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Ssolomin erhob sich.

Die Stelle aber, die Sie mir verschaffen wollten? – fragte Marianne plötzlich. Auf ihren Wangen glänzten noch Thränen – aber aus den Augen war die Traurigkeit geschwunden.

Ssolomin setzte sich wieder.

– Wollen Sie denn wirklich rascher von hier fortkommen?

– O nein! aber ich möchte nützlich sein.

– Marianne, Sie sind uns auch hier in hohem Grade nützlich. Verlassen Sie uns nicht, warten Sie noch. – Was wünschen Sie? – fragte Ssolomin die eben eintretende Tatjana. – (Paul allein wurde von Ssolomin »Du« genannt, und auch nur deshalb, weil Jener höchst unglücklich gewesen wäre, wenn Ssolomin jemals »Sie« zu ihm gesagt hätte.)

– Da fragt ein Wesen weiblichen Geschlechts nach Alexei Dmitritsch – antwortete Tatsana schmunzelnd und mit den Händen gestikulirend; – ich sagte ihm, daß er nicht hier, gar nicht bei uns vorhanden wäre, daß wir gar nicht wußten, wer er sei? – Da hat es aber. . .

– Wer denn: es?

– Eben dieses Wesen weiblichen Geschlechts. – Da hat es hier auf diesem Papier seinen Namen niedergeschrieben und gesagt, daß ich das Papier vorzeigen möge – man würde es dann schon hineinlassen; und wenn Alexei Dmitritsch wirklich nicht zu Hause sein sollte, so könnte es warten.

Auf dem Papier stand mit großen Buchstaben geschrieben: Maschurina.

– Lassen Sie sie eintreten, – sagte Ssolomin. – Es wird Sie nicht geniren, Marianne, wenn sie hierher kommt? Sie gehört ja auch zu uns.

– Nicht im Geringsten, durchaus nicht.

Einige Augenblicke hierauf erschien Maschurina auf der Schwelle der Thür – in demselben Kleide, in welchem wir sie zu Anfang des ersten Capitels gesehen.

Einunddreißigstes Capitel

– Neshdanow ist nicht zu Hauses – fragte Maschurina; als sie darauf Ssolomin erblickte, ging sie auf ihn zu und reichte ihm die Hand. – Guten Tag, Ssolomin! – Auf Marianne warf sie nur einen flüchtigen Seitenblick.

– Er wird bald zurückkommen, – antwortete Ssolomin. – Erlauben Sie mir aber zu fragen, von wem haben Sie erfahren. . .

– Von Markelow. – Es ist übrigens auch in der Stadt einigen Menschen bekannt.

– Wirklich?

– Ja. Es muß Jemand geplaudert haben. – Man soll auch Neshdanow selbst erkannt haben, wie es heißt.

– Da haben wir die Maskerade! – brummte Ssolomin. – Erlauben Sie, daß ich Sie mit einander bekannt mache, – setzte er laut hinzu. – Fräulein Ssinetzky, Fräulein Maschurina! – Setzen Sie sich.

Maschurina nickte kaum merklich mit dem Kopf und setzte sich.

– Ich habe einen Brief an Neshdanow; an Sie aber, Ssolomin, eine mündliche Anfrage.

– Was für eine Anfrage? Und von wem?

– Von der Ihnen bekannten Person . . . Ist hier bei Ihnen . . . Alles fertig?

– Nichts ist bei mir fertig.

Maschurina riß ihre kleinen Aeuglein auf, so weit es überhaupt möglich war.

– Nichts?

– Nichts.

– Ganz entschieden nichts?

– Entschieden nichts.

– Und so soll ichs sagen?

– So sollen Sie sagen.

Maschurina dachte nach und zog eine Cigarette aus der Tasche.

– Darf ich um Feuer bitten?

– Hier ist ein Zündhölzchen.

Maschurina rauchte ihre Cigarette an.

– Das hatte »sie« nicht erwartet, – sagte sie. – Und auch rings umher steht es anders, als bei Ihnen. Uebrigens ist das Ihre Sache. Ich bleibe auch nicht lange hier. Ich mochte blos Neshdanow sehen und ihm einen Brief übergeben.

– Wohin reisen Sie denn?

– In weite Ferne. (Sie reiste eigentlich nach Genf, wollte es ihm jedoch nicht sagen. Er schien ihr nicht ganz zuverlässig und dann war auch eine »Fremde« zugegen. Maschurina, die kaum ein Wort Deutsch verstand, wurde nach Genf geschickt, um dort einer ihr unbekannten Persönlichkeit die Hälfte eines Cartons, mit einem darauf gezeichneten Weintraubenzweige und 279 Rubel einzuhändigen)

– Und wo ist Ostrodumow? Mit Ihnen?

– Nein.

Er ist hier in der Nähe stecken geblieben. Er wird von sich schon hören lassen. Pimen geht nicht verloren. Da braucht man sich nicht zu beunruhigen.

– Wie sind Sie hergekommen?

– In einem Karren. . . Wie denn sonst? Geben Sie mir noch ein Zündhölzchen.

Ssolomin reichte ihr ein brennendes Zündhölzchen.

– Wassili Fedotitsch! – flüsterte plötzlich Jemand hinter der Thür. – Kommen Sie, bitte!

– Wer ist da? Was wollt Ihr?

– Kommen Sie! – wiederholte dieselbe Stimme eindringlich; – es sind fremde Arbeiter gekommen und schwatzen da allerlei, Paul Jegoritsch aber ist fort.

Ssolomin entschuldigte sich, stand auf und ging hinaus. Maschurina richtete nun die Augen aus Marianne und sah sie so lange an, daß diese fast verlegen wurde.

– Verzeihen Sie, – sagte Maschurina plötzlich mit der ihr eigenen rauhen, holperigen Stimme, – ich bin eine einfache Person, ich verstehe nicht . . . so . . . Seien Sie mir nicht böse; wenn Sie nicht wollen – brauchen Sie mir nicht zu antworten. Sind Sie das Mädchen, welches aus Ssipjagin’s Hause entflohen ist?

Marianne wunderte sich über diese Frage, antwortete jedoch:

– Ja.

– Mit Neshdanow?

– Nun ja.

– Erlauben Sie . . . geben Sie mir Ihre Hand. Vergeben Sie mir, bitte. Sie müssen gut sein, wenn er Sie lieb gewonnen hat.

Marianne drückte ihr die Hand.

– Und Sie sind mit Neshdanow gut bekannt?

– Ich kenne ihn. Ich habe ihn in Petersburg gesehen. Daher sage ich es

auch. Ssergei Michailowitsch hat mir auch von ihm gesprochen . . .

– Ah, Markelow! Sie haben ihn unlängst gesehen?

– Ja. Jetzt ist er fort.

– Wohin?

– Dahin, wohin man ihn geschickt hat.

Marianne seufzte- – Ach, Fräulein Maschurina, ich fürchte für ihn.

– Erstens, was bin ich für ein Fräulein? Diese Manieren muß man sich abgewöhnen. Zweitens aber . . . Sie sagen: »ich fürchte.« Auch das taugt zu nichts. Wenn man für sich selbst nicht fürchtet, so wird man auch für die Anderen zu fürchten aufhören. Man soll weder an sich denken, noch für sich fürchten. Das Eines vielleicht . . . das Eine kommt mir in den Sinn: ich, Thekla Maschurina, habe gut reden. Ich bin häßlich. Sie aber . . . Sie sind schön. Es muß Ihnen dies also schwerer fallen (Maschurina schlug die Augen nieder und wandte sich ab.) Markelow sagte mir . . . Er wußte, daß ich einen Brief für Neshdanow bei mir hatte. . . . »Geh Du nicht auf die Fabrik,« – sagte er mir, – »laß den Brief; er wird dort viel Verwirrung anrichten. Laß das. Sie sind so glücklich . . . Mögen sie es bleiben. Störe ihren Frieden nicht!« Ich hätte es ja auch gern gethan aber was mache ich dann mit dem Brief?

– Sie müssen ihn abliefern, durchaus, – versetzte Marianne, – wie er aber gut ist, Ssergei Michailowitsch! Muß er denn wirklich zu Grunde gehen, Maschurina . . . oder nach Sibirien wandern?

– Was ist denn daran? Als ob es unmöglich wäre, auch aus Sibirien zu entfliehen? Und das Leben verlieren?l Nun, dem Einen ist es süß, dem Anderen bitter. Und sein Leben ist gerade nicht – zuckersüß.

Maschurina sah Marianne von Neuem lange mit forschenden, durchdringenden Blicken an.

– Das muß man sagen, Sie sind schön, – rief sie endlich, – wahrhaft, ein Vögelchen! Ich denke – Alexei – kommt noch immer nicht – ob ich nicht Ihnen den Brief übergeben soll? Was soll ich noch lange warten?

– Ich werde ihm denselben abgeben, seien Sie davon überzeugt.

Maschurina stützte den Kopf in die Hand und blieb eine geraume Zeit stumm.

– Sagen Sie, – begann sie, – verzeihen Sie . . . lieben Sie ihn sehr?

– Ja.

Maschurina hob rasch ihren schweren Kopf.

– Nun, ob er Sie gleichfalls liebt – brauche ich nicht zu fragen! Ich will jetzt fahren, denn sonst verspäte ich mich wohl noch gar. Sagen Sie ihm, daß ich hier gewesen . . . daß ich ihn grüßen lasse. Sagen Sie Maschurina sei hier gewesen. Werden Sie den Namen nicht vergessen? Nein? Maschurina. Den Brief aber . . . Wo habe ich ihn denn gleich gelassen?

Maschurina erhob sich, wandte sich ab, that, als ob sie in ihren Taschen suchte, führte jedoch rasch das zusammengedrehte Papierschnitzelchen zum Munde und verschluckte es. – Gott im Himmel! Wie das aber dumm ist! Sollte ich ihn verloren haben? Es scheint, daß ich ihn wirklich verloren. Dieses Unglück! Wenn er nur nicht in fremde Hände geräth . . . Nein, ich finde ihn nicht. So ist es doch gekommen, wie Ssergei Michailowitsch es gewünscht hat!

– Suchen Sie ordentlich nach, – flüsterte Marianne.

Maschurina machte eine abwehrende Handbewegung. – Nein! Was soll man da suchen! Er ist verloren! Marianne trat näher an sie heran.

– Nun, so küssen Sie mich!

Maschurina umarmte Marianne plötzlich mit fast männlicher Kraft und drückte sie an ihr Herz.

– Ich hätte es für Niemanden gethan, – sprach sie mit leiser Stimme, – es ist gegen mein Gewissen . . . zum ersten Mall Sagen Sie ihm, daß er vorsichtiger sein möchte. . . Und Sie auch. Geben Sie Acht! Hier wird es bald Allen schlecht, sehr schlecht ergehen. Macht fort, so lange . . . Leben Sie wohl! – setzte sie laut und scharf hinzu. – Und noch eins sagen Sie ihm . . . Nein, es ist nichts nöthig, nichts.

Maschurina ging hinaus und schlug die Thür hinter sich zu; Marianne aber blieb in Gedanken versunken inmitten des Zimmers stehen.

– Was ist denn das? – sagte sie endlich, – dieses Frauenzimmer liebt ihn ja mehr als ich! Und was haben ihre Anspielungen zu bedeuten? Und warum ist Ssolomin fortgegangen und kommt nicht zurück?

Sie begann auf und ab zu gehen. – Ein seltsames Gefühl – eine Mischung von Schreck, Aerger und Verwunderung – bemächtigte sich ihrer. – Warum war sie nicht mit Neshdanow gefahren? – Ssolomin hatte ihr abgerathen . . . wo bleibt er aber? Und was geht hier vor? – Maschurina hat ihr natürlich aus Theilnahme für Neshdanow jenen gefährlichen Brief nicht geben wollen. . . Wie konnte sie sich aber zu solchem Ungehorsam entschließen? – Wollte sie ihre Großmuth zeigen? Mit welchem Recht? Und weshalb war sie, Marianne, durch diese Handlung so gerührt? War sie denn auch wirklich gerührt? – Ein unschönes Frauenzimmer interessirt sich für einen jungen Menschen. . . Ist das im Grunde so ungewöhnlich? Und woraus schließt Maschurina, daß Mariannens Anhänglichkeit an Neshdanow stärker sei als das Gefühl der Pflicht? Vielleicht hätte Marianne dies Opfer gar nicht verlangt? Und was konnte jener Brief enthalten? Die Aufforderung, sofort zur That zu schreiten? Was ist denn daran!!

 

Aber Markelow! Er ist in Gefahr . . . und was thun wir? – Markelow schont uns, er will uns die Möglichkeit geben, glücklich zu sein, uns nicht trennen zu müssen was ist das? Ist das auch Großmuth . . . oder Verachtung?

Und sind wir denn deshalb aus jenem verhaßten Hause entflohen, um hier zusammen zu bleiben und wie zwei Täubchen zu girren?

So dachte Marianne . . . Immer höher stieg in ihr jene erregte Erbitterung. Auch in ihrer Eigenliebe fühlte sie sich gekränkt. Weshalb haben Alle sie verlassen – Alle? Diese »dicke« Maschurina hatte sie ein Vögelchen, hatte sie eine Schönheit genannt . . . warum denn nicht gerade heraus eine Puppe? – Und warum ist Neshdanow nicht allein gefahren, sondern mit Paul? Als ob er einen Vormund brauchte! Und was hat denn Ssolomin eigentlich für Ansichten? Er ist durchaus kein Revolutionär! Und könnte denn wirklich Jemand glauben, daß sie der Sache nicht ernstlich zugethan sei?

Das waren die Gedanken, die sich in Mariannen’s erhitztem Kopfe drehten und jagten. Die Lippen aneinanderpressend und die Hände nach Männerart kreuzend, sank sie endlich neben dem Fenster auf einen Stuhl, und blieb, ohne sich anzulehnen, unbeweglich auf demselben voll Erwartung, voll Spannung sitzen, bereit, jeden Augenblick aufzuspringen. Zu Tatjana gehen, bei ihr arbeiten – das wollte sie nicht; sie wollte nur eins: warten! – Und sie wartete, hartnäckig, fast verbissen. – Zuweilen schien ihr selbst die eigene Stimmung seltsam und unbegreiflich. . . Aber es bleibt sich gleich! Ein Mal fuhr es ihr sogar durch den Kopf, ob dies Alles nicht gar Eifersucht sei! Aber der Figur der armen Maschurina gedenkend, zuckte sie nur die Achseln und schlug mit der Hand in die Luft . . . nicht in Wirklichkeit, sondern durch eine, dieser Geste entsprechende, innere Bewegung.

Marianne mußte lange warten: endlich vernahm sie die Schritte zweier Menschen, welche die Treppe hinaufstiegen. Sie heftete den Blick auf die Thür die Schritte näherten sich. – Die Thür ging auf – und Neshdanow, von Paul gestützt, erschien auf der Schwelle. Er war todtenbleich, ohne Mühe; das zerzauste Haar fiel ihm in nassen Büscheln auf die Stirn; die Augen starrten in’s Leere, ohne etwas zu sehen. – Paul führte ihn über’s Zimmer (Neshdanow’s Füße bewegten sich matt und unsicher) und ließ ihn in den Divan sinken.

Marianne sprang auf.

– Was bedeutet das? Was ist ihm? Ist er krank?

Der mit Neshdanow beschäftigte Paul antwortete ihr lächelnd über die Schulter:

– Beunruhigen Sie sich nicht: es wird gleich vorübergehen. . . Es macht das die Ungewohnheit!

– Was ist denn mit ihm? – wiederholte Marianne nachdrücklich ihre Frage.

– Es ist ein kleiner Rausch. – Der Herr hat etwas Branntwein getrunken auf nüchternen Magen, nun, und da ist natürlich . . .

Marianne beugte sich über den in halb liegender Stellung auf den Divan schräge hingestreckten Neshdanow; sein Kopf fiel aus die Brust, die Augen waren wie verschleiert . . . Er roch nach Branntwein: er war betrunken.

– Alexei! – entfuhr es ihren Lippen.

Mit Mühe hob er die schweren Lider und versuchte zu lächeln.

– Ah! Marianne! – stammelte er, – Du sagtest immer: ver . . . verein . . . vereinfachte Leute; – setzt bin ich wirklich vereinfacht. – Denn unser Voll ist immer betrunken . . . folglich . . .

Er verstummte; dann brummte er noch ein paar unverständliche Worte durch die Zähne, schloß die Augen – und schlief ein. – Paul legte ihn sorgsam auf den Divan.

– Beunruhigen Sie sich nicht« Marianne Wikentjewna, – wiederholte er, – er wird jetzt zwei Stündchen schlafen – und wenn er aufsteht, ist er wieder wohl und munter.

Marianne hätte Paul gern gefragt, wie das Alles gekommen; ihre Fragen hätten ihn aber zurückgehalten, und sie wollte allein sein . . . das heißt, sie wollte nicht, daß Paul ihn noch länger in ihrer Gegenwart in diesem widerwärtigen Zustande sähe. Sie wandte sich zum Fenster – Paul aber, der sofort Alles begriff, breitete vorsichtig die Schöße von Neshdanow’s Kittel über dessen Füße, legte ihm ein kleines Kissen unter den Kopf, wiederholte: – es thut nichts! – und entfernte sich aus den Zehen.

Marianne wandte sich um. Neshdanow’s Kopf war 3 tief in das Kissen gesunken; auf dem blassen Antlitz machte sich eine gewisse regungslose Spannung bemerkbar, wie bei einem Schwerkranken.

»Wie ist das geschehen?« – dachte sie.

Zweiunddreißigstes Capitel

Das war aber so geschehen: Als sich Neshdanow zu Paul auf den Karren setzte, gerieth er plötzlich in heftige Aufregung, und begann, sobald sie die Fabrik verlassen hatten und auf der Landstraße auf dem Wege nach T. dahinfuhren, die vorübergehenden Bauern anzurufen und anzuhalten und allerlei kurze, aber ungehörige Reden laut werden zu lassen: – »Was schlaft Ihr denn? Auf! Erhebt Euch! Es ist Zeit! Fort mit den Steuern! Fort mit den Gutsbesitzern!« Die Einen sahen ihn verwundert an; Andere gingen weiter, ohne aus seinen Zuruf zu achten: – sie hielten ihn für einen Betrunkenen; der Eine unter ihnen erzählte sogar zu Hause, daß er unterwegs einen Franzosen gesehen habe, der ihm Etwas zugeschrieen – »unverständliches kauderwälsches Zeug.« – Neshdanow hatte Verstand genug, um einzusehen, wie unsagbar dumm und sogar sinnlos sein Beginnen war; er hatte sich aber bereits so sehr »verrannt,« daß er nicht mehr unterscheiden konnte, was klug und Was dumm sei. Paul gab sich die größte Mühe, ihn zu beruhigen, erklärte ihm, daß es doch nicht angehe, so zu schreien, daß sie bald in einem großen Kirchdorf sein würden: «Weiberquellen,« dem ersten an der Grenze des Kreises T. und daß man dort Erkundigungen einziehen könnte. . . Aber Neshdanow schenkte ihm kein Gehör . . . und doch lag eine gewisse Traurigkeit, ja sogar Verzweiflung auf seinem Antlitz. – Sie hatten ein kleines, rundes, munteres Pferdchen mit beschnittener Mähne auf dem stramm gebogenem Halse; hastig griff es mit den kleinen starken Füßen aus und riß an den Zügeln, als ob es dringende Eile habe und unentbehrliche Leute führe. – Unweit des Kirchdorfes »Weiberquellen« bemerkte Neshdanow etwas abseits vom Wege vor einem offenen Kornspeicher eine kleine Schaar von ungefähr acht Bauern; er sprang sogleich vom Karten, lief aus sie zu und sprach wohl fünf Minuten lang, zuweilen plötzlich aufschreiend und heftig mit den Armen gestikulirend. – Die Worte: »Für die Freiheit! Vorwärts! Setzen wir unser Leben ein drangen unter vielen andern, weniger verständlichen Worten hell-kreischend aus seiner Brust. Die Bauern, welche ( sich vor dem Kornspeicher versammelt hatten, um zu besprechen, wie man ihn wieder füllen könnte – wenigstens des guten Beispiels halber – (es war ein Gemeinde-speicher und folglich leer) – starrten ihn an und schienen ihm mit großer Aufmerksamkeit zuzuhören; es hatte jedoch schwerlich Einer unter ihnen etwas davon begriffen, denn als er endlich, nachdem er ihnen noch zum letzten Mal das Wort: Freiheit! zugeschrieen, fortstürzte, sagte einer von den Bauern, gerade der scharfsichtigste, indem er melancholisch den Kopf schüttelte: »Was für ein strenger Herr!« – ein Anderer aber bemerkte: »Es ist wohl irgend Jemand von der hohen Obrigkeit!«, – worauf der Scharfsichtige erwiderte: »Natürlich – er wird sich doch nicht umsonst die Kehle ausschreien. – Wie unser Geld jetzt tanzen wird!« – Und auch Neshdanow selbst dachte, als er wieder auf den Karten sprang und sich neben Paul setzte: »Gott! was für ein Unsinn! – Aber es weiß ja Niemand unter uns, wie man das Volk eigentlich aufwiegeln muß – es kann ja auch so richtig sein! – Jetzt ist nicht Zeit darüber nachzudenken! Vorwärts! Das Herz ist wie zusammengeschnürt! Mag’s sein!«

Sie kamen in’s Kirchdorf. Auf der Hauptstraße desselben drängte sich vor der Schenke eine ziemliche Menge Volks. Paul wollte Neshdanow zurückhalten, er sprang jedoch pfeilschnell vom Karten herunter und stürzte sich mit dem Klageschrei »Brüder!« in den Volkshaufen. . . Die Bauern traten ein wenig auseinander und Neshdanow begann von Neuem zu predigen, ohne Jemand dabei anzusehen, als ob er sich ärgere und fast weinte. Das Resultat war hier jedoch ein anderes, als vor dem Kornspeicher. Ein großmächtiger Bursche mit bartlosem, aber wildem Gesicht, in einem kurzen, beschmutzten Halbpelz, hohen Stiefeln und mit einer Schafsmütze auf dem Kopf, trat an Neshdanow heran, schlug ihm, weit ausholend, aus die Schulter und rief mit lauter, weithallender Stimme: – »Gut! Bist ein prächtiger Kerl! – doch halt! weißt Du denn nicht, daß der trockene Löffel den Mund wund brennt?Komm her! Hier ist’s besser sprechen.« – Er zog Neshdanow in die Schenke; der ganze Haufe stürzte ihnen nach. – »Micheitsch!« – schrie der Bursche, – »nun, gieb mal her – meinen geliebten Humpen – für zehn Kopeken! Ich traktire hier einen Freund! Wer er ist und wo er herkommt – das weiß der Teufel! – Auf die Adeligen aber schimpft er meisterhaft!« – Trinke!« – wandte er sich zu Neshdanow und füllte ein von außen « nasses, wie beschwitztes schweres Glas; – »trinke, wenn Dir unser Leid wirklich am Herzen liegt!« – »Trinke!« – schrien die Anderen. – Neshdanow ergriff den Humpen (er wußte nicht mehr recht, was er that), rief: »Auf Euer Wohl, Bruder!« und leerte den Humpen auf einen Zug. – Huh! – Er hatte ihn mit demselben Muth der Verzweiflung geleert, mit dem er sich im Sturm auf eine Batterie oder gegen die feindlichen Bajonnette geworfen haben würde. . . . Was war aber mit ihm geschehen? Er schien einen plötzlichen Schlag zu empfinden längs dem Rücken bis in die Füße hinab, ihm brannte die Kehle, die Brust, der Magen, Thränen drangen ihm in die Augen. . . Ein Schauder des Widerwillens durchzuckte seinen Körper – den er kaum zu bewältigen vermochte. Er begann laut zu schreien, um diesen Widerwillen zu betäuben. – Es wurde in der dunklen Schenkstube plötzlich so schwül, so eng, so klebrig-heiß; und wie überfüllt sie war! – Neshdanow fing nun zu reden an, zu schreien, mit Leidenschaft, ja mit Raserei zu schreien, auf breite hölzerne Handflächen dreinzuschlagen, schmutzige feuchte Bärte zu küssen. . . Auch der großmächtige Bursche im Halbpelz küßte ihn – und hätte ihm dabei fast die Rippen gebrochen. Dieser Bursche erwieß sich grader als ein Wütherich. – »Den Hals schneide ich ab!« – brüllte er, – »den Hals schneide ich einem Jeden ab, der unser Einen beleidigt! – Oder ich zerschmettere ihm das Hirn. . . Wie er mir winseln soll! Mir ist’s ein Leichtes: bin ich doch Fleischer gewesen; – ich weiß sehr gut, wie dergleichen gemacht wird!« und dabei zeigte er seine mächtige, rothe, mit Sommersprossen bedeckte Faust. . . Und da – o Gott! – schrie wieder Jemand! »Trinke!« – und Neshdanow stürzte ein zweites Glas mit dem widerwärtigen Gift hinunter. – Dies zweite Glas aber war fürchterlich! Ihm war es, als ob man ihm sein Inneres mit stampfen Haken ausgerissen hätte. – Der Kopf wirbelte ihm – grüne Kreise flimmerten ihm vor den Augen. – Es erhob sich ein furchtbares Getöse, ein Geklimpe! wie von Schellen. . . O Schrecken! Der dritte Humpen. . . Wird er auch den leeren müssen? Kupferrothe Nasen drangen auf ihn ein, bestäubte Haare, eingebrannte Hälse, von Runzeln überdeckte Nacken. – Er fühlte sich von harten Händen angefaßt. – »Zeige Deine Liebe!« kreischten rasende Stimmen. – »Erzähl’ uns! Gestern hat hier ein anderer Fremdling ebenso famos geschwatzt. – Los, Du Hund!« . . . Der Boden schwankte unter Neshdanow’s Füßen. – Die eigene Stimme schien ihm fremd, als ob sie von außen käme. . . Ist das der Tod, oder was?

Und plötzlich . . . das Empfinden frischer Luft im Antlitz – und kein Gedränge mehr, keine rothen Gesichter, kein Dunst von Branntwein, von Schafspelzen, von Theer. Leder. . . Er sitzt wieder neben Paul auf dem Karten; anfangs will er sich losreißen und schreit: »Wohin? Halt! Ich habe ja noch nichts gesagt – man muß ihnen doch Alles auseinandersetzen . . . « dann fügte er aber hinzu: »Was hast Du denn selbst für Ansichten, hinterlistiger Teufel?« – Paul aber antwortet ihm: »Gut wäre es wohl, wenn es keine Herren gäbe und das ganze Land uns gehören würde – was könnte man sich denn Besseres wünschen? – aber ein solcher Befehl ist noch nicht erlassen worden;« – dabei wendet er aber langsam das Pferd zurück, giebt demselben plötzlich mit der Leine einen Schlag auf den Rücken, und jagt in vollem Galopp davon . . . auf die Fabrik.

 

Neshdanow schlummert – und wird sanft geschaukelt – der Wind aber kühlt ihm so angenehm das Antlitz – und läßt keine bösen Gedanken aufkommen.

Es ärgert ihn nur« daß er sich nicht hat aussprechen können. . . Und wieder fächelt der Wind dem erhitzten Antlitz Kühlung zu.

Dann aber taucht für einen Augenblick Mariannen’s Bild vor ihm auf – ein momentanes, brennendes Gefühl der eigenen Schmach, – und dann – ein tiefer, todtähnlicher Schlaf. . .

Dies Alles hatte Paul später Ssolomin erzählt. Er verhehlte ihm auch nicht, daß er selbst Neshdanow am Trinken nicht gehindert . . . denn sonst hätte er ihn aus aus der Schenke nicht herausschaffen können. Die Andern hätten ihn nicht fortgelassen.

– »Als er aber schon ganz schwach geworden war, da bat ich denn auch recht höflich: »Ihr ehrenwerthen Herren, laßt mir das Bürschlein; Ihr seht, es ist noch blutjung« . . . Nun, da haben sie ihn mir auch gelassen; – gieb aber fünfzig Kopeken Abstandsgeld, riefen sie! – So gab ich sie auch.

– Und hast gut daran gethan. – lobte ihn Ssolomin.

* * *

Neshdanow schlief; Marianne aber saß am Fenster und blickte in den Garten hinab.

– Und seltsam! – Die schlechten, fast bösen Gefühle und Gedanken, welche sie vor der Rückkehr Neshdanow’s und Pauls in solche Aufregung versetzt hatten, waren plötzlich geschwunden; Neshdanow selbst war ihr weder unangenehm noch widerwärtig: sie fühlte nur Mitleid mit ihm. Sie wußte sehr gut, daß er kein liederlicher Mensch, kein Trunkenbold war, und dachte schon daran, ihm beim Erwachen etwas recht Freundliches zu sagen, damit er sich nicht zu sehr schäme und betrübe. »So muß man es machen: er muß selbst erzählen, wie dies Unglück über ihn gekommen ist.«

Sie war ruhig; aber sie war traurig . . . unsäglich traurig. Es war ihr, als ob ein echter Hauch aus jener Welt, zu der sie hinstrebte, sie angeweht habe . . . und sie erschrak vor dieser Rohheit und Finsterniß. – Welchem Moloch wollte sie sich zum Opfer bringen?

Und doch – nein! Es kann nicht sein? Das war zufällig und wird gleich vorübergehen. Es war nur ein momentaner Eindruck, der nur deshalb von so großer Wirkung auf sie gewesen, weil er so unerwartet kam. – Sie stand auf, trat an den Divan, auf welchem Neshdanow lag, trocknete mit ihrem Tuch seine auch im Schlaf qualvoll gerunzelte Stirn, strich sein Haar zurück. . .

Sie fühlte von Neuem Mitleid mit ihm; so bemitleidet eine Mutter ihr krankes Kind. – Es war ihr jedoch etwas peinlich ihn anzusehen – sie ging daher in ihr Zimmer, ließ die Thür aber offen.

Sie nahm keine Arbeit zur Hand, setzte sich wieder, und begann von Neuem zu sinnen. Sie fühlte, wie die Zeit dahin schwand, wie eine Minute nach der anderen verstrich, und es war ihr sogar angenehm dies zu empfinden – das Herz pochte – und wieder begann sie zu warten.

Wo nur Ssolomin bleibt?

Leise knarrte die Thür – und Tatjana trat in’s Zimmer.

– Was wünschen Sie? – fragte Marianne fast ärgerlich.

– Marianne Wikentjewna, – begann Tatjana mit halblauter Stimme. – Hören Sie, was ich Ihnen sagen wollte: Sie müssen sich nicht betrüben! Das kommt ja vor im menschlichen Leben; – und Gott sei Dank, daß – Ich bin nicht im Geringsten betrübt, Tatjana Ossipowna, – unterbrach sie Marianne, – Alexei Dmitritsch ist nicht ganz wohl. Was ist denn dabei!

– Nun, dann ist ja Alles gut! Denn ich sitze und denke: warum kommt meine Marianne Wikentjewna nicht? Was ist ihr geschehen? – Ich würde aber doch nicht zu Ihnen gekommen sein, denn hier ist die Hauptregel: Nicht rühren daran! – Aber da ist hier auf der Fabrik Jemand erschienen – was weiß ich, wer es ist: Ein kleines, lahmes Männlein: ich solle gehen und ihm Alexei Dmitritsch schaffen! – Und wie wunderbare am Morgen fragt dies Weiblein da nach ihm . . . jetzt aber dies lahme Männlein. – Wenn aber, sagt er, Alexei Dmitritsch nicht da sei, so soll ich ihm Wassili Fedotitsch schaffen! – Sonst gehe ich nicht fort von hier, denn, sagt er, es ist eine sehr wichtige Sache. Wir versuchten ihn fortzujagen, wie jenes Weibchen. – Wassili Fedotitsch ist nicht da; . . . jener Lahme sagt aber: ich bleibe hier und werde warten bis zur Nacht. . . . So spaziert er denn auf dem Hof. Kommen Sie hierher, in den Korridor; Sie können ihn aus dem Fenster sehen . . . wissen Sie nicht, was das für ein Herrchen ist?

Marianne folgte Tatjana – sie mußte an Neshdanow Vorübergehen – es fiel ihr wieder die krankhaft gerunzelte Stirn auf und sie fuhr wieder mit dem Tuch über dieselbe. – Durch das verstaubte Fenster erblickte sie den Herrn, von dem Tatjana gesprochen Sie kannte ihn nicht. – In diesem Augenblicke aber bog Ssolomin um die Ecke des Hauses.

Das kleine lahme Männlein ging rasch auf ihn zu und reichte ihm die Hand. – Ssolomin ergriff dieselbe. Er kannte also offenbar diesen Menschen Beide verschwanden.

Jetzt hörte man bereits ihre Schritte auf der Treppe Sie kommen hierher . . .

Marianne kehrte in ihr Zimmer zurück – und blieb in der Mitte desselben, heftig athmend, stehen. – Sie fürchtete . . . was? Sie wußte es selbst nicht.

In der Thür zeigte sich Ssolomin’s Kopf.

– Marianne Wikentjewna, erlauben Sie bei Ihnen einzutreten. Ich habe hier Jemanden mitgebracht, den Sie durchaus sehen müssen.

Marianne nickte nur bejahend mit dem Kopf, und hinter ihm erschien auch sogleich – Paklin.