Vergnügt! Ein Treffen in den Wolken

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Rahel wusste nicht, wie lange sie weinend auf dem Bett gelegen hatte, als ein leises Klopfen sie aus ihren Gedanken riss. Schnell wischte sie sich mit einer Hand die Tränen aus dem Gesicht und setzte sich auf.

„Was ist?“, fragte sie ernst und kurze Zeit später öffnete sich die Tür und ihre jüngeren Geschwister kamen ins Zimmer.

„Stören wir“, fragte die 14-jährige Becca, deren lange schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten waren, und zwei braune Augenpaare sahen Rahel fragend an.

„Wir können auch wieder gehen“, ergänzte der fast zwölf jährige Tito. „Wenn es dir lieber ist.“

Rahel schüttelte mit dem Kopf.

„Kommt rein“, erwiderte sie mit einem schwachen Lächeln. Und sah ihren Geschwistern zu, wie sie die Tür zumachten und sich zu ihr auf das Bett setzten.

Lange sagte niemand etwas, bis Becca das Schweigen unterbrach.

„Mama ist traurig“, sagte sie leise. „Und Papa ist wütend auf dich.“

„Hat er das gesagt?“, wollte Rahel mit ernster Miene wissen und ihre Finger verkrampften sich zu Fäusten.

„Nein“, erwiderte Becca und schüttelte mit dem Kopf. „Aber man hat es gemerkt. Er hat kein Wort gesagt, während er das Auto eingeräumt hat. Und Mama hat sich hingelegt. Dabei geht sie sonst nie so früh ins Bett.“

„Die beiden beruhigen sich schon wieder“, antwortete Rahel, obwohl sie nicht wirklich davon überzeugt war. Es ist halt nicht mehr so wie früher, dachte sie traurig. Seit die Zwillinge aufgetaucht sind, hat sich alles verändert.

„Wieso magst du die Jessica und Larissa eigentlich nicht?“, wollte Tito plötzlich wissen und Rahel sah ihren kleinen Bruder überrascht an. „Sie sind doch ganz nett.“

„Das verstehst du noch nicht“, erwiderte sie ausweichend. Wie auch?, ging es ihr durch den Kopf. Die beiden hatten nie so ein enges Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt, sondern immer alles zusammen gemacht. Anders als Rahel, die sich dafür oft schon zu alt gefühlt hatte. „Weißt du, ich bin traurig, weil Mama es uns nicht früher gesagt hat“, versuchte Rahel, ihre Gefühle zu erklären.

Becca zuckte mit den Schultern.

„Sie hat ja nicht gewusst, wo sie sind“, nahm sie ihre Mutter in Schutz.

„Stimmt schon“, gab Rahel ihrer Schwester recht. Die beiden konnten ihre Enttäuschung sowieso nicht verstehen. „Aber ihr beide freut euch schon auf morgen, oder?“, wechselte sie das Thema und ihre jüngeren Geschwister nickten.

„Ja“, antwortete Becca. „Es ist echt toll auf der Farm. Alle sind super nett.“

„Sie haben auch ganz viele Tiere“, ergänzte Tito aufgeregt. „Und letztes Mal durften wir auf einem Trecker mit in den Wald fahren.

Rahel nickte nur und hörte den beiden zu, wie sie von ihrem letzten Besuch auf der Farm schwärmten. Obwohl ihre Mutter an diesem Ort aufgewachsen war und ihre Großeltern bis heute dort arbeiteten, war sie selbst noch nie da gewesen. Ihre Mutter hatte es früher nie gewollt und immer die lange Autofahrt als Grund dafür angegeben. Was sich am Ende aber nur als eine weitere Lüge entpuppt hatte. Denn die Entfernung hatte bei dieser Entscheidung keine Rolle gespielt.

Als unten die Haustür ins Schloss fiel, wurde Rahel aus ihren Gedanken gerissen und sie wandte sich wieder ihren jüngeren Geschwistern zu.

„Ihr solltet jetzt lieber ins Bett gehen“, unterbrach sie die beiden und sah auf ihre Uhr. „Es ist schon spät und wir wollen morgen früh los.“

Tito und Becca nickten und standen auf.

„Gute Nacht“, sagten sie gleichzeitig und umarmten Rahel, dann öffnete Becca die Tür und sie verließen das Zimmer.

Schweigend sah Rahel ihren Geschwistern hinterher. Die beiden werden mir fehlen, ging es ihr durch den Kopf. Und das sogar sehr. Denn sobald sie Köln verließ, würde sie Tito und Becca nur noch selten zu Gesicht bekommen. Und dieses Wissen versetzte ihr einen heftigen Stich. Schließlich liebte sie ihre jüngeren Geschwister und ließ sie nur ungern zurück. Doch sie hatte keine andere Wahl. Sie konnte nicht länger in diesem Haus bleiben. Und um sich abzulenken und weil sie sowieso nicht schlafen konnte, ging sie an ihren Schreibtisch zurück, um für ihre Prüfung zu lernen.

3. Kapitel

Mit einem Fußtritt schloss Matthias die Tür hinter sich und ging, beladen mit Reisetasche und Schlafsack, die Treppe nach unten. Schon in wenigen Stunden würden die ersten Hochzeitsgäste eintreffen und es wurde Zeit, sein Zimmer für die Besucher zu räumen. Als er im Erdgeschoss angekommen war, stellte er die Sachen neben die Tür und schlenderte pfeifend in Richtung Küche. Dort stand seine Mutter bereits am Herd, um alles für den Nachmittag vorzubereiten. Und Matthias´ Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als ihm ein köstlicher Duft nach frischem Kuchen in die Nase stieg.

Ein sehr vertrauter Anblick, ging es Matthias durch den Kopf, denn Melanie de Luca hatte sich diese Aufgabe nie nehmen lassen. Und das trotz der vielen Arbeit, die vier Kinder und ein Ehemann verursachten. Stattdessen hatten er und seine Geschwister schon früh Hilfsarbeiten im Haushalt übernehmen müssen. Was ihnen später zu gute kam, als sie sich während des Studiums selbst versorgen mussten. Auch wenn es in Matthias´ Wohnung lange nicht so ordentlich zuging.

„Guten Morgen“, begrüßte Matthias seine Mutter lächelnd, gab ihr einen Kuss auf die Wange und nahm am Esstisch Platz. „Du bist aber früh auf.“

„Ich konnte nicht mehr schlafen“, erwiderte Melanie de Luca schmunzelnd, goss Kaffee in eine Tasse und stellte sie Matthias hin. „Daher wollte ich die Zeit nutzen, um alles für die Gäste vorzubereiten. Denn auch wenn sich die Agentur morgen um den Hochzeitsablauf kümmert, heute muss auch etwas auf den Tisch.“

„Soll ich dir helfen“, bot Matthias seiner Mutter an, doch diese schüttelte mit dem Kopf.

„Nicht nötig“, versicherte Melanie und sah auf die Uhr. „Deine Schwester und ihre Freundin haben versprochen, mir zur Hand zu gehen. Sie müssten bald runterkommen.“

Matthias nickte und trank einen Schluck Kaffee.

„Weißt du, wann Christin ankommt?“, fragte er neugierig, denn bisher hatte er seine andere Schwester noch nicht zu Gesicht bekommen.

„Heute Abend“, erwiderte Melanie de Luca und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Sie hat bis zum Mittag noch Unterricht. Aber sobald sie fertig ist, macht sie sich auf den Weg. Sie wird jedoch nicht lange bleiben“, ergänzte sie traurig. „Sie muss am Montag wieder zur Uni.“

„Alles in Ordnung?“, wollte Matthias besorgt wissen, als er die Trauer im Gesicht seiner Mutter sah.

Sofort lächelte sie ihn an, doch er konnte sehen, dass das Lächeln nur aufgesetzt war.

„Es geht mir gut“, versuchte sie, ihren Sohn zu beruhigen. „Ich bin wohl nur etwas wehleidig, weil eines meiner Kinder bald eine eigene Familie gründet.“

Matthias´ Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und er sah seine Mutter beruhigt an.

„Ich denke nicht, dass du dir darüber Gedanken machen musst. Immerhin ändert sich nichts. Christian und Jessica wohnen ja bereits zusammen. Jetzt kommen nur noch die Ringe dazu.“

„Da hast du auch wieder recht“, erwiderte Melanie de Luca, schenkte sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein und setzte sich zu ihrem Sohn an den Tisch. „Wie weit bist du mit deinem Zimmer?“

„Es ist alles vorbereitet“, versicherte Matthias. „Ich habe meine Sachen zusammengepackt und bringe sie gleich zum Wagen. Dann frage ich Christian, ob ich ihm helfen kann.“

Melanie de Luca nickte und sah ihren Sohn traurig an.

„Schon seltsam, dass du jetzt auch ausziehst. Bald ist keiner mehr von euch hier.“

„Mama, wir sind doch nicht aus der Welt“, antwortete Matthias aufmunternd und berührte liebevoll die Hand seiner Mutter. „Ich ziehe nur auf die andere Seite der Farm. Damit bin ich noch näher bei dir als in den letzten Jahren. Und Manuela wird bestimmt, genau wie Christin, hier ihre Semesterferien verbringen.“

„Ich weiß“, erwiderte Melanie de Luca mit Tränen in den Augen. „Es ist aber nicht das Gleiche. Ihr werdet nur noch zu Besuch hier sein.“

Schweigend sah Matthias seine Mutter an, dann stand er auf und nahm sie in den Arm.

„Das wird immer unser Zuhause bleiben“, versicherte er ihr. „Daran wird sich nie etwas ändern.“

Ein Lächeln huschte über Melanies Gesicht und sie wischte mit einer Hand die Tränen fort. Dann berührte sie seine Wange.

„Ich danke dir.“

Matthias lächelte zurück, ließ seine Mutter los und setzte sich wieder hin. Während Melanie de Luca ihren Kaffee austrank und aufstand.

„Ich sollte jetzt weitermachen, sonst werde ich heute gar nicht mehr fertig. Außerdem müsste deine Schwester gleich runterkommen und ich möchte nicht, dass sie mich weinen sieht.“

„Von mir wird niemand etwas erfahren“, versprach Matthias und trank den Rest seines Kaffees. „Du kannst dich auf mich verlassen.

Melanie de Luca nickte und wandte sich wieder ihren Vorbereitungen zu. Schweigend aß Matthias zu Ende, dann stand er auf und räumte die leeren Tassen in den Geschirrspüler.

„Bis später“, verabschiedete er sich von seiner Mutter, dann verließ er die Küche und ging mit seiner Reisetasche und dem Schlafsack nach draußen.

Tief atmete Matthias die frische Luft ein, als er das Haus seiner Eltern verließ, und ging in Richtung Parkplatz. Nur noch ein Tag, ging es ihm durch den Kopf, während er zu seinem Wagen wanderte. Er konnte kaum glauben, wie schnell die Zeit vergangen war. Denn es kam ihm vor wie gestern, als er Christians Verlobte Jessica Neumann zum ersten Mal gesehen hatte.

Damals hatte die ganze Familie ihren Augen nicht trauen wollen. Zu sehr hatte Jessica sie an Raphaels Frau Larissa erinnert. Das blonde Haar, die saphirblauen Augen und die gleichen Gesichtszüge. Niemanden hatte es gewundert, als sich herausstellte, dass sie Zwillinge waren. Und ab morgen wird sie auch ein Mitglied der Familie de Luca sein.

 

Ein Lächeln huschte über Matthias´ Gesicht, als er die Sachen im Kofferraum seines Wagens verstaute. Sein Bruder hätte keine bessere Wahl treffen können. Nach der Trennung von seiner Exfreundin hatte Christian nur noch für die Arbeit gelebt und war kurz vor einem Zusammenbruch gewesen. Niemand hatte es geschafft, ihn zu mehr Ruhe zu bewegen. Doch dann war Jessica gekommen und plötzlich hatte er damit begonnen, Aufgaben zu delegieren. Und allein dafür würden er und seine Familie ihr auf ewig dankbar sein.

Als ein Auto auf den Parkplatz fuhr, der nur Familienmitgliedern vorbehalten war, wurde Matthias aus seinen Gedanken gerissen und sah die Ankömmlinge verwundert an. Es war noch zu früh für die Gäste. Schließlich wollten die Ersten erst am Nachmittag kommen. Doch dann sah er den schwarzhaarigen Mann und die beiden blonden Frauen, die aus dem Wagen stiegen, und lächelte. Scheinbar hatte sein Cousin Raphael und dessen Familie ihre Pläne geändert. Und mit schnellen Schritten ging er auf sie zu.

„Das ist ja eine Überraschung“, sagte Matthias erfreut und umarmte seinen Cousin. „Mit euch haben wir erst später gerechnet.“

„Wir wollten auch erst später fahren“, erwiderte Raphael schmunzelnd, während die beiden Frauen die Kinder aus ihren Kindersitzen befreiten. „Aber so konnten die drei unterwegs schlafen.“

Kaum hatte er das gesagt, kam ein kleines Mädchen lächelnd auf Raphael zugelaufen und ließ sich von ihm auf den Arm nehmen.

Matthias nickte und sah die Zweijährige mit den schwarzen Zöpfen und braunen Augen an, die ihre Arme um den Hals ihres Vaters gelegt hatte.

„Deine Töchter werden dir immer ähnlicher“, stellte er nach kurzem Schweigen fest und Raphael lachte auf.

„Das sagt meine Frau auch ständig“, antwortete er belustigt und gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn. „Besonders dann, wenn sie ihre Köpfe durchsetzen wollen. Laut Lara sind die Mädchen genauso stur wie ich.“

„So ist es ja auch“, meldete sich Larissa zu Wort, die sich nun zusammen mit Raphaels Schwester Emilia zu ihnen gesellte.

Auch sie trug eines ihrer Kinder auf den Arm, während Emilia ihre vierjährige Tochter Hannah an die Hand genommen hatte. Schmunzelnd umarmte Matthias die beiden Frauen, dann ließ er seinen Blick über die drei kleinen Kinder schweifen.

„Man könnte meinen, sie wären Geschwister“, sagte er nachdenklich. „Die gleichen schwarzen Haare, die braunen Augen. Es gibt kaum einen Unterschied. Na ja, bis auf die weißen Zacken bei Hannah.“

„Glaub mir, sie benehmen sich auch so“, erwiderte Emilia leicht frustriert. „Sie möchten immer alles zusammen machen. Manchmal bekomme ich Hannah am Abend gar nicht mit nach Hause.“

Wie, um diese Worte zu bekräftigen, begannen die Zwillinge plötzlich auf den Armen ihrer Eltern zu zappeln. Larissa und Raphael stellten ihre Töchter auf den Boden ab, die sofort mit Hannah auf den Spielplatz vor Matthias´ Elternhaus zuliefen. Lachend sahen die Erwachsenen ihnen hinterher.

„Ja, man kann nicht übersehen, wie nahe sie sich stehen“, sagte Matthias lächelnd, dann wandte er sich wieder den anderen zu. „Wollten Alexander und Ronja nicht auch kommen?“, wollte er etwas verwundert wissen, während sie den Kindern folgten. „Meine Mutter hat so etwas erwähnt.“

Raphael nickte.

„Eigentlich schon“, erwiderte er mit ernster Miene. „Aber im letzten Moment haben sie ihre Meinung geändert.“

„Der kleine Michael war in letzter Zeit ziemlich unruhig“, ergänzte Larissa ihren Mann. „Er quengelt viel und Ronja glaubt, dass er bald seinen ersten Zahn bekommt. Ganz sicher ist sie sich aber nicht. Es könnte auch der Beginn einer Erkältung sein. Daher wollte sie ihrem Sohn diese lange Autofahrt nicht zumuten. Sie wollen aber ein anderes Mal herkommen, wenn es dem Baby besser geht.“

Matthias nickte. Er konnte verstehen, dass die beiden lieber auf Nummer sicher gehen wollten. Schließlich war Michael erst knapp fünf Monate alt.

„Ist von den anderen schon jemand da?“, wechselte Emilia das Thema und sah ihren Cousin fragend an.

Matthias schüttelte mit dem Kopf.

„Ihr seid die Ersten“, gab er lächelnd zu. „Liesbeth und ihre Familie wollen am Nachmittag hier sein. Die Designer treffen am Abend ein und eure Eltern werden erst morgen zur Hochzeit erwartet.“

„Kommen Joel und Ariadne etwa auch?“, fragte Larissa überrascht. „Die Geburt der Zwillinge kann doch jederzeit losgehen.“

Matthias zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nur, dass Christian mit Juan gesprochen hat. Er und seine Frau wollen am frühen Abend hier sein.“

„Hast du Shana inzwischen kennengelernt?“, wollte Emilia lächelnd wissen und sah ihren Cousin neugierig an.

„Noch nicht“, erwiderte Matthias schmunzelnd. „Aber ich freu mich darauf. Immerhin hat sie es geschafft, dass Juan wieder Anteil an unserem Leben nimmt.“ Und das war schon etwas Besonderes, musste er anerkennend zugeben. Schließlich hatte sein Cousin nach dem Tod seiner ersten Frau niemanden mehr an sich herangelassen.

Als ein weiteres Auto auf den Parkplatz fuhr, wurde die Unterhaltung unterbrochen und alle sahen sich neugierig um.

„Das gibt es doch nicht“, unterbrach Larissa schließlich die Stille und eilte, ohne auf die anderen zu achten, zum Parkplatz zurück.

Verwirrt sahen sie ihr hinterher, bis Matthias die Frau erkannte, die gerade aus dem Auto ausgestiegen war.

„Liesbeth“, flüsterte er verwundert, dann wandte er sich an seinen Cousin. „Scheinbar seid ihr nicht die Einzigen, die ihren Zeitplan geändert haben.“

Raphael nickte und sie beobachteten seine Frau, die gerade lächelnd erst ihre Mutter, dann ihren Stiefvater und die beiden jüngeren Kinder umarmte.

Dann fiel Matthias´ Blick auf eine weitere Person, die sich etwas abseits von den anderen hielt, und er sah sie interessiert an. Sie war schlank, hatte lange schwarze Haare, die ihr offen über die Schulter fielen, und war ganz in Schwarz gekleidet.

Nachdenklich fragte er sich, wer sie wohl war. Denn an diese Frau konnte er sich überhaupt nicht erinnern. Bis ihm plötzlich einfiel, dass Jessicas Mutter drei weitere Kinder mit ihrem Ehemann hatte. Also musste es sich bei der Fremden um ihre älteste Tochter handeln.

Verwundert über ihre abweisende Haltung Larissa gegenüber runzelte Matthias die Stirn. Dabei überlegte er fieberhaft, wie Larissas und Jessicas jüngere Halbschwester mit Namen hieß. Aber er konnte sich einfach nicht erinnern. An Tito und Becca ja, aber nicht an den Vornamen der älteren Tochter. Er wusste nur noch, dass sie beim letzten Besuch nicht mitkommen konnte, oder wollte, weil sie als Cheerleaderin an einem wichtigen Spiel teilgenommen hatte. Und auch diesmal sah es so aus, als wäre sie lieber zu Hause geblieben.

Abschätzend sah sich Rahel in der Umgebung um und stöhnte auf. Hier sollte sie also die nächsten Tage verbringen. Nur Bäume, Wiesen und Ackerflächen so weit das Auge reichte. Das konnte ja heiter werden. Wahrscheinlich gibt es hier nicht einmal ein ordentliches Café, ging es ihr durch den Kopf. Das würde sie jedenfalls nicht wundern

Schon bevor sie heute Morgen ganz früh losgefahren waren, hatte Rahel schlechte Laune gehabt. Bis zum Schluss hatte sie gehofft, dass ihre Eltern ihr doch noch erlauben würden, in Köln bei ihrer Freundin Leah zu bleiben. Sie hatte extra getrödelt und so getan, als hätte sie die Rufe ihrer Eltern nicht gehört. Aber nichts hatte geholfen. Ihr Vater blieb hart, also war ihr schließlich nichts anderes übriggeblieben, als ins Auto zu steigen. Nur, um sich die ganze Zeit zu wünschen, das Wochenende wäre schon vorbei.

Erneut sah sich Rahel um und erblickte eine junge blonde Frau, die mit einem Lächeln auf den Lippen auf ihre Familie zulief. Doch Rahel schenkte ihr keine große Aufmerksamkeit, sondern ging ein paar Schritte zur Seite. Hinter dem Zaun, der das eindrucksvolle Herrenhaus umgab, konnte sie Kinder ausmachen, die damit beschäftigt waren, sich gegenseitig zu fangen. Während auf dem kleinen Spielplatz vor dem Haus drei schwarzhaarige Mädchen mit Zöpfen im Sandkasten spielten.

„Larissa, du bist schon hier?“

Als Rahel die erfreute Stimme ihrer Mutter hörte, wandte sie sich wieder ihrer Familie zu. Mit einem leichten Gefühl von Neid beobachtete sie die blonde Frau, die ihrer Mutter so ähnlich sah. Das ist also eine von Mamas Töchtern, ging es ihr durch den Kopf und ihre Hände verkrampften sich zu Fäusten. Kein Wunder, dass sie sich so über das Wiedersehen gefreut hat. Sie ist viel hübscher als ich.

„Hallo, ich bin Larissa“, wandte sich die blonde Frau schließlich an Rahel und reichte ihr die Hand. „Aber du kannst mich ruhig Lara nennen.“

„Rahel“, erwiderte Rahel knapp, ohne auf die ausgestreckte Hand zu achten.

„Ich weiß“, antwortete Larissa lächelnd, ohne auf die abweisende Haltung ihrer Halbschwester einzugehen, und nahm ihre Hand wieder runter. „Ich habe schon viel von dir gehört und freue mich, dich endlich kennenzulernen. Liesbeth hat erzählt, du machst gerade eine Ausbildung.“

Und?, fragte sich Rahel genervt. Das geht sie doch gar nichts an. „Als Flugbegleiterin“, berichtete sie schließlich einsilbig, ohne weiter ins Detail zu gehen, und sah zu ihren Eltern hin, die das Gespräch mit angespannter Miene beobachteten.

Larissa, die scheinbar begriffen hatte, dass Rahel keine Lust auf ein Gespräch mit ihr hatte, wandte sich ebenfalls wieder den anderen zu.

„Lasst uns doch reingehen“, schlug sie lächelnd vor. „Wir sind selbst erst vor Kurzem angekommen und haben Christians Eltern noch gar nicht begrüßt. Außerdem freuen sich meine Töchter schon darauf, euch wiederzusehen.“

Nickend stimmten Liesbeth und Lars dem Vorschlag zu. Nur Tito und Becca sahen etwas unglücklich aus.

„Ich würde lieber zu den anderen gehen“, sagte Becca zögernd und zeigte auf die spielenden Kinder, während Tito zustimmend nickte.

„Einverstanden“, stimmte Lars Biedenfeld dem Wunsch der beiden zu. „Aber zum Mittagessen kommt ihr rein.“

„Ja“, riefen die beiden wie aus einem Mund und liefen davon. Sehnsüchtig sah Rahel ihnen hinterher. Auch sie wäre jetzt am liebsten verschwunden.

„Rahel, kommst du?“, wollte Liesbeth Biedenfeld von ihrer Tochter wissen, und Rahel drehte sich zu ihr um.

Fieberhaft suchte sie nach einer Ausrede, dann hatte sie plötzlich eine Idee.

„Kann ich nicht erst Oma und Opa begrüßen?“, fragte sie mit ernster Miene. „Ich habe sie so lange nicht gesehen. Später kann ich ja mit ihnen nachkommen.“

Schweigend sahen Liesbeth und Lars ihre Tochter an und Rahel stöhnte innerlich auf. Jetzt werden sie mir bestimmt gleich wieder einen Vortrag halten, ging es ihr durch den Kopf. Aber dann nickten sie ihr doch zustimmend zu, und sie atmete erleichtert auf.

„Aber beeil dich“, erwiderte Lars Biedenfeld mit ernster Miene und sah seine Tochter eindringlich an. „Nicht, dass du für Stunden verschwindest.“

„Klar“, sagte Rahel mit leichtem Spott in der Stimme und ging davon. Wo soll ich auch hingehen. Bevor sie aber den kleinen Zaun erreichte, durch den ihre beiden jüngeren Geschwister verschwunden waren, wurde sie von Larissa aufgehalten.

„Rahel, warte kurz“, rief sie ihr hinterher. „Du weißt doch gar nicht, wo du Claas finden kannst.“

Frustriert blieb Rahel stehen und beobachtete genervt die junge Frau, die nun auf sie zugelaufen kam. Natürlich hatte Larissa recht. Sie hatte einfach nur weggehen wollen und daher gar nicht weiter über ihre Worte nachgedacht. Trotzdem gefiel es Rahel nicht, dass sie ausgerechnet von ihr darauf aufmerksam gemacht worden war. Sie sollte sich um ihre eigenen Sachen kümmern. Schließlich hätte sie ja irgendjemanden auf dieser Farm fragen können, wo sie ihren Großvater finden konnte.

Abwehrend verschränkte Rahel die Arme vor ihrer Brust, als Larissa sie erreichte. Doch wie bereits bei der Begrüßung schien diese auch jetzt nicht weiter auf die schlechte Stimmung ihrer Halbschwester eingehen zu wollen. Stattdessen lächelte sie ihr nur freundlich zu und das machte Rahel nur noch wütender.

„Was willst du eigentlich von mir?“, wollte sie aufgebracht wissen, als Larissa vor ihr stand. „Ich hätte schon jemanden gefunden, der mich zu meinem Großvater bringt.“

 

Dabei betonte Rahel die Wörter „meinem Großvater“, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass in ihren Augen Larissa nicht dazugehörte.

Jedoch ging Larissa wieder nicht darauf ein, sondern zuckte nur mit den Schultern.

„Ich wollte dir nur helfen“, antwortete sie freundlich. „Schließlich bist du meine Schwester.“

„Wenn du meinst“, erwiderte Rahel spöttisch. „Ich kann auf deine Hilfe jedenfalls gut verzichten.“

Mit diesen Worten ließ sie Larissa einfach stehen und ging weiter.

Verwirrt beobachtete Matthias Larissa und ihre jüngere Halbschwester, wie sie sich miteinander unterhielten. Er wusste nicht wieso, aber irgendwie kam ihm die Situation merkwürdig vor. Bereits vorher, als sie sich auf dem Parkplatz begrüßt hatten, hatte er diese ablehnende Haltung gesehen. Doch diesmal schien die kleine Schwarzhaarige sogar wütend auf Larissa zu sein.

Seltsam, dachte er verwundert. Bisher hatte er angenommen, dass Liesbeths Familie ihre verlorenen Töchter freundlich aufgenommen hatten. Jedenfalls hatte Jessica immer nur mit leuchtenden Augen von ihnen gesprochen. Aber wenn er sich diese Szene so ansah, zweifelte er stark daran. Und er hätte gerne gewusst, was dahintersteckte und wieso diese Frau Larissa so ablehnte.

„Matthias.“

Als Matthias Liesbeths Stimme hörte wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Da er sich die ganze Zeit auf Larissas jüngere Schwester konzentriert hatte, hatte er gar nicht mitbekommen, dass ihre Familie auf ihn zugekommen war. Mit einem Lächeln auf den Lippen wandte er sich ihnen zu, um sie zu begrüßen. Kurze Zeit später gingen Lars, Raphael und Emilia ins Haus, während Liesbeth die spielenden Kinder begrüßte.

„Kann ich dich mal etwas fragen?“, wandte sich Matthias an Liesbeth, als die anderen verschwunden waren, und sah sie fragend an. „Was ist eigentlich mit deinen Töchtern los?“

Eine Weile sah Liesbeth ihn nur schweigend an, dann sah sie zu Larissa, die nun alleine auf das Haus zukam.

„Rahel ist wütend auf mich“, gestand sie schließlich traurig. „Weil ich ihr nicht früher von Larissa und Jessica erzählt habe. Sie wollte heute auch nicht mitkommen. Wir haben sie praktisch dazu gezwungen.“

„Oh“, erwiderte Matthias überrascht. „Ich hatte keine Ahnung.“

„Wie auch“, antwortete Liesbeth mit einem schwachen Lächeln. „Ich begreife es selbst nicht. Mir war klar, dass es am Anfang nicht leicht wird, doch inzwischen ist über ein Jahr vergangen. Und statt dass Rahel die neue Situation langsam akzeptiert, habe ich eher das Gefühl, dass sie sich immer weiter von mir entfernt.“

Mitfühlend sah Matthias Liesbeth an, die früher nicht nur einmal auf ihn und seine Geschwister aufgepasst hatte.

„Weiß deine Tochter, was damals passiert ist?“

Liesbeth schüttelte mit dem Kopf.

„Nach meiner Rückkehr damals hatte ich ein langes Gespräch mit Lars“, berichtete sie traurig. „Ich habe ihm alles erzählt und er hat sehr verständnisvoll reagiert. Er hat meine Töchter sofort als Teil unserer Familie akzeptiert und das hat mich sehr glücklich gemacht. Doch als es darum ging, wie wir es unseren Kindern sagen sollen, waren wir beide ratlos. Ich wollte sie mit meiner Vergangenheit nicht belasten. Schließlich ist das alles schon so lange her. Daher haben wir ihnen nur erzählt, dass ich mit 16 Jahren Mutter geworden bin und die Kinder von zwei verschiedenen Elternpaaren adoptiert wurden.“

Etwas verwirrt sah Matthias Liesbeth an.

„Und deswegen ist deine Tochter wütend?“

Liesbeth zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht, warum Rahel so negativ reagiert. Wir haben uns früher immer gut verstanden und konnten über alles reden. Aber jetzt erfahre ich kaum noch etwas aus ihrem Leben. Ich habe nicht einmal gewusst, dass sie sich von ihrem Freund getrennt hat. Stattdessen wirft sie mir vor, ich hätte Geheimnisse vor ihr. Und im Grunde hat sie sogar recht.“

„Und wenn du ihr einfach die Wahrheit sagst?“

„Ich glaube nicht, dass das etwas ändern würde“, antwortete Liesbeth bedrückt. „Schließlich sind es Jessica und Larissa, die Rahel ablehnt. Dabei kennt sie die beiden nicht einmal. Außerdem möchte ich sie nicht auch noch mit meiner Vergangenheit belasten. Im Moment ist sie schon wütend genug.“

Matthias nickte und sah Liesbeth weiter fragend an.

„Und wo will sie jetzt hin?“

„Sie möchte ihre Großeltern begrüßen. Jedenfalls hat sie das gesagt. Aber ich glaube eher, sie wollte weg von uns“, ergänzte Liesbeth traurig.

Nachdenklich sah Matthias in die Richtung, in die Rahel verschwunden war, dann kam ihm eine Idee.

„Wenn du willst, folge ich ihr. Ich kann ihr die Farm zeigen und sie zu Claas und Gertrud bringen. Vielleicht kommt sie so auf andere Gedanken.“

„Das würdest du tun?“, wollte Liesbeth überrascht wissen und lächelte leicht. „Das wäre toll. Rahel könnte etwas Ablenkung gebrauchen.“

Matthias nickte.

„Kein Problem“, versicherte er schmunzelnd, dann sah er zu Larissa, die gerade auf sie zukam. „Ich lass euch mal alleine. Ihr habt euch bestimmt viel zu erzählen.“

Mit diesen Worten lächelte er den beiden noch einmal zu und machte sich auf den Weg, um Rahel zu suchen.