EMET und andere Geschichten

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Das erste Mal besuchte sie mich auf der Veranda, die ich in der Zwischenzeit in ein Atelier verwandelt hatte. Ich spürte, wie sie sich an mich heranschlich, drehte mich jedoch nicht um. Ich war gerade dabei, die Augen des Engels fertigzustellen. Die Augen und die Hände sind die anspruchsvollsten Teile der Anatomie bei Menschen oder Engeln. Man braucht die Pupillen nur um einen Millimeter zu verschieben, schon ändert sich alles, der Engel bekommt einen entsetzten oder stumpfen, schwachsinnigen Gesichtsausdruck.

Oma Lucija trat ganz nah an mich heran und betrachtete über meine Schulter den einzigen Erzengel, an den ich mich je herangewagt habe. Uriel. Mir fiel ein, wie merkwürdig es sich mit Verstorbenen verhielt: Ihre Schritte hallten nicht, sie raschelten und atmeten nicht. Sie rochen nur. Oma roch nach Werg, nach den dünnen Strängen, die zu einem festen Strick geflochten waren, fest genug für einen Menschen, Ochsen oder Hund.

„Warum hast du angefangen, Engel zu malen?“, fragte sie mich grußlos. Als hätten wir uns gestern erst gesehen. Als wäre sie nicht von den Toten zurückgekehrt. Ich spürte, wie sie sich vorbeugte, um mein Gesicht im Profil zu sehen. Ich wollte sie nicht anschauen. Es dämmerte bereits, die Sonne warf nur einen blassrosa Schimmer über uns und die Veranda, und so sahen ihre Augen sicher genau wie leere Höhlen aus.

„Weiß nicht“, sagte ich schließlich schulterzuckend. Ich weiß nicht, warum ich nach Stilleben und Landschaften, nach einigen abstrakten Ausflügen ins Kolorit und die Geometrie zu den Engeln übergegangen bin. Wenn sie einmal ins Abstrakte übergewechselt sind, kehren Maler in der Regel nicht mehr zum Figurativen zurück. Als wären sie betäubt von den Splittern einer auseinandergerissenen, zerbröselten Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die durch Derivationen zu Punkten zerschlagen worden ist. Ich wünschte, ich könnte sagen, das habe mit dem Tod meiner Mutter zu tun oder mit dem Weggang meiner Vaters, auf den auch sein Tod gefolgt war, aber Engel hatten mit ihnen rein gar nichts zu tun.

Ich weiß eigentlich auch weder, wann ich überhaupt angefangen habe zu malen, noch wie. Die Malerei hat sich wohl in jener Zeit des Fieberwahns nach Papas Tod ereignet. Obwohl es merkwürdig ist, dieses Nicht-Zurechtfinden von mir. Malen ist eine gute Orientierung, ein schicksalhafter Schritt, an den ich mich eigentlich erinnern sollte.

An den Engel erinnere ich mich.

Eines Nachts wurde ich einfach wach. Der Mond warf mit seinem Licht ein weißes Rechteck auf das Orientteppich-Imi­tat in meinem Zimmer. An dieses Detail kann ich mich noch sehr genau erinnern. Ich erinnere mich auch, dass ich dachte, wie wundersam diese Magie ist, mittels derer das Fensterquadrat die Leuchtkugel eines Himmelskörpers in eine rechteckige geometrische Form verwandelt. Ich richtete mich im Bett auf, saß lange auf der Bettkante und starrte meine Füße an, die im weißen Licht badeten wie im flachen Wasser eines Fischteichs. Mit den Zehen wühlte ich das weiße Licht auf. „Mein Gott, wie weiß meine Füße sind“, dachte ich mir. „Und alt.“ Auch daran erinnere ich mich noch genau. Dann ging ich ins Atelier, eigentlich auf die verglaste Veranda, und nahm die Leinwand, auf der ich am Abend vorher mit Zeichenkohle die Skizze für irgendeine Vedute angefertigt hatte. Mit einem Lappen wischte ich die Kohlereste weg und malte meinen ersten Engel. Später gab ich ihm den Namen Gaiel. Der Engel des Vergessens. Diesen Namen hatte ich in einem obskuren Buch über Engel gefunden. Wegen Gaiel habe ich meine erste schlaflose Nacht verbracht. Eine von vielen.

„Das ist ein Ruf“, sagte ich schließlich zu meiner Oma und schaute sie an. Ihre Augen wirkten kindlich. „In meinem Kopf ist es laut, wenn ich nicht male, und dann kann ich nicht schlafen.“

„Schläfst du?“ Oma baute sich wieder vor mir auf. Ich wollte sie fragen, wo ihr Strick geblieben sei, wollte gemein zu ihr sein. Manchmal packt es mich, aber ich widerstehe.

„Ich schlafe“, schaute ich sie verwundert an.

„Und das Wasser, was machst du mit dem Wasser?“

„Was denn für Wasser?“, stellte ich mich dumm. Ich verschwieg ihr das Wasser, von dem ich fühlte, wie es die Wände hochstieg, weshalb ich befürchtete, eines Morgens im Bett wie auf einer Insel aufzuwachen, die von schwarzen, aus den Tiefen gekommenen Wassern umgeben war.

Oma lächelte, trat ganz nah an die Leinwand heran und betrachtete Uriel, den einzigen Erzengel, den ich mich je zu malen getraut hatte.

„Wie heißt er?“, fragte sie, als würde sie sich über einen Kinderwagen mit schlafendem Baby beugen.

„Warum sollte er irgendwie heißen?“ Ich spürte eine Unruhe, die ich nicht zu erklären vermochte. Ich kann nicht erklären, warum mich Omas Nähe bis heute unruhig macht.

„Sogar Hunde haben Namen“, sagte sie mit einer Stimme, die plötzlich müde klang.

„Man sagt, Engel müssten wie Hunde auf ihre Namen hören, wenn wir sie ansprechen“, ich lächelte Omas auf einmal müde Augen gezwungen an. Bei den Menschen sieht man an den Augen, wenn sie müde sind. Ich weiß noch, dass ich dachte, sie habe bestimmt einen langen Fußweg gehabt von dem Ort, an den sie gegangen war, zurück zu unserem Haus.

„So ist das mit den Namen“, sagte sie schließlich nur. Ich dachte mir, der Name ist eine Leine, mit der wir an ein bestimmtes Schicksal gebunden sind, deshalb wollte ich sie fragen, was mit den Menschen geschieht, denen man die Namen von Verstorbenen gibt, von Oma, Opa, Vater oder Mutter. Ich verspürte den Wunsch, meine Oma endlich zu fragen, ob ich so enden würde wie sie. Aber ich schwieg nur. Wir schwiegen beide. Draußen schwärmten die Stare in dichten Wolken aus, in denen sie die Stadt überflogen wie Bienenschwärme.

Oma schaute den Engel an, der sie anschaute. Ich hatte Uriel mit einem durchdringenden Blick ausgestattet, der dem Betrachter folgte, wohin dieser auch ging. Käufer mögen das. Die Menschen neigen dazu, Obhut mit dem wachen Auge eines Bewachers zu verwechseln.

Oma Lucija drehte sich zum Schluss nur leicht zu mir um. Sie wirkte gräulich, wie in Spinnweben gehüllt, eingestaubt wie die Häuser in Horrorfilmen. Ich hatte den Eindruck, dass sie tief einatmete, dann schaute sie mir tief in die Augen und sagte:

„Hast du wirklich alles vergessen?“

„Ich erinnere mich an alles.“ Ihr Blick war mir unangenehm. Ich wollte ihr sagen, dass wir niemals irgendetwas vergessen konnten. Noch nicht einmal das, was wir gerne vergessen wollten, der Erde überlassen, damit es darin verfaulte. Ich wollte ihr sagen, dass ich mich noch immer vor Opa Andrija fürchtete, der selten kam und dann schwieg, einfach nur schwieg, aus dem Fenster auf jenen Schuppen starrte, aber dennoch fürchtete ich mich: vor ihm und seinen riesigen Händen.

„Alles hast du vergessen“, sagte sie schließlich leise und ging in Richtung Küche. Ich rief sie, bat sie, zurückzukehren. Und sei es wegen der Tatsache, dass Namen eben nicht wie Leinen waren, dass wir damit gar nichts ausrichten konnten, dass wir nichts beim Namen zurückrufen konnten.

Alle kamen und gingen sowieso, wie sie wollten. Ich konnte nichts daran ändern.

Inspektor Mustapić kam auch am nächsten Tag, grinsend wie ein Honigkuchenpferd. Immer noch in Erdtöne gekleidet, bräunlich. Seine Hose war dieselbe, nur das Hemd war jetzt sandfarben, mit Schweißflecken unter den Achseln, deren säuerlicher Geruch sich um ihn herum ausbreitete wie eine Dunstwolke, wann immer er beim Gestikulieren ausholte oder mit dem Bleistift über den Block fuhr.

Als er kam, spielte ich gerade im Hof, pflückte Gras vor der Tür und presste es mit einem Stein. Ich spielte Kochen. Die Blätter des Wegerichs dienten als Schnitzel. Meine Hände rochen nach frisch gemähtem Gras, nach dem Schweiß und dem Blut der Gräser. Die Sonne brannte auf meinen Hinterkopf. Der Inspektor ging in die Hocke und kniff mich in die Wange. Ich streckte ihm die Zunge raus. Er lächelte und fragte mich, wo meine Oma sei. Alle waren in der Küche, aber ich wollte ihm nichts sagen. Er klopfte an die Tür, die sowieso offen stand, schob das dünne weiße Mückennetz zur Seite und trat ein. Ich folgte ihm.

„Genosse Andrija ist noch nicht da?“, fragte er und blieb mit dem Blick an Papa haften, der auf dem Boden kniete und weiter Linoleum zuschnitt, als traue er sich nicht, den Blick zu heben.

„Nein, er ist nicht da“, sagte Oma nach einer viel zu langen Pause. Der Inspektor schaute Papa an, der nicht zurückschaute.

„Sie verlegen neues Linoleum?“, fragte er ihn.

„Ja, das machen wir“, antwortete Oma, als hätte Papa seine Zunge verschluckt. Rasch erklärte sie, das Linoleum sei verschimmelt und stinke, weshalb sie es wechseln müssten. Der Inspektor nickte und murmelte etwas. Mama, die den Abwasch machte, schrubbte energisch mit dem Schwamm an einem bereits schneeweißen Teller herum.

„Möchten Sie einen Kaffee?“, schlug Oma vor. Der Inspektor lehnte ab, er habe es eilig. Er sagte nicht, wohin er musste. Er sagte irgendwas von der Zeitung, ich begriff nichts davon. Er bot mir einen Kaugummi an. Oma sagte, er solle mir keine Kaugummis geben, denn ich würde sie bloß verschlucken, meine Därme würden sich davon verknoten. Dennoch reichte er mir einen Kaugummi und schaute mir dabei kurz direkt in die Augen. Ich sah mich in seinen Pupillen. Ich war zerzaust. Und verschwitzt. Schwitzende Kinder riechen nach Sand und trockenem Lehm. Weiter erinnere ich mich nicht, hier kommt ein Loch. Meine Erinnerung ist voller Löcher. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist Papa, der das Linoleum aus der Küche auf dem Boden seines Schuppens verlegt und darauf herumhüpft, um den Boden darunter zu begradigen. Papa schwitzt, das weiß ich noch genau. Oma sagt immer, ich würde mir Sachen ausdenken. Mama geht immer weg, wenn ich das ihr gegenüber erwähne. Papa schweigt. Papa schweigt immer.

 

Zwei Tage später lag morgens eine ausgebreitete Zeitung auf dem Tisch, ein kurzer Text auf schwarzem Hintergrund und ein Foto von Opa Andrija. Ich starrte Opa an, der ins Nichts starrte, so wie Menschen immer ins Nichts starren, wenn Passfotos von ihnen gemacht werden. Mama nahm mir die Zeitung vor der Nase weg, faltete sie zusammen und legte sie auf den Schemel neben dem Herd. Während sie Kaffee kochte, tauchte Inspektor Mustapić wieder in der Tür auf. Wieder mit diesem dürren schlaksigen Polizisten in Hochwasserhosen, der sich uns nie vorgestellt hat. Der Inspektor fragte, wo die anderen seien. Mama sagte ihm, Oma sei im Garten und ernte Gemüse für das Mittagessen. Ich erinnere mich nicht mehr, was sie über Papa sagte. Der Inspektor setzte sich an den Tisch und fragte Mama, ob er eine rauchen dürfe. Mama gab ihm wortlos einen Kristallaschenbecher. Laut und genussvoll inhalierte er den ersten Zug und blies ihn ebenso genussvoll wieder aus, er lächelte mich an. Er fragte mich, wie ich heiße. Ich wollte es ihm nicht sagen. Ich starrte den dürren Polizisten an, der in der Küchentür stand.

„Lucija, sag dem Onkel, wie du heißt!“, rief Mama mir zu, während sie mit den Tassen klapperte. Ich schwieg unbeirrt.

„Geh mal die Oma holen, Lucija“, sagte der Inspektor zu mir.

Oma war dabei, Möhren auszureißen. Allerdings behauptete sie später, gar nicht im Garten gewesen zu sein. Ich rede auf sie ein, dass ich mich deutlich an die Möhren und das Schwarz unter ihren Fingernägeln erinnern könne, an den Geruch der Erde, der Sonne, die auf ihren grauen, verschwitzten Hinterkopf knallte.

Der Inspektor schlürfte seinen Kaffee, lobte ihn fortwährend, und rauchte. Er fragte Oma, wo Opa Andrija so hinzugehen pflegte. Oma versteckte die Hände in den Falten ihres geblümten durchgeknöpften Kleides und verdrehte die Augen. Als suche sie an der Decke die Namen der Wirtshäuser, in denen Opa ab und zu seinen Weinbrand trank. Der Inspektor schrieb. Er nickte und schrieb. Dann fragte er, ob jemand aus der Familie diese Kneipen aufgesucht habe, um die Leute dort zu fragen, ob sie Opa gesehen hätten. Oma zuckte die Schultern, schüttelte den Kopf und breitete die Hände aus:

„Das ist uns nicht eingefallen“, stotterte sie und schaute zu Mama, die dem Inspektor gegenüber saß.

„Wir haben uns Sorgen gemacht“, sagte Mama. Ich schaute sie an. Sie waren komisch und langweilig, weshalb ich nach draußen ging, um weiter Gras zu pflücken und es mit dem Stein zu pressen.

Beim Gehen blieb der Inspektor neben mir stehen, bückte sich und strich mir über den Kopf. Ich hob den Blick und blinzelte ihn an. Wegen der Sonne. Ich sah sein Gesicht nicht, nur den Umriss des Kopfes und der Haare, die aussahen wie Grasbüschel. Wenn ich es mir recht überlege, war nichts Abstoßendes oder Furchterregendes an diesem Menschen. Und dennoch fürchten sich die Menschen vor der Polizei, selbst wenn sie nicht schuldig sind. Sie glauben wohl, ein Polizist könne einen Menschen mit dem Blick bis aufs Mark durchscannen. Wie Gott, der alles sieht und weiß.

Der Inspektor sah in meiner Familie dennoch nichts Verdächtiges. Ich schloss daraus, dass er doch keine allmächtigen Augen oder Zauberkräfte hatte. Meine Erinnerungen sind auch keinen Deut besser.

Ich weiß, dass wir tagelang über Beton liefen. Bis das neue Linoleum da war, ein komisches Linoleum, das auf eine merkwürdige Weise Stein imitierte, sodass ich ununterbrochen glaubte, im Boden zu versinken, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ich weiß, dass Inspektor Mustapić wiederkam, wohl um meine Familie über den Stand der Ermittlungen zu unterrichten, darüber, dass sie Opa nicht gefunden hatten, oder um mir heimlich Kaugummi zuzustecken.

Ich weiß, dass ich mich wunderte, dass Papa überhaupt nicht mehr in seinen Schuppen ging, in dem jetzt Linoleum lag und unter der ewig abgeschlossenen Tür herausragte. Manchmal ging ich zu dieser Tür und spielte mit dem goldgelben Vorhängeschloss. „Finger weg“, rief mir dann jemand aus der Familie zu. Wenn sie mich sahen. Ungefähr so, als hätte ich den Finger in die Steckdose gesteckt oder den Sender am Transistorradio verstellt. Auf einmal brauchte Papa seine Angelruten nicht mehr, die bunten leuchtenden Schwimmer, die Haken, mit denen wir die Fische in den Tod zogen, seine Nägel, Bretter, Schrauben, all diese Dinge, mit denen er zuvor seine ganze Freizeit, alle seine Wochenenden verbracht hatte. Papa kam nicht mehr in den Schuppen, und auch sein Fahrrad nicht, das nun stets angelehnt an der morschen Holzwand des Bretterverschlags stand. Wenn es regnete, warf Papa nur eine dicke trübe Plastikfolie drüber. Es musste auch draußen überwintern. Als es im Januar üppig und hartnäckig schneite, ähnelte dieses Fahrrad einem Obdachlosen, der in das unbarmherzige weiße Wasser hineingeraten war.

Zu Allerheiligen begann Oma, Trauer zu tragen. In der Tasche des schwarzen durchgeknöpften Kleides hatte sie sogar ein weißes Tuch mit schwarzer Spitze. Alles sollte sein, wie es sich gehörte. Abends kamen einige Nachbarn zu uns und sie tranken alle gemeinsam Schnaps „für Andrijas Seele“. Da weinte Oma zum ersten Mal. Ihre Augen waren rot unterlaufen, als sie sie zur Decke drehte, als suche sie nach Spinnen, die nachts ihre Netze webten, um sie zu ärgern. Schließlich rochen die ganze Küche und das ganze Wohnzimmer nach Pflaumen, jenen blauen, die von den letzten zwei Bäumen im Garten fielen. Und nach Alkohol.

Ich lief zwischen den Nachbarn herum, die mich mitleidig anschauten, mir über die Haare strichen, den Namen meines Opas zunächst nur im Flüsterton aussprachen. So wie meine Eltern zu sprechen pflegten, wenn sie in mein Zimmer kamen, um nachzusehen, ob ich schlief, wenn sie dachten, dass ich schlief.

Der Alkohol tat schließlich das Übrige. Am Ende vergaßen alle, weshalb sie dort waren. Sie vergaßen, dass sie sich zur Totenwache für einen Menschen versammelt hatten, der nie gefunden worden war, und so begannen sie gegen Abend, in unserem Haus, das ganz gelb in den Geruch der in Gläsern schwebenden Dochte und Chrysanthemen gehüllt war, Witze zu erzählen, zu lachen, als wären sie auf einer Hochzeit oder einem Geburtstag. Nur Papa wirkte irgendwie abwesend. Er saß auf der Couch im Wohnzimmer, mit einer Bierflasche in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand starrte er ins Leere, manchmal stieß er einen Rauchkringel aus und folgte ihm mit dem Blick. Sogar Oma lächelte, als hätte sie alles vergessen. Oder als wäre sie erleichtert.

Ich betrachtete sie aus der Ecke und wunderte mich. Über sie und über den Tod. Vielleicht täusche ich mich auch und bilde mir das jetzt alles nur ein, aber irgendwie bin ich mir sicher, damals gedacht zu haben, wir müssten eigentlich gar nicht sterben. Wegen Opa Andrija habe ich das gedacht, denn ich habe Tod und Verschwinden durcheinandergebracht, das Fortgehen, irgendwohin, an einen Ort, den niemand anders kennt. Ich dachte, Sterben bedeute einfach, eines Tages heimlich aus dem Haus zu spazieren, sich bei niemandem zu melden und ins Unbekannte zu gehen, niemals zurückzukehren. Daraus schloss ich auch, dass die Menschen eigentlich dumm waren, denn sie mussten ja nicht gehen, sie konnten genauso gut für immer bleiben, im Haus sein. Für immer. Leben.

Irgendwann gewöhnt sich der Mensch an alles. Er braucht Zeit, aber er gewöhnt sich. Sogar an die Leere, an ein ödes verlassenes Haus. Schrittweise, so wie man Wasser betritt, das die Sonne noch nicht ganz aufgewärmt hat, sodass sich kleine weißliche Härchen auf der Haut aufstellen. Wenn alle weg sind, beginnt ein Haus tatsächlich, nach Wasser zu riechen. Manchmal sage ich mir, das Wasser sei sowieso stets auf der Lauer, das Grundwasser, das mir immer irgendwie braun und schwarz vorkommt: Es wartet, bis alle weg sind, dann schleicht es sich ins Haus. Wie die Mäuse im Herbst.

Manchmal schnuppere ich an diesem Wasser. Es stinkt bräunlich grün, als schleppte es Algen mit sich. Manchmal ergreift mich seinetwegen die Panik, dann baue ich mir im Bett einen Turm aus drei oder vier Kissen und versuche so, halb sitzend einzuschlafen. Ich lausche dem Haus, das in der Dunkelheit knarzt wie ein Schiff, und ich stelle mir das Wasser vor, wie es heimtückisch ansteigt bis zu meiner Zimmertür, mich überschwemmt, ertränkt. Ich fürchte mich vor dem Ertrinken. Vor der Einsamkeit fürchte ich mich nicht mehr. Nicht ausdrücklich. Wenn die Menschen mich verwundert fragen, ob ich allein sei, antworte ich tapfer: „Ich bin allein.“ Ich weiß nicht, warum ich meine Familie nicht erwähne, nur manchmal erwähne ich die Engel, dann schauen mich die Leute verwundert an. Und ich lächele. Ich fühle mich stark in meiner Einsamkeit. Oder ist es wegen der Angst, die ich nicht mehr habe? Etwas hat sich verändert. Es gab Zeiten, da wäre ich vor Angst fast gestorben, dann zog ich mir die Decke über den Kopf und hielt den Atem an. Damit er mich nicht hört. Zu der Zeit, als ich noch jung war. Als wir noch alle im Haus waren. Opa. Wenn Opa kam. Dann hatte ich plötzlich keine Angst mehr. Unerwartet. Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir eine dramatische Äußerung von Oma ein, jene Redensart „wie durch Zauberhand“, die sie verwendete, um uns zu veranschaulichen, dass ihr Kopfschmerz weg war oder die Erkältung vorüber. Ich weiß nicht, wohin diese Angst verschwunden ist und warum. Dann sage ich mir wieder, dass ich erwachsen bin, älter geworden, dass die Angst mit Opa verbunden war, vor dem ich keine Angst mehr haben muss.

Ich habe meine Unschuld verloren.

Bevor er verschwunden ist, schlich er sich oft zu mir ins Zimmer. Auf Zehenspitzen, wegen Oma. Und Mama. Und Papa. Er schlich, damit es unser Geheimnis blieb. Wenn er trank, immer wenn er getrunken hatte und nachts nach Hause kam. Sogar betrunken wusste er, welche Treppenstufe knarzte, sodass er sie wohl übersprang, darüber hinwegstieg wie über Stacheldraht. Langsam näherte er sich dann meinem Bett. Ich spürte ihn. Er roch nach Weinbrand. Nach Wagenschmiere und Asphalt. Es war, als ob der Asphalt der Straße an seinen Haaren und seiner Kleidung kleben geblieben war, an seinen riesigen Händen. Ich stellte mich schlafend. Mein Herz raste, es hüpfte wie eine Maus im Zuber, in Gedanken versuchte ich fieberhaft, es zu beruhigen und machte dadurch alles nur noch schlimmer. Es war, als versuchte man eine Katze durch Herumfuchteln mit den Armen herbeizulocken. Er blieb stehen und schaute mich an. Er stand neben meinem Bett wie ein riesiger schwarzer Berg ohne Augen. Dennoch spürte ich seinen Blick. Dann hob er die Decke oder das Federbett an, im Sommer nur ein Laken, und kroch langsam zu mir. Sein schwerer Atem drang als bernsteinfarbene Weinbrandfahne in mein Ohr. Ich stellte mich immer noch schlafend, mein Herz pochte bis in die Schläfen, bis in die Augen, die von selbst aufgehen wollten, bis in die Lungen, die nach Luft lechzten. Er schob mir die Hand zwischen die Beine und rieb, verletzte mich mit seinen scharfen, trockenen Nietnägeln.

„Du bist so unschuldig“, stöhnte er immer gleich, als wäre das ein Ritual, das ihn in noch größere Ekstase versetzte. Mit derselben Hand strich er mir dann über das Gesicht, durch die Haare. Die Hand stank nach Urin, nach meinem Urin. Von diesem Gestank trieb es mir die Tränen in die Augen, er aber redete von meiner Unverdorbenheit und Reinheit und davon, wie durchtrieben und verdorben die Frauen seien, die ihren Männern die Eier abschnitten, kastrierte Hunde aus ihnen machten, die zu nichts mehr fähig waren außer zu trinken. „Ich habe Glück“, fuhr er fort. „Ich habe dich.“ Sein Atem wurde immer flacher und kürzer. Wir lagen in einer Wolke seines bernsteinfarbenen Dunstes, während er sich an meinem Bein rieb, mit der Hand zwischen meinen Beinen. Erst dann begann ich zu weinen. Ich konnte nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, zu bluten, als öffneten sich dort unten eine Million kleiner brennender Wunden, als legte man die Hand auf die heiße Herdplatte, weil man nicht wusste, dass im Herd jemand Feuer gemacht hat und Feuer heiß ist.

„Weine doch nicht, Opas Engel, weine nicht“, murmelte er mit erstickter Stimme in der Dunkelheit, die vor meinen Augen flackerte. Wie ein Kaleidoskop, etwas Nervöses, Veränderbares, das sich drehte. Er wischte mir die Tränen mit der Hand weg, die nach mir roch. Dann küsste er meine Stirn, stand auf und ging. Zuvor wiederholte er stets mit zu Vorsicht gemahnender Stimme:

„Das hier ist unser Geheimnis, Lucija. Opa hat dich sehr lieb. Ich hab dich sehr lieb. Niemand darf das wissen. Niemand.“

Ich nickte hysterisch und begann endlich wieder zu atmen. Meine Lungen taten weh.

„Wenn jemand davon erfährt, wird die Polizei dich von zu Hause wegbringen. In ein Heim für böse Kinder, und du wirst uns nie wieder sehen. Opa wird vor Trauer sterben.“

 

Ich weiß nicht, wie Oma schließlich davon erfahren hat.

Ich weiß nicht, warum er erst zurückgekehrt ist, als auch Papa weggegangen war, erst am Ende der Reihe.

Vielleicht, weil sie auf ähnliche Weise gegangen sind.

„Ich gehe Zigaretten holen“, sagte Papa eher zu sich selbst. So wie wortkarge Menschen mit sich selbst reden, wohl um den Klang ihrer Stimme nicht zu vergessen. Draußen rollte die Dunkelheit heran. Jene richtige, spätherbstliche Dunkelheit, die an den Rändern irgendwie gelblich ist vom Geruch des bereits zermalmten, völlig toten Laubs in den Nasenlöchern. Obwohl die Kälte im Spätherbst grau ist, habe ich sie auf der Haut immer so empfunden.

Papa setzte sich aufs Fahrrad und fuhr in diese Dunkelheit. Jetzt weiß ich, er wusste, dass er nicht zum Zigarettenholen fuhr. Er fuhr bewusst zu Mama, seiner Ehefrau, der besten Frau auf der Welt, wie er auf ihrer Beerdigung unter Schluchzen gesagt hatte.

Er starb eines natürlichen Todes. Vorausgesetzt, Trauer ist eine natürliche Todesursache. Sie fanden ihn auf dem Bauch liegend im Wald. Das Fahrrad fand man im Straßengraben. Papa war lila, sein Gesicht violett marmoriert. Weil er auf dem Bauch lag. So erklärte es der Pathologe dem Polizisten, der Papa ekelerfüllt ansah. Der Polizist hielt in der einen Hand den Notizblock, in der anderen einen Stift, er musste wohl einen Bericht schreiben. Die Polizei berichtet über Dinge und Menschen, die auf Straßen, Wegen oder im Wald gefunden werden. Mich schaute niemand an. Weder der Pathologe noch der Polizist. Als wäre der Vater gar nicht meiner.

Später stellte ich mir Papa vor wie einen Illegalen, der jegliche Spuren verwischt, indem er das Fahrrad in den Straßengraben schiebt, in die vertrockneten Brennnesseln und gelben Stängel toter Gräser, und über die Straße geht, auf die sich die Dunkelheit herabgesenkt hat wie eine schwere Wolldecke. Ich stellte mir auch den Nebel vor, den die Sträucher und Gräser mit der ersten Dunkelheit auswerfen wie Schleim, der auf den Straßen wie durch Alchemie von einer Dunkelheit zur anderen wird, durch das Gesetz der verbundenen Gefäße. Ich konnte Papa genau sehen, wie er sicher und langsam durch diesen knietiefen Nebel schritt, wie er mit dem Blick einen Ort suchte, der ihm als Portal für den Übergang aus seiner Einsamkeit in die jenseitige Eheidylle dienen würde. So sehr ich mich bemüht habe, ihn zu rechtfertigen, tut es mir dennoch weh, dass er nicht an mich gedacht hat. Deshalb sage ich mir manchmal, bestimmt hat er gezögert, vielleicht weinend und stöhnend unter dem Baum gesessen, neben dem sie ihn gefunden haben, vielleicht hat er sich das Gesicht mit den Händen gerieben und abgewogen, was ihm wichtiger war und was ihm schwerer fiel.

Die Einsamkeit fiel ihm dennoch schwerer. Das kann ich sogar verstehen.

Nach Papas Beerdigung gab es keinen Leichenschmaus. Am Friedhofsausgang standen nur die Nachbarn herum und flüsterten, wie schade es um den guten Menschen sei, als wäre die ganze Familie von einem Fluch getroffen worden. Ich verstand sie nicht. Es ist normal zu sterben. Am Ende sterben alle. Unser dicker Nachbar Franjo weinte. Er war kreidebleich. Nur seine Augen waren rot, die Lider und Wangen von Tränen aufgequollen, sodass er aussah wie ein Albino-Panda. Ich hatte den Eindruck, ihm fiel es schwerer als mir. Es gibt etwas zutiefst Erschütterndes an verheulten Männern. Er hatte sich immer gut mit meinem Vater verstanden. Nicht ohne Eifersucht dachte ich, dass sich mein Vater eigentlich mit ihm besser verstanden hatte als mit mir. Aber dann sagte ich mir, dass es sich auch mit diesem Eindruck so verhielte wie mit dem grüneren Gras auf der anderen Seite. Eine Frage der Wahrnehmung.

Ich wollte Franjo trösten, doch ich hatte keine Kraft. Und keine Lust. Irgendwie ahnte ich mein eigenes Chaos voraus. Eine Vorahnung wie jene unheilvolle Musik in Horrorfilmen, wegen der man voller Angst etwas Schlimmes erwartet, wovon man noch keine Ahnung hat.

Ich glaube, dass ich zu Hause geweint habe. Hysterisch, verrückt. Nach Mamas Tod hatte ich nur leise in meinem Zimmer gewimmert. Nach Papas bin ich, soweit ich mich erinnern kann, laut heulend durchs Haus gerannt, Türen knallend und Sachen zerwühlend. Wohl wegen der Stille. Ich wollte nicht zulassen, dass sie mich umzingelt. Zumindest denke ich das jetzt. Ich glaube, dass Leute kamen, die von allein ins Haus hineingingen. Sie redeten irgendetwas, wohl um mich zu trösten. Menschen machen das automatisch. Trösten ist eine Gewohnheit. Sogar wenn wir mit dem Trauernden, dem von der Trauer Übermannten überhaupt kein Mitleid haben. Es ist die Pflicht zum Mitleid.

Ich erinnere mich nicht mehr, ob Opa überhaupt an der Tür geklopft oder geklingelt hat. Meine Verwandten klopfen manchmal an. Als machten sie Witze. Nur Papa kommt leise, wie eine Katze. So wie Opa früher immer kam. Ich stand in der Küche, als er aus der ewigen Dunkelheit des Flures auftauchte und im Türsturz erschien. Lachend, er lachte wirklich, als wäre es nicht er selbst, er verneigte sich sanft und fragte, wohl der Ordnung halber:

„Jemand da?“

„Ich bin da“, sagte ich. Eigentlich wollte ich ihn fragen, wie es sein konnte, dass er jetzt sprach, aber er schwieg und starrte nur durch das Fenster hinaus.

„Du bist da, das sehe ich ...“

Ich schaute ihn verwirrt an. Ich glaube, dass ich die Augen sehr weit aufriss, kann es aber nicht mehr beschwören. Dann ergriff mich unerwartet eine pulsierende Wut. Viel Zeit war vergangen, aber jetzt war ich endlich ohne Angst. Ich wollte ihn fragen, wie er mir all das hatte antun können, was er mir angetan hat, wie er sich die ganze Zeit tagsüber so hatte verhalten können, als wäre nachts nichts geschehen, ich wollte schreien, brüllen, ihn anspringen, ihn mit den Händen schlagen. Aber ich tat es nicht. Erst da wurde mir bewusst, wie anständig ich bin, wie schwer es ist, einem Schuft ins Gesicht zu sagen, dass er ein Schuft ist. Ich wollte keinen Zwist. Ein Zwist ist kein Normalzustand.

Ich erinnere mich, dass ich angefangen habe, mich in den linken Oberarm zu kneifen, mir wieder blaue Flecken zu machen, durch die meine Mutter in Sorge geriet. Mama dachte damals, ich hätte Leukämie und würde sterben. Sie ging mit mir zum Arzt. Und ich hoffte, Leukämie zu haben. Ich wusste nicht, was Leukämie war, aber ich wusste, dass Sterben bedeutete, an einen anderen Ort zu gehen, weit weg von Opa. Mama war nicht mehr da. Und auch der war nicht mehr da, der mir einmal gesagt hatte, wenn man das Erduldete vor dem verschweigen konnte, der einem Leid zugefügt hatte, heiße das, Stärke zu zeigen, da man überlebt habe und weitermache. Obwohl ich irgendwie wusste, dass das Blödsinn war, denn die Bösen sollten wissen, dass wir wussten, dass sie böse waren, verschwieg ich all das, was ich ihn fragen wollte, all das, weswegen es in meinem Kopf so dröhnte.

„Du kannst nicht ohne das Haus“, grinste Opa. In seinem Blick lag etwas Bösartiges. Vor Wut, die ich nicht bändigen konnte, und wegen der Wut, die ich bändigen wollte, warf ich ein Küchenhandtuch auf den Boden und bückte mich, um es aufzuheben.

„Das Linoleum ist nicht mehr da“, sagte er leise, als sähe er weder meine Wut noch das auf dem Boden liegende Küchentuch. Wieder schaute ich ihn verwundert an. Tatsächlich, da lag kein Linoleum mehr. Der Boden war mit sandfarbenen Fliesen ausgelegt. Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte. An die Fliesen erinnerte ich mich nicht. Oder ich hatte keinen Platz für sie in meiner Erinnerung.

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