Frühlingstochter

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3. Kapitel

Kaum hatte Manuela das Auto auf dem Parkplatz vor dem Hochhaus abgestellt, begann auf dem Beifahrersitz ihre Handtasche zu vibrieren und der Klingelton des Smartphones schallte durch das Fahrzeug.

»Hallo Mom, wo erwische ich dich denn?«, vernahm sie die Stimme von Kai.

»Jetzt bin ich so gut wie zuhause, ich stehe gerade unten auf dem Parkplatz«, erwiderte sie. »Ich habe einen Ausflug in den Harz gemacht«, fügte sie gleich an, ehe ihr Sohn weitere Fragen stellen konnte.

Er wunderte sich aber dennoch. »Davon hast du ja gar nichts gesagt.«

»Ja, das war ein spontaner Einfall, muss auch mal sein«, versuchte sie eine Erklärung und war froh, dass ihr Sohn nicht weiter nachhakte. Stattdessen lenkte er das Gespräch auf den Sonntag und ihren geplanten Zoobesuch.

»Gehen wir zu dir oder zu mir?«, ging sie locker auf das Thema ein, und meinte damit den Zoo in Halle oder in Leipzig. »Was sagt denn der Wettermann?«

»Ich denke, fast wie heute, nicht so warm, aber freundlich«, verkündete Kai. »Wir können den Plan A beibehalten und kommen rüber nach Halle.«

Manuela war es recht. Der Hallesche Bergzoo war wunderschön gelegen und bot alles, was ein Kinderherz erfreuen konnte. Allerdings war es immer gut,

auch noch einen Plan B in der Hinterhand zu haben. Als Stella am vorigen Sonntag beim Kaffee trinken mitbekommen hatte, dass sich ihre Eltern und die Oma über einen Besuch im Zoo unterhielten, war sie nicht mehr zu bremsen. Den Ausflug zu verschieben oder gar abzusagen, wäre dann gar keine Option gewesen. Im Leipziger Zoo konnte man schon eher witterungsunabhängig ein paar Stunden verbringen. Selbst wenn Stella den Zoo schon kannte, so war doch in ihren Augen der letzte Besuch schon sooo lange her.

»Mom, bist du noch dran?«

»Ja, ja!«, beeilte sich Manuela zu versichern. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie glatt vergessen hatte, ihrem Sohn zu antworten. »Gut, dann treffen wir uns elf Uhr am Eingang. Ich komme mit der Straßenbahn. Grüß Nina und gib unserem Sternchen einen Kuss!«

»Mach ich. Bis morgen dann!«, verabschiedete sich nun auch ihr Sohn.

Manuela steckte das Smartphone zurück in ihre Tasche und stieg aus. Sie blickte an der Fassade hinauf. So hatte sie vor über 30 Jahren hier gestanden und hoffnungsvoll ihr neue Zuhause betrachtet. Noch immer lebte sie gerne hier. Schöne Architektur war sicherlich etwas anderes, aber mit dieser neuen Stadt auf den Angersdorfer Wiesen vor den Toren von Halle hatten viele Familien guten, modern ausgestatteten und damals sehr preiswerten Wohnraum gefunden. Und die ypsilonförmigen Hochhäuser hoben sich zu-

mindest optisch schon damals vom grauen Einerlei ab. Die Preise hatten sich längst dem Markt angepasst, einiges war umgebaut worden, aber Manuela konnte sich die Wohnung von ihrem Gehalt gut leisten. Nach ihrer Lehre hatte sie ein Studium begonnen und nach dem Abschluss eine Arbeit in leitender Stellung im Chemiewerk aufgenommen. Schon damals hatte sie gut verdient. Nein, materielle Probleme hatte sie eigentlich nie gekannt. Was sie manchmal in der Nacht aufschrecken ließ, das waren ganz andere Fragen, Schatten aus einer Zeit lange vorher.

Grübelnd saß Manuela später vor dem Fernseher. Das Programm lief im Hintergrund an ihr vorbei, ohne dass sie etwas davon mitbekam. Was hatte sie heute erreicht?, fragte sie sich. Eigentlich nicht viel. Und doch war es ein großer Schritt gewesen. Vielleicht der erste Schritt auf einem richtigen Weg. Sie griff zum Handy und scrollte in den Kontakten zu »M«. M wie Maria. Ihre Schwester war die Einzige, die alles wusste und mit der sie reden konnte.

»Hallo Maria, ich hoffe, ich störe nicht«, begrüßte sie ihre Schwester.

»Aber nein, du störst doch nie, meine Kleine. Im Fernsehen läuft sowieso nichts Gescheites. Was gibt es also? Wie geht´s in der Heimat?« Für Maria schien alles Heimat zu sein, was östlich vom Brocken lag.

»Heimat ist das richtige Stichwort«, erwiderte Manuela. »Ich war heute in Hettstedt.« Durch die Stille spürte Manuela, wie sich Maria um Fassung bemühte. »Ich war an Mutters Grab. Es ist alles ordentlich und schön bepflanzt. Einen Strauß frische Blumen habe ich hingestellt, bin ja auch so selten da.«

»Das klingt wie eine Entschuldigung«, entgegnete Maria, »aber das musst du nicht. Ich finde es toll, dass du den Mut hast, überhaupt wieder dorthin zu fahren, für mich ist der Fall abgeschlossen.«

»Weißt du, Maria, das habe ich auch gedacht. Doch er ist tot, er kann uns nichts mehr vorschreiben. Ich will mich nicht bis zum Lebensende von ihm unterdrücken lassen. Ich weiß noch nicht, wie ich es anstellen soll, aber ich werde mich jetzt auf die Suche machen und alles tun, meine Daniela zu finden.« Manuela hörte, wie Maria tief Luft holte.

»Ich wünsche dir von Herzen, dass du Erfolg hast.« Maria bemühte sich, optimistisch zu klingen und hoffte wirklich für ihre Schwester, dass ihre Suche gut ausging. Doch sie befürchtete eher das Gegenteil und dass Manuela daran zerbrechen könnte.

»Dann wünsche ich euch noch einen schönen Sonntag«, gab Manuela dem Gespräch nun eine neutrale Richtung. »Ich gehe mit Kai, Nina und Stella in den Zoo.«

»Zoo ist bei unseren Enkeln längst Geschichte. Die ziehen eher mit ihren Kumpels um die Häuser, also genieße die Zeit mit Stella richtig!«

»Das werde ich!«, bekannte Manuela aus tiefstem Herzen. »Danke, dass du mir zugehört hast, und grüße deinen Gatten!« Maria hatte das geschafft, was Manuela nicht vergönnt gewesen war, einen Mann für´s Leben zu finden. In ein paar Jahren würden sie Goldene Hochzeit feiern.

»Bernd schläft vor dem Fernseher,« kommentierte Maria schmunzelnd den derzeitigen Zustand ihres Mannes. »Aber ich richte es aus. Und ruf mich an, wenn es was Neues gibt, jederzeit! Mach´s gut, Schwesterchen!«

»Mach´s gut, Maria!«

Manuela beobachtete, wie sich langsam das Display ihres Handys verdunkelte und schließlich ganz abschaltete. Nachdenklich starrte sie in die Dunkelheit. Hatte sie gerade den Mund zu voll genommen? Doch der Entschluss war gefasst.

4. Kapitel

»Omi, Omi!« Mit einem lauten Schrei stürzte sich Stella in die offenen Arme ihrer Großmutter, die sie liebevoll an sich drückte.

»Na, mein Schatz, hast du denn schönes Wetter bestellt?«

Stella nickte und sah zu ihren Eltern, die ihr aus dem Parkhaus gefolgt waren. »Ja, Papa hat gesagt, wenn die Sonne scheint, gehen wir in den Zoo. Da habe ich mir das ganz doll gewünscht«, bekundete sie im Brustton der Überzeugung und schaute nach oben. »Und siehst du, es hat geholfen!«

Manuela gab ihrer Enkelin einen Kuss auf die Stirn und begrüßte Nina und Kai. »Kann man diesem Kind einen Wunsch abschlagen?« Alle drei lachten. Sie wussten genau, wie Stella ihre Familie um den Finger wickeln konnte. Zum Glück waren ihre Wünsche durchaus kindgemäß und nicht überzogen. Und auf den Tag im Zoo hatte sich nicht nur Stella gefreut. Als Kind war Manuela einmal mit ihrer Schulklasse hier im Zoo gewesen. Sie konnte sich bis heute nicht erklären, warum ihr der Vater das damals erlaubt hatte. Es blieb die einzige Klassenfahrt, an der sie teilnehmen durfte. Umso mehr freute sie sich über jeden Ausflug mit den Kindern.

Kurz darauf hatten alle vier die Kasse passiert. »Wo möchtest du denn zuerst hin?«, wollte Kai von seiner Tochter wissen.

»Zu den Affen!«, kam prompt die Antwort.

»Na dann, sause los, die Treppe hoch und links halten!« Er wusste genau, dass sich der kleine Wirbelwind nicht halten ließ. »Aber dort wartest du bitte auf uns!« Von einem Bein auf das andere hopsend stand Stella ungeduldig am Eingang des Hauses, das die Totenkopfäffchen und die Loris beherbergte. Wenig später konnte sie sich kaum fassen, vor lauter Entzücken über die possierlichen Tierchen, die sogar ganz zutraulich waren. Sie hätten hier wohl Stunden zugebracht, wäre Stella nicht doch noch zu überzeugen gewesen, dass es noch andere Affen hier gab. Nachdem sie auch noch den Schimpansen einen ausgiebigen Besuch abgestattet hatten, war Stella bereit, auch zu den übrigen Tieren zu gehen. Munter rannte sie vor den Erwachsenen her, um aber an jedem Schild zu warten.

»Oma, wie heißt das Tier?«, schien ihr Standardsatz des Tages zu sein, als sie im weiten Bogen um den Berg herum liefen. Zwischendurch ließen sie sich auf einer Bank nieder, während Stella sich zu den Ziegen im Streichelgehege wagte.

»Sie ist so herrlich wissbegierig«, kommentierte Manuela lächelnd das Verhalten ihrer Enkeltochter.

»Oh ja! Und sie freut sich schon sehr auf die Schule«, stimmte Kai seiner Mutter zu. »Obwohl sie ja erst Ende

Juli fünf wird und noch nicht zwangsläufig schulpflichtig wäre, werden wir sie für nächstes Jahr anmelden. Sie ist körperlich und geistig sicher ein halbes Jahr voraus. Ich denke, es ist richtig so.« Nina nickte zu seinen Worten. Sie war der ruhende Gegenpol zu Kai und Stella, die beide recht lebhaft veranlagt waren. Ein wenig erinnerte Nina Manuela an ihre Mutter. Vielleicht wäre alles etwas besser gewesen, wenn ihre Mutter nicht so still gewesen wäre und sich ihrem Mann entgegengestellt hätte. Doch wahrscheinlich sah sie sich ebenso wenig in der Lage dazu, wie ihre Töchter auch.

Manuela riss sich von den trüben Gedanken los. Stella war zur Bank zurück gelaufen. »Ich habe Durst.«

Als hätten alle drei nur auf diesen Satz gewartet, schlugen sie nun den Weg zur Bergterrasse mit dem Bistro ein.

Der Durst schien schon wieder fast vergessen, als Stella den Aussichtsturm erspähte. »Oma, was ist das für ein Turm? Können wir da rauf gehen?«

 

Ihre Eltern grinsten. Sie kannten die Energie ihrer Kleinen.

»Erst wollen wir doch etwas essen und trinken. Schau nur, dort drüben ist ein Spielplatz. Da kannst du auf dem Piratenschiff klettern. Und dann steigen wir auch noch auf den Turm.«

Während Kai und Nina das Essen zum Tisch brachten, beobachtete Manuela ihre Enkelin, die sofort mit ein paar anderen Kindern den Spielplatz in Beschlag genommen hatte, und schoss mit ihrem Smartphone ein paar Fotos. Sie liebte diese kleinen Erinnerungen auf dem Handy, die sie stets mit sich herum tragen konnte und ansehen, wann immer sie Sehnsucht nach ihren Lieben verspürte. Es gab da noch ein Foto, das sie seit über 40 Jahren bei sich trug und das doch die Sehnsucht nicht stillen konnte. Einige Jahre hatte sie es kaum in die Hand genommen, doch in den letzten Monaten brach alles wieder auf, was sie so lange fest in sich verschlossen hatte.

»Oma komm! Papa hat uns was zu essen hingestellt!« Manuela fühlte die kleine, warme Hand von Stella in ihrer und schüttelte die trüben Gedanken ab. »Natürlich komme ich mit.«

Frisch gestärkt nahm die Familie den versprochenen Turmaufstieg in Angriff. Und oben angekommen, wurde die Mühsal mit einem traumhaften Ausblick über das Saaletal und in die große Freiflugvoliere belohnt. Mit den Vögeln auf einer Höhe, das fühlte sich an, als hätte man selbst Flügel, dachte Manuela. Aber die Vögel hatten einen Käfig um sich, wenn auch einen sehr großen, der sie am freien Fliegen hinderte. Sie war auch in einem Käfig aufgewachsen und beim ersten freien Flugversuch kläglich gescheitert. Manuela schüttelte den Kopf und schalt sich selbst wegen ihrer derzeitigen Sentimentalität.

Nach einer weiteren Spielplatzrunde überzeugten sie Stella, nun auch noch den Bären und den Elefanten einen Besuch abzustatten. Da es direkt daneben ein Café gab, sprang für alle noch eine Portion leckeres Eis heraus. Zu guter Letzt ließ es sich nicht vermeiden, dass sich Stella noch von ihren geliebten Affen verabschieden musste, ehe die vier den Zoo wieder verließen.

»Dann kommt gut heim!«, gab Manuela der kleinen Familie mit auf den Weg. Die Worte waren nicht so dahingesagt. Immer schwang in ihrem Denken eine Angst mit, dass ihrem einzigen Sohn oder ihrer einzigen Enkelin etwas geschehen könnte.

»Du auch!« Kai umarmte seine Mutter und auch Nina drückte sie herzlich.

»Tschüssi, Omi!«

Manuela beugte sich zu Stella herunter und zog sie liebevoll an sich. »Tschüss, mein Sternchen! Und viel Spaß morgen im Kindergarten!«

Sie winkte noch, als die drei schon im Eingang zum Parkhaus verschwunden waren.

Obwohl die Haltestelle der Straßenbahn direkt vor dem Eingang des Zoos lag, beschloss sie, ein Stück zu Fuß zu gehen. Was sollte sie schon allein zuhause? Das milde Frühsommerwetter lud geradezu zu einem Spaziergang ein. Halle war ihre Wahlheimat geworden. Sie mochte die Stadt an der Saale, fühlte sich hier wohl und schätze die Anonymität der Großstadt. Hätte es

damals noch ein Gerede der Leute gegeben, wer weiß, ob sie das ertragen hätte.

Nach einer halben Stunde näherte sie sich dem Markt. Noch vor einem Jahr war dieser Bereich eine große Baustelle gewesen. Nun lud die Straße wieder zum Bummeln ein. Viel hatte sich getan in den letzten Jahren. Vom Markt aus konnte sie nun mit der Straßenbahn direkt bis nach Halle-Neustadt fahren. Schon vor Jahrzehnten hatte es diese Pläne gegeben, die jedoch in der Zeit der DDR nie realisiert wurden. Manuela gönnte sich in einem Café auf dem Markt noch einen Cappuccino und genoss den Blick auf die Silhouette der fünf Türme, ehe sie sich in der Straßenbahn auf einen Sitz fallen ließ. Für heute war sie genug gelaufen. Langsam taten ihr die Füße weh.

In ihrer Wohnung ließ sich Manuela warmes Badewasser in die Wanne laufen und gab duftendes Schaumbad dazu. Es war ein so schöner Tag heute gewesen, wie alle Tage, die sie mit Kai und seiner Familie, besonders aber mit Stella, verbringen konnte. Wie oft schon hatte sie Stella mit sich selbst verglichen. Irgendwann war sie doch auch einmal ein kleines Mädchen gewesen. Doch an glückliche Momente konnte sie sich nicht erinnern. Gerade heute, als Kai erzählte, wie sehr sich Stella schon auf die Schule freute, da hatte es ihr einen Stich ins Herz gegeben. Falls sie jemals Freude auf die Schule empfunden hatte, so hatte sie ihr der Vater gründlich verleidet mit seinen Sprüchen vom

»Ernst des Lebens« und dass es jetzt »anders rum gehen« würde. Und dann war plötzlich auch noch Maria nicht mehr da, ihre geliebte große Schwester. Ganz deutlich sah sie das Bild vor sich an jenem Sommertag 1964.

5. Kapitel

Hedwig Knoor stand in ihrer Kittelschürze am Herd und hatte gerade einen Topf mit Milch aufgesetzt. Die sechsjährige Manuela saß am Küchentisch, ebenso ihr Vater. Es war ein Sonntag und es war der achtzehnte Geburtstag ihrer Schwester Maria. Auf dem Küchenschrank lag ein kleines Päckchen mit einem Geschenk für Maria. Manuela hatte es gesehen, als es die Mutter am Tag vorher eingepackt hatte. Der Unterrock mit Spitze oben und unten sah schön aus, fand Manuela. In einem Konservenglas stand ein Strauß bunter Astern aus dem Garten. Jetzt fehlte nur noch Maria.

Demonstrativ sah der Vater auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Schon verdunkelte sich sein düsterer Blick noch mehr. Manuela wusste genau, dass es gleich Ärger geben würde. Um acht Uhr begann der Gottesdienst, da mussten sie fix und fertig in der Kirche sein. Da hatte keiner mehr am Frühstückstisch zu sitzen oder gar noch zu schlafen. Im letzten Moment riss die Mutter den Topf mit der kochenden Milch von der Gasflamme. So gespannt hatte sie in Richtung Tür gestarrt, als könne ihr Blick die Tochter herbeiholen, dass sie die Milch fast vergessen hätte.

Von der Treppe, die in die Mansardenzimmer hinauf führte, drangen Geräusche bis in die Küche. Doch es waren nicht die leichtfüßigen Schritte des jungen Mädchens, auf die alle anderen inzwischen mit Anspan-

nung warteten. Es klang, als würde etwas Schweres bewegt werden.

»Soll ich dir schon Kaffee eingießen, Friedrich?«, versuchte Hedwig, die Situation auf den Alltag zu lenken. Manuela sah noch, wie der Vater seinen Arm hob. Im nächsten Moment krachte seine Faust mit solcher Wucht auf den Tisch, dass die Tischplatte erbebte. Die Tassen sprangen hoch und stürzten scheppernd um. Tränen schossen Manuela vor Schreck in die Augen. Sie versuchte, sie zurückzuhalten, wusste sie doch, dass Heulen den Vater nur noch mehr reizte, doch es gelang ihr nicht.

»Hier wird weder gegessen noch getrunken, ehe nicht unser Fräulein Tochter erschienen ist!«, schrie er seine Frau an. »Und du hör auf zu flennen, sonst setzt es was!« Keiner Bewegung fähig zog Manuela die Nase hoch.

In dem Moment wurde die Küchentür geöffnet und Maria trat ein.

»Kind, du bist zu spät«, versuchte die Mutter, ihre Tochter zu einer Entschuldigung aufzufordern, die ihren Mann vielleicht wieder beruhigen würde. Doch der Blick in Marias Gesicht ließ ihre Hoffnung schwinden. Mit trotziger Entschlossenheit sah Maria ihre Eltern an. »Mag sein, dass ich spät bin. Doch es ist nicht zu spät!«

Verständnislos sah die Mutter sie an. »Was meinst du damit?«

»Ganz einfach, ich gehe. Ich bin jetzt volljährig, ich ziehe aus. Ich ertrage es nicht mehr hier mit euch. Ich ersticke an eurem Weihrauch und was auch sonst immer. Ich lasse mich nicht mehr verprügeln für nichts und wieder nichts.«

»Aber Kind, wo willst du denn hin?« Die Mutter schluchzte laut auf.

»Mach dir keine Sorgen, Mutti, ich komme schon zurecht. Jedenfalls stecke ich meine Füße nicht mehr unter euren Tisch!«, spielte sie auf den häufig gebrauchten Satz ihres Vaters an.

Maria trat um den Tisch herum auf Manuela zu. »Sei stark, kleine Schwester! Ich melde mich ab und zu. Ich hab dich lieb!«

»Auf Wiedersehen, Mutti. Auf Wiedersehen, Manuela.«

Die Mutter griff zu dem Päckchen auf dem Küchenschrank. Bisher hatte der Vater kein einziges Wort gesagt. Jetzt schraubte er sich von seinem Stuhl in die Höhe. Mit einem Ruck schob er den Tisch zur Seite und stand zwischen seiner Frau und seiner Tochter. Er riss Hedwig das Päckchen aus der Hand und warf es durch die Küche bis an die hintere Wand. Dann brüllte er los.

»Raus! Verschwinde! Geh mir aus den Augen! Du undankbares Balg! Hau ab und lass dich nie wieder hier blicken!« Seine Augen quollen so weit hervor, als würden sie jeden Moment aus dem Kopf fallen.

Maria trat in den Hausflur, wo sie den alten, abgewetzten Koffer abgestellt hatte, und zog die Küchentür von außen zu.

Manuela saß starr vor Angst auf ihrem Stuhl. Durch den verschobenen Tisch war eins ihrer Beine eingeklemmt worden, doch sie wagte weder ein Wort zu sagen, noch zu weinen. Auch ihre Mutter hatte noch keine Bewegung getan, seit die Tür ins Schloss gefallen war. Dafür tobte der Vater wieder los.

»Da siehst du nun, was du mit deiner Nachgiebigkeit erreicht hast, haut einfach ab, das Fräulein Tochter. Wird schon sehen, was sie davon hat. In der Gosse wird sie landen. Ich hab´s ja immer gewusst, ich hätte sie viel härter ran nehmen müssen!« Dabei streifte sein Blick Manuela. Was dieses »hart rannehmen« für sie bedeutete, wurde ihr erst später klar.

»Anziehen! Die Glocken läuten!«, blaffte er kurz darauf seine Frau und seine kleine Tochter an. Mit erstarrten Gesichtern folgten sie dem Gottesdienst und Manuela betete heimlich: »Lieber Gott, mach dass Maria wieder kommt!«

Doch Maria kam nicht wieder.

Erst langsam begriff Manuela, dass sie nun mit Vater und Mutter allein leben würde. Maria fehlte ihr so sehr. Bei ihr hatte sie sich geliebt und geborgen gefühlt. Wenn es die Mutter jemals gekonnt hatte, dann hatte sie die Fähigkeit zu lieben in der Ehe mit Friedrich verlernt. Und der Vater kannte nur Beten und Arbeit und Buße tun. Er legte die Bibel so aus, wie es ihm gefiel. Nun, da Maria nicht mehr da war, gab es niemanden, der Manuela liebte und den sie liebte. Die ersten Tage wartete sie noch, dass Maria zurück kommen würde. Dann wartete sie, dass sie sich melden würde. Doch nichts geschah.

Inzwischen ging sie längst zur Schule. Aber ganz entgegen aller durch den Vater gesäten Befürchtungen, gefiel ihr die Schule. Sie lernte leicht und gern. Es machte ihr Spaß, etwas Neues zu begreifen. Was ihr nicht gefiel, war ihre Stellung als Außenseiterin in der Klasse. Als im Dezember alle Kinder ein blaues Halstuch von den Großen aus der vierten Klasse umgebunden bekamen, stand sie abseits und ging leer aus. Sie durfte nicht an den Pioniernachmittagen teilnehmen. Stattdessen ging sie zur Christenlehre oder später zum Kommunionsunterricht. Doch das kam ihr nicht halb so lustig vor, wie das, was die anderen ihr gelegentlich von den Pionieren erzählten.

Erst zwei Jahre später erhielt Manuela das erste Lebenszeichen von Maria, als eines Tages eine junge Frau am Schultor auf sie zu kam.

»Du bist doch Manuela, die Schwester von Maria?«, sprach sie Manuela an, die nickte. »Ich bin Ingrid, wir waren zusammen auf der Berufsschule, Maria und ich. Sie hat mich gebeten, dir das hier zu geben.« Ingrid

holte einen Brief aus der Tasche und drückte ihn Manuela in die Hand. »Du kannst ihr schreiben. Aber sie wird ihre Antworten immer an mich schicken. Seit zwei Jahren hat sie vergeblich versucht, zu dir Kontakt aufzunehmen. Aber anscheinend hat euer Vater die Briefe abgefangen.«

Wie betäubt hatte Manuela da gestanden, der Brief in ihrer Hand schien zu glühen. Wo sollte sie ihn lesen? Als einzige Möglichkeit fiel ihr die Kirche ein. Der Priester würde dem Vater sogar bestätigen, dass sie dort gewesen war, falls er ihre Notlüge überprüfen würde. Denn das war wichtig, wollte sie sich nicht der Gefahr einer Bestrafung aussetzen. Längst hatte sie begriffen, was es hieß, vom Vater hart rangenommen zu werden. Wie sehr fürchtete sie sich vor den Momenten, wenn er schon mit dem Stock in der Hand hinter der Tür stand, als sie heim kam. Wenn er dann die Frage stellte: »Na mein Fräulein, hast du mir was zu sagen?«, dann wusste Manuela, dass irgendein kleines Vergehen an seine Ohren gedrungen war. Nur seine ausgesprochene Prüderie bewahrte sie davor, auf den nackten Hintern geschlagen zu werden. Schlimm war es trotzdem, wenn er ihr noch während des Schlagens sein beliebtestes Bibelzitat vorbetete: Wen der Herr liebt, den züchtigt er.

 

Nun saß sie in der letzten Reihe der Kirche und faltete den Brief ihrer Schwester auseinander. In sauberer

Handschrift, in gut lesbaren Druckbuchstaben hatte Maria den Brief an ihre kleine Schwester verfasst:

Liebe Manuela, geliebte kleine Schwester!

Ich hoffe sehr, daß Dich dieser Brief erreicht. So oft schon habe ich an Dich und Mutter geschrieben, doch ich befürchte, die Briefe sind nicht an unserem Vater vorbei gekommen. Für ihn bin ich wohl gestorben, er für mich aber auch!

Ich hoffe, es geht Dir gut. So gut, wie es einem in dieser Familie gehen kann. Ich denke oft an Dich, meine Kleine. Aber ich bin froh, daß ich weggegangen bin. Jetzt geht es mir wirklich gut. Ich habe eine gute Arbeit, eine eigene kleine Wohnung und seit Kurzem einen Freund. Bernd ist sehr nett.

Liebe Manuela, bitte antworte mir so schnell Du kannst! Dann schreibe ich Dir noch mehr. Ich schicke alle Briefe zu Ingrid.

Bitte paß gut auf, daß der Vater keinen Brief findet! Ich warte voll Sehnsucht auf Deine Antwort.

Deine Schwester Maria

Stumm legte Manuela den Brief wieder zusammen. Sie war froh, endlich eine Nachricht von Maria bekommen zu haben, aber auch ein bisschen wütend, dass es Maria gut ging und sie selbst keine Chance hatte, dem Regime ihres Vaters zu entfliehen.

Doch welch ein Glück, dass sie in den letzten zwei Jahren schon so gut lesen und schreiben gelernt hatte.

Sobald sie eine Gelegenheit fand, wollte sie antworten. Die Adresse prägte sie sich sofort fest ein, für den Fall, dass sie den Brief nicht aufheben konnte. Aber jetzt musste sie erst einmal schnellstens nach Hause.

»Guten Tag Mutti!«, begrüßte sie ihre Mutter, die in der Küche am Herd stand. Seit Manuela zur Schule ging, arbeitete die Mutter wieder als Verkäuferin und nutzte die Zeit, in der mittags der Konsum geschlossen hatte, um das Essen für ihren Mann vorzubereiten, der dann bald von der Schicht im Walzwerk heimkehrte.

»Du kommst spät«, bemerkte die Mutter.

»Ich habe eine Frau getroffen, die hat mir von Maria erzählt«, wagte sie zu erzählen, da der Vater noch nicht da war. »Es geht ihr gut.«

»Das ist schön«, erwiderte die Mutter. »Aber lass es ja nicht den Vater hören!« Manuela nickte. So schlau war sie selbst. Und die Sache mit dem Brief behielt sie auch lieber für sich.

Am Abend saß sie in dem Mansardenzimmer, das einmal Maria bewohnt hatte, und riss aus einem Schulheft ein Blatt heraus, um ihrer Schwester zu antworten. Im ersten Winter, nachdem Maria gegangen war, hatte Manuela noch in ihrem Bett bei den Eltern im Schlafzimmer geschlafen. Vielleicht hatte der Vater doch geglaubt, seine Tochter käme zurück. Im Frühjahr räumte er den Kleiderschrank aus und brachte Manuelas Bettzeug hinauf in die Mansarde. Nun schrieb sie davon, dass sie jetzt in Marias Bett schlief

und dann immer an sie dachte. Sie schrieb, dass sie schon Marias Märchenbücher alleine lesen konnte und dass ihr die Schule gefiel. Sie schrieb nicht von der Angst, nicht von den Schlägen. Sie war zwar erst ein kleines, achtjähriges Mädchen, doch sie wollte damit selbst klarkommen.

Am nächsten Tag bat Manuela die Mutter um etwas Geld für neue Schulhefte. In dem kleinen Krämerladen kaufte sie außer dem Heft noch einen Briefumschlag und eine Briefmarke. Zwar schaute die Mutter etwas verwundert auf das Restgeld, sagte aber nichts. Am Abend schrieb Manuela die Adresse auf den Umschlag und klebte die Marke drauf. Morgen auf dem Weg zur Schule konnte sie den Brief in den Kasten werfen. Sie wusste genau, wenn der Vater etwas davon merken würde, dann hätte sie ein Problem. Doch wichtiger war, dass der Brief nun unterwegs war. Notfalls nahm sie dafür sogar Prügel in Kauf.

Von nun an blieb sie in regelmäßiger Verbindung zu Maria und sorgte immer vor, Geld für die nächste Briefmarke zu haben. In der Schule sammelten die Pioniere Altpapier und leere Flaschen und Gläser. Wenn sie das sah, steckte sie heimlich eine der Flaschen in ihren Turnbeutel und brachte sie selbst zur Annahmestelle. Vier leere Flaschen ergaben das Geld für eine Briefmarke.

So erfuhr Maria von Manuelas Erstkommunion und dass sie ihr Kleid getragen hatte. Und Manuela las,

dass Maria sich mit Bernd verlobt hatte und vielleicht bald heiraten wollte. Sie schafften es über die Jahre hinweg, unentdeckt zu bleiben.