ich bin, wirst du bei deiner Rückkehr erfahren.“



„Wieso nicht jetzt?“



„Weil du dann möglicherweise nicht zurückkehren wirst.“



„Warum? Weil mir die Antworten nicht gefallen werden?“



Er erwiderte nichts.



„Was hilft es, wenn ich zurückkehre? Es reicht doch, wenn die Allianz ihre Verbündeten bekommt.“



„Nicht wegen der Allianz. Meinetwegen sollst du zurückkommen.“



Die Stimmung kippte. Hatte er gerade einen persönlichen Wunsch geäußert? War das ein neuer Trick, ein neuer Versuch der Manipulation?



Chara erschauerte. Ein seltsames, namenloses Gefühl ergriff Besitz von ihr. Irgendetwas hing plötzlich zwischen ihnen. Wie ein feines Geflecht unsichtbarer Fasern sponn es sie ein, band sie unwiderruflich aneinander, hielt sie aber zugleich behutsam auf Distanz. Es war, als wäre das Band zwischen Namai und Hatschmaschin zerrissen, um aus den alten, abgenutzten Fäden ein neues zu weben. Oder war dieses Band immer schon dagewesen?



„Ich muss morgen früh raus“, stammelte sie. „Hab noch viel zu tun.“



„Ja.“



Chara brachte ihren weichgekochten Körper unter Kontrolle und schaffte es in geradezu vorbildhaft aufrechtem Gang durch die Tür nach draußen. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, wandte sich ihr Al’Jebal noch einmal zu. „Gute Nacht, Chara. Ich wünsche dir gute Träume.“



„Ich … dir auch.“ Fast hätte sie sich gleich darauf entschuldigt, so falsch und ungehörig war es, ihn auf diese Weise anzusprechen. Doch Al’Jebal sah sie an. Er sah sie an, als wollte er sie … berühren.



Stattdessen verschwand er, und Chara war wieder allein.




Ein Versprechen



Ich bin ein Gesichtsloser, dessen Bestreben es ist, euch allen, die ihr Teil einer epochalen Veränderung seid, mit der Wahrheit zu konfrontieren. Dies ist der Beginn einer Suche. Und jedes Mitglied dieser Mission ist aufgerufen, an dieser Suche teilzunehmen.



(LC, 1. Manifest, 2. Trideade im Drachenmond, 348 nGF)



Die gigantische Felsengrotte, die in ihrem steinernen Schoß den Hafen Tamangs barg, war hell erleuchtet und voll von hektischem Leben. Matrosen verluden die letzten Fuhren Mannschaftsgepäck, Waffen, Rüstungen und Kriegsgerät, Proviant und Schiffsgut, Holz für die Reparaturarbeiten, die unterschiedlichsten Metalle für die Herstellung von Waffen sowie Schmuck, Stoffe aller Arten und Farben für den Handel – Seide aus Rawindra, Wolle aus Alba, Leinen aus Aschran, Tüll und Spitze aus den Küstenstaaten, Leder in rauen Mengen …



In dem Hauptbecken der Anlage, das von zehn kleineren zur Mitte hin offenen Felsenbecken umgeben war und von welchem zwei geflutete Tunnel wegführten, lagen hundert Schiffe der tausend Schiff großen Expeditionsarmada. Während die restlichen Teilflotten in den Nebenbecken darauf warteten, ihre Mannschaften an Bord zu nehmen und sich einer letzten Aufrüstung zu unterziehen, gingen die Hafenarbeiter daran, die Kommandoflotte auf Vordermann zu bringen. Die Drachenboote der Vallander zogen zwischen den gewaltigen Schiffsleibern der Transporter und Güldenmaid-Segler ihre Kreise und brachten Frachtgut und Besatzung an Bord jener Schiffe, die in zweiter oder dritter Reihe dümpelten. Die gesamte Armada war in zehn autarke Teilflotten gesplittet, die sich aus je zehn Kriegsschiffen, zehn Allzweckschiffen, zehn Mannschaftstransportern, fünfundsechzig Versorgungstransportern und fünf Drachen zusammensetzten. Nach dem Verlassen des Hafens würden die einzelnen Flotten in Doppelkeil-Formation gehen, wobei die Allzweck- und Kriegsschiffe in Flottillen zu je zwei oder drei Schiffen die Mannschafts- und Versorgungstransporter säumten. Die Drachen würden als unabhängige Kundschafter an den Flanken Position beziehen. An der Spitze jeder Flotte segelte das Kommandoschiff des betreffenden Vizeadmirals. Im Falle der Kommandoflotte handelte es sich dabei um das Flaggschiff der Armada, kommandiert von dem neuen Admiral Tauron Hagegard. Der stolze Güldenmaid-Segler trug den Namen Meerjungfrau, rühmte sich der anmutigen, in Bronze gegossenen Gestalt einer eben solchen am Bug und stand schon jetzt im Mittelpunkt aller Schaulustigen. Dem Abschied entgegentrauernde Angehörige hatten sich neben den Hafenarbeitern und den Besatzungsmitgliedern im Zentrum Tamangs eingefunden. Während ein Gutteil der Leute hart anpackte, sammelte sich ein anderer Teil gaffend um den Felsenkessel in der Mitte der Grotte.



Flotte Eins und Zwei waren bereits durch einen der beiden Kanäle und das von den Zwergen gefertigte, von außen gänzlich unsichtbare Hafentor auf das offene Meer der Ruhe hinausgerudert worden. Während sechs Teilflotten noch in den Leibungen der Hafenanlage auf ihren Einsatz warteten, neigte sich die Arbeit an Flotte Drei und Vier allmählich dem Ende zu.



Ein Stampfen wie von einer Horde Elefanten hallte von den nackten Felswänden wider. Die schwer gerüsteten Pioniereinheiten der Zwerge marschierten in der Hafenanlage auf und steuerten die Beckenleibung entlang auf ihre jeweiligen Mannschaftstransporter zu. Ihnen folgte Brigadier Ragna MacGythrun – ein albischer Adeliger, von dem es hieß, er wäre einer jener Rebellen aus den Reihen der MacGythruns, die sich nach ihrem Aufstand gegen ihren Clanag Adrian einst Al’Jebal angeschlossen hätten. Zusammen mit zehn Infanteriekompanien des insgesamt viertausend Mann starken Regiments der Landstreitkräfte hielt er auf die Mannschaftstransporter zu. Als handelte es sich dabei um eine Heerschau, ging ein Jubel durch die Reihen jener, die dem Aufbruch der Armada beiwohnten.



Nachdem die Truppen an Bord gegangen waren, hallte ein fernes Donnern in die Felsengrotte und der Jubel verstummte mit einem Mal. Die Hektik unter den Hafenarbeitern fror ein und sämtliche Gesichter wandten sich dem Tunnel zu, in dem der dumpfe Schlag mächtiger Huftiere laut geworden war. Kurz darauf tauchten zwanzig Kentauren in der Grotte auf und trabten in Zweierreihen eine der Kaizungen entgegen, die aus der Leibung des Beckens ins Wasser ragten. Beim Anblick der stolzen und seltenen Wesen ging ein verhaltenes Raunen durch die Menge. Doch kaum, dass die Pferdemenschen ihre hehre Gestalt Preis gegeben hatten, tauchten sie auch schon wieder ab und verschwanden in den Schiffsbäuchen der eigens präparierten Transporter.



Der Verlust war verschmerzbar, denn schon im nächsten Augenblick folgte ein neuer Höhepunkt: Aus der dem Flaggschiff am nächsten gelegenen Tunnelöffnung schälten sich die Konturen mehrerer Personen. Und die meisten davon waren jedem Allianzmitglied bekannt.



Flankiert von seiner Rechten und Linken Hand, Agem Ill und Assef El’Chan, und begleitet von seinem Blutsbruder Freon Eisfaust, betrat Al’Jebal die Hafenhalle. In der vertrauten Tracht der dunkelroten Robe hielt er auf den Pier und den gemauerten Steg zu, an dem die Meerjungfrau lag.



Wenige Schritte nach dem Sprecher der Allianz kamen drei Zauberkundige aus dem Tunnel, darunter eine Frau mit feuerrotem Haar an der Seite eines etwas dicklichen Magiers in nachtblauer und einem hageren in bunter Robe, den einige als einen der höchstrangigen Zauberkundigen der Allianz wiedererkannten. Sein Name war Ahrsa Kasai.



Danach betrat eine Kriegerin in grau-grüner Tunika und lederner Schwertscheide am Rücken den Hafen. Ihr silbergraues Haar entlarvte sie als eine aus dem Volk der Elfen. Hinter ihr, an der Seite einer jungen, hübschen Zauberkundigen mit strengem Haarknoten, schritt ein missgestalteter Mann in weißer Toga mit roter Schärpe, den die meisten als Oberhohepriester des Agramon Telos Malakin kannten. Und während beim Anblick der Kommandanten der Expedition neugierige und meist wohlmeinende Blicke getauscht wurden, nahm man jene Männer, die sich kurz darauf aus dem Dunkel des Tunnels schälten, mit finsterem Argwohn zur Kenntnis. Man hatte bereits von den Kriegern gehört. Sie waren von der Allianz als Verbündete im Kampf gegen das Chaos vorgestellt worden. Die Wahrheit aber war, dass die Männer, angeblich von den Kabugna-Inseln, einzig und allein dem Schutz jener Frau dienten, die zwischen ihnen die Hafenanlage betrat. Chara Pasiphae-Opoulos verschwand förmlich in der Menge der tätowierten Halbnackten, und nur das Schwarz ihrer Assassinenkleidung war ab und an zu sehen.



Alles in allem also eine aufregende Darbietung der Allianzführung einerseits und des Expeditionskommandos andererseits, was eines übereifrigen Getuschels allemal würdig war:



„Habt ihr diese Wilden gesehen? Sind eindeutig Kannibalen, wenn ihr mich fragt.“



„Wie kommt’s, dass die eine Assassinin bewachen?“



„Eine Elfenkriegerin im Kommando … na, das kann ja heiter werden.“



„Wisst ihr überhaupt, dass die Lächlerin den mächtigsten Nekromanten aller Zeiten niedergestreckt hat?“



„Das ist nicht wahr … er war nur ein Anfänger. Telos Malakin, der weiß, wie man das Chaos in den Boden hämmert. Hat den Propheten Togh Levas in die Unterwelt geschickt und ein ganzes Dorf voller Chaosanhänger ganz allein gehämmert.“



„Weiß jemand von euch, wieso man sie Sandkorn nennt? Ich meine, was hat der Name überhaupt zu bedeuten?“



„Klein, unwichtig, scheuert penetrant, wenn man es ins Auge bekommt …“



„Es heißt Sandkorn auf der Schicksalswaage – Na, klingelt da was bei euch?“



Es wurde gemunkelt, spekuliert, gepriesen und prophezeit, aber keiner ließ sich dabei die Gelegenheit durch die Lappen gehen, die berüchtigten Allianzmitglieder ganz genau in Augenschein zu nehmen.



Lucretia hatte sich in feines, aber zweckdienliches Tuch gekleidet. Sie trug einen kurzen Hosenrock, eine hochgeknöpfte Bluse und einen Lodenumhang. Ihr wichtigstes und sehr geschätztes Hab und Gut hatte sie in drei große Holztruhen verpackt, die bereits an Bord der Meerjungfrau geschafft worden waren. Jetzt stand sie mit einem leichten Handkoffer, den breitkrempigen Hut zwischen Finger und Henkel geklemmt und einem seltsam euphorischen Gefühl im Bauch vor dem Sprecher der Allianz. Neben ihr unterhielt sich Stowokor leise mit ihrem Berater Magus Primus Major Ahrsa Kasai.



Ein leises Räuspern, dann wandte sie sich Al’Jebal zu. „Ich danke Euch für die Unterstützung, die Ihr mir in Gestalt des Magus Primus zur Seite gestellt habt“, begann sie und nickte verhalten in Kasais Richtung. „Soweit ich informiert bin, war er es, der einen Großteil der Besatzungsmitglieder geprüft und ausgewählt hat. Und nach allem, was ich bis jetzt von ihm sehen durfte, ist er über seine magischen Fähigkeiten hinaus auch ein hervorragender Logistiker.“



Al’Jebal warf dem Magus einen kurzen Blick zu, schien in Gedanken aber woanders zu sein.



„Er ist kompetent“, lautete seine schmucklose Antwort. „Was Euch betrifft, erinnert Euch, was ich Euch gesagt habe.“



Natürlich erinnerte sie sich. Sie wusste genau, dass ihr in Erainn misslungen war, was sie sich so strikt vorgenommen hatte. Sie hatte ihre Untergebenen nicht von sich überzeugen können. Und das war es, worauf es laut Al’Jebal ankam, wenn man sich Macht erwerben wollte. Ihre magischen Fähigkeiten allein reichten dafür nicht aus. Außerdem erinnerte sie sich an die Situation im Kerker von Mon Asul. Sie war bereit gewesen, die Würde und das Leben eines Mannes zu opfern, um ihr altes, schönes Gesicht zurückzubekommen und die schreckliche Narbe endlich loszuwerden, die sie sich in Cunair Tarr zugezogen hatte. Sie hätte den infamen Helm benutzt. Doch Al’Jebal hatte es im letzten Moment unterbunden und ihr damit eine Lehre erteilt.



Ihr werdet mit Eurem Makel leben müssen. Seine Worte verursachten ihr noch immer Albträume. Was Al’Jebal offenbar nicht honorieren wollte, war, dass sie für ihn an ihre Grenzen gegangen war. Sie hatte erlebt, wie es war, sich ohnmächtig zu fühlen. Doch jetzt war es an der Zeit, voranzuschreiten und sich von dem Schmutz der vergangenen, entwürdigenden Ereignisse des Krieges reinzuwaschen. Eine Expedition versprach neue Ufer, unbekannte Dinge und Wesen, die es zu entdecken und verstehen galt, neue Herausforderungen für die Magie, die sich fortlaufend weiterentwickelte – eben alles andere als das, womit ein offener Krieg in all seinen blutigen, dreckigen und elenden Facetten aufwartete.



Lucretia zupfte sich eine Locke aus der Stirn und sah Al’Jebal aufrecht in die Augen. „Ich erinnere mich an Eure Lehren und werde ihrer gedenken“, sagte sie mit allem Ernst, der ihr innewohnte. „Ich werde hart an mir arbeiten.“ Lucretia fühlte, wie allein durch diese Worte neue Zuversicht in ihr zum Leben erwachte. „Lebt wohl, Al’Jebal.“

 



„Viel Erfolg, Magus Secundus“, antwortete Al’Jebal, und Lucretia machte sich auf den Weg zur Planke. Der neue Titel eines Magus Secundus klang ihr wohlig in den Ohren. Nach ihrer letzten Ausbildung hatte sie der oberste Zauberkundige Gemiramel Weißfels in den nächsthöheren Rang einer Magierin aufsteigen lassen. Neben ihrem Ehrentitel war dies eine Bestätigung dafür, dass ihre Leistungen nicht unbemerkt geblieben waren.



Als sie die Planke betrat, streifte Lucretias Hand über die Lederrolle an ihrem Gürtel.



Was wollt Ihr? Wir können Euch helfen.



Sie hatte die Botschaft aus unbekannter Feder beantwortet oder besser, eine Frage zurückgeschickt, in der Hoffnung, mehr über den Verfasser zu erfahren. Die Antwort war nicht gerade hilfreich gewesen: Jemand, der Euch geben kann, was Ihr Euch wünscht.



Sie hatte sich vorgenommen, einstweilen nicht darauf zu reagieren, erst einmal abzuwarten. Noch hatte sie mit Stowokor nicht über ihr Antwortschreiben gesprochen. Und irgendetwas mahnte sie davor, es in nächster Zeit zu tun.



„Wir bitten um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen!“, rief sie dem Admiral zu, der in eben diesem Moment an Deck der Meerjungfrau erschien und ihr selbstbewusst entgegenpfefferte: „Erteilt!“



Lucretia stieß ein leises Seufzen aus und winkte Stowokor und Ahrsa Kasai heran, die zusammen mit ihr das Schiff bestiegen.



Chara stand hinter Telos, seiner Geliebten, Sarah El’Rohir, und Siralen und schielte zwischen deren Schultern zu Al’Jebal, der sich gerade von Lucretia verabschiedet hatte. Über ihrer Schulter hing ihr kleiner Lederrucksack und eine wasserdichte Lederrolle, in der sie die schwarze Rose verwahrte. Ihre Waffen trug sie alle bei sich, darunter ihre Zweililie, drei Nahuas, zwei Dolche, zwei Wurfmesser, drei Wurfsterne und die Peitsche. Ihre magische Rüstung hatte sie zusammen mit ihrer spärlichen Garderobe, einigen Gebrauchsgegenständen, darunter eine ganz beachtliche Menge an Hatschmana und Jhu-Ju, und fünf ihrer kleinen, noch unbeschriebenen schwarzen Bücher in eine Truhe verfrachtet.



Nachdem sie den Hafen betreten hatte, war auch Kerrim aufgetaucht und hatte sich an ihre Seite gedrängt.



„Aufgeregt?“, hatte er gefragt und ihr dabei draufgängerisch zugezwinkert. Als sie nur ein grummelndes „Hm“ zur Antwort gab, hatte er es dabei belassen und vertrieb sich nun die Zeit damit, die Hafenanlage mit seinen Blicken zu erkunden.



Vierzig weitere Dad Siki Na … Chara sah nach ihren neuen Leibwachen. Dreißig davon verteilten sich über den Hafen und suchten die ihnen zugewiesenen Schiffe der Kommandoflotte, während dreiundzwanzig zusammen mit ihr und den anderen Expeditionsmitgliedern an Bord des Flaggschiffs gehen würden.



Die Aussicht darauf, in Zukunft von sagenhaften dreiundfünfzig Stammeskriegern verfolgt zu werden, war nicht gerade erhebend. Überhaupt war ihr der Gedanke daran, dieses Schiff zu besteigen und auf den weiten Ozean zu segeln, eine regelrechte Drangsal. Zum ersten Mal verspürte sie das brennende Bedürfnis, Al’Jebals Befehl zu verweigern – nicht indirekt, wie sie es bereits getan hatte, sondern von Angesicht zu Angesicht. Einfach vor ihn hintreten und „Nein“ sagen. Nein zu diesem Auftrag, Nein zu ihren neuen Leibwachen, Nein zu ihrer Kommandoposition, Nein zu seinem Entschluss, sie ins Nirgendwo zu schicken, während er hier gegen das Chaosbündnis in den Krieg zog. Die Expedition war wichtig, sicher. Sie selbst hatte während der Allianzfeier klar gemacht, wie wichtig sie war. Aber sie, Chara, konnte nicht viel zu ihrem Gelingen beitragen. Sie war hier in Tamang besser aufgehoben.



Die Zweililie an ihrem Rückengurt drückte unangenehm gegen ihre Wirbelsäule, als sie einen weiteren Schritt in der Reihe nach vorne machte. Telos würde hoffentlich länger mit Reden brauchen als Siralen, die sich, ihrer Rasse kaum angemessen, sparsam verabschiedet hatte.



Ein Blick auf ihren Lehrmeister Assef El’Chan signalisierte ihr, dass der Schwarze Assassine sie im Auge hatte – sie und Kerrim. Das magische Artefakt, das Al’Jebal erwähnt und Kerrim überantwortet hatte, jenes Ding, das ihr auf unbestimmte Zeit die Kommunikation mit dem Namai ermöglichen sollte, war der Beweis für Al’Jebals Vertrauen in ihren braunäugigen Kollegen.



Telos und Sarah traten zur Seite und die tiefrote Robe schob sich in Charas Blickfeld. Mit einem seltsam hohlen Gefühl im Bauch trat sie vor den Sprecher der Allianz. Einst hatte sie geglaubt, in