Ein reines Wesen

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Z serii: Willa Stark #4
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7

Treiben im Grau, ein Grau in Schattierungen von hell zu dunkel.

Zeit gab es nicht, Sekunden hätten Tage sein können, ein Jahrzehnt wiederum eine Sekunde. Es gab kein Kalt und kein Heiß, das Grau war eine lauwarme Suppe. Trotzdem fühlte sie sich wohl darin. Dieses Treiben gefiel ihr.

Dazu die Taubheit in ihr und um sie herum.

Sie wusste, dass es draußen eine Welt gab. Manchmal nahm sie Schatten dahinter wahr, manchmal Gemurmel. Einmal meinte sie ein Miauen zu hören, das trieb sie voran an die Ränder ihrer Einheitswelt. Aber sie war zu schwach, um darüber hinauszustoßen. Denn außerhalb lauerte Gefahr. Unbestimmt, nicht greifbar. Im Grau war sie sicher.

Allmählich stiegen Erinnerungen auf.

Manchmal glasklar, wenn auch winzig, kamen diese inneren Bilder aus der Mitte der grauen Wüste.

Sie sah sich selbst als Kind, an der Hand ihrer Mutter Anna. Wie müde Mama immer aussah. Und wie traurig. Wäre da nicht Onkel Willi, Mamas Bruder, der im Gegensatz zur alleinerziehenden Anna immer heiter und voller Elan schien, wäre die kleine Familie einfach nur ein trübsalgeschwängertes Duo gewesen. Willa-Mausi-Mädel, sein Kosename für sie. Er war Ersatz für einen Vater, den sie so gut wie nicht kannte. Onkel Willi, der Held ihrer frühen Kindheit.

Die Szene blätterte sich um, übersprang ein paar Jahre und zeigte Willas geliebten Onkel bei seiner Verhaftung. Nachdem er seine Verlobte im Affekt erschlagen hatte und ins Gefängnis musste. Enttäuschung und Wut auf Onkel Willi ersetzen die Zuneigung.

Zehn war sie, zehn Jahre alt und schon fertig mit der Welt.

Ihre erste Liebe, der Michi, zeigte sich in den Bildern, die Verlobung und das Ende der Verbindung. Ihr Entschluss, zur Polizei zu gehen, wie sie es ihrer Mutter mitgeteilt hatte. Die Ausbildung, das Studium, der Abschluss samt der Urkundenverleihung.

Inspektorin Willa Stark. Das war sie. Damit kam sie zurecht.

Schneller drehte sich das Bilderkarussell, die Kollegen, die Mordfälle, die privaten Affären, der Wechsel von Graz nach Köln.

Dann er.

Mit ihm der Sturz ins schwarze Loch der Bewusstlosigkeit.

Koma, dachte sie. Ins Koma geprügelt, geschlagen, gestoßen, dachte sie weiter. Dann stoppte sie, schob die Bilder dazu weg.

Sie begann den Kreislauf ihrer Erinnerungen erneut. Wieder und wieder.

Bis sich eine Veränderung einschlich.

Langsam verbanden sich die Abläufe in ihrem Kopf, verschmolzen miteinander. Es folgten Gefühle, ganz primär. Zuerst der Hunger. Ein entferntes Grollen, einem schwachen Donnern gleich. Einmal ein Stich. Ein Pieksen.

Aus dem Nichts erschien unerwartet der Punkt. Ein weißer Punkt. Weiß und abgegrenzt klar. Nach einer Unendlichkeit oder einer kleinen Weile bewegte sich der weiße Punkt auf sie zu oder sie strebte zu ihm hin. Er wurde heller. Das Weiß tat weh.

Hallo?, fragte sie ohne ihre Stimme zu benutzen. Ist? Jemand? Wo? Ich?

Hell und heller, wund und wunder, wurde es zwischen den Ritzen ihrer Welt.

Na gut, dann Servus, dachte sie.

Das erste, was Willa sah, als sie die Augen öffnete, war ihr Kater Jimmy.

Es war also alles okay, alles paletti, nur ein böser Traum.

Wie bei Alice im Wunderland die Grinsekatze verschwand Stück für Stück das Tiergesicht. Mit dem nächsten Blinzeln verwandelte sich Jimmys Schnauze in das runde Gesicht von Rechtsmediziner Harro deNärtens. Kugelrund schien er zu sein.

Doch bevor sie ihm ein Zeichen ihres Erwachens geben konnte, löste sich auch Harro auf.

Eine Weile geschah nichts.

Bruchstücke kamen und setzten sich neben sie.

Die Ermittlung.

Der Fall.

Er.

Willa schnappte nach Luft. Der nächste Schock erwartete sie. In ihrem Hals steckte etwas fest, das sie würgte und einem Alien gleich nicht zu ihrem Körper gehörte. Das Ding musste weg. Es erstickte sie.

Auch in der Nase, über den Wangen schien sich etwas festgesetzt zu haben.

Runter damit. Raus damit.

Noch unfähig, sich zu bewegen, konnte sie sich nur wünschen, dass die Qualen verschwinden sollten. Aber die Zeiten, wo das Wünschen geholfen hatte, schienen vorbei.

Was machte sie hier, in diesem unbekannten Raum?

Sie merkte, dass sie schwitzte. Schweißperlen liefen ihr über das Gesicht, den Hals herunter und verloren sich. Schon jetzt wusste sie, dass sie sich in dieser Umgebung niemals so wohlfühlen würde wie im Grau, aus dem sie vertrieben worden war. Warum lag sie nicht wenigstens in ihrem eigenen Bett?

Ein Galgen baumelte über ihr. Krankenhaus, dachte sie, und hasste diesen Ort. Sie war wieder bei Sinnen. Kein Grund, sie weiter hier zu behalten. Ihr steirischer Sturkopf hatte schon schlimmere Attacken ausgehalten.

Zeit zu gehen.

»Frau Stark? Hallo? Können Sie mich hören?«

Ein neues Gesicht. Lang, schmal, bleich. Es blieb vor Willas Augen bestehen, wurde konturierter, klarer.

Ich muss hier raus, sofort. Ich kann kaum atmen. Ich will wissen, warum ich in einem Krankenhaus bin.

Willa versuchte die Hände zu heben. Ein einziger Finger gehorchte ihr. Sie begann mit den Augen zu rollen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

»Ganz ruhig. Ganz ruhig, Frau Stark. Ich hole Hilfe.«

Sie sah einen massigen Körper, der sich über sie beugte und der überhaupt nicht zu dem schmalen Kopf passen wollte. Hände legten sich auf ihre Oberarme.

»Gleich kommt ein Arzt. Bitte, verhalten Sie sich ruhig.«

Nichts hiervon gefiel Willa. Aber sie hatte nicht die Kraft, sich zur Wehr zu setzen.

Sie hörte, wie sich eine Tür öffnete.

»Sie haben geklingelt?« Eine Frauenstimme.

»Frau Stark ist wach.«

Noch jemand kam dazu. Andere Finger berührten sie.

Holt das Scheißzeug aus meinem Hals, aus meiner Nase, von meinem Gesicht, wollte sie rufen, aber nur ein Gurgeln entwich.

»Dr. Kolb wird in wenigen Augenblicken hier sein.«

Die zweite Gestalt verschwand. Die Tür fiel zurück ins Schloss.

»Haben Sie gehört, Frau Stark, der Arzt ist auf dem Weg.«

Das schmale Gesicht mit dem massigen Körper setzte sich auf die Bettkante. Immer noch konnte Willa nicht sagen, ob die Person männlich oder weiblich war. Nur, dass sie grün gekleidet war. Willa war zurück in der Welt der Farben.

Sie versuchte erneut, mit beiden Händen nach oben zu greifen, sie wollte sich an dem Galgen festkrallen, sich hoch zum Sitzen ziehen. Ihre Muskeln gehorchten ihr nicht. Die Welt begann sich zu drehen, ein Kreisel, der ihr Übelkeit verursachte.

»Warten Sie, Frau Stark. Bitte.«

Willa gab vorerst auf.

Die grüne Person seufzte erleichtert, dann trat Stille ein. Nein, nicht ganz. Willa hörte ein stetiges Piepen, ein leises Schnauben und eine Art Klacken, als würden ihre Lebenssekunden heruntergezählt.

Jetzt erst bemerkte sie die Schläuche über ihrem Gesicht, die über das Bett zu einer Maschine führten. Von der kamen die Geräusche.

Sakra, verdammt und Gott im Himmel – was war ihr geschehen?

II Rückenschwimmen

8

Zwei Hände strecken sich nach vorne.

Es sind nur diese Hände, die sie sehen kann. Die Finger sind geschlossen, fest geschlossen. Sie krümmen sich, wie zu Fäusten, aber nicht um zuzuschlagen, sondern um etwas festzuhalten. Sich an etwas festzukrallen.

Dieses Etwas ist ein Kissen.

Oder ein Polster, wie man bei ihr zu Hause sagt. Doch sie ist schon lange weit weg von ihrer Heimat, oft einsam, aber nie so sehr, dass sie ganz zurückkehren will.

Deshalb bleibt sie bei Kissen.

Weiß ist es, wie alle Bettwäsche hier. Weiß und sauber. Gebügelt. Nicht weichgespült, weil man nie wissen kann, ob nicht einer der Patienten eine Allergie hat gegen die Chemikalien, die den Stoff weich machen sollen. Das Bügeln reicht. Der heiße Druck auf die Wäsche macht sie geschmeidig.

Sie mag dieses Weiß.

Nein, sie mochte es. Bis zu dem Moment, in dem sie den Blick zur angelehnten Tür gewendet und das erhobene Kissen gesehen hat.

Sie mag, nein, sie mochte auch Hände. Hände, die streicheln, die zärtlich umspielen können. Die tätig sind, fleißig ihren Dienst tun. Wenn nötig zupacken können, sich nicht sträuben, Kranke und alte Menschen zu berühren. Hände, an diesem Ort oft umhüllt von Latex. Noch lieber als umhüllte Haut, spürt sie die bloße Berührung.

Die Hände, die sie durch den Türspalt sehen kann, scheinen ebenfalls frei von einer Hülle zu sein, bloß und nackt. Rosa, an manchen Stellen braune Flecken, Muttermale. Die Fingerknöchel werden jetzt heller als die umgebende Haut. Zu wem gehören sie?

Sie widersteht dem Impuls, gegen die Tür zu stoßen, zu treten, sie aufzureißen, vielleicht mit einem wütenden Schrei: Was machen Sie da? Wer sind Sie?

Bevor ihr Hirn den Impuls einer körperlichen Aktion über die Nervenbahnen zu ihren Muskeln, ihrem Kehlkopf, ihren Stimmbändern schickt, senken sich in ihrem Blickfeld Kissen und Hände. Gehen nach unten zu dem Gesicht des Menschen, der im Krankenbett ruht.

Den gesamten oberen Teil des Bettes kann sie einsehen. Ein Kissen gibt es auch hier, auf dem der Kopf ruht. Dazu der Hals, die eine Schulter, der eine Oberarm, der auf halber Strecke unter der weißen Decke verschwindet. Sie betrachtet das seitliche Profil. Das eine Auge, das sie erkennt, ist geschlossen. Eine von Falten durchzogene Wange. Ein Mundwinkel, tiefhängend. Lippen, die eingefallen sind ohne Gebiss. Ein erschlaffter Kinnlappen, der in einen dünnen Krähenhals übergeht.

Es ist ein Mann in seinen späten Jahren.

In der winzigen Zeitspanne, die es braucht, das Kissen auf das Gesicht zu senken, kann sie den Greis erkennen.

 

Ludwig Kritzel.

Der Name schießt ihr durch den Kopf. Der leicht senile Herr Kritzel mit seinem schmerzenden Knie. Seine Tochter wohnt in Berlin, ruft aber jeden Tag an, hat er ihr erzählt. Vom Krieg hat er berichtet, von seiner verstorbenen Frau und angeblichem Geld unter seiner Matratze. Hätte sie ihm das glauben sollen?

Vor drei Monaten ist er Sechsundneunzig geworden.

Genau an seinen Geburtstag hatte er Pech und rutschte in seiner Küche aus. Infolge des Sturzes wurde er eingeliefert. Zwei Wochen war er Patient, dann durfte er zurück in sein kleines Appartement im betreuten Wohnen in Saarlouis. Eine Operation und Wiederaufnahme in die Klinik wurden erst jetzt vonnöten. Doch Dr. Stolz hat beschlossen, mit der OP zu warten, denn seit gestern geht es Herrn Kritzel nicht gut. Er fühlt sich elend, schwach, atemlos. Es hätte sie nicht gewundert, wenn sie von seinem Versterben vor der OP erfahren hätte.

Wenn sie allerdings nun vom Tod des Herrn Kritzel hören würde, stünde das Bild des sich senkenden Kissen zwischen ihr und der Tatsache, dass sie bis jetzt nichts unternommen hat.

Denn ein Verbrechen, das ist es, was hier geschieht, von dem sie Zeuge wird. Mitten am Tag, bei unverschlossener Tür wird ein Patient ermordet. Kann das möglich sein?

Ihr Mund geht auf und bleibt offen stehen.

Die Hände sind unten. Mit ihnen das Kissen.

Nicht fürsorglich, nicht hilfsbereit. Das Weiß der Fingerknöchel breitet sich über die Handrücken aus.

Das Gesicht verschwindet unter dem Kissen.

Jetzt! Jetzt musst’ was tun. Jesus, Maria und Josef. Mach’ was, dumme Kuh!

Sie hebt jedoch nicht die Hand, um die Tür weiter aufzustoßen. Sie ruft nicht.

Sie dreht sich. Auf dem Absatz. Um.

Setzt einen Fuß vor den anderen. Leise. Vorsichtig. Bewegt sich Schritt für Schritt weiter. Weg vom Ort des Geschehens.

Mittig sind die Besuchertoiletten. Dort geht sie hinein. Immer noch mit größter Vorsicht, als wäre der Boden unter ihr vermint. Sie wählt die hinterste Kabine. Dann kniet sie sich vor die Schüssel und übergibt sich.

9

»Ludwig Kritzel?«

Nicole musste fragen.

Es waren zwanzig Minuten seit ihrer Beobachtung vergangen. Sie hatte sich nicht getraut noch einmal am Zimmer des Patienten vorbeizugehen. Aber in ihrem Hals steckte immer noch ein Kloß und zwischen ihren Zähnen der Geschmack vom Erbrochenen, obwohl sie sich den Mund mit viel Wasser ausgespült hatte.

»Was soll mit ihm sein?«

Oberschwester Edda Leistenberger hob eine Augenbraue. Wie meistens wirkte sie gestresst und strahlte eine Unzufriedenheit aus. Oder Nicole fühlte sich zu schnell angegriffen, wie ihre Kolleginnen ihr öfter vorwarfen, und legte jede Reaktion auf die Goldwaage.

»Geht es Herrn Kritzel gut?«

»Was für eine Frage. Du warst doch zur Visite heute Vormittag eingeteilt.«

»Nein.«

»Hat Dr. Schmitz zu dir etwas gesagt, bevor er weggefahren ist?«

»Nein.«

»Was gibt es also Wichtiges, Frau Seidl?«

»Nichts, Edda. Ich wollte nur–«

Sie konnte nicht zu Ende sprechen. Ich wollte nur wissen, ob der alte Herr ermordet worden ist? Doch das war keine Frage, die man im Vorbeigehen seiner Vorgesetzten stellte.

»Was ist denn nun, Nicole, mit dem Patienten?«

»Nichts. Alles gut.«

Edda Leistenberger bedachte die Krankenschwester mit einem bösen Blick, bevor sie sie stehen ließ und weiterhetzte. Ihre Schuhsohlen qietschen leicht auf dem Marmorboden im Klinikflur. Wieder einmal fühlte sich Nicole ungerecht behandelt. Hatte Edda nicht für die anderen Schwestern und Pfleger immer ein offenes Ohr?

»Und, Nikki, nix zu tun?«

Nicole stieß einen leisen Schrei aus, als sie die Stimme in den Rücken traf.

»Bist du aber schreckhaft heute.«

Marvin, einer der Pfleger, war hinter ihr aufgetaucht. Wie meistens war er guter Laune. »Na, Nikki? Bist du ein ›Wasserl‹?«

»Ach geh!«

Obwohl sie es nicht mochte, dass jemand ihren Heimatdialekt imitierte, musste sie lächeln.

»Und nein, Marvin, ein Waserl bin ich nicht. Nur etwas aufgewühlt. Außerdem hast du es falsch ausgesprochen. Waserl…«

Er zuckte mit den Schultern. »Egal.«

»Edda ist heute wieder ätzend: Was gibt es also Wichtiges, Frau Seidl?« Nicole äffte ihre Vorgesetzte nach. »Ich hasse es, wenn Sie einen von uns beim Nachnamen anspricht. Man hat das Gefühl, sie hält sich für etwas Besserer.«

»Lass Edda in Ruhe. Sie hat einen harten Job.« Pfleger Marvin nahm die Oberschwester in Schutz. »Und eine harte Zeit im Privaten.«

Nicole wusste leider wenig über Edda Leistenbergers Privatleben. Gerne hätte sie Marvin dazu ausgefragt, aber der junge Mann setzte sich bereits wieder in Bewegung.

»Waserl!«, rief er Nikki noch zu. »Jetzt stimmt es aber.«

Sie überlegte, aber ihr wollte kein einziger Ausdruck auf Saarländisch einfallen, mit dem sie ihn hätte zurücknecken können. Dazu lebte sie erst zu kurz in dem Bundesland. Stattdessen suchte sie diesmal die Personaltoilette hinter dem Schwesternzimmer auf. Sie schloss sich in der Kabine ein und setzte sich auf den geschlossenen Deckel.

Hatte sie sich vorhin geirrt? Etwas gesehen und falsch interpretiert? Sie kannte sich und ihre Vorliebe zu Geschichten und Übertreibungen. Der Hang, zu jeder Story, die sie über andere erfuhr, eigens erfundene Ausschmückungen hinzuzufügen, hatte ihr auch hier schnell den Ruf einer Tratsche eingebracht.

Aber diesmal war doch alles echt gewesen. Bei dieser grauenhaften Beobachtung brauchte es keine ihrer Zugaben. Oder?

Das Gefühl der Einsamkeit kam hoch. Wie ein ungebetener Besucher, der sich täglich mehrfach blicken ließ. So gerne hätte sie mit jemanden darüber gesprochen, aber außer losen Bekanntschaften gab es in Saarbrücken und an ihrer neuen Arbeitsstelle in der Klinik niemanden, dem sie sich anvertrauen wollte. Nicht, dass es bei ihrem vorherigen Job im Evangelischen Krankenhaus in Köln anders gewesen wäre. Auch aus ihrer Heimat Österreich waren ihr nur lockere Kontakte geblieben.

Wer trug daran die Schuld? Alle. Und niemand. Sie selbst? Das Schicksal vielleicht. Das Leben war ungerecht, aber es war das einzige, das ein Mensch hatte. Guter Spruch, den sie in einer der Klatschzeitschriften gelesen hatte.

Nicole legte beide Hände aufs Gesicht und beugte sich vor. In der Dunkelheit der Handflächen ließ sie vor ihrem inneren Auge das Geschehen im Krankenzimmer noch einmal Revue passieren. An dem Punkt, an dem sich das Kissen auf Ludwig Kritzels Gesicht gesenkt hatte, hielt sie inne.

Nein, stopp. Sie hatte sich geirrt. Definitiv.

Ihr Gehirn war durch die vielen TV-Krimis, die sie sich leidenschaftlich gerne ansah, auf ein mögliches Verbrechen programmiert. Sie hatte den Ablauf einfach weitergesponnen. Das war die Erklärung. Wie damals, als sie sich sicher gewesen war, dass ein Einbruch in ihrer Wohnung stattgefunden hatte, obwohl es keine Spuren davon gegeben hatte und nichts fehlte. Oder vor einer Woche, als sie gedacht hatte, dass sie jemand abends auf dem Nachhauseweg verfolgen würde. Nichts davon war wahr gewesen.

Zeit, den Dienst wieder aufzunehmen.

Ein Lächeln kam über ihre Lippen.

Eines bliebt ihr immer. Die Fürsorge für die Patienten. Ihre Arbeit mochte sie. Zu Hundertprozent. Im Dienst an den Kranken war sie wichtig, konnte sie sich mit anderen austauschen. Durch ihre Leistung wurde sie ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft. Das Helfen war ihr in Fleisch und Blut übergegangen.

Schon als kleines Mädchen, als sie zu früh die Verantwortung für ihren alkoholkranken Vater übernommen hatte. Nicht Mama, die hatte nur geweint oder geschimpft. Nicole hatte Papa zur Seite gestanden und dabei geholfen, seine Sucht vor anderen zu verbergen. Selbst nach seinem Tod hatte sie die Legende eines Krebsleidens aufrecht erhalten und damit seine Reputation gerettet. Doch jetzt war nicht die Zeit, über ihre schwierige Kindheit nachzudenken.

Nicole stand auf, betätigte automatisch die Spülung.

Vielleicht würde sie im Schwesternzimmer auf jemanden treffen, mit dem sie über Oberschwester Leistenberger ablästern konnte. Damit würde sie sich besser fühlen.

Kaum aus der Toilette, sah sie Marvin den Krankenhausgang entlanglaufen. Er überholte zwei ältere Patienten, die mit Rollatoren ihre Runden drehten.

»Wohin so eilig?«

Er hielt mitten im Schritt inne. Sein Oberkörper bewegte sich weiter nach vorne, dass es aussah, als würde er einen Diener machen. Nicole lachte.

»Nikki, hast du es nicht gehört?«

»Was denn? Dass du vor Edda davonrennst?«

Er sah sie irritiert an. »Keine Ahnung, wovon du redest. Aber ein Patient ist gestorben. Der nette Herr Kritzel.«

»Ludwig Kritzel?«

»Genau.«

»Oh Gott.« In Nicoles Ohren entstand ein hoher singender Ton. »Weißt du, woran er gestorben ist, Marvin?«

»Nö. Vielleicht ein Herzstillstand. Es ging ihm die Tage doch schon nicht gut.«

Marvin setzte seinen Lauf fort.

Nicole wurde wieder übel. Sie stolperte in die entgegengesetzte Richtung, erneut auf die Personaltoilette. Aber in ihrem Magen gab es nichts mehr, was noch hochkommen konnte.

Am Waschbecken sah sie ihr Gesicht im Spiegel. Rund und mit Sommersprossen auf den Wangen. Dazu ihr rotblondes Haar und den leichten Ansatz zum Doppelkinn. Sie sah aus wie immer. Ein leichter Schatten zeigte sich unter den Augen, kaum wahrnehmbar. Nicole stieß einen langen Seufzer aus.

Ludwig Kritzel war tatsächlich tot. Herzstillstand?

Lachhaft. Sie wusste es besser. Der alte Mann war unter einem Kissen erstickt. Die Leichenschau würde es bestätigen. Nikki setzte alle Hoffnung in Dr. Schmitz, einen der beiden Klinikleiter. Wenn er zurückkam, würde er sich der Sache annehmen. Bado Schmitz. Er war kompetent und liebenswürdig und sie schwärmte schon länger für ihn. Wenn sie sich in Tagträumen verlor, war er der neue Mann an ihrer Seite.

Sie stoppte diesen Gedanken. Ein zweiter drängte sich in den Vordergrund. Was, wenn später auch ihm nicht auffiel, dass Ludwig Kritzels Sterben kein natürliches Dahinscheiden war? Bei einem Mann in seinem hohen Alter war der Tod ein ständiger Begleiter und überraschte niemanden.

Dann gehst’ zur Polizei.

Eine Stimme in Nicoles Kopf. In ihrem Heimatdialekt.

Nein. Denn dann werde ich noch einsamer sein.

Hör auf zu jammern, du Vaserl. Du gehst.

»Ja«, Nikki sprach zu ihrem Spiegelbild. Sie sah, wie sich ihre Lippen öffneten und wieder schlossen.

Versprochen?

»Versprochen.«