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Es war am ersten schönen Frühlingstag acht Uhr morgens, Uwe hatte es eilig, Helen hatte frei.

Uwe, heute Abend gibt’s Kino, als Pflichtstoff, du als Filmlover musst dabei sein.

Was wird denn gegeben?

Die «Shoa» von Lanzmann, du weisst, der jüdische Franzose.

Uwe hielt ein, dann blähten sich seine Nüstern.

Sie wusste, was das hiess.

Das kannst du nicht im Ernst von mir verlangen.

Warum nicht?

Weil ich es satthabe, den Musterknaben der deutschen Vergangenheitsbewältigung zu spielen. Die Schweizer scheinen scharf auf so einen zu sein.

Hast du den Film denn gesehen?

Ist das ein Verhör? Ich wiederhole, ohne mich. Ich muss jetzt gehen.

Sie klingt flehend, was ihn noch madiger macht.

Uwe, es ist wichtig, wichtig für uns beide. Für unsere Beziehung.

Ach du liebe Unschuld, kleine behütete Schweizerinnen haben keine Ahnung.

Und er nahm Mantel und Mappe und verliess wortlos die Wohnung.

Der Gefährte kam nicht nach Hause. Er rief auch nicht an. An diesem Abend trank sie eine halbe Flasche Bordeaux und lallte, als ein fremder Mann namens Uwe um zwei Uhr nachts zu ihr in die Federn stieg.

Der Film war schwere Kost. Es stellte sich heraus: Sie war genau das, was Uwe ihr vorwarf, eine brave ahnungslose Schweizerin.

Lanzmann, der Autor, war der Mann, der Simone de Beauvoir verehrt, ja geliebt hatte, er begab sich auf fremdes Terrain, nach Ostdeutschland, nach Polen, nach Tschechien, ja, er schaffte es sogar, einen lange gesuchten ehemaligen Zeugen in den USA ausfindig zu machen. Es war ihm keine Reise zu mühselig, kein Gang zu unbequem, um den Ablauf der Vernichtungsmaschinerie in allen Details zu erforschen, die offenbar international ihre Schaltstellen hatte. Zu einer Zeit, als die Bundesrepublik sich kaum an das heranwagte, was diffus die deutsche Schuld hiess.

Sie hört Uwe fragen, sie führt einen stummen Dialog mit ihm.

Was gibt’s denn da zu sehen, Jahrzehnte danach?

Wär man neunmalgescheit, würde man es Ecce homo nennen. Folgendes, Uwe: Ein rundlicher unauffälliger Zeitgenosse unbestimmten Alters steht da auf den Leerflächen der Geschichte, auf den Stumpengeleisen der Abtransporte, an den Schaltstellen der Tilgung, auf denen kein Gras wachsen wollte, keins gewachsen war: Es sah nur so aus. Er steht da auf den Spuren des Namenlosen und sucht das Gespräch mit allen, die sich ihm stellen, den Ehemaligen, jetzt geduckte und gezeichnete Schergen, Kommandanten, Verräter, Mitwisser, lauter sogenannte kleine Leute, die die Befehle von oben ausführten, und im Hintergrund schliessen die Dörfler die Fenster, wenn wieder so ein rätselhafter Lastwagen, der von Uniformierten auf dem Dorfplatz deponiert worden ist, nach Sonnenuntergang ins Rütteln und Schütteln kommt. Wenn die Uniformierten dann eine Beige von vergasten Juden aus dem Laster karren, um sie an einem Abhang neben der Müllhalde zu verscharren, treten die Zaungäste, polnische Bauern, aus den Häusern, um das Spektakel mit dumpfer, ja stoischer Miene zu betrachten. Das ist das Schlimmste, dieses Glotzen aus dem Hintergrund, da kommen Helen die Tränen, und das Warum ist wieder da.

Der Bau der geplanten Konzentrationslager hatte sich offenbar verzögert, und so erhielt Helen auf unerbittliche Weise Anschauungsunterricht über jene verschwiegenen, unter den Tisch gekehrten Vorgänge hinter dem Horizont der deutschen Trümmerfelder: Sie fand keinen Schlaf nach der Visionierung von Lanzmanns «Shoa» und er­kannte darin die hohe Wirksamkeit seiner Leistung.

Die Schuhe, das Anathema. Wohin damit? Vielleicht lassen sie sich auf dem Mäuerchen der gut frequentierten Kneipe bei der Bushaltestelle postieren? Asylbewerber und Sans Papiers tauchen neuerdings in der Gegend auf. Vor allem sind es buntbetuchte Eritreerinnen, die in Gruppen erscheinen und sich mit lautem Geplauder an der Strassenkreuzung einfinden. Am Samstag strömen bäuerliche Marktfahrer herbei, sodass sich das vom Quartierverein zaghaft verschönerte Zentrum mit Kundschaft füllt. Immerhin beschicken dann Gemüse- und Obstauslagen eine schräg abfallende städtebauliche Nullstelle, die einst voll guten Willens zum Platz erklärt worden ist.

Gelegentlich hält man auch hier so etwas wie einen Flohmarkt ab, die nächste Gelegenheit, die Helen abwartet. An diesem Samstag geht sie stracks zum ersten Stand, in jeder Hand einen Militärschuh. Die Eritreerinnen haben sich bereits eingefunden, die farbenprächtige Schar macht sich ans Prüfen der handfesten Artikel: solide Topflappen, gleissende Toaster, polierte Stabmixer und Ständerlampen aus den Fünfzigerjahren. Und siehe da, sogar ein intakter Felltornister hängt an einem Garderobenständer. Das passende Umfeld für Armeetaugliches, also stellt sie ihre Last zu Füssen des Hausrats, steckt einen Zettel mit der Aufforderung «Zum Mitnehmen» hinein. Dann macht sie sich dünn, denn sie fürchtet, eine Bekannte zu treffen, die zu laut «Hello, long not seen» rufen könnte, und sie wäre er­tappt, beim illegalen Deponieren, das kann sie sich nicht leisten als Abgeordnete der Grünen. Also nichts wie weg.

Dann fällt ihr Blick auf den dunkelhäutigen Jungen, der dicht bei den Eritreerinnen steht und sich hinter der Grossgewachsenen unter ihnen duckt. Helen bleibt stehen und betrachtet ihn aus Distanz von der Weinlaube des nahen Restaurants. Ein Mischling, oje, verpöntes Wort, doch ihn ein afrikanisches Halbblut zu nennen, geht noch weniger. Seine Züge sind edel wie jene der Niloten, der Nilquellenanwohner, und sein sinnlicher Mund schürzt sich, als wolle er die versammelten Habseligkeiten küssen, die vor ihm ausgebreitet sind. Ein Junge im vorgerückten Schulalter, er dürfte elf oder zwölf Jahre alt sein, schwer zu schätzen bei einem Afrikanerkind, das in der Linie der Königin von Saba erschaffen scheint, sodass man ihn gern und gut zum Coverboy für Sammelaktionen küren könnte. Er ist heller als die anwesenden Eritreerinnen, hat aber pechschwarzes Haar. Schön wie der Morgentau ist der junge Fant, dessen mutmasslich weisser Vater sich wahrscheinlich aus dem Staub gemacht hat. Ach was, Helen, hör auf zu spintisieren. Sieh zu, dass der Pinkel deine Schuhe nimmt. Jetzt taucht er aus dem Schatten der Mutter, dieser hochgewachsenen Frau, einer Herrin ähnlich. Er steckt in einer modisch sportlichen Aufmachung, ein atmungsaktiver grellfarbiger Trainer schlottert um seinen schmalen Körper, wahrscheinlich eine mildtätige Spende der Caritas. Nun entdeckt er die Militärschuhe, kratzt sich den runden Schädel unterm Kraushaar, nimmt das linke Exemplar in die Hand, begutachtet es intensiv, während er den Zettel in die Tasche seines Trainers steckt.

Helen, in Deckung, applaudiert im Stillen und begibt sich auf den Heimweg. Als sie erneut nach dem Jungen späht, ist er nicht mehr in Sicht, während zwei der Eritre­e­rinnen sich fröhlich schnatternd nach Hause aufgemacht haben, in ihrer Richtung. Die souveräne Hünin, die aus der Gruppe herausstach, schleppt die Ständerlampe mit sich.

Sie schlurfen, die meisten Migrantinnen schlurfen, sie tappen schwerfällig in ihren glitzernden Slippers einher, doch wirken sie unabhängiger als ihre Leidensge­nossinnen. Vielleicht leiden sie gar nicht? Helen auf der anderen Strassenseite drosselt das Schritttempo. Denn die beiden gewandeten Frauen bleiben ständig stehen, um das erworbene Gut zu examinieren. Dabei müssten sie das Schlurfen, diese Gangart der Frustration, welche die Demut, ja, Unterordnung innerhalb des kategorischen Patriarchats ausdrückt, doch hinter sich gelassen haben. Manche Eritreerinnen sind emanzipiert, haben sich selbständig gemacht, vermutet Helen, und beschliesst, diese beiden näher kennenzulernen.

So, das wäre erledigt, sagt sie fast triumphierend zu Uwe, der sich in der Küche zu schaffen macht. Was denn?, fragt er arglos und streckt eine halb geschälte Karotte in die Luft. Helen fällt ihm um den Hals, wobei die Karotte auf den Boden rollt. Ich mag deine Zerstreutheit, sie hat uns schon oft gerettet. Sein Blick ist belustigt, als er sie sanft von sich streift, um sich zu bücken. Auf dem Herd brodelt Tomatensauce. Und ich mag deine Kapriolen, die uns die Langeweile vom Leibe halten.

Kapriolen? Ach wo, ich bin lediglich pragmatisch und setze meine Worte in die Tat um.

Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, ich weiss bloss, dass es um halb acht zu essen gibt, die liebe alte Leier aus meinem Ein-Menü-Repertoire.

Der Horizont hat sich gelichtet. Helen geht ihrer Wege, froh, ein Stück des fatalen zwanzigsten Jahrhunderts losgeworden zu sein. Uwe ist zwar nicht begeistert von seinen neuen Waldläufern, zu smart für ihn, nichts für robuste Unternehmungen, wendet er ein, doch hat er sich gefügt in die schäumende Aktivität seiner Frau, die jene Entscheide trifft, die ihm nicht wirklich wichtig sind. Er hütet sich, das auszusprechen, dankt ihr mit einem freundschaftlichen Tätscheln, das sie leicht irritiert abschüttelt, worauf das Tagwerk eines berufstätigen Paars ohne Kinder den gewohnten Fortgang nimmt. Morgenkuss, hastiges Frühstück, Abendkuss, ausgedehntes Nachtmahl mit folgendem Küchen-Cleaning, das sich in der neuen Küche sozusagen von selber erledigt, obschon der Mann sich sogar schwertut, einen Geschirrspüler zu füllen, was die Frau zu einem stoischen Seufzer verleitet. Sie dreht sich im Hamsterrad der Resignation, was das häusliche Job-sharing angeht. Zu viel Energie verpufft in diesem ewigen Abnützungskampf, den ihre Generation nicht lösen konnte.

Die Frau kocht meistens, nicht weil sie besonders gerne kocht, sondern weil sie früher zu Hause ist. Dann folgt die «Tagesschau», dann Lektüre, während Helen irgendwas zu erledigen hat, oft korrigiert sie noch Schulhefte, sie unterrichtet an zweieinhalb Tagen Französisch an einem Gymnasium. Er kann kein Französisch, und eigentlich interessiert ihn französische Politik kaum, was Helen immer wieder von neuem anmahnt, wir sind doch Europäer, Uwe. Aber Uwe hat keine Ohren für das Französische, diese Sprache liege ihm nicht. Ausserdem habe er keine Zeit für etwas anderes, jetzt, da sein Projekt endlich an­komme und gut aufgestellt sei. Uwe ist Biochemiker und entwickelt eine Getreidesorte für aride Zonen, sie soll so­gar im Sahel spriessen, da der Wasserhaushalt sich selbst reguliere, sagt er, durch eine Kombination stabiler Amino­säuren, deren Zellstruktur innerosmotisch wirke.

 

Aha, innerosmotisch, meinte Helen letzthin, etwas mehr Innerosmose könnten wir zu Hause auch brauchen, sie erwartet, dass er über ihre Anspielung lacht, aber nein, nach einer Weile taucht er mit verständnislosem Blick aus seinem inneren Laborwinkel auf und fragt wie üblich: Ist was los?

Er fährt halt mega ab auf sein Projekt, sagt seine blutjunge Assistentin, wenn sich Helen ausnahmsweise am Telefon nach ihm erkundigt. Also brütet er nach Feierabend weiter über den Bedingungen einer erfolgreich­en Zellteilung seiner Protozoenzucht. Er brütet wo auch immer, auf dem Lokus, in der Garage, beim Zähneputzen, sogar im Kino, sodass Helen unterlässt, mit ihm den Film zu diskutieren, was sie dann doch verdriesst. Es scheint, dass das Imago seiner Saat bereits aufgeht und über die Netzhaut seines inneren Auges flimmert. Es macht ihn happy, wenn der Grossbildschirm im Livingroom der Wissenschaft die Zukunft signalisiert. Triumphal! Dort steht nämlich in fluoreszierender Leuchtschrift: «Biochemiker der ETH löst das Welthungerproblem».

Dabei ist er doch genügsam, und eigentlich bescheiden. Ein bescheidener Egozentriker. Helen hat es aufgegeben, im Detail nachzufragen, obschon sie sein Projekt grundsätzlich interessiert. Zur Zeit gewährt der Gespons keinen Einblick in das Verlies seiner Laborbesessenheit.

Er murmelt im Schlaf, die Protozoen tuckern durch seine Träume, oder sind das etwa Frauenschenkel? Oder die Möse seiner Labormaus? Und wenn sie ihre Phantasien dann ins Eigenleben lotsen will und im Bett mehr möchte als den obligaten Gutenachtkuss, erfüllt der Mann an ihrer Seite die quasi eheliche Pflicht, der er etwas träge und ohne Begeisterung nachkommt. Nun ja, das innere Seufzen weiss ja gut genug, dass die Zeiten des wilden Begehrens over sind, over, sagen die Jungen, auch die junge As­­sistentin, als sie einmal eine Liste mit Helens Fragen erstellt hat. Over, die Fragen werden ihm morgen unterbreitet, dem Chef. Nie mehr wird Helen im Verlies der La­­bormaus anrufen, nie mehr, schwört sie im Stillen. Und sie hält sich dran. Over, and easy, ja, wenn’s doch so wäre, wie die Jungen sungen. So wenig Zeit für sie und ihre An­liegen hat er noch nie gehabt, da muss ausser seiner La­bormaus, die sie nicht ernsthaft bedroht, eine weitere Frau im Spiel sein. Könnte, denn sie glaubt nicht im Ernst, dass Uwe fremdgeht, ohne mindestens eine Andeutung zu ma­chen. Und wenn es wichtig ist, wird er sie ins Bild setzen. Dieses eine nämlich haben sie sich gelobt, Transpa­renz in der Beziehung. Damals, als sie fanden, Ringe würden nicht getauscht, Ringe seien Fesseln. Seither lautet die Devise des geprüften Paars: kein Spitzeltum, keine Handykontrolle, Privatsphäre gestattet, sonst hältst du es zu zweit allein nicht aus.

Höchste Zeit, ihn in ihre Pläne einzuweihen. Ihre Reise könnte doch auch seine Chance sein. Er hätte als Strohwitwer die volle Konzentration auf seine Forschung. Und wenn sie nicht gestorben ist, in Mossul oder Afrin, dem neuesten syrischen Schlachtplatz, dann könnten sie sich irgendwo in der Mitte des Planeten Hoffnung treffen. Zu einem Badeplausch in Oman, nicht wahr, Helen, das sind die Widersprüche einer grünen Nationalrätin. Obszöne Gedanken schleichen sich ein, wenn der Nichtangetraute nicht kooperiert mit Tisch und Bett. Sie klopft sich auf die Schulter. Bis dann wirst du nicht mehr im Rat sein. Doch kann sie nicht verhehlen, dass sie in letzter Zeit von Destinationen der euphorischen Plakatromantik träumt. Träumen wird wohl noch erlaubt sein.

Die Ansteckung ihrer Schülerinnen? Das wäre Grund zur Besorgnis. Denn Gymnasiastinnen von heute wollen zwar studieren, aber gleich darauf, oft schon vorher heira­ten und Kinder kriegen. Von wegen Berufsleben, Frauen in die Politik, Quotenfrauen oder keine, da bricht ein einziges Oh Gott / oh Gähn / oh du Scheisse aus, und die grosse Freche fängt an, sich die Fingernägel zu lackieren. Man kann so lausig daherkommen, wie man will, doch Fingernägel müssen hip und vorneweg sein, knallroter Lack ist obligatorisch.

Der Hochzeitstag sei das Grösste, der wichtigste Tag im Leben der zeitgemäss denkenden Frau. Verkündet an­schliessend die grosse Freche und gibt sich lasziv. Man müs­se klar die Entjungferung vorher absolvieren und fleissig üben. Damit es in der Hochzeitsnacht dann ­me­ga­geil klappe. Dafür sei jeder Geld- und Zeitaufwand ge­­rechtfer­tigt, inklusive das umfassend professionell durchgeführte Fotoshooting, das die Gesamtinszenierung von der Kirche bis zum Bankett begleite. Die Kosten habe klar der Pa des Bräutigams zu übernehmen, denn der sei stinkereich, darum geht’s ja, dass der stinkereich ist, damit sich die Chose lohnt; ist doch logisch. Sind da noch Fragen?

Helen hat es aufgegeben, mit ihren Schülerinnen zu diskutieren. Sie hat ein paar Begabten des Romanistik-moduls ein inoffizielles Seminar angeboten. Da sind vier Girls und drei Jungs, die hell im Kopf sind und arbeiten wollen. Sie fand es schade, die wirklich interessierten Kids aussen vor zu lassen. Doch die Eltern haben dagegen opponiert.

Der Sex, das strapazierte Thema in den Medien. Von wegen der Mann will immer, nein, will er nicht, wenn er den Kopf voll Forschung hat. In dieser problematischen Phase der Zweisamkeit würde ihr der gegenseitige Besuch der ehemaligen Feuchtgebiete genügen, die nun ziemlich spröde sind, aber immer noch ansehnlich. Eine zwar mürbe ge­wordene, aber noch nicht erschlaffte Fleischlichkeit aus Mulden, Hügeln, Abschussrampen, lässt sich manuell be­handeln, das mag sie, das hat er früher auch gemocht. Ist die Tätigkeit genannt Streicheln definitiv ausser Betrieb? Bloss weil man seit achtundzwanzig Jahren zusammen ist? Das kann nicht sein. Was will die Frau? Statt einen schnellen Akt und das Schnarchen kurz darauf die ausführliche Beziehungspflege, ja gewiss, körperlich mit Haut und Haar. Wichtiger als der Koitus wird dann das Spiel, und nach dem Spiel einschlafen in der Löffelstellung. Das panische Geschlechtswerkzeug des Mannes im Zenit seiner Manneskraft darf auch mal ruhen, dann findet sich stattdessen ein lustiger Trabant von einem Penis in der gemeinsamen Mitte, ein Familienmitglied, mit dem frau tändeln und herumflottieren möchte. Das wäre dann der Flow, der in der Kreativproduktion erwünscht ist. Sie legt sich auf die Seite und hört Uwes näselnden Atemzügen zu.

Das Spiel hat einen Namen zwar, doch der ist von den Therapeuten und Beraterinnen ausgelutscht und abgenutzt, er weiss nicht mehr, was die wahren Körperfreuden sind: Er lautet Kuschelsex. Dass Uwe nie von Kuschelsex spricht, ist Helens Hoffnung. Und ja, hat dieser nun vorwiegend fremde Mann im Bett nicht letzthin freiwillig und spontan gekocht? Das muss wohl eine Liebeserklärung gewesen sein.

Sie wird die Erinnerung nicht los. Die Inspektion, eine freundeidgenössische Zeremonie. Zu diesem Zweck stieg der Vater in die tannengrüne Lodenuniform – daher wohl Helens Abneigung gegen Tannen –, gegürtet mit ledernen Patronenhaltern, den Felltornister mit dem gerollten Caput auf dem Rücken. Jeder Schweizer Staatsbürger ­hatte seine militärische Ausstattung, die wie eine camouflierte Rüstung im Mottenschrank auf dem Estrich ruhte, einmal im Jahr seiner Feldkompagnie vorzuführen. Dazu war der Karabiner aus dem Dachschrank zu schultern, ein bedrohliches Gerät. Die ganze Aktion schien dem Teenager fehlgeleitet, ihr Vater gab sich so der Lächerlichkeit preis. Denn eine solche Aufmachung entsprach einem Pausenclown, der sich HD Läppli nannte und das Boulevardtheater bediente. Auch im Radio riss er faule Spässe und heizte die radiophone Heiterkeit an. Das hatte nichts mit dem aufgeklärten Zeitgenossen, der ihr Vater war, am Hut, besser gesagt am Helm, die Krone der militärischen Einkleidung. Helen verstand diese künstliche Maskerade nicht, ihr Vater war kein billiger Sprücheklopfer, sondern ein ernsthafter Debattierer über das Weltgeschehen, und nicht nur, wenn Besuch kam.

Helen wartet die nächste Gelegenheit ab, mit den Eritreerinnen ins Gespräch zu kommen. Sie begegnet ihnen fast täglich auf dem Gang zum Grossisten. An diesem Tag sieht sie, dass der schwarze Junge in seiner grossen Tasche un­förmige Gegenstände mitschleppt. Nun fasst sie sich ein Herz, überquert die Strasse und spricht die beiden Frauen an.

Hallo, Ladies, ich glaube, wir haben denselben Heimweg. Ich würde Sie gerne kennenlernen. Ihr Junge ist reizend, wie heisst er?

Dann beisst sie sich auf die Zunge. Was ist in sie gefahren, so kann sie doch nicht mit der Tür ins Haus fallen.

Die Eritreerinnen sind stehen geblieben. Sie blicken Helen misstrauisch an. Sind Sie vom Migrationsamt?, fragt die grosse Eindrückliche.

Ach woher, ich bin Ihre Nachbarin, ich wohne Ihnen schräg gegenüber.

Aha, sagt nun die Kleinere und verzieht ihre fein­gesponnenen Züge.

Wissen Sie, eigentlich interessiert sich niemand für uns ohne Grund.

Der Junge sperrt die Augen auf und schmiegt sich an die grosse Eindrückliche. Sie tastet nach ihm, als wolle sie ihn abweisen, dann fährt sie fast schnippisch fort: Wir sind sonst nur interessant für das Steueramt und die Fremdenpolizei.

Oh du meine Güte, verzeihen Sie meine Zudringlichkeit.

Nun drängt sich der Junge vor und schaut Helen herausfordernd an. Die grosse Tasche hat er im Rinnstein de­poniert.

Schön, dass du deiner Mutter hilfst, sagt Helen etwas tapsig.

Das ist nicht unser Kind, wir wüssten selber gern, wer er ist. Er spricht kein Wort, er hat sich bei uns eingenistet. Er haust in unserm Keller.

Also, wirklich, das ist ja, also eine Überraschung.

Falls, falls ich Ihnen behilflich sein kann. Helen stutzt, sie fühlt sich dermassen ohnmächtig, dass sie zu stottern beginnt.

Wir sind bereits daran, herauszufinden, wer er ist. Bevor Helen antworten kann, gehen die Eritreerinnen weiter. Ihre Geste ist eindeutig, sie heisst Ablehnung. Der Junge schleppt die Tasche, in dem Helen die Militärschuhe vermutet, knapp hinter ihnen her.

Die folgenden Wochen verfliegen im Nu, am Feierabend sinniert Helen über den Dokumenten und Formularen, die sie von der Geschäftsstelle des Schweizerischen Roten Kreuzes angefordert hat. Einen Universitätsabschluss kann sie vorweisen, ein Lizentiat in Romanistik, aber ge­nügen ihre Sprachkenntnisse?

Das Spanische, das Englische werden vorausgesetzt, Arabisch erwünscht. Also heisst es Spanisch büffeln und Englisch lesen. Arabisch wird sie ohnehin nur radebrechen können.

Uwe fällt nicht auf, dass sich seine Gefährtin jeden Abend in ihrem Zimmer verbaut. Erst als sie eines Abends ruft, mach dir ein Spiegelei, Mann, ich bin beschäftigt bis mindestens um zehn Uhr, bemüht er sich herbei, klopft an ihre Zimmertüre und poltert frohgemut, als sie einen Spalt öffnet, komm, gehen wir zum Italiener, ich hab keine Lust auf Spiegeleier.

Der Italiener, die beste Erfindung der deutschen Nachkriegsgeneration! Eine protokulinarische Schöpfung, die sich im südlichen Ausläufer der vereinten Bundesländer ausführlicher präsentiert, den Italiener gab es im Land der Eidgenossen um jede Ecke, er hatte einen klangvolleren Namen und die besseren Weine.

Helen stochert in den Ravioli alla panna und bringt ihr Anliegen nicht heraus. Wieder vertröstet sie sich selber mit der reiflichen Vorbereitung und beschliesst, Uwe erst dann zu informieren, wenn sie das Aufgebot in der Tasche hat. Wobei sie im Grunde weiss, dass sie sich das Aufgebot vormacht, sehr wahrscheinlich wird sie ihm nicht genügen, ihr Jahrgang spricht dagegen, also wozu Uwe informieren, wenn die Sache sowieso im Sand verläuft?

Uwe räuspert sich und legt die Dessertkarte, die der Kellner bringt, auf die Seite. Weisst du, deine Phobie ge­gen meine Bergschuhe, die will mir nicht in den Kopf. Als ob Schuhe Kriege anzetteln könnten. Dieser Gedanke stand in seiner halb amüsierten, halb besorgten Miene, als er sie beim Stochern inspizierte, bevor er sich seinem prall gefüllten Teller zuwandte.

Uwe, du musst verstehen, dass diese Schuhe meine Kindheit tyrannisierten. Es geht um die traumatischen Bilder, die sie in mir auslösen. Es sind die Bilder, die ich weghaben möchte, ausradieren.

 

Ihr Ton war eindringlich, und sie sah, dass er ein Stück weit verstand.

Dann sieht sie die Schuhe wieder auf dem Flohmarkt im Quartier. Inmitten des versilberten Nippes. Gegen diesen geschwätzigen Kleinkram wirken sie wie stumme Tölpel aus dem Bilderbuch des ewigen Gestern. Sie nähert sich, sie untersucht die Schuhe, sie muss wissen, wo der Junge ist, nein, es sind nicht ihre Schuhe, das heisst Uwes Schuhe, das heisst Vaters Schuhe. In der Lederferse dieses zum Verwechseln ähnlichen Verwandten findet sie eine winzige Etikette, die den Namen des ehemaligen Trägers enthält. Wanzenried Robert, Korporal, Wiesendangen, Abteilung 56B II / Kompanie B5, drittes Corps 1941.

Wo ist der Junge, diese Frage wird dringend. Sie will sicher sein, dass der Junge ihre Schuhe hat. So sucht sie den Kontakt mit den Eritreerinnen diesmal gezielt. Tatsächlich tauchen sie bald auf dem lokalen Marktplatz auf, und Helen spricht sie an: Verzeihen Sie, ich bin besorgt um Ihren Schützling, wie geht es ihm? Haben Sie seine Identität feststellen können?

Die Frauen zucken die Achseln. Ach, Sie sind’s? Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass der Bursche getürmt ist. Ausgerissen mit seinem kleinen Habundgut, das er in der grossen Migrostasche herumschleppt. Er hütet es wie einen Schatz. Wir hoffen, dass er wiederauftaucht, wenn er Hunger hat. Helen verkneift sich die Frage, ob sich unter dem kleinen Habundgut Militärschuhe befänden. Sie tritt von einem Fuss auf den anderen.

Würden Sie mir, also könnten Sie …

Was wollen Sie eigentlich von uns?

Ihnen Hilfe anbieten.

Es entsteht eine Pause, in der die Jüngere verlegen auf ihre mit Henna verzierten Zehenspitzen blinzelt.

Wissen Sie, sagt schliesslich die grosse Eindrückliche, wir brauchen Ihre Hilfe nicht, wir sind beide ordnungsgemäss registriert, wir haben den Ausweis A, seit drei Jah­ren arbeite ich bei der Asylbehörde als Übersetzerin und unterrichte in der autonomen Schule. Und Ar­meida, meine kleine Schwester, sie legt der Jüngeren die Hand auf den Unterarm, hilft mir im Haushalt und lernt Deutsch. Sie ist diplomierte Ingenieurin und möchte später in ihrem Fach arbeiten.

Helen tritt ein paar Schritte zurück.

Dann, also, möchte ich Sie nicht weiter stören.

Die Enttäuschung steht ihr ins Gesicht geschrieben, als sie durch die Wohnungstür tritt. Uwe kommt auf sie zu, nimmt sie ordentlich partnerschaftlich in Empfang. Es ist lange her, dass er jene Frage stellte, die man nicht be­antworten kann: Wie geht es dir?

Da kann Helen nicht an sich halten und bricht in Tränen aus. Das ausgiebige Gespräch, das folgt, wirkt zwar wie ein reinigendes Gewitter nach der geballten Sommerhitze, doch hätte man nicht behaupten können, seither sei der gewohnte Alltag dieses Paars eingekehrt und damit das gute Leben nach Seneca, das die beiden pflegen. Aus der Distanz hätte man zwar feststellen können, alles sei paletti mit diesen beiden, wie man sagt, wenn man im Trend liegt. Von nahem jedoch wirken die zwei Leute zwar verbunden, das schon, aber nicht verbündet. Denn wir wissen nicht, inwieweit Uwe nun auf dem Laufenden ist, ob Helen ihn endlich über ihre Pläne orientiert hat. Zwar hat sie die Erfahrung mit den Eritreerinnen direkt und ohne Umschweife berichtet. Hat diese Erfahrung aus der Mördergrube, zu der sich ihre Seele zusammenkrampft, geborgen, vor ihm entfaltet, ausgebreitet, um nicht zu sagen brühwarm aufgetischt. Auch über den Jungen ist Uwe in­formiert, doch das Eigentliche ist Schweigen, und das ist – frei nach Shakespeare – kein Rest.

Die Zeit geht dahin, und mittlerweile sind die zwei weiter voneinander entfernt als je. Das hat seine Gründe, die wir nun kennen, und es soll ja, wie am Anfang der christ­lichen Zeitrechnung feststeht, gemäss den biblischen Predigern eine Zeit zum Reden und eine Zeit zum Schweigen geben, eine Zeit zum Warten und eine Zeit zum Handeln. Doch zerrt das Warten mit dem Geständnis, das Helen vor sich herschiebt, allmählich am Grundeinverneh­men dieses Paars. Er schweigt länger als sonst, und sie ist nervös. Er scheint keinen Dunst von ihrem inneren Aufruhr zu haben. Ja, sie ist für ihn gar nicht mehr vorhanden, er sieht sie nicht mehr, oder bildet sie sich das bloss ein?

Menschen enttäuschen einander, das ist die Lektion. Menschen tun nie das, was man von ihnen gerne hätte, jedenfalls nicht von selber. Helen ist daran, sich mit dieser Lebenslehre abzufinden. Und dann kommt der Tag, da Uwe sie überrascht mit dem Vorschlag, endlich die gesprochenen Forschungsgelder zu feiern. Er wolle kochen, halt das Übliche, ja, den ewigen Sugo, halt nichts Neues, aber das Bewährte umso besser. Dazu würde er endlich diesen grossen Bordeaux entkorken, diesen Château Grand Cru de soundso, in diesem Punkt mangelt es Helen an Detailkenntnissen, nun, sie stimmt erfreut zu und erwägt, ob der Anlass zu ihrem IKRK-Geständnis tauge oder nicht. Sie bietet sich an, den Tisch zu decken, kauft sogar wieder mal Blumenschmuck, diese ökologisch einwandfreien Carolröschen, die sie mag. Und dann geht Uwe in den Keller, um diesen sagenhaften Bordeaux, diese Inbrunst von einem edlen Tropfen, von dem Uwe endlos schwärmen kann, heraufzuholen. Nach seinen beherzten Schritten ins Dunkel passiert jedoch nichts. Warten, ein Knistern und wieder nichts.

Es kann doch nicht so lange dauern, einen Wein aus dem Keller zu holen. Sie blickt auf die Uhr, nun steckt Uwe schon volle zehn Minuten dort unten, in seiner Effektenkammer, die Helen seit Monaten nicht mehr betreten hat.

Sie fühlt den bekannten Ärger in sich aufsteigen, und bevor der Abend im Eimer ist, bevor die Zweisamkeit in ei­nem Fiasko landet, beschliesst sie, den Mann aus dem Kel­ler zu holen, dieser Terra incognita für sie.

Sie kommt ihm auf der Treppe entgegen, und als Uwe sie sieht, flüstert er, dann spitzt er die Lippen zu einem «Pscht», er ist auf Zehenspitzen die Treppe hochgeschlichen, die doch sonst in der Kurve ein Knarren von sich gibt. Komm, sagt er leise, leiser geht’s nimmer, komm, ich muss dir etwas zeigen.

Hinter den Regalen mit den Klasseweinen liegt der Junge auf einem Lager aus Holzscheiten. Er schlummert selig auf der Tasche, die er mit einer alten Wolldecke ge­füllt hat, um sich eine Bettstatt herzurichten. Seine Fundstücke hat er um sich herum gruppiert. Uwes Schuhe, Vaters Schuhe, diese Chimären der Vergangenheit presst er an sich wie den heiligen Gral, dessen Energie er spürt. Er lächelt im Schlaf.

Wir lassen ihn, haucht Uwe, und sie nickt.

Die beiden schleichen aus dem Abteil, als seien sie zwei Strauchdiebe, die sich ohne Skrupel in reichen Häusern bedienen. Oben nimmt der Abend dann einen gebührenden Verlauf, mit Dauerprost und verschworenen Blicken über der schmackhaften Pasta, auch der Salat und erst der Nachtisch sind nicht zu verachten. Dann stellt Uwe unvermittelt eine Frage: Wie siehst du das? Ist der Junge nun unser Kuckuckskind, oder würdest du ihn für den von den orthodoxen Juden lange erwarteten Messias halten?

Helen ist perplex. Sie hat den Mund geöffnet und haucht, also du, ich bin verblüfft, ich möchte. Bevor sie wei­terfahren kann, sagt Uwe ohne irgendeine Betonung: Ich denke, da wartet eine Aufgabe auf uns, und weisst du was, er nimmt einen Schluck, holt aus mit seinem Vorzugs­prädikat «göttlich», das ausschliesslich für Weine reserviert ist, bevor er fortfährt: Ich denke, diese Aufgabe ist dringender und ausserdem bekömmlicher als ein Einsatz mit dem IKRK. Sie pausiert mit offenem Mund: Woher weisst du, was weisst du, und er setzt das Glas prompt und mit ungewohntem Nachdruck auf den Untersatz.