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Das adelige Nest

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Neunzehntes Kapitel

Der folgende Tag war ein Sonntag. Der Glockenklang, der zur Frühmesse rief, weckte Lawretzky nicht auf, denn er hatte die ganze Nacht kein Auge geschlossen, erinnerte ihn aber an einen andern Sonntag, als er, dem Wunsche Liesens gemäß, in die Kirche ging. Er stand eilig auf; eine geheime Stimme sagte ihm, er würde sie auch heute in der Kirche treffen. Geräuschlos verließ er das Haus, ließ Warwara Pawlowna, die noch schlief, sagen, er würde zu Mittag nach Hause kommen, und ging mit großen Schritten dorthin, wohin ihn der einförmig traurige Glockenklang rief. Er kam früh; noch war die Kirche fast leer. Am Altare las ein Sacristan die Horen. Seine von Zeit zu Zeit von Husten unterbrochene Stimme tönte einförmig bald laut, bald leise.

Lawretzky stellte sich nicht weit vom Eingange hin, die Andächtigen kamen Eines nach dem Andern, blieben stehen, schlugen das Zeichen des Kreuzes und grüßten nach allen Seiten hin; ihre Schritte klangen durch die Leere und Stille wieder, dumpf unter den Wölbungen wiederhallend. Eine schwache alte Frau in einem abgetragenen alten Kleide, in eine Kapuze gehüllt, kniete neben Lawretzky und betete andächtig; ihr zahnloses, gelbes, runzeliches Gesicht drückte andächtige Spannung aus; die rothen Augen blickten fest in die Höhe und waren auf die Gottesbilder geheftet; sie streckte die knöcherne Hand unter der Kapuze hervor und machte langsam und fest ein großes und breites Kreuz.

Ein Butter mit dichtem Bart, mit finsteren Zügen, struppigen Haaren und fahlem Gesichte kam in die Kirche, kniete gleichfalls nieder, und schlug das Zeichen des Kreuzes, sich bald zurückwerfend, bald mit dem Kopfe nach jedem Kreuze schüttelnd. Es sprach sich solch bitteres Leid in seinem Gesichte, in allen seinen Bewegungen aus, daß Lawretzky sich entschloß, zu ihm zu gehen, und ihn zu fragen, was er hätte. Erschreckt und finster wich der Bauer zurück und blickte ihn an »Mein Sohn ist todt,« sagte er eilig und fing wieder an zu beten.

»Was kann den Leuten der Trost der Kirche ersetzen?« – dachte Lawretzky und versuchte selbst zu beten; ihm war es aber so schwer um’s Herz, er war so erbittert, und seine Gedanken waren fern. Er erwartete Liese, – sie kam aber nicht. Die Messe begann. Der Diaconus hatte das Evangelium gelesen, man läutete zum Schlusse; Lawretzky trat einige Schritte vor – und erblickte mit einem Male Liese. Sie war früher als er gekommen, er hatte sie aber nicht bemerkt; sie hatte sich in einen Winkel zwischen der Mauer und dem Altar gedrückt, blickte sich nicht um und rührte sich nicht. Lawretzky sah sie unverwandt an; er nahm Abschied. Das Volk ging auseinander, sie aber rührte sich nicht; sie schien die Entfernung Lawretzky’s abwarten zu wollen. Endlich bekreuzte sie sich zum letzten Mal und ging, ohne sich umzusehen; nur ein Kammermädchen war bei ihr. Lawretzky folgte ihr und erreichte sie auf der Straße; sie ging sehr schnell, mit gesenktem Haupte und das Gesicht mit einem Schleier bedeckt.

»Guten Tag, Lisawetha Michailowna,« sagte er laut, indem er sich Mühe gab, vergnügt zu scheinen; »darf ich Sie begleiten?«

Sie sagte nichts und er ging neben ihr.

»Sind Sie mit mir zufrieden?« fragte er, die Stimme senkend. »Sie haben gehört, was gestern geschehen ist?«

»Ja, ja,« sagte sie leise, »das ist recht.«

Sie ging noch schneller?

»Sind Sie zufrieden?«

Liese nickte nur mit dem Kopfe.

»Feodor Iwanitsch,« begann sie mit ruhiger, aber schwacher Stimme, – »ich wollte Sie bitten, kommen Sie nicht mehr zu uns, verreisen Sie bald; wir können uns später wiedersehn, – irgend wann, über ein Jahr. Jetzt aber thuen Sie das für mich; um Gottes willen erfüllen Sie meine Bitte.«

»Ich bin bereit, Ihnen in Allem zu gehorchen, Lisawetha Michailowna; sollen wir uns aber so trennen? Werden Sie mir kein einziges Wort sagen?«

»Feodor Iwanitsch, jetzt gehen Sie neben mir . . . und doch sind Sie schon so fern, so fern von mir. Und nicht Sie allein, sondern . . .«

»Sprechen Sie aus, ich bitte Sie!« rief Lawretzky; – »was wollen Sie sagen?«

»Sie werden vielleicht hören . . . geschehe aber was da wolle, vergessen Sie . . . nein, vergessen Sie mich nicht, erinnern Sie sich meiner.«

»Ich« Sie vergessen?« . . .

»Genug, leben Sie wohl, folgert Sie mir nicht.«

»Liese!« begann Lawretzky wieder.

»Leben Sie wohl, leben Sie wohl!« wiederholte sie, senkte ihren Schleier noch tiefer und begann fast zu laufen.

Lawretzky blickte ihr nach, senkte den Kopf und ging zurück. Er stieß aus Lemm, welcher, mit fast auf die Augen gedrücktem Hut und finster aus die Erde blickend, daher ging. Sie blickten sich schweigend an.

»Nun, was sagen Sie?« fragte endlich Lawretzky.

»Was ich sage?« erwiderte Lemm mit finsterem Blicke, »ich sage nichts; Alles ist todt und wir sind todt. Sie müssen rechts gehen, nicht wahr?«

»Rechts.«

»Und ich links; leben Sie wohl!«

* * *

Den folgenden Morgen reiste Feodor Iwanitsch mit seiner Frau nach Lawriky. Sie fuhr, in Begleitung von Ada und Justine, in einem Wagen voraus; er folgte in einer leichten Kalesche. Während des ganzen Weges wich das hübsche Kind nicht vom Wagenfenster; Alles setzte sie in Erstaunen: die Bauern, die Bäuerinnen, die Hütten, die Brunnen, die Krummhölzer der Pferde, die Glöckchen unter diesen Hölzern und die Menge von Raben auf dem Felde. Justine theilte ihr Erstaunen; Warwara Pawlowna lachte über ihre Bemerkungen und Ausrufungen. Sie war gut gekannt; vor ihrer Abreise aus der Stadt O. hatte sie eine Erklärung mit ihrem Manne gehabt.

»Ich begreife Ihre Lage,« sagte sie ihm, – und aus dem Ausdrucke ihrer klugen Augen konnte er schließen, daß sie seine Lage vollkommen begreife; – »Sie werden mir aber die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß es sich mit mir leicht leben läßt. Ich werde mich Ihnen nicht aufdrängen, Sie nicht beunruhigen; ich wollte die Zukunft Ada’s sichern; mehr brauche ich nicht.«

»Und Sie haben Ihr Ziel erreicht,« sagte Feodor Iwanitsch.

»Jetzt habe ich nur einen Gedanken: mich auf ewig in der Einsamkeit zu begraben; ewig werde ich Ihrer Wohlthaten gedenken.«

»Pfui! Hören Sie auf!« unterbrach er sie.

»Ich werde Ihre Unabhängigkeit und Ihre Ruhe zu ehren wissen« endigte sie ihren vorbereiteten Satz.

Lawretzky grüßte sie tief. Warwara Pawlowna verstand, daß ihr Mann ihr im Herzen dankte.

Am folgenden Tag kamen sie gegen Abend nach Lawriky; eine Woche später reiste Lawretzky nach Moskau, seiner Frau fünftausend Rubel hinterlassend; den Tag nach »der Abreise Lawretzky’s meldete sich Panschin, den Warwara Pawlowna eingeladen hatte, sie in ihrer Einsamkeit nicht zu vergessen. Sie empfing ihn mit großer Zuvorkommenheit und bis spät in die Nacht klangen die hohen Zimmer und der Garten von Musik, Gesang und fröhlichem, französischem Geplauder wieder. Drei Tage blieb Panschin bei Warwara Pawlowna; als er von ihr Abschied nahm, und ihr fest die schönen Hände drückte, versprach er, wieder zu kommen, – und er hielt Wort.

Zwanzigstes Kapitel

Liese hatte ein besonderes, kleines Zimmer im zweiten Stocke des Hauses ihrer Mutter; dies Zimmer war rein, hell, mit einem weißen Bette; vor den Fenstern und in den Winkeln standen Blumen; an einem Fenster war ein kleiner Schreibtisch, an dem anderen eine Bibliothek, an der Wand hing ein Crucifix. Dieses Zimmer trug den Namen der Kinderstube; Liese war hier geboren. Als sie aus der Kirche, wo sie Lawretzky gesehen hatte, zurückgekehrt war, brachte sie mehr denn jemals Alles in Ordnung, wischte überall den Staub ab, durchblätterte alle ihre Hefte, alle Briefe ihrer Freundinnen, verschloß alle Schubladen, begoß ihre Blumen und berührte mit der Hand jede derselben. Alles dies that sie ohne Eile, still, mit freundlich besorgtem Gesichte. Sie blieb endlich mitten in der Stube stehen, blickte sich langsam um, trat an den Tisch, über welchem das Crucifix hing, sank auf die Kniee, legte ihren Kopf auf die gefalteten Hände und blieb unbeweglich. Martha Timotheewna trat in‘s Zimmer und fand sie in dieser Stellung; Liese hatte ihre Ankunft nicht bemerkt. Die Alte ging wieder auf den Zehen aus dem Zimmer, blieb an der Thüre stehen und hustete einige Male laut. Liese sprang auf und trocknete sich die Augen, in denen helle, unbewegliche Thränen blinkten.

»Du hast, sehe ich, Deine Zelle wieder in Ordnung gebracht,« sagte Martha Timotheewna, indem sie sich zu einem Rosenstocke niederbeugte; »welch schöner Geruch!« Liese blickte gedankenvoll ihre Tante an.

»Welch’ ein Wort haben Sie ausgesprochen!« lispelte sie.

»Was für ein Wort, welches?« sagte Marie Timotheewna lebhaft. »Was willst Du sagen? Das ist schrecklich,« sagte sie, indem sie ihre Haube abwarf und sich auf Liesens Bett setzte. »Das geht über meine Kräfte; heute ist der vierte Tag, daß ich wie auf Kohlen gehe, länger kann ich nicht heucheln, daß ich nichts bemerke,– ich kann es nicht ruhig mit ansehen, daß Du immer bleicher und bleicher wirst, abmagerst; daß Du weinst, – ich kann es nicht, ich kann es nicht.«

»Was ist nur mit Ihnen, Tante?« sagte Liese, »ich habe nichts . . .«

»Nichts?« rief Martha Timotheewna; »das kannst Du Andern erzählen, mir aber nicht! Nichts! Wer lag aber eben auf den Knieen? Wessen Wimpern sind noch naß von Thränen? Nichts! Blicke nur in den Spiegel; was hast Du aus Deinem Gesicht gemacht? Wo sind Deine Augen hin? – Nichts! Weiß ich denn nicht Alles?«

»Dies wird vergehen, Tante! Ueberlassen Sie es nur der Zeit!«

»Vergehen, und wann? Du großer, allmächtiger Gott! Liebst Du ihn denn wirklich so? Er ist ja aber ein Greis, Lieschen! Nun, ich streite nicht, er ist gut, beißt nicht; was thut dies aber? Wir sind Alle gute Leute; die Erde ist nicht mit Brettern verschlagen; solcher Leute giebt es noch Viele auf Erden.«

»Ich sage Ihnen aber, Alles dies wird vergehen, Alles ist schon vergangen.«

 

»Höre Lieschen, was ich Dir sagen will,« sagte mit einem Male Martha Timotheewna, Liese an ihre Seite auf‘s Bett ziehend, und sich bald etwas an ihren Haaren, bald an ihrem Halstuche zu schaffen machend, »es scheint Dir nur jetzt, im ersten Augenblicke, daß es für Deinen Schmerz keinen Trost gebe! Sage Dir nur selbst: »nein, beugen laß ich mich nicht, Gott mit ihm!« und Du wirst Dich dann selbst wundern, wie sich Alles schnell und gut gestalten wird; halte es nur ein wenig aus!«

»Tante,« erwiderte Liese, »es ist schon vergangen, Alles ist vergangen!«

»Vergangen? Was vergangen? Selbst Deine kleine Nase ist spitz geworden und Du sagst: vergangen! Schön vergangen.«

»Ja, vergangen, Tante, wenn Sie mir mir helfen wollen,« sagte Liese mit plötzlicher Begeisterung und umarmte Martha Timotheewna. »Liebe Tante, seien Sie meine Freundin, stehen Sie mir bei, ärgern Sie sich nicht, verstehen Sie mich . . .«

»Was ist, was ist, mein Kind? Erschrecke mich nicht, ich bitte Dich; ich werde gleich schreien, sieh mich nicht so an; sag’ schnell, was Du haben willst!«

»Ich . . . ich will . . . « Liese verbarg ihr Gesicht auf der Brust Martha Timotheewna‘s »ich will in’s Kloster gehen,« sagte sie dumpf.

Die Alte sprang auf.

»Schlag’ ein Kreuz, Lieschen, besinne Dich; was sprichst Du nur, o großer Gott!« sagte sie endlich; »lege Dich in’s Bett mein Kind, schlafe ein wenig; das kommt bei Dir von den schlaflosen Nächten.«

Liese erhob den Kopf; ihre Wangen glühten.

»Meine Tante,« sagte sie; »sprechen Sie nicht so, ich habe mich entschlossen, habe gebetet, habe Gott um Rath angefleht; Alles ist aus, aus ist mein Leben mit Ihnen. Nicht umsonst ist eine solche Lehre; es ist auch nicht das erste Mal, daß ich daran denke. Das Glück wollte nicht zu mir kommen; selbst dann, als ich auf Glück hoffte, stach es mich schmerzlich durch‘s Herz. Ich weiß Alles, kenne meine, kenne fremde Sünden, weiß, wie mein Vater unsern Reichthum erworben hat; ich weiß Alles. Abbeten, abbeten muß ich dies Alles! Sie, meine Mutter, Lenchen, sie Alle thun mir leid, doch es ist nichts zu thun; ich fühle, hier kann ich nicht bleiben. Ich habe schon Allen Lebewohl gesagt, habe Alle im Hause zum letzten Male gegrüßt; ein Etwas ruft mich fort von hier; mir ist so schwer um’s Herz, ich möchte mich auf ewig einschließen. Halten Sie mich nicht zurück, bereden Sie mich nicht zu bleiben, helfen Sie mir, sonst gehe ich allein fort . . .«

Mit Entsetzen hörte Martha Timotheewna ihre Nichte an.

»Sie ist krank, hat das Fieber,« dachte sie; »ich muß nach einem Arzte schicken. Nach welchem aber? Gedeonowsky lobte neulich einen, er lügt aber Alles – doch vielleicht hat er diesmal die Wahrheit gesagt.« Als sie sich aber überzeugt hatte, daß Liese nicht krank sei und nicht das Fieber habe, als auf alle ihre Entgegnungen Liese beständig ein und dasselbe antwortete, erschrak Martha Timotheewna und wurde tief betrübt. —

»Du weißt es aber nicht, mein Kind,« begann sie sie zu überreden, »was für ein Leben man in den Klöstern führt! man wird Dich, mein Kind, mit grünem Hanföl füttern, man wird Dich in grobe, grobe Wäsche kleiden, wird Dich zwingen in eisiger Kälte umherzugehen; dies Alles wirst Du nicht ertragen können, Lieschen. Dieser Gedanke kommt Dir von Agafia; sie hat Dir diesen Wahnsinn beigebracht; sie hat aber damit angefangen, daß sie gelebt, und gut gelebt hat; so lebe denn auch Du. Laß mich wenigstens ruhig sterben und thue dann, was Du willst. Wer hat es aber auch je gesehen, daß ein junges Mädchen wegen solch’ eines Ziegenbartes, verzeih’ mir Gott! wegen eines Mannes in’s Kloster gehe? Nun, wenn Du nicht anders kannst, so fahre in ein Kloster, bete vor den heiligen Reliquien, laß eine Messe lesen, bedecke Dich aber nicht mit dem schwarzen Schleier.«

– Und Martha Timotheewna weinte bitterlich.

Liese tröstete sie, weinte selbst, blieb aber unerschütterlich. Aus Verzweiflung nahm Martha Timotheewna ihre Zuflucht zu der Drohung, Alles ihrer Mutter zu sagen; aber auch das half nichts. Nur in Folge der unausgesetzten Bitten ihrer Tante verstand sich Liese dazu, die Ausführung ihrer Absicht auf ein halbes Jahr hinauszuschieben und die Einwilligung Marie Dmitriewna’s zu erwirken, wenn sie in sechs Monaten ihren Entschluß nicht geändert hätte.

* * *

Als der Winter kaum begonnen hatte, zog Warwara Pawlowna, nachdem sie sich mit Geld versorgt hatte, trotz ihres Versprechens sich in der Einsamkeit zu vergraben, nach Petersburg, wo sie eine bescheidene, aber reizende Wohnung miethete, welche Panschin, welcher früher als sie das Gouverment O. verlassen hatte, für sie auffand. In der letzten Zeit seines Aufenthaltes in O. war er bei Marie Dmitriewna in Ungnade gefallen; er besuchte sie nicht mehr und verließ fast niemals Lawriky. Warwara Pawlowna hatte ihn zum Sclaven gemacht, denn mit einem andern Worte kann man ihre unbegrenzte, despotische, eigenwillige Gewalt über ihn nicht ausdrücken.

Lawretzky verlebte den Winter in Moskau; den nächsten Frühling erfuhr er, daß Liese den Schleier im Kloster B. in einem der entferntesten Gegenden von Rußland genommen habe.

Epilog

Acht Jahre waren vergangen. Es war wieder Frühling . . . Wir wollen aber erst einige Worte über das Schicksal Michalewitsch‘s Panschin’s, Madame Lawretzky’s sagen, – und von ihnen Abschied nehmen. Nach langen Irrfahrten kam Michalewitsch auf den richtigen Weg: er bekam die Stelle eines Oberlehrers in einer Kronanstalt. Er ist mit seinem Schicksale sehr zufrieden und seine Zöglinge »vergöttern« ihn, obgleich sie über ihn ihre Witze machen. Panschin hat, eine schöne Carrière gemacht und wird dieser Tage Director einer Canzlei; er geht etwas gebückt, wahrscheinlich ist ihm das Comthurkreuz des Wladimir-Ordens, das er am Halse trägt, zu schwer. In ihm hat der Beamte den Künstler besiegt, sein noch immer jugendliches Gesicht ist gelb, seine Haare sind dünn geworden; er singt nicht mehr, zeichnet nicht mehr, beschäftigt sich aber im Geheimen mit Literatur; er hat eine kleine Comödie, im Geschmack der »Sprichwörter« geschrieben und da jetzt Alle, die etwas schreiben, durchaus einen »Character zeichnen« müssen, so hat er eine Kokette in seiner Comödie »gezeichnet« und liest diese im Geheimen zwei oder drei ihm gewogenen Damen vor. Geheirathet hat er nicht, obgleich sich ihm einige sehr glänzende Partien darboten: daran ist Warwara Pawlowna schuld.

Was letztere betrifft, so lebt sie, wie früher, beständig in Paris, Feodor Iwanitsch hat ihr einen Wechsel auf sich gegeben und sich von ihr und der Möglichkeit eines nochmaligen Ueberfalles losgekauft. Sie ist gealtert und dick geworden, doch ist sie noch immer mit Geschmack gekleidet. Jedermann hat sein Ideal. Warwara Pawlowna hat das Ihrige gefunden – in den dramatischen Werken Herrn Dumas, des Sohnes. Sie besucht fleißig das Theater, wenn auf die Scene schwindsüchtige und sentimentale Camelien kommen. Madame Doche zu sein, scheint ihr der Gipfel des menschlichen Glückes, sie hat sich einst geäußert, sie wünsche ihrer Tochter kein schöneres Loos; man muß hoffen, daß das Schicksal Mademoiselle Ada vor einem solchen Glücke behüten wird. Aus einem bausbäckigen, vollen Mädchen ist diese eine hectische bleiche Demoiselle geworden; sie leidet schon an Nerven. Die Zahl der Verehrer Warwara Pawlowna‘s hat sich gelichtet, doch hat sie noch immer welche; einige derselben wird sie wahrscheinlich bis zum Tode bewahren. Der Eifrigste unter ihnen war in letzterer Zeit ein gewisser Sakurdalo-Skubyrnikoff, ein verabschiedeter Garde-Officier, ein Mann von ungefähr achtunddreißig Jahren und besonders starker Constitution. Die französischen Besucher des Salons der Madame Lawretzky nennen ihn: »le gros taureau d’Ukraine;« zu ihren Modesoireen ladet ihn Warwara Pawlowna nicht ein, er genießt aber ihre volle Gunst.

Also . . . acht Jahre waren vergangen. Wieder wehte vom Himmel des Frühlings seliges Glück, wieder lächelte er der Erde und den Menschen, wieder blühte und sang Alles unter seinem Kusse. Die Stadt O. hatte sich in diesen acht Jahren wenig verändert; doch das Haus Marie Dmitriewna‘s schien jung geworden zu sein. Seine Mauern waren frisch und weiß geworden; die Scheiben der offenen Fenster glühten und glänzten in der untergehenden Sonne. Aus diesen Fenstern hallten auf die Straße die Klänge lauter, junger Stimmten, eines ununterbrochenen Gelächters; das ganze Haus schien von Fröhlichkeit überzusprudeln. Seit lange ruhte die Hausfrau im Grabe, sie war zwei Jahre, nachdem Liese den Schleier genommen, gestorben und Martha Timotheewna hatte ihre Nichte nicht lange überlebt; sie ruhen nebeneinander auf dem Stadtkirchhofe. Auch Nastasia Karpowna ist todt; die treue Alte ging während einiger Jahre an das Grab ihrer Freundin zu beten . . . Ihre Zeit kam, und ihre Gebeine ruhen neben denen ihrer Freundin.

Das Haus Martha Timotheewna’s ging nicht in fremde Hände über, ging nicht für ihre Nachkommenschaft verloren, das Nest ward nicht zerstört. Lenchen, die sich in ein schlankes, hübsches Mädchen verwandelt hatte, und ihr Bräutigam – ein blonder Husarenofficier, der Sohn Marie Dmitriewna‘s der sich eben in Petersburg verheirathet hatte, und mit seiner jungen Frau nach O. gekommen war, um hier den Frühling zu verbringen, die Schwester seiner Frau, ein sechzehnjähriges Mädchen mit rothen Wangen und hellen Augen, Schurotschka, die auch groß und hübsch geworden war, – das war die Jugend, von dessen Gelächter und Gesprächen die Mauern des Kalitinschen Hauses wiederklangen.

In ihm war Alles verändert, Alles war den neuen Bewohnern angepaßt. Bartlose, junge Diener, die zu lachen und zu spaßen liebten, hatten die früheren, ernsten Greise ersetzt; dort, wo einst die fette Roska einherschritt, machten zwei Windspiele einen Höllenspectakel und sprangen auf den Divans herum; im Stalle standen breitschultrige Paßgänger, flinke Deichselpferde, feurige Seitenpferde mit geflochtener Mähne, donische Reitpferde. Die Stunden des Frühstücks, des Mittags, des Abendbrods waren in Verwirrung gerathen; es herrschte, wie sich die Nachbarn ausdrückten, »eine verrückte Ordnung.«

An jenem Abend, von dem wir sprechen, beschäftigten sich die Bewohner des Kalitinschen Hauses (der Aelteste derselben, Lenchen‘s Bräutigam war kaum vierundzwanzig Jahre) mit einem sehr einfachen, für sie aber – ihrem lauten Gelächter nach zu urtheilen, sehr interessanten Spiele: sie liefen in den Stuben hin und her und haschten einander. Auch die Hunde liefen umher und bellten, und die Kanarienvögel, in den vor den Fenstern hängenden Käfigen schrieen um die Wette und vergrößerten den allgemeinen Lärm durch ihr rasendes Gezwitscher.

Mitten in diesem betäubenden Zeitvertreib fuhr an die Pforte ein mit Koth bedeckter Reisewagen, und eins fünfundvierzigjähriger Mann im Reiseanzuge stieg aus demselben und blieb erstaunt stehen. Einige Zeit stand er unbeweglich, betrachtete das Haus mit aufmerksamen Auge, trat durch das Pförtchen in den Hof und ging langsam die Treppe hinauf. Im Vorhaus traf er Niemanden, doch die Saalthüre wurde schnell geöffnet und aus ihr sprang, roth und erhitzt, Schurotschka heraus, und augenblicklich folgte ihr mit lautem Geschrei die ganze junge Schaar. Sie blieb plötzlich stehen und verstummte beim Anblick eines Fremden; doch die hellen, auf ihn gehefteten Augen blickten eben so freundlich, die frischen Gesichter lachten noch immer. Der Sohn Maria Dmitriewna’s ging auf den Gast zu und fragte ihn, was er wünsche?

»Ich bin Lawretzky,« sagte der Gast.

Ein allgemeines Freudengeschrei war die Antwort – nicht aber, daß diese Jugend sich besonders über die Ankunft des entfernten, fast vergessenen Verwandten freute, einfach, weil sie bereit war, bei jeder günstigen Gelegenheit zu lärmen und sich zu freuen.

Lawretzky wurde umringt; Lenchen nannte sich, als alte Bekannte zuerst, versicherte ihn, daß sie ihn nach ein Paar Augenblicken sicher erkannt haben würde, und stellte ihm die ganze übrige Gesellschaft vor, Alle, selbst ihren Bräutigam, mit Verkleinerungsnamen nennend. Durch das Speisezimmer rückte die ganze Schaar in das Gastzimmer; die Tapeten in beiden Stuben waren verändert, die Möbel aber waren dieselben geblieben; Lawretzky erkannte das Clavier, sogar der Stickrahmen am Fenster war derselbe, stand ganz so wie früher – und Lawretzky schien es, daß sogar die halbbeendigte Stickerei dieselbe, wie vor acht Jahren war. Man setzte ihn auf einen bequemen Sessel, Alle setzten sich ehrbar rings um ihn; Fragen, Ausrufungen, Erzählungen kreuzten sich.

»Wir haben Sie lange nicht gesehen,« bemerkte Lenchen ganz naiv, – »auch Warwara Pawlowna haben wir nicht gesehen.«

»Schönes Wunder!« unterbrach sie schnell ihr Bruder, »ich brachte Dich nach Petersburg, Feodor Iwanitsch aber lebte immer in seinem Dorfe.«

 

»Seitdem ist aber auch Mama gestorben.«

»Und Martha Timotheewna,« sagte Schurotschka.

»Und Nastasia Karpowna,« fügte Lenchen hinzu: »und auch Herr Lemm . . .«

»Wie? auch Lemm ist todt?« fragte Lawretzky.

»Ja,« erwiderte der junge Kalitin; er ist von hier nach Odessa gereist. Matt sagt, Jemand hätte ihn überredet, mit dorthin zu kommen, dort ist er auch gestorben.«

»Wissen Sie nicht, ob er Noten hinterlassen hat?«

»Ich weiß nicht, aber schwerlich.«

Alle schwiegen und blickten einander an; ein Wölkchen des Kummers flog über die jungen Gelichter.

»Der Kater Matrose lebt aber,« sagte auf einmal Lenchen.

»Und Gedeonowsky lebt auch noch,« fügte ihr Bruder hinzu.«

Bei Gedeonowsky’s Namen brachen Alle in ein lautes Gelächter aus.

»Ja, er lebt, und lügt wie früher,« fuhr der Sohn Maria Dmitriewna’s fort: »und stellen Sie sich vor, diese Hexe da (er zeigte auf das junge Mädchen, die Schwester seiner Frau), hat ihm gestern Tabak in seine Dose geschüttet.«

»Wie hat er geniest!« rief Lenchen aus und auf’s Neue erscholl lautes Gelächter.

»Unlängst hatten wir Nachricht von Liese,« sagte der junge Kalitin, – und wieder ward Alles rings umher still: – »sie fühlt sich glücklich, ihre Gesundheit bessert sich jetzt nach und nach.«

»Ist sie noch immer in demselben Kloster?« fragte Lawretzky nicht ohne Selbstüberwindung.

»Ja, immer noch in demselben.«

»Schreibt sie Ihnen?«

»Nein, niemals, doch wir bekommen Nachrichten durch Andere.«

Es folgte ein plötzliches, tiefes Schweigen; »ein stiller Engel fliegt durch’s Zimmer« dachten Alle.

»Wollen Sie nicht in den Garten?« fragte Kalitin Lawretzky. – »Er ist jetzt sehr hübsch, obgleich wir ihn etwas haben verwildern lassen.«

Lawretzky ging in den Garten, und das erste woraus sein Auge fiel, war jene Bank, auf welcher er einst mit Liese einige glückliche Augenblicke, die sich niemals wiederholten, verbracht hatte, Sie war alt und schief geworden, doch er erkannte sie und seiner Seele bemächtigte sich jenes Gefühl, das nichts Gleiches in Glück und in Schmerz hat, – das Gefühl einer Erinnerung an verschwundene Jugend, an ein Glück, das man genossen. Mit den jungen Leuten ging er durch die Alleen: die Linden waren etwas älter geworden und in den letzten acht Jahren gewachsen, ihr Schatten war dichter; alle Gebüsche waren in die Höhe geschossen, die Himbeersträucher waren kräftig geworden, die Haselnußsträucher waren ganz verwildert, und von überall wehte der frische Duft von Wald und Gras, von Blumen und Hollunder.

»Hier ist schön Kämmerchen zu vermiethen,« – rief auf einmal Lenchen, indem sie aus einen kleinen grünen, von Linden umgebenen Rasenplatz kamen; – wir sind gerade fünf.«

»Hast Du Feodor Iwanitsch vergessen, oder rechnest Du Dich selbst nicht?« bemerkte ihr Bruder.

Ein leichtes Roth flog über Lenchen’s Wangen.

»Kann aber Feodor Iwanitsch, in seinen Jahren . . . « begann sie.

»Ich bitte, spielen Sie,« beeilte sich Lawretzky, sie zu unterbrechen: »geben Sie nicht Acht auf mich. Mir selbst wird es angenehmer sein, zu wissen, daß ich Sie nicht störe. Sie brauchen mich nicht zu unterhalten. Wir alten Leute haben eine Beschäftigung, die sie noch nicht kennen, und die keine Zerstreuung ersetzen kann: es ist die Erinnerung.«

Die jungen Leute hörten Lawretzky mit freundlicher, obgleich etwas spöttischer Achtung an. ganz als hätte ein Lehrer ihnen eine Lection vorgelesen, eilten auf den Rasenplatz, vier von ihnen stellten sich an die Bäume – und der Spaß begann.

Lawretzky kehrte aber in’s Hans zurück, ging an’s Clavier und berührte eine der Tasten; es erklang ein leiser, aber reiner Ton und machte sein Herz im Stillen vibrieren. Mit dieser Note begann jene begeisterte Melodie, durch die, vor langer Zeit, in jener glücklichen Nacht, Lemm, der verstorbene Lemm, ihn in solches Entzücken versetzt hatte. Dann ging Lawretzky in‘s Gastzimmer und blieb lange darin. In diesem Zimmer, wo er so oft Liese gesehen hatte, stand ihr Bild am lebhaftesten vor seinen Augen; ihm schien‘s, er sehe um sich die Spuren ihres Daseins. Aber der Schmerz um sie war qualvoll und schwer, in ihm war nicht die Ruhe, die der Tod ihm giebt.

Liese lebte irgendwo, in dumpfer Abgeschiedenheit; er dachte an sie, wie an eine Lebendige und erkannte nicht das Mädchen, das er einst geliebt hatte, in jenem dunklen, bleichen Bilde, das, in ein Nonnengewand gehüllt, von Weihrauchwolken umgeben war. Lawretzky hätte sich selbst nicht erkannt, hätte er auf sich so blicken können, wie er in seinen Gedanken auf Liese blickte. Im Laufe dieser acht Jahre hatte die Krisis seines Lebens stattgefunden, jene Krisis, die Viele nie kennen, ohne welche man jedoch nicht ein ehrlicher Mann bleiben kann. Er hatte aufgehört, an‘s eigene Glück, an egoistische Ziele zu denken. Er war ruhig geworden, und, warum die Wahrheit verbergen, war nicht allein an Gesicht, sondern in der Seele alt geworden; bis zum Alter ein junges Herz bewahren, wie einige sich ausdrücken , ist schwer und fast lächerlich: schon der kann zufrieden sein, der nicht den Glauben an das Gute, feste Willenskraft, Lust zur Thätigkeit verloren hat. Lawretzky hatte das Recht, zufrieden zu sein: er war wirklich ein guter Landwirth geworden, hatte wirklich zu ackern gelernt und arbeitete nicht für sich allein; er hatte, so viel er es konnte, das Loos seiner Bauern gesichert.

Lawretzky ging aus dem Haus in den Garten, setzte sich auf die ihm bekannte Bank – und auf diesem theuren Platze, Angesichts jenes Hauses, in welchem er zum letzten Mal seine Hände zu jenem Zauberkelche, in welchem der goldene Wein des Genusses sprudelt und perlt,– blickte er, ein einsamer, trauriger Wanderer, bei den zu seinen Ohren dringenden, lustigen Klängen der jungen Generation, die ihn schon ersetzt hatte – auf sein Leben zurück.Traurig war es ihm um’s Herz, doch nicht schwer. Er hatte Ursache, zu bedauern, aber keine sich zu schämen.

»Spielet, freut Euch, wachset auf,« dachte er, und in seinen Gedanken war keine Bitterkeit. »Vor Euch liegt das Leben und Euch wird es leichter sein zu leben, Ihr werdet nicht brauchen, wie wir, Euch den Weg zu bahnen, zu ringen, zu fallen und wieder aufzustehen, vom Dunkel umgeben; wir hatten zu sorgen, daß wir ganz blieben! Und wie viele von uns sind nicht ganz geblieben! Ihr werdet arbeiten müssen, und der Segen von uns alten Leuten wird mit Euch sein. Mir aber bleibt nach dem heutigen Tage. nach allem dem, was ich heute gefühlt habe, nur: Euch zum letzten Mal zu grüßen – und, obgleich mit Trauer, aber ohne Neid, ohne dunkle Gefühle, Angesichts des Endes, Angesichts des erwartenden Gottes zu sagen: »Ich grüße Dich, einsames Alter! Brenne zu Ende, unnützes Leben!«

Lawretzky stand still auf und entfernte sich still; Niemand bemerkte ihn, Niemand hielt ihn zurück; lauter noch, als früher klangen die fröhlichen Rufe im Garten, hinter der dichten, grünen Wand der hohen Linden. Er setzte sich in seinen Reisewagen und befahl dem Kutscher langsam nach Hause zu fahren.

* * *

»Und das Ende?« wird vielleicht der unbefriedigte Leser fragen. »Was ist später aus Lawretzky, was aus Liese geworden?« Was soll matt aber von Leuten sagen, die noch leben, die aber schon vom Schauplatze des Lebens abgetreten sind? Warum zu ihnen zurückkehren? Man sagt, Lawretzky hätte jenes ferne Kloster besucht, wohin sich Liese zurückgezogen hatte – und hätte sie gesehen. Sie ging von Altar zu Altar wandernd, an ihm vorüber, ging mit den gemessenen eiligen demüthigen Schritten einer Nonne – und blickte ihn nicht an; doch zitterte kaum merklich die Wimper des seiner Seite zugekehrten Auges, doch senkte sie noch tiefer das magere Gesicht und die vom Rosenkranz umschlungenen Hände schlossen sich noch fester ineinander. Was dachten, was fühlten Beide? Wer kann es errathen, wer kann es sagen? Im Leben giebt es solche Augenblicke, solche Gefühle auf die man nur, zeigen und – vorübergehen kann.