Vergnügt! Ein Treffen in den Wolken

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4. Kapitel

Tief in Gedanken versunken und ohne ihre Umgebung richtig wahrzunehmen, ging Rahel den Weg entlang. So langsam erkannte sie sich selbst kaum wieder. Sie hatte es noch nie darauf angelegt, andere bewusst zu verletzen. Und sie wusste auch, dass sie sich kindisch benommen hatte. Immerhin konnte diese Larissa ja nichts dafür. Trotzdem, wie kann sie einfach behaupten, wir wären Schwestern?, dachte Rahel aufgebracht. Becca ist meine Schwester. Mit ihr bin ich aufgewachsen. Habe sie nach der Geburt im Arm gehalten. Diese Larissa oder Lara, wie sie sich selbst nennt, ist eine Fremde. Und daran wird sich nie etwas ändern.

„Wie auch?“, flüsterte Rahel verbittert und stieß mit dem Schuh gegen einen Stein. „Wenn mir meine Mutter nicht die ganze Wahrheit erzählen will? Sondern jedes Mal mauert, wenn ich mehr wissen möchte.“

Plötzlich wurden die Stimmen um sie herum immer lauter und sie sah sich nachdenklich um. Scheinbar von überall strömten Menschen herbei. Einige ganz alleine, andere in Gruppen. Doch alle lächelten sie freundlich an. Anscheinend ist es hier doch nicht so einsam, wie ich gedacht habe, stellte sie verwundert fest und langsam verbesserte sich ihre Laune. Mit der Zeit fing sie sogar an, das Lächeln der anderen zu erwidern, während sie dem Weg weiter folgte.

Es dauerte nicht lange, dann stieg ihr ein Geruch von frischem Brot und Gebäck in die Nase und Rahel bemerkte, wie hungrig sie war. Heute früh hatte sie vor lauter Ärger keinen Bissen herunterbekommen und langsam machte sich ihr Magen bemerkbar. Neugierig folgte sie dem Duft, um zu sehen, woher er kam. Bis sie vor einem einstöckigen Gebäude mit rotem Ziegeldach stehen blieb, dessen Fassade ein interessantes Steinmuster zeigte. Es gab zwei Eingänge und mehrere Fenster, wobei die im vorderen Teil so groß waren, dass man die Tische und Stühle im Inneren erkennen konnte. Und über den Türen hatte man kleine Holzschilder angebracht.

„Hofladen und Verwaltungsbüro“, las Rahel leise vor und schüttelte leicht mit dem Kopf. Ein Laden mitten auf der Farm?

Interessiert beobachtete sie, wie auch hier Leute ein- und ausgingen. Einige Kinder hielten kleine weiße Tüten in den Händen. Und jedes Mal, wenn die Tür aufging, strömte ein köstlicher Duft nach frischem Brot und Kuchen zu Rahel herüber.

Rahel kniff sich in den Arm, um sicher zu sein, dass sie nicht träumte. Es kam ihr vor, als wäre sie in einer anderen Welt. Schließlich siegte aber ihr Hunger und sie ging näher auf den Bereich zu, der als Hofladen gekennzeichnet war.

Im Inneren des Ladens war der Essensduft sogar noch stärker und Rahels Magen begann zu knurren. Ihr Blick fiel auf die kurze Speisekarte, auf der ganz oben Gemüsesuppe mit Brot stand. Ja, ging es ihr durch den Kopf und ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Das wäre eine gute Wahl.

Hungrig ging Rahel näher an die Menschenschlange heran und beobachtete die junge Frau, die hinter der Verkaufstheke stand und mit einem sanften Lächeln gekochtes Essen und Lebensmittel verteite. Dafür reichten die Kunden ihr eine schwarze Karte, welche die Verkäuferin an einen Scanner hielt.

Plötzlich wurde Rahel bewusst, dass sie gar kein Geld dabei hatte, und stöhnte auf. Sie hatte nicht damit gerechnet, hier einen solchen Laden zu finden, und natürlich keins mitgenommen. Aber wie hätte ich das auch wissen sollen?, ging es ihr durch den Kopf und sie sah sich frustriert um. Immerhin ist das eine Farm. Und in ihrer Vorstellung hatte sie immer einen einfachen Gutshof vor sich gesehen, wie sie manchmal im Fernsehen zu sehen waren.

Ärgerlich auf sich selbst, weil sie den Geschichten ihrer Geschwister so wenig Beachtung geschenkt hatte, wollte sie das Geschäft wieder verlassen. Ohne zu bezahlen, würde sie bestimmt nichts zu essen bekommen. Ihr blieb also keine andere Wahl, als zum Haupthaus zurückzugehen. Auch wenn sie darauf noch nicht wirklich Lust hatte.

Doch bevor sie sich zur Tür umdrehen konnte, wandte sich die rothaarige Verkäuferin ihr zu und Rahel blieb mitten in der Bewegung stehen.

„Und, was kann ich für Sie tun?“

Kurz sah Rahel die Frau an und dachte nach. Vielleicht kann ich das Geld ja auch später vorbeibringen, ging es ihr durch den Kopf. So teuer wird diese Suppe schon nicht sein. Obwohl, dachte sie verwirrt und sah noch einmal zur Speisekarte. Preise konnte sie dort keine finden.

Als ihr Magen wieder knurrte, nahm sie allen Mut zusammen und versuchte ihr Glück.

„Könnte ich auch später bezahlen?“, fragte sie zögernd und sah die Verkäuferin bittend an. „Ich habe meinen Geldbeutel nicht dabei.“

Etwas unschlüssig sah die junge Frau Rahel an.

„Arbeitest du hier?“

Rahel schüttelte mit dem Kopf.

„Ich bin nur zu Besuch“, gab sie zu. „Aber mein Großvater arbeitet hier“, ergänzte sie schnell, als sie die Skepsis in den Augen der Frau sah. „Er ist der Verwalter.“

„Claas?“, erwiderte die Verkäuferin überrascht und lachte auf. „Dann musst du Rahel sein, die Schwester von Becca und Tito. Ich habe schon von dir gehört. Du bist wegen der Hochzeit hier, stimmt's?“

Rahel nickte und versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen.

„Wir sind gerade angekommen.“

„Verstehe, und jetzt hast du Hunger. Kein Problem. Sag mir einfach, was du willst. Du musst nicht bezahlen. Schließlich bist du als Gast hier.“

Irritiert sah Rahel die Verkäuferin an, sagte aber nichts weiter dazu, sondern bestellte ihre Suppe. Dann nahm sie an einem der freien Tische am Fenster Platz und begann zu essen.

Mit zügigen Schritten lief Matthias in die Richtung der Quartiere und sah sich suchend um. So weit kann sie doch gar nicht gelaufen sein, dachte er frustriert. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass er Rahel schneller finden würde. Doch nun suchte er bereits seit zwanzig Minuten nach ihr und langsam gingen ihm die Ideen aus.

Erneut sah er sich in der Umgebung um und stöhnte auf. Er konnte nur hoffen, dass sie den Hauptweg nicht verlassen hatte. Denn besonders Fremde konnten sich sehr schnell verlaufen. Aber mit jeder Minute, die verging, schwand diese Hoffnung immer mehr. Schließlich hatte ihre Mutter angedeutet, dass Rahel nicht wirklich vorhatte, zu ihren Großeltern zu gehen.

„Sieht aus, als würdest du jemanden suchen.“

Als hinter Matthias eine tiefe Männerstimme ertönte, wurde er aus seinen Gedanken gerissen und sah sich verwirrt um. Doch gleich darauf wurde diese Verwirrung von einem Lächeln abgelöst, denn endlich hatte er einen Mitarbeiter gefunden, den er nach Rahel befragen konnte.

„Hallo Finn“, begrüßte Matthias Finn Katzer, dem Vorarbeiter des Tierbereiches, der seine schulterlangen blonden Haare heute zu einem Zopf zusammengebunden hatte. „Hast du vielleicht eine junge schwarzhaarige Frau gesehen? Sie trägt eine dunkle Jeans und ein schwarzes T-Shirt.“

Finn Katzer schüttelte mit dem Kopf und sah Matthias mit seinen braunen Augen belustigt an.

„Ist dir deine Freundin weggelaufen?“

„Sehr witzig“, sagte Matthias spöttisch, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen. „Ich suche Rahel, die Tochter von Liesbeth. Sie war eigentlich auf der Suche nach ihrem Großvater.“

„Tut mir leid, ich habe sie nicht gesehen“, antwortete Finn nachdenklich. „Aber Claas müsste in seinem Büro sein. Er wollte sich um die Materialbestellung kümmern.“

„Danke“, erwiderte Matthias lächelnd, verabschiedete sich von Finn und ging zum Verwaltungsgebäude zurück. Doch gerade, als er das Haus betreten wollte, kam sein Bruder mit einem Stapel Papiere in der Hand aus dem Gebäude. Und Matthias lief mit voller Wucht in ihn hinein.

„Matt, kannst du nicht aufpassen?“, sagte Christian gereizt und bückte sich, um die heruntergefallenen Zettel aufzusammeln. „Wieso hast du es denn so eilig?“

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Matthias und half seinem Bruder beim Aufsammeln. „Ich bin auf der Suche nach Rahel, Liesbeths Tochter. Ich habe ihrer Mutter versprochen, ihr die Farm zu zeigen.“

„Also da drin ist sie nicht“, erwiderte Christian kopfschüttelnd. „Jedenfalls habe ich niemanden gesehen, den ich nicht kenne.“

„Trotzdem danke“, antwortete Matthias und gab seinem Bruder die Unterlagen. „Ich werde sie schon finden. So schwer kann es doch nicht sein“, ergänzte er mehr zu sich selbst. „So viele schwarzhaarige Frauen, die ganz in Schwarz herumlaufen, kann es auf der Farm nicht geben.“

Überrascht sah Christian seinen Bruder an.

„Eine Frau ganz in Schwarz? Also so eine habe ich gesehen, als ich vor ein paar Minuten ins Büro gegangen bin.“

„Wirklich? Wo?“, wollte Matthias aufgeregt von seinem Bruder wissen.

Mit einer Hand deutete er auf die Tür nebenan.

„Sie ist in den Laden gegangen. Und jetzt entschuldige mich, ich muss zu einem wichtigen Termin.“

Dankbar sah Matthias seinen Bruder an, der kurz darauf mit schnellen Schritten verschwand. Dann ging er zum Nachbareingang.

Satt lehnte sich Rahel auf ihrem Stuhl zurück und beobachtete die Leute im Laden. Es war interessant, der jungen Frau beim Arbeiten zuzusehen. Dieser kleine Hofladen war mehr als nur ein Café oder eine Kantine, das war ihr inzwischen klar geworden. Denn neben frisch gekochten Speisen konnte man auch normale Lebensmittel wie Eier, Obst, Gemüse und Fleisch kaufen. Sogar Mehl, Zucker oder Salz füllte die Verkäuferin in die gewünschten Behälter ab. Nur das Prinzip des Kaufens hatte Rahel noch nicht verstanden. Statt Geld nahm die Verkäuferin fast immer diese kleine schwarze Karte entgegen, die ihr bereits vorhin aufgefallen war. Doch es konnte keine normale Geldkarte sein, denn kein einziger Kunde musste einen Pin eingeben oder für den Einkauf unterschreiben. Auch kam es vor, dass Kinder ohne Bezahlung Tüten mit Süßigkeiten und Obst erhielten. Merkwürdig, dachte Rahel verwirrt, denn so etwas hatte sie bisher noch nie gesehen. Irgendwie müssen die Verkäufe doch abgerechnet werden.

 

Als sich plötzlich jemand zu ihr an den Tisch setzte, wurde Rahel aus ihren Gedanken gerissen und sah den schwarzhaarigen Mann verwirrt an. Es gab keinen Grund für ihn, sich ausgerechnet zu ihr zu setzen. Er hatte weder etwas zu essen gekauft, noch waren alle anderen Plätze belegt. Im Gegenteil, die anderen Tische im Laden waren zum größten Teil frei.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Rahel abwehrend, denn sie wollte mit niemandem sprechen.

„Nein“, erwiderte der Mann ihr gegenüber gelassen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, während er sie mit seinen braunen Augen eindringlich betrachtete.

Rahel wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Er sah ganz anders aus als die Farmarbeiter, die sie bisher gesehen hatte. Trotzdem konnte sie nicht glauben, dass er ein Fremder war. Denn in diesem Moment kam die Verkäuferin lächelnd auf sie zu und stellte eine Tasse Kaffee vor dem Mann auf den Tisch.

„Soll ich dir auch noch etwas bringen?“, wandte sich die junge Frau anschließend an Rahel, doch sie schüttelte mit dem Kopf.

Worauf die Verkäuferin wieder hinter der Theke verschwand.

„Du hättest auch bei uns etwas zu essen bekommen“, ergriff der Mann plötzlich das Wort und sah auf die leere Schüssel vor ihr.

Argwöhnisch sah Rahel ihn an.

„Kennen wir uns?“

„Noch nicht. Ich bin Matthias“, stellte er sich vor. „Christians jüngerer Bruder. Deine Mutter meinte, du hättest vielleicht Lust, dir die Farm anzusehen.“

„Wirklich?“, fragte Rahel skeptisch und sah ihn prüfend an. „Ich habe doch nur Ausgang bekommen, um meine Großeltern zu begrüßen.“

Matthias zuckte mit den Schultern.

„Soweit ich sehe, sind Claas und Gertrud nicht hier, also spielt es keine Rolle.“

Ein schwaches Lächeln huschte über Rahels Gesicht.

„Gut, von mir aus“, stimmte sie zu. Schließlich musste sie auf diese Weise nicht sofort zu ihren Eltern zurück und konnte vielleicht auch einen Blick in die Kaninchenhallen werfen. „Wo fangen wir an?“

„Lass dich überraschen“, erwiderte Matthias lächelnd, trank seinen Kaffee aus und stand auf. „Komm, gehen wir.“

Aufmerksam beobachtete Matthias Rahel, die ihn immer noch etwas skeptisch betrachtete, aber nach draußen folgte. Eine interessante Frau, ging es ihm durch den Kopf und ein schwaches Lächeln erschien auf seinen Lippen. Sie ist nicht auf den Mund gefallen. Und das gefiel ihm.

„Lass uns als Erstes zum Tierbereich gehen“, schlug er ihr vor, nachdem sie den Laden verlassen hatten. „Dort sind neben den Angorakaninchen auch die Schweine und Hühner untergebracht.“

„Alle zusammen?“, fragte Rahel verwirrt. „Ich verstehe zwar nicht viel von Landwirtschaft, aber kann man die wirklich zusammen halten?“

Matthias lachte auf.

„Natürlich nicht. In den Hallen sind nur die Kaninchenkäfige untergebracht. Und es gibt Zugänge zum jeweiligen Außenbereich, die nur bei gutem Wetter offen sind. Die Schweine befinden sich in einem separaten Stall in der Mitte, ebenso wie das Freigehege der Hühner.“

Rahel nickte und folgte Matthias schweigend. Dabei konnte er genau sehen, dass er ihr Interesse geweckt hatte, auch wenn sie es nicht zugeben wollte. Doch das wunderte ihn nicht. Die meisten Besucher, die zu ihnen auf die Farm kamen, wollten unbedingt die Angorakaninchen sehen. Schließlich war die Angorawolle ein fester Bestandteil der de-Luca-Modekollektionen.

Als sie die Hallen fast erreicht hatten, wandte er sich ihr wieder zu.

„Ich will ja nicht neugierig sein“, sagte Matthias nachdenklich. „Aber worum geht es bei dem Streit mit deiner Mutter? So richtig verstehe ich es nicht.“

Irritiert blieb Rahel stehen und sah ihn an.

„Das geht dich doch gar nichts an“, erwiderte sie ausweichend und wollte weitergehen.

Aber so schnell gab Matthias nicht auf.

„Mag sein“, stimmte er ihr zu. „Doch ich kenne deine Mutter schon ziemlich lange. Sie hat früher als Babysitter öfter auf meine Geschwister und mich aufgepasst. So niedergeschlagen wie heute habe ich sie noch nie erlebt. Ich mache mir Sorgen um sie.“

„Wieso fragst du dann nicht meine Mutter?“, antwortete Rahel gereizt und ging weiter.

„Ich möchte es aber von dir hören“, erwiderte Matthias mit ernster Miene und folgte ihr. „Ich weiß, wir kennen uns nicht, doch dich scheint die Sache ebenfalls ziemlich mitzunehmen. Vielleicht tut es dir gut, mit jemandem darüber zu reden. Selbst wenn diese Person ein Fremder ist. Ich verspreche auch, es keinem zu sagen.“

„Ich komme schon klar“, wich Rahel aus. „Es bringt sowieso nichts, darüber zu reden. Außerdem ist es eine Familiensache.“

„Ab morgen ist Jessica ein Teil meiner Familie. Somit sind wir auch irgendwie miteinander verbunden“, antwortete Matthias gelassen und griff nach ihrem Oberarm, damit sie stehen blieb. „Und ich finde es nicht schön, wenn jemand bei einer Hochzeit traurig ist. Und du und deine Mutter, ihr seht gerade alles andere als glücklich aus.“

„Findest du“, erwiderte Rahel scharf, riss sich von ihm los und sah Matthias wütend an. „Wie würdest du dich fühlen, wenn deine Mutter dich jahrelang belogen hat? Und plötzlich aus heiterem Himmel zwei Schwestern auftauchen, von denen du gar nichts wusstest?“

„Also so wie ich das sehe, hat deine Mutter geschwiegen, um selbst irgendwie mit dem Schmerz umzugehen“, sagte Matthias ruhig. „Sie hat es nicht getan, um dir wehzutun.“

„Schmerz, worüber?“, wollte Rahel ironisch wissen. „Weil sie ihre Kinder mit 16 nicht behalten wollte und sie daher zur Adoption freigegeben hat? Das war ihre Entscheidung, also sollte sie auch dazu stehen.“

Angespannt sah Matthias Rahel an. Ihm war klar, dass er nichts dazu sagen durfte. Liesbeth vertraute ihm und er wollte dieses Vertrauen nicht enttäuschen. Doch so wie er es sah, hatte Rahel inzwischen ein völlig falsches Bild von ihrer Mutter. Schlimmer noch, sie gab ihr die Schuld an der ganzen Geschichte. Dabei wäre Liesbeth niemals fähig gewesen, eins ihrer Kinder wegzugeben. Im Gegenteil, sie hatte alles versucht, um ihre Töchter zu finden. Aber es war zu spät gewesen. Denn als sie endlich das Krankenhaus ausfindig gemacht hatte waren die Babys bereits fort gewesen.

„Du hast keine Ahnung, was damals passiert ist“, sagte Matthias leise und hoffte, dass er damit keinen Fehler machte. „Deine Mutter hat Jessica und Larissa nicht weggegeben. Ihr damaliger Freund hat ihr die Kinder weggenommen und in einem Krankenhaus ausgesetzt.“

Ungläubig sah Rahel ihn an. Sie konnte nicht glauben, was er ihr gerade erzählt hatte. Man hatte ihrer Mutter die Kinder weggenommen? Das kann nicht sein, dachte sie bestürzt.

„Du lügst“, warf sie Matthias vor, doch dieser schüttelte nur mit dem Kopf.

„Es ist die Wahrheit“, versicherte er ihr. „Wenn du mir nicht glaubst, dann rede mit deiner Mutter. Jessica ist damals auf die Farm gekommen, um nach ihren leiblichen Eltern zu suchen. Dabei ist alles rausgekommen.“

„Und ich habe …“, flüsterte Rahel fassungslos. „Die ganze Zeit habe ich gedacht, meine Mutter hat die beiden nicht haben wollen, weil sie noch so jung gewesen war. Und ich habe es ihr übelgenommen, dass sie uns nie etwas erzählt und ihre Kinder tot geschwiegen hat.“

Tränen stiegen Rahel in die Augen und Matthias nahm sie in den Arm.

„Was habe ich nur getan?“, schluchzte sie. „Wieso hat sie es mir nicht gesagt?“

„Sie wollte es für euch nicht noch schwerer machen“, erklärte Matthias das Verhalten ihrer Mutter und sie sah ihn unter Tränen fragend an. „Ich habe vorhin mit Liesbeth gesprochen“, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. „Sie war der Meinung, sie würde es für euch nur noch schlimmer machen, wenn sie dir und deinen Geschwistern die ganze Wahrheit erzählt.“

Rahel schüttelte mit dem Kopf und machte sich los.

„Da hat sie sich geirrt“, antwortete sie leise und wischte sich mit einer Hand die Tränen aus dem Gesicht. „Mich hat es mehr verletzt zu wissen, dass meine Mutter mir etwas verheimlicht. Irgendwann habe ich angefangen, mir selbst Antworten auf meine Fragen zu geben. Jedes Mal, wenn sie von ihren wiedergefundenen Töchtern geschwärmt hat, fühlte ich mich zurückgesetzt. Hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr gut genug zu sein. Mir war klar, dass die drei ein Geheimnis teilten, das ich nicht erfahren sollte. Und das hat wehgetan.“

„Ich bin sicher, das hat deine Mutter nicht gewollt. Sie liebt dich“, versicherte Matthias ihr. „Sie hat nur versucht, die verlorene Zeit mit Larissa und Jessica aufzuarbeiten.“

„Und ich war nicht gerade nett zu ihr“, antwortete Rahel schuldbewusst. „Auch nicht zu Larissa.“

„Du kannst dich ja später bei ihnen entschuldigen“, schlug Matthias lächelnd vor und zog sie weiter in Richtung der Hallen. „Aber erst zeige ich dir wie versprochen die Farm. Jedoch wäre ich dir dankbar, wenn du deiner Mutter gegenüber nicht erwähnst, dass ich dir die Wahrheit gesagt habe“, bat er sie eindringlich. „Jedenfalls nicht solange ihr hier seid. Liesbeth kommt sonst noch auf die Idee und reißt mir den Kopf ab.“

Ein Lächeln huschte über Rahels Gesicht.

„Das wird sie bestimmt nicht machen. Im Gegenteil, sie wird dir eher dankbar sein“, ergänzte sie kopfschüttelnd. „Ich wünschte nur, ich hätte es schon früher gewusst. Dann wäre es gar nicht so weit gekommen.“

Nickend gab Matthias ihr recht, während er die Tür zu einer der Hallen öffnete. Schweigend gingen sie hinein.

Es war bereits früher Nachmittag, als Matthias und Rahel zum Herrenhaus zurückgingen. Dabei hatte sie noch nicht einmal alles gesehen. Doch die Zeit war so schnell vergangen, dass sie sich den Rest für ein anderes Mal aufheben mussten. Und Rahel war zuversichtlich, dass es ein nächstes Mal gab. Denn Matthias hatte sich als ein sehr angenehmer Farmführer erwiesen, mit dem sie gerne Zeit verbrachte. Und sie konnte sich im Nachhinein wirklich glücklich schätzen, dass ihre Eltern sie zu diesem Besuch gezwungen hatten.

„Du hast Glück, dass du hier aufgewachsen bist“, sagte Rahel lächelnd und sah Matthias an. „Wir haben früher in einer kleinen Stadtwohnung gelebt, wo ich mir mit Becca ein Zimmer teilen musste. Erst vor ein paar Jahren haben meine Eltern dann das Haus gekauft.“

„Ich bin auch gerne hier aufgewachsen“, erwiderte Matthias zufrieden und begrüßte ein paar vorbeikommende Mitarbeiter. „Obwohl aus mir nicht der typische Landwirt geworden ist, wie es sich meine Eltern gewünscht haben. Ich bin nämlich eher ein Theoretiker.“

„Wirklich?“, fragte Rahel überrascht. „Das hätte ich nicht gedacht. Im Gegenteil, so wie du mir die verschiedenen Bereiche der Farm erklärt hast, habe ich angenommen, du gehörst dazu.“

„Das stimmt ja auch“, gab er lächelnd zu. „Ich bin schließlich auf dieser Farm aufgewachsen und mag die Landwirtschaft. Nur geht es mir eher um das, was dahintersteckt“, erklärte er ihr. „Was beachtet werden muss. Und welche Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Aus diesem Grund werde ich ab nächstes Jahr für das Ländliche Fortbildungsinstitut in Graz arbeiten. Mit meiner Familie ist bereits alles abgesprochen und sie haben nichts dagegen.“

„Das freut mich für dich. Es ist schön, wenn man seine Leidenschaft zum Beruf machen kann“, erwiderte Rahel lächelnd. „Mein Traum war es immer zu fliegen. Daher will ich auch Flugbegleiterin werden.“

„Da bist du aber ziemlich oft unterwegs“, warf Matthias skeptisch ein. „Hast du dich deshalb von deinem Freund getrennt?“

Verwirrt sah Rahel ihn an, dann lachte sie auf.

„Meine Mutter?“, wollte sie belustigt wissen und Matthias nickte.

„Sie hat die Trennung erwähnt, wusste aber nicht, warum.“

„Ich habe es meiner Mutter auch nicht gesagt“, gestand sie nachdenklich. „Ich war überzeugt, dass es sie sowieso nicht interessiert. Aber im Grunde hast du recht. Indirekt war mein Beruf schon schuld, dass es zu dieser Trennung kam. Obwohl er vorher immer so getan hat, als würde er mich in meiner Berufswahl unterstützen.“

„Aber das hat er nicht“, schlussfolgerte Matthias und sah Rahel mitfühlend an.

Traurig schüttelte sie mit dem Kopf.

„Nein“, gab sie zu. „Als es so weit war, spielten meine Wünsche für ihn keine Rolle mehr. Weißt du“, begann sie zu erklären. „Wir waren vier Jahre zusammen. Haben uns gut verstanden und nach einer Weile auch miteinander geschlafen. Aber dann plötzlich, kurz vor unserem Abschluss, hat er sich verändert. Er fing an, von unserer gemeinsamen Zukunft zu sprechen. Hat ständig mit dem Thema Heiraten und Kinder angefangen, und wie gerne seine Eltern mich zur Schwiegertochter hätten. Ich habe irgendwann nicht mehr zugehört und ihn einfach reden lassen. Mensch, Matthias“, stieß sie frustriert hervor und sah ihn an. „Er ist 19, ich bin 18, da spricht man nicht vom Heiraten. Unser Leben hat doch gerade erst begonnen.“

 

Matthias nickte schwach und sah sie eindringlich an.

„Und was ist dann passiert?“

„Vor ein paar Wochen kam es dann zum großen Knall“, sagte sie wütend. „Sebastian hat mich zum Geburtstag seines Vaters eingeladen, den dieser ganz groß feiern wollte. Ich fand es zwar seltsam, weil ich unbedingt kommen sollte, bin aber hingegangen. Das hatte ich vorher noch nie gemacht. Mir aber nichts weiter dabei gedacht. Ich mochte seine Eltern und war gerne bei ihm zu Hause. Außerdem hatten wir uns ein paar Tage vorher gestritten und ich wollte mich wieder mit ihm versöhnen.“

Tief atmete Rahel ein und aus, bevor sie mit angespannter Miene weitersprach.

„Doch dann hat er plötzlich vor seiner gesamten Familie verkündet, wir würden bald heiraten.“ Rahel schüttelte mit dem Kopf. „Du hättest die Gesichter seiner Verwandten sehen sollen, alle haben sich überschlagen vor Freude. Ich natürlich nicht“, gab sie mit ernster Miene zu. „Stattdessen bin ich ausgeflippt und habe Sebastian wütend zur Rede gestellt. Er hat so getan, als wüsste er gar nicht, was ich von ihm will. Seiner Meinung nach war alles abgesprochen. Wir würden so schnell wie möglich heiraten. Ich dürfte ein bisschen durch die Gegend fliegen. Und sobald ich schwanger wäre, sollte ich zu Hause bleiben und mich um die Kinder kümmern.“

„Und was hast du dazu gesagt?“, wollte Matthias neugierig wissen und verfluchte im Stillen diesen Idioten. Wie konnte man seine eigene Freundin nur so wenig kennen.

„Ich habe ihm vor seiner ganzen Familie gesagt, dass er auf diese Kinder lange warten könne. Dass ich nicht vorhabe, ihn zu heiraten und seine Zuchtstute zu werden.“ Rahel lachte auf. „Es war totenstill im Raum und Sebastian ist rot angelaufen, weil ihn alle angestarrt haben. Dann bin ich ohne ein weiteres Wort gegangen.“

„Nicht schlecht“, musste Matthias zugeben. „Und habt ihr später noch einmal darüber gesprochen?“

Rahel schüttelte mit dem Kopf.

„Das wollte ich nicht“, gab sie mit ernster Miene zu. „Es hätte auch nichts geändert. Unsere Vorstellungen von einer Zukunft waren viel zu unterschiedlich. Aber ich habe ihn ein paar Wochen später von Weitem gesehen“, ergänzte sie abfällig. „Zusammen mit einer ehemaligen Mitschülerin von uns, die ihm schon früher schöne Augen gemacht hatte. In diesem Moment war ich froh, dass ich ihn los war. Auf so einen Freund kann ich verzichten.“

Matthias sagte nichts dazu und sie gingen schweigend weiter. Er fand ihre Aktion wirklich toll. Ihm gefiel es, dass sie sich nichts gefallen ließ. Als sie vor der Haustür standen, unterbrach Rahel das Schweigen.

„Denkst du, ich war zu hart zu ihm?“, wollte sie nachdenklich von ihm wissen.

Doch bevor Matthias antworten konnte, kam ihnen Christian entgegen und sah seinen Bruder leicht gereizt an.

„Hast du kurz Zeit?“, wollte er wissen, ohne auf Rahel zu achten, die neben Matthias stand. „Du musst nach Judenburg fahren, um Jessica abzuholen. Sie hat plötzlich Bauchschmerzen bekommen. Ich weiß, es ist bestimmt nichts Ernstes“, ergänzte er besorgt. „Aber ich will nicht, dass sie in diesem Zustand Auto fährt. Ich würde es ja selbst machen, aber ich habe gleich eine wichtige Besprechung. Und …“

„Ist ja gut“, unterbrach Matthias seinen Bruder lächelnd und hob die Hände. „Atme einmal tief durch. Natürlich hole ich sie ab. Das ist kein Problem.“

„Danke“, erwiderte Christian immer noch ziemlich aufgeregt und ging einfach weiter.

Verwirrt sah Matthias ihm hinterher.

„Ist er immer so?“, wollte Rahel verwundert wissen.

„Nein, er steht nur wegen der Hochzeit unter Strom“, antwortete Matthias kopfschüttelnd. „Er will unbedingt alles fertig haben, bevor er für zwei Wochen auf Hochzeitsreise geht. Er hat Angst, ich könnte etwas Wichtiges vergessen.“

Dann wandte sich Matthias wieder Rahel zu.

„Vielleicht sehen wir uns später noch. Jetzt hole ich erst einmal Jessica ab, sonst macht mich mein Bruder zur Schnecke.“

Rahel lächelte und nickte ihm zu.

„Ich sag den anderen, wo du hinfährst.“

„Danke“, erwiderte Matthias und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen. Erst als er nicht mehr zu sehen war, ging Rahel ins Haus hinein.

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