Frühlingstochter

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

6. Kapitel

Manuela strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Über all den Gedanken war es anscheinend spät geworden. Obwohl sich der längste Tag des Jahres näherte, hatte sich bereits die Dunkelheit über die Stadt gesenkt. Sie sah über die Dächer in die Weite.

Wieviel einfacher war es heute, in Verbindung zu bleiben. Durch Handy und Internet waren Entfernungen nicht mehr relevant. Das ganze Leben war freier und selbst die katholische Kirche schien weltoffener zu werden.

Am liebsten hätte sie jetzt noch Maria angerufen, doch mit Blick auf die Uhr verschob sie ihr Vorhaben auf den nächsten Tag. Etwas Neues hatte sich ja auch gar nicht ergeben. Es war besser, sie legte sich jetzt hin, denn am Morgen trieb sie der Wecker unerbittlich raus.

Als es neben ihr durchdringend piepste, schien es ihr, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Traumlos und kurz war die Nacht gewesen. Jetzt wurde es langsam hell. Früher hatte sie auch im Schichtdienst gearbeitet. Heute wertete sie die Daten aus der Schaltwarte aus und konnte regelmäßig im Tagesdienst arbeiten, solange es keine Havarie gab. Doch das war sehr selten geworden in den letzten Jahren. Die modernen Anlagen arbeiteten sauberer und sicherer, als es in der DDR der Fall gewesen war. Damals hatte es ständig aus irgendwelchen Rohren gedampft und gezischt, dass es regelrecht unheimlich war.

Sie brühte sich rasch einen löslichen Kaffee auf, richtig frühstücken würde sie später in der Kantine. Die Sonne schob sich kraftvoll durch den Morgendunst als Manuela dem Chemiewerk entgegen fuhr. Tausende Menschen hatten sich früher in die S-Bahn gedrängt um zu ihren Arbeitsstellen zu fahren. Heute hatte sich die Zahl der Arbeitsplätze drastisch reduziert. Der einstmals prächtige, unterirdisch angelegte S-Bahnhof wurde nicht mehr gebraucht und verfiel. Dafür waren die Straßen ständig verstopft.

Es war nicht unbedingt ihr sehnlichster Wunsch gewesen, in einem Chemiewerk zu arbeiten. Auf jeden Fall hatte sie sich gewünscht, zu studieren. Sie wollte nicht wie ihre Mutter tagein tagaus hinter dem Ladentisch vom Konsum stehen. Und selbst wenn man, wie Maria später, in einem schicken Geschäft in bester Lage in der Magdeburger Innenstadt arbeitete, so erschien es Manuela doch nicht als das Ziel ihres Lebens. Ihre schulischen Leistungen waren in allen Fächern gut, nicht etwa, weil sie Angst vor dem Vater und seinen Strafen hatte, sondern weil ihr das Lernen Freude bereitete. Aber als es in der achten Klasse darum ging, wer zur Oberschule wechseln durfte, um das Abitur abzulegen, da war sie nicht dabei. Sie wusste, es fehlte ihr nicht an den Leistungen, da hätte sie es locker mit Susanne und Franziska aufnehmen können, doch die Weigerung ihrer Eltern, sie in die FDJ eintreten zu lassen und ihre Nichtteilnahme an der Jugendweihe machten ihren Traum vom Abitur vorerst zunichte.

Ihre Schwester hatte die Schule noch nach der achten Klasse verlassen und war dann wie ihre Mutter Verkäuferin geworden. »Das reicht!«, hatte der Vater bestimmt und seiner Tochter fortan jede Mark ihres Lehrlingsgeldes als »Kostgeld« abgenommen. Das blieb auch so, nachdem sie ausgelernt hatte. Maria hatte eisern jeden Pfennig, den sie durch zusätzliche Arbeit verdiente, zur Seite gelegt, um Geld für ihren Neuanfang zu haben.

Auch Manuela wollte raus. Raus aus der Familie, raus aus der Stadt. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, solch einen abrupten Schritt zu gehen, wie ihre Schwester. Sie liebte ihre Mutter und auch mit dem Vater kam sie inzwischen ganz gut klar. Manuela war klug genug, eine möglichst brave Tochter zu sein, die dem Vater wenig Anlass zur Klage und damit zur Bestrafung gab.

Ein bisschen Freiheit bekam sie, als im Walzwerk eine neue Produktionsanlage in Betrieb ging und der Vater begann, in drei Schichten zu arbeiteten. Manuela freute sich immer auf die Mittagschichtwoche. Wenn sie Schulschluss hatte, war er schon weg. Wenn er von der Schicht kam, lag sie schon im Bett. Da die Mutter hinter dem Ladentisch im Konsum stand, hatte sie den ganzen Nachmittag für sich. Dann streifte sie ziellos durch die Wiesen und Felder, die sich am Stadtrand erstreckten. Oft lag sie auch am Rand eines kleinen Teiches im Gras und blinzelte in die Sonne oder beobachtete die Wolken.

Hier hatte sie auch Karsten das erste Mal getroffen. Karsten. Noch immer durchflutete eine warme Welle der Zuneigung ihren Körper, wenn sie an ihn dachte. Was wäre gewesen, wenn sie sich unter anderen Umständen begegnet wären? Jahrelang hatte sie den Gedanken an ihn verdrängt. Nun war er schon zum zweiten Mal binnen weniger Tage wieder präsent.

Es war Anfang September gewesen. Manuelas letztes Schuljahr hatte gerade begonnen. Dort an dem kleinen Teich hatte sie unter einem Baum im Gras gelegen, als sie vom Geräusch eines Mopeds aufgeschreckt wurde. Als es verstummte, trat ein junger Mann in ihr Blickfeld. Sie schätzte ihn vielleicht auf Anfang Zwanzig.

»Ist hier noch frei?« Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte er sich neben ihr nieder gelassen. Nach einer Weile still nebeneinander musste Manuela über die seltsame Situation lachen. Das ermunterte ihn, sie erneut anzusprechen.

»Ganz allein hier?«

»Du doch auch!« Ganz selbstverständlich hatte sie ihn sofort geduzt.

»Gar keine Freunde oder Geschwister?«

»Doch, eine große Schwester. Aber die wohnt nicht mehr zuhause.«

Traurig hatte er sie angesehen. »Meine auch nicht. Und ich weiß nicht einmal, wo sie jetzt ist. Ihre Tochter hat sie mitgenommen, die müsste so in deinem Alter sein.«

Als Karsten ihr das erzählte, erinnerte sich Manuela sofort wieder an Kristina, die vor Jahren nach den Winterferien plötzlich verschwunden war. Das war dann also seine Nichte.

»Wohnst du in der Nähe?« Karsten hatte nirgendwo ein Fahrrad entdecken können, demzufolge musste sie wohl zu Fuß gekommen sein.

»Ja, gleich dort vorne, in der Siedlung. Und du?«

»Ein Stückchen weiter weg. Drüben, auf dem Berg.« Er musterte sie neugierig. »Gehst du noch zur Schule?«

Manuela nickte. »Das letzte Jahr.«

»Und dann?«

Sie zuckte die Schultern. »Ich hätte gerne studiert, bin aber nicht zur Oberschule gekommen. Jetzt muss ich mir wohl eine Lehre suchen.«

»Dann mach doch eine Ausbildung mit Abitur«, schlug ihr Karsten vor, »dann kannst später immer noch studieren. Das gibt es bei uns im Werk, aber bestimmt auch woanders.«

Von da an hatte sie der Gedanke nicht mehr losgelassen. Im Walzwerk musste es nicht gerade sein. Einerseits wollte sie nicht Metallurge werden und außerdem wäre sie dann weiter unter der Fuchtel des Vaters geblieben. Es sollte doch noch etwas anderes geben.

Gleich am nächsten Tag hatte sie mit ihrem Klassenlehrer darüber gesprochen. Er hatte ihr nahegelegt, in die Chemie zu gehen. Es war der Industriezweig der Zukunft. Tausende Menschen arbeiteten bereits dort und viele wurden noch gebraucht. Aber das Beste für Manuela war, während der Ausbildung würde sie im Lehrlingswohnheim in der Nähe des Chemiewerkes wohnen. Der Gedanke schien einfach genial, frei sein, ohne weglaufen zu müssen. In einer ruhigen Minute hatte sie auch ihre Eltern davon überzeugen können. So bewarb sie sich zur Ausbildung als Facharbeiter für chemische Produktion mit Abitur.

Noch ein paar Mal hatte sie sich zwanglos, ohne jede Verabredung, mit Karsten getroffen. Dann war es Winter geworden.

Manuela sah von der Arbeit auf. Wie gut, dass ihr im Laufe der vielen Jahre alle Tätigkeiten in Fleisch und Blut übergegangen waren. So konnten ihre Gedanken schon einmal abschweifen.

Den Rest des Tages versuchte sie sich zu konzentrieren, doch schon auf der Heimfahrt geisterte ihr wieder Karsten und die Vergangenheit durch den Kopf. Zwar besaß sie im Auto eine Freisprechanlage, doch sie mochte es gar nicht, beim Fahren zu telefonieren.

Wenn sie angerufen wurde, versuchte sie immer, das Gespräch recht kurz zu halten. Doch Maria wollte sie lieber erst von der Wohnung aus anrufen. Hastig streifte sie die Schuhe von den Füßen und hängte die dünne Jacke, die sie über dem Pulli getragen hatte, an die Garderobe. Dann ließ sie sich in den Sessel fallen und tippte auf Marias Nummer im Handy.

Schon wenige Augenblicke später hörte sie die Stimme ihrer Schwester. »Hallo Manuela, was gibt es Neues!«

»Hallo Maria!«, grüßte sie zurück, ohne weiter auf die Frage einzugehen.

»Nun sag schon!«, drängelte Maria am anderen Ende der Funkverbindung.

»Nun bleib mal locker«, beruhigte Manuela ihre Schwester. »Es gibt nichts Neues, ich wollte mich nur mal melden.«

»Na gut. Was macht die Familie, war es schön im Zoo?«, lenkte Maria das Gespräch nun auf ein weniger brisantes Thema. Sie wollte Manuela Zeit geben, spürte sie doch ganz genau, dass da noch etwas im Hintergrund schlummerte.

»Na sicher war es schön«, bestätigte Manuela. »Kinder und Tiere, das passt immer, solltest du eigentlich noch wissen«, lästerte sie ein wenig. »Stella liebt die Affen über alles.«

Maria lachte. »Das kann ich mir gut vorstellen, ist ja selber so ein kleines Äffchen.«

»Ja, genau!« Manuela stimmte kurz in das Lachen ihrer Schwester ein, dann wurde sie still, ehe sie mit einem Seufzer weiter redete.

»Also gut, du ziehst es mir ja doch aus der Nase. Ich muss seit Sonnabend immer an Karsten denken.«

»Verstehe.« So etwas hatte Maria schon erwartet.

»Ich war dort, wo er früher gewohnt hat, aber das Haus steht nicht mehr. Ich weiß nicht mal, ob er noch in der Stadt wohnt. Aber ich würde ihn wirklich gerne wiedersehen…«

»…und es ihm sagen?«, hakte Maria nach. »Er weiß doch wohl immer noch nichts?«

 

»Nein, er weiß nichts. Und ich habe keine Ahnung ob und wie ich es ihm beibringe. Trotzdem, finden möchte ich ihn schon.«

»Hast du mal ins Telefonbuch gesehen?« Es erschien als das Naheliegendste.

»Ja, aber er steht nicht drin.« Der Einfall war Manuela auch schon gekommen.

»Warte mal, ich sitze gerade vor dem Computer, ich schaue mal im Internet.« Sie hörte, wie Maria mit der Tastatur klapperte.

»Nein, nichts«, bekannte die bald darauf ernüchtert.

»Nicht schlaflos in Seattle, sondern spurlos im Internet.«

»Na gut, wenn er nicht in virtuellen Welten zu finden ist, muss ich es doch im realen Leben weiter versuchen.

Ich wollte sowieso noch einmal nach Hettstedt fahren. Vielleicht finde ich Nachbarn, die etwas wissen.« Maria musste schlucken, ehe sie der Schwester antworten konnte. »Dann wünsche ich dir viel Kraft und noch mehr Erfolg. Und halt mich unbedingt auf dem Laufenden!«

»Na sowieso! Bei wem sollte ich wohl mein Herz ausschütten, wenn nicht bei dir? Bis bald, Maria!«

»Na klar, was sonst! Dann bis bald!« Maria ließ ihre Stimme betont munter klingen, doch insgeheim dachte sie: Hättest du es doch damals nur getan und dich mir anvertraut…

7. Kapitel

Am Abend hatte sich Manuela mit allerlei Arbeiten in ihrem kleinen Haushalt leidlich abgelenkt. Und am nächsten Tag gönnten ihr die Analysen für eine neue Versuchsreihe nicht die kleinste Verschnaufpause. Erst am Nachmittag, als sie endlich zur Ruhe kam, drängten sich die offenen Fragen wieder in ihr Bewusstsein. Wie sollte sie nur anfangen?

Plötzlich schoss eine Idee wie ein Pfeil durch ihren Kopf. Sie lief zum Schrank und holte das Bild vom Klassentreffen wieder heraus. War Kristina hier mit dabei? Sah da nicht ein Gesicht aus wie das von Karsten? Ach was, du siehst schon Gespenster, schalt sie sich. Kristina und ihre Mutter waren damals wie vom Erdboden verschluckt. Sollte sie jetzt ausgerechnet zum Klassentreffen wieder aufgetaucht sein? Aber wenn, dann könnte sie etwas von ihrem Onkel wissen. Irgendwo musste doch auch noch der Brief mit der Einladung sein. Manuela riss den Stapel Papiere mit einem Ruck aus dem Fach. Alles Mögliche fand sich an, nur der Brief blieb verschwunden. Was nun?

Sie schaltete ihren Rechner an und wartete ungeduldig, bis das Betriebssystem hochgefahren war. Den Brief hatte Berit geschickt, das wusste sie noch. Damals hieß sie Eberth. Doch die meisten Mädchen ihres Alters hatten irgendwann geheiratet und dann den Namen ihres Mannes angenommen. Verdammt, wie hieß Berit jetzt? Angestrengt dachte Manuela nach. Es war die Abwandlung irgendeiner Farbe gewesen, glaubte sie sich zu entsinnen. Weiß oder Weiße? Sie gab beides in die Suchzeile vom Telefonbuch ein, erfolglos. Roth oder Rother vielleicht? Wieder nicht. Schwarz oder Schwarzer? Halt, da sah sie es doch! Ein Tippfehler verhalf ihr nun zum Erfolg. Schwerzer, so hieß Berit und ihre Telefonnummer stand gleich daneben.

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit zitternden Fingern tippte sie die Nummer ins Display ihres Smartphones ein und drückte auf Anruf. Der langgezogene Ton für ein Klingelzeichen drang an ihr Ohr. Nach dem vierten Tuten wollte sie gerade den Anruf beenden, als sie doch noch eine Stimme vernahm.

»Berit Schwerzer«

Fast hätte Manuela gesagt: Rate mal, wer hier ist? Doch sie wollte ja keine Oma mit dem Enkeltrick über´s Ohr hauen, sondern von ihrer Schulkameradin eine Information erhalten.

»Hallo Berit, hier ist Manuela, geborene Knoor. Erinnerst du dich an mich?«

»Aber ja! Natürlich erinnere ich mich. Du warst ja leider nicht bei unserem Jahrgangstreffen dabei, aber es ist schön, dass du jetzt anrufst.« Berit klang ehrlich erfreut und sehr nett. Das machte Manuela Mut.

»Ja, da war ich leider verhindert«, versuchte sie sich mit einer Notlüge aus der Affäre zu ziehen. Doch Berit fragte nicht weiter nach.

»Wie geht´s dir denn so? Wo bist du gelandet?« Da Manuela mit ihrem Mobiltelefon angerufen hatte, konnte Berit nicht auf eine Vorwahl schließen.

»Mir geht es gut, ich wohne in Halle, genauer in Halle-Neustadt, bin geschieden, habe einen Sohn und eine Enkeltochter«, fasste sie kurz die wichtigsten Daten zusammen.

»Schön! Ich habe zwei Enkel«, freute sich Berit. »Aber du rufst doch bestimmt aus einem anderen Grund an. Wie kann ich dir helfen?«

Manuela fühlte sich durchschaut, aber da Berit so offen sprach, wurden ihre Hemmungen immer weniger.

»Du hast recht«, stimmte sie ihr zu, »ich suche jemanden von früher und hoffe, du kannst mir helfen.«

»Schieß los, ich werde sehen, ob ich was weiß!«

»Tja, ich wollte dich fragen, ob Kristina, damals hieß sie Schmidmann, zum Treffen gekommen ist«, begann sie vorsichtig. Doch da Berit sie nicht unterbrach, erzählte sie gleich weiter. »Eigentlich suche ich ja gar nicht Kristina, sondern ihren Onkel Karsten. Aber ich denke, sie könnte mir dann wieder weiterhelfen, wenn du ihre Telefonnummer hättest.«

»Ach so, Karsten. Das ist ja gar nicht…« Berit biss sich auf die Zunge. Nein, das sollte Karsten Manuela schon selbst erzählen, das war nicht ihre Aufgabe, sein Familiengeheimnis zu lüften. »Das ist ja gar nicht so kompliziert«, begann sie nun den Satz noch einmal. »Ich kann dir gerne die Adresse und die Telefonnummer

von Karsten geben, seine Frau ist nämlich meine Kollegin.«

Manuela hätte vor Freude laut jubeln können, aber sie hielt sich mit ihren Äußerungen zurück. »Na super! Das hätte ich jetzt nicht gedacht, dass es so einfach ist. Bin ich froh!«, brachte sie nun doch ihre Erleichterung zum Ausdruck.

Sie notierte die Adresse und die Nummer, die ihr Berit diktierte und bedankte sich noch einmal von Herzen für deren Hilfe. Jetzt hatte sie endlich etwas Greifbares in der Hand. Am liebsten hätte sie jetzt sofort bei Karsten angerufen, doch eigentlich wusste sie gar nicht, was sie ihm erzählen sollte und wo sie anfangen sollte. Und er war verheiratet, das hatte sie nun erfahren. Wie würde seine Frau reagieren, wenn sie am Telefon sein würde? Also, nur nichts über´s Knie brechen, dachte sie bei sich. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.

Die Schicht steckte Manuela noch in den Knochen, als sie schon zuhause auf dem Sofa saß. Der Feierabend hatte sich um Stunden nach hinten verschoben. Doch nun lief die Anlage wieder richtig und sie konnte endlich die Beine hoch legen.

Sie hatte sich ein Glas Weißweinschorle eingegossen, deren kühles Prickeln sie angenehm erfrischte. Schon gestern hatte sie die Nummer von Karsten in ihr Handy gespeichert. Nur nicht wieder einen Zettel ver-

bummeln! Jetzt griff sie zum Telefon und wählte den Eintrag aus. Einen Moment sah sie abwartend auf das Display, dann gab sie die Verbindung frei. Es klingelte am anderen Ende, einmal, zweimal, nach dem dritten Mal drückte sie das Gespräch weg. Anscheinend war niemand zuhause. Vielleicht sollte es heute nicht sein. Hatte es so lange gedauert, nun kam es nicht auf einen Tag an. Sie würde es wieder versuchen, soviel stand fest.

Stattdessen scrollte sie zu Kais Nummer und rief ihren Sohn an.

»Hallo Kai!«

»Hallo Mom, na, alles schick?« Manuela lächelte. Solange Kai solche lockeren Sprüche verwendete, war bei ihm wirklich alles schick.

»Ja, danke der Nachfrage. Alles im grünen Bereich!«, gab sie locker zurück. »Was macht mein Sternchen?«

»Stella sitzt gerade in der Badewanne. Da ist sie schon ganz Dame, das kann dauern!«

»Baden ist ein gutes Stichwort«, ging Manuela direkt darauf ein. »Das Wetter soll ja bis zum Wochenende noch wärmer werden. Wollen wir zum See fahren?«

»Also mir gefällt die Idee«, stimmte Kai ihr sogleich zu. »Ich glaube, wir hatten auch noch keine anderen Pläne. Ich werde es meinen beiden Frauen vorschlagen. Am Freitag melde ich mich noch mal, dann wissen wir auch, ob das Wetter passt.«

»Schön, dann einstweilen bis Freitag! Mach´s gut und gib Stella einen Kuss von mir!«

Manuela trank ihre Weinschorle aus und ließ sich Wasser in die Badewanne laufen. Was ihre Enkeltochter liebte, das mochte sie auch!

Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Tagen verlief der Donnerstag eher ruhig. So konnte Manuela mit gutem Gewissen etwas früher in den Feierabend gehen. Doch sie fuhr nicht zu ihrer Wohnung, sondern direkt in Richtung Mansfelder Land. Sie hatte sich das kurzentschlossen überlegt, nach der Devise: Jetzt oder nie! Diesmal wählte sie die Strecke über die Straße an der Saale aus. So war sie in ihrer Lehrzeit gelegentlich mit dem Bus nach Hause gefahren. In Friedeburg verließ sie die Uferstraße und folgte der Straße sanft bergan. Noch ein paar Dörfer, dann kam ein kleines Städtchen, in dem sie sich plötzlich an einen Besuch in einer Eisdiele erinnerte. Und eine Viertelstunde später erreichte sie die Stadt in der sie geboren wurde und aufgewachsen war. Noch immer empfand sie ein gewisses Unbehagen, doch längst nicht so schlimm, wie noch ein paar Tage vorher.

Am ersten Supermarkt an der Hauptstraße stellte sie ihr Auto ab. Von hier aus war es nicht weit bis zum Markt, sie konnte das Stadtzentrum bequem zu Fuß erreichen. Neben ihr plätscherte die Wipper und auf dem begrünten Uferbereich watschelten am alten, steinernen Wehrturm, im Volksmund »Zuckerhut« genannt, ein paar Enten umher. Auf der Brücke blieb sie stehen und schaute um sich. Es hatte sich schon einiges verändert. Auch wenn sie per Zeitung und Internet immer auf dem Laufenden blieb, so war es doch etwas ganz anderes, hier zu sein, zu sehen, zu fühlen. Der Markt zeigte sich bei dem schönen Frühsommerwetter von seiner besten Seite. Die Plätze im Straßencafé waren gut besucht und auch der Ratskeller lud mit Tischen und Stühlen zum Verweilen im Freien ein. Es gab ein paar Geschäfte, die sich noch immer an der gleichen Stelle befanden, andere vermisste sie. Der Fischladen war von der Bildfläche verschwunden, dafür warben gleich mehrere Mobilfunkanbieter um Kunden.

Manuela bummelte bis zum »Saigertor«. Sie hatte noch erlebt, wie die Straße um das mittelalterliche Stadttor herum gebaut wurde und eine erste kleine Fußgängerzone entstand. Dennoch hatte sich auch danach noch viel verändert. Aber es gefiel ihr. In einer Art kleinem Bachlauf, der von einem modernen Springbrunnen gespeist wurde, hopsten Kinder umher. Das wäre auch ein Spaß für Stella, dachte sie und lächelte. Sie lief zurück in Richtung Rathaus. Vor dem Ratskeller nahm sie an einem der Tische Platz und bestellte sich einen Kaffee. Dort drüben war einst ein Uhrmacher gewesen, erinnerte sie sich nun wieder. Und aus der Sparkasse war die Apotheke geworden. In dem Haus neben dem Kaufhaus hatte es einst einen Fleischer gegeben, nun war die Filiale einer OptikerKette eingezogen, während im benachbarten Laden gerade Umbauarbeiten im Gange waren. Vor einiger Zeit hatte sie bei Facebook eine Seite entdeckt, die Fotos von Hettstedt zeigte, oft Aufnahmen von früher und von heute. Jetzt konnte sie die Bilder vor ihrem inneren Auge nachvollziehen.

In ihrer Kindheit hatte sie die Stadt manchmal als trist und grau empfunden, vielleicht weil auch ihr Leben selbst so war. Jetzt musste sie sich eingestehen, dass das nur die halbe Wahrheit war. Was auch immer sie von hier vertrieben hatte, das hier war ihre Heimat. Hier waren ihre Wurzeln. Vielleicht konnte sie auch Maria überzeugen, einmal wieder zurück zu kommen in die Heimat.

Manuela bezahlte ihren Kaffee und lief zu ihrem Auto. Sie hätte nicht sagen können, ob es bewusst geschah, jedenfalls lenkte sie den Golf in Richtung Neubaugebiet, dorthin, wo Karsten jetzt wohnte. Da es eine der zuerst gebauten Straßen war, fand sie sich problemlos zurecht und stand schon bald vor dem richtigen Haus. Hier sah es, ähnlich wie bei ihr in HalleNeustadt, jetzt wunderbar grün aus. Die vor Jahrzehnten angepflanzten Bäume hatten eine beachtliche Größe erreicht und spendeten Sauerstoff und Schatten. Zögernd ging sie langsam auf das Wohnhaus zu und blickte auf das Klingelschild. Dort, wie es aussah im ersten Stock, wohnte Karsten also. Sie holte tief Luft und drückte auf die Klingel.

Doch nichts regte sich. Keine schnarrende Stimme drang aus der Gegensprechanlage, kein Summer ertönte, kein Fenster wurde geöffnet, nichts. So einfach, wie sie es sich nach dem Telefonat mit Berit vorgestellt hatte, war es dann wohl doch nicht. Manuela überlegte. Karsten war zwar älter gewesen als sie, doch er könnte noch im Berufsleben stehen, also deshalb noch nicht zuhause sein. Sie könnten auch beim Einkaufen sein. So vieles war möglich. Er könnte jeden Moment um die Ecke kommen oder heute gar nicht mehr.

 

Schade, sie hatte gerade so viel Mut gehabt. Aber sie würde wieder kommen, das versprach sie sich selbst und Karsten. Auch er hatte ein Recht, endlich die Wahrheit zu erfahren. Es war nicht nur ihre Vergangenheit, sondern zumindest teilweise auch seine. Und Danielas. Vielleicht wusste sie gar nichts von ihren Wurzeln. Da lag noch ein langer Weg vor ihr.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?