Schrottreif

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Donnerstag, 1. Woche

1. Teil

Zita Elmer nahm Valeries Anzeige entgegen. Sehr viel konnte sie nicht tun. Sie würde abklären, ob anderswo in der Stadt in der letzten Zeit weitere Anzeigen wegen ähnlicher Belästigungen eingegangen waren, und das Paket würde sie beim Technischen Dienst auf Fingerabdrücke und andere Spuren untersuchen lassen. Vielleicht konnte man auch herausbekommen, wo der Fisch herkam.

»Früher, als es noch keine Computer gab, wurden anonyme Briefe so zusammengebastelt. Heute könnte man sie einfach tippen. Vielleicht stammt der Schrieb von einer älteren Person, die nicht mit einem Computer umzugehen weiß, überlegte sie. Haben Sie eine Ahnung, wer Ihnen bös will?«

»Darüber habe ich mir wirklich den Kopf zerbrochen«, seufzte Valerie, »aber ich kann es mir nicht vorstellen. Natürlich gibt es ab und zu mal Kunden, die unzufrieden sind und sich beschweren. Und vor ein paar Wochen hatte ich eine kurze Affäre mit einem Mann, der es mir übel nahm, als ich nichts weiter von ihm wollte. Aber das sind alles keine Gründe für eine solche Bosheit.«

»Geben Sie mir trotzdem den Namen jenes Mannes und der Kunden, mit denen Sie in letzter Zeit Auseinandersetzungen hatten.«

Valerie gestand, von jenem Mann nur den Vornamen zu kennen, was ihr ein bisschen peinlich war. »Krach hatte ich kürzlich mit einer Kundin, Angela Legler. Aber ich bin praktisch sicher, dass die Stimme am Telefon einem Mann gehört hat. Und ich kann sie mir auch nicht beim Basteln eines solchen Briefs vorstellen.«

Zita Elmer gab Valerie ihre private Handynummer. »Unter Polizeischutz können wir Sie nicht stellen«, entschuldigte sie sich.

Valerie wehrte ab. »Das will ich auch gar nicht, das brauche ich nicht. Ich käme mir ja komisch vor mit einem Bodyguard.« Es gelang ihr ein Lächeln, auch wenn es etwas verrutscht aussah.

»Sie können mich jederzeit auch außerhalb meiner Dienstzeiten anrufen, wenn wieder etwas geschieht.«

»Danke.« Valerie ging zum FahrGut hinüber und Zita Elmer bestellte einen Kurier, der das unappetitliche Fischpaket zur Untersuchung bringen würde.

Valerie war etwas knapp dran, Markus war schon da. »Guck mal, was ich da gefunden habe. Lag am Boden bei der hinteren Türe.«

Es war ein schmuddliger Briefumschlag, mit Druckbuchstaben beschriftet mit ›Valerie Gut‹. Valerie wurde rot und nahm ihn Markus aus der Hand. Schnell ging sie ins Büro hinunter. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihre Angestellten etwas von den Bedrohungen erfuhren. Sie riss den Umschlag auf. ›Tote Fische schwimmen mit dem Strohm‹, stand da. Wieder ausgeschnittene, auf den Bogen geklebte Buchstaben. Ein völlig sinnloser Satz. Es ging offensichtlich nur um die ersten beiden Wörter. Der Rechtschreibfehler mochte etwas zu bedeuten haben oder auch nicht. Am meisten erschütterte Valerie, dass der Unbekannte sie auch in ihrem Geschäft verfolgte. Sie schob den Papierbogen in den Umschlag zurück. Mittags würde sie ihn Zita Elmer bringen. Für den Moment wollte sie sich zwingen, nicht mehr daran zu denken, sondern sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Valerie rief Luís zu sich. Seppli schlief im Büro neben dem Ofen, vermutlich träumte er, denn seine Beine bewegten sich und er gab kleine, aufgeregte Laute von sich. Vielleicht jagte er im Traum über eine grüne Wiese und erlebte große Abenteuer. Luís warf ein Blick hinüber und kicherte, dann konzentrierte er sich wieder auf das Velo vor ihm. Valerie hatte einen Stapel hellgelber Post-it-Zettelchen in der Hand, jedes mit einem Wort beschriftet. ›Speiche‹, ›Bremskabel‹, ›Rücklicht‹ und Ähnliches stand darauf. Sie gab Luís eines nach dem anderen; er las die Aufschrift laut vor und klebte das Zettelchen an die richtige Stelle des Rads. ›Gangschaltung‹. Ein schwieriges Wort. Lang. Kaum auszusprechen. Und was bezeichnete es schon wieder?

»Schau dir zunächst nur den ersten Teil des Wortes an«, gab ihm Valerie einen Tipp.

Gang, klar, ging Luís auf.

»Und was machst du, wenn du nicht mehr im fünften, sondern im sechsten Gang fahren willst?«

Richtig, schalten. Und das Ding, mit dem man das bewerkstelligte, war eben – die Gangschaltung.

Sie ging mit ihrem Anlehrling nach oben, griff sich ein Rad, an dem die Gangschaltung repariert werden musste, und begann, Luís am Objekt zu erklären, wo das Problem lag und wie es anzugehen war.

Die Ladenglocke ertönte und aus dem Augenwinkel sah Valerie, dass Hugo Tschudi seine alte Mühle in den Laden schob. Wehe, wenn heute Abend wieder etwas fehlt, drohte sie in Gedanken gereizt.

Markus kümmerte sich sogleich um ihn; zusammen beugten sie sich über das Fahrrad. Der Mechaniker holte einen Schraubenzieher, es war offenbar nur eine lockere Schraube anzuziehen. Valerie nervte es besonders, dass Hugo mit Problemen ankam, die er selbst hätte beheben können. Wenn er auf dem Fahrrad durch Lateinamerika gefahren war, wie er regelmäßig erzählte, musste er wohl imstande sein, eine Schraube an seinem Velo festzudrehen.

»Also, bis Samstag«, hörte sie Hugo zu Markus sagen. So, dachte sie, gleich wieder verärgert, die treffen sich also in der Freizeit. Es ging sie ja nichts an, aber ihr Unmut blieb. Sie hatte in der letzten Zeit eine Abneigung gegen Hugo entwickelt, was vermutlich ungerecht war, wie sie sich eingestehen musste. Auf den ersten Blick wirkte er ein wenig eigen, ein bisschen schrullig, vielleicht etwas lästig, jedoch harmlos. Aber mit der Zeit hatte Valerie ab und zu Blicke von ihm aufgefangen, die ihr nicht gefallen hatten. Kühl, hochmütig, spöttisch. Sie konnten einen unbeholfenen Kunden treffen oder Luís, wenn er Schweizerdeutsch sprechende Kundschaft nicht verstand, oder auch sie selbst, vor allem, wenn sie von irgendetwas genervt war, zum Beispiel von einem komplizierten Kunden, und es sich nicht anmerken lassen wollte. Hugo schien es zu merken – und zu genießen. Es begann sie zu stören, dass er regelmäßig im FahrGut herumlungerte, und sie überließ es meist Markus, sich mit ihm herumzuschlagen. Möglicherweise war das keine gute Idee gewesen. Hugo zu ›ermorden‹ hatte natürlich nichts genützt, der kam sowieso, ob er nun den halbjährlichen Versand bekam oder nicht. Die teuren Neuheiten, die in den Prospekten vorgestellt wurden, konnte er sich ohnehin nicht leisten. Aber immerhin erhielt er keinen Gutschein mehr, mit dem er zehn Prozent auf einen Winterservice erhalten hätte. Das hätte gerade noch gefehlt. Ob er vielleicht – nein, das traute Valerie ihm denn doch nicht zu, dass er auf solche Gemeinheiten kam.

Sie sah auf. Tschudi war ja immer noch da. Er stand neben ihr, schaute auf sie herunter.

»Und wie gehts der Frau Chefin?«, erkundigte er sich mit gespielter Ehrerbietung. »Viel Ärger im Geschäft wie meistens?«

Valerie nahm sich zusammen. »Danke«, antwortete sie kurz, »mir gehts bestens.« Nur nicht provozieren lassen, ermahnte sie sich. Und fügte doch etwas bissig hinzu: »Wir haben günstige Schraubenzieher im Sortiment. Natürlich nur, falls Sie den Ehrgeiz haben sollten, zu lernen, selbst eine lockere Schraube anzuziehen.«

»Wollen Sie damit sagen, bei mir sei eine Schraube locker?«, fragte Tschudi heiter zurück. »Dann wäre ich bei Ihnen ja an der richtigen Adresse.«

Valerie hatte nicht die geringste Lust auf ein Wortgeplänkel. »Ich bin dabei zu arbeiten«, würgte sie das Gespräch ab. »Und normalerweise kosten Reparaturen bei uns etwas.«

»Ja«, gab er verächtlich zurück. »Der heilige Kommerzius ist auch der Schutzpatron dieses Ladens. Da kann man so alternativ tun, wie man will, letztlich ist man doch die Chefin, die scheffelt. Ciao.«

Tschudi ging. Markus warf ihr einen Blick zu. Scheffeln, dachte Valerie, wider Willen amüsiert. Was der sich wohl vorstellt? Sie konnte gut leben vom Geschäft, in den letzten Jahren war es stetig bergauf gegangen. Aber das richtige Business, um reich zu werden, war die Fahrradbranche mit Sicherheit nicht. Für Tschudi, diesen Moralisten, war man wohl schon eine Kapitalistin erster Güte, wenn man es auf mehr als das Existenzminimum brachte. Na ja, es lohnte sich nicht, viele Gedanken an Hugo Tschudi zu verschwenden.

Valerie ließ Luís einen platten Reifen flicken und ging ins Büro hinunter. Der Hund hob seinen verstrubbelten Kopf und gähnte. »Faultier«, murmelte sie und tätschelte ihn. Aber er sprang, erfrischt vom Morgenschläfchen, auf, alles andere als ein Faultier, und schaute sie erwartungsvoll an. Valerie sah auf die Uhr. »In einer halben Stunde ist Mittagspause, dann gehen wir zusammen raus, okay?«

2. Teil

Als Erstes brachte sie mittags den anonymen Wisch zum Polizeiposten. Elmer studierte die Botschaft. »Scheint keinen Sinn zu ergeben. Da ist nur die Verbindung mit dem toten Fisch. Es sei denn, der Täter ist der Meinung, dass Sie gegen den Strom schwimmen. Könnte sich auf Ihren Beruf beziehen. Aber das hilft uns nicht weiter. Vielleicht ist es schlicht ein Psychopath, der Ihnen einen toten Fisch schickte, weil der leichter aufzutreiben ist als ein Kalbskopf. – Entschuldigung«. Valerie war zusammengezuckt. »Ich werde auch dieses Papier auf Spuren untersuchen lassen. Einstweilen bitte ich Sie, die Sache nicht zu sehr auf die leichte Schulter zu nehmen. Passen Sie auf sich auf.«

Na, vielen Dank, dachte Valerie etwas unzufrieden, als sie davonzog. Sie drehte mit dem Hund eine Runde im Quartier. Seppli schnupperte hingebungsvoll an einem undefinierbaren Fleck auf dem Asphalt. Valerie ließ ihn gewähren. Sie hatte es nicht eilig, sie wollte auch nicht nachdenken, sondern für eine halbe Stunde so tun, als wäre es ein ganz normaler Tag, ein Spaziergang wie jeder andere. In diesem Viertel gab es zum Teil verkehrsberuhigte Straßen mit älteren Mietshäusern, Genossenschaftsgebäuden mit günstigen Wohnungen für Familien mit kleineren Einkommen, für alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern, Wohngemeinschaften, ältere Leute mit kleiner Rente. Es war ein eher ruhiges Viertel, zwar mit gemischter Bevölkerung, aber ohne angesagte Bars und Szenetreffpunkte. Die verschiedenen Gemeinschaften pflegten wenig Kontakt. Die orthodoxen Juden blieben für sich, die muslimischen Familien aus den Balkanländern und der Türkei ebenfalls und die Schweizer guckten wohl den Frauen mit Kopftüchern und langen Regenmänteln oder den Männern mit den Zapfenlocken ein bisschen skeptisch nach, kümmerten sich aber um ihre eigenen Angelegenheiten.

 

Gut drei Jahre war Seppli nun bei Valerie. In ihrem Bekanntenkreis waren eher Katzen die angesagten Haustiere. Hunde, behaupteten ihre Freunde, seien eher etwas für einsame alte Leute, vielleicht für Familien, bei denen es neben zwei unordentlichen Kindern auf einen Hund nicht mehr ankam, oder für die Hundesportler, die ihre belgischen Schäfer militärisch dressierten. Zu guter Letzt gab es noch die Zuhältertypen und verantwortungslosen jungen Loser, die ihr Image mit einem Kampfhund aufpeppten, den sie nicht im Griff hatten. Aber Valerie mochte Katzen nicht. So sehr auch ihre Bekannten das Loblied auf die Unabhängigkeit und Eigenwilligkeit ihrer Katzen sangen und dies geringschätzig der Unterwürfigkeit und Unselbstständigkeit von Hunden gegenüberstellten, sie mochte diese Tiere einfach nicht und solche Charakteranalysen fand sie schlicht dumm.

Sie hatte sich ihren Hund aus einem Tierheim geholt. Was für eine Mischung er war, wurde nicht klar, auch seine Geschichte blieb im Dunkeln. Jedenfalls war er eine Zeit lang obdachlos gewesen und sehr geschickt im Organisieren von Futter. Leider, dachte Valerie seufzend, hatte er diese Eigenschaft bis jetzt nicht abgelegt, obwohl zuverlässig jeden Morgen ein gefüllter Fressnapf vor ihn hingestellt wurde. Die ersten Wochen mit ihm waren nicht einfach gewesen. Er war zwar stubenrein, gutartig und bellte nicht oft, hatte aber ein unerschöpfliches Kontakt- und Kommunikationsbedürfnis. Valerie lebte zu diesem Zeitpunkt seit einem Jahr allein, und zwar gerne. Und sie merkte mit einem leichten Erschrecken, dass sie jetzt nie mehr wirklich allein sein würde. Egal, was sie tat, stets waren zwei große Augen auf sie gerichtet. Wenn sie ins Bad ging, setzte sich der Hund dicht vor die Tür und wimmerte. Wenn sie nach drei Minuten wieder herauskam, war seine Freude einfach zu groß für den banalen Anlass. Nach ein paar Tagen ertappte sie sich bei dem Gedanken, dass sie gerne wieder einmal einen Abend für sich hätte. Aber mit der Zeit hatte man sich aneinander gewöhnt. Seppli gehörte zum Laden und auf beiläufig angenehme Art zu ihrem Leben.

Sie zog den Hund energisch weg von dem interessanten Fleck auf der Straße und bog mit ihm um die Ecke. Es war die Straße, in der ihr Konkurrent Paul Schiesser seinen Laden hatte. Schiesser konnte sie nicht leiden. Valeries Vater und er hatten jahrzehntelang in einer distanzierten Koexistenz gelebt, keiner grub dem anderen groß das Wasser ab. Valerie hatte ihn als Kind gekannt und er war damals nett zu ihr gewesen. Aber der frische Wind, den die erwachsene Valerie ins Business brachte, schreckte Schiesser auf. Als das größere Ladenlokal an der Schmiede Wiedikon ausgeschrieben gewesen war, hatten sich beide beworben. Valerie hatte den Zuschlag erhalten. Sie konnte es Schiesser also nicht verdenken, dass er nicht gut auf sie zu sprechen war. Sie wusste, dass er bei Lieferanten und Konkurrenten über sie lästerte. Er hatte die Entwicklung im Velobusiness einfach verschlafen, während Valerie genau im richtigen Moment ins Geschäft eingestiegen war und ihre Chancen genutzt hatte. Man grüßte sich knapp, wenn man sich zufällig traf.

Valerie wechselte die Straßenseite, sie musste ja nicht gerade an seinem – übrigens schlecht dekorierten – Schaufenster vorbeistolzieren. Der Mann hatte keine Ahnung von Gestaltung. Er hatte offenbar sein halbes Lager im Schaufenster aufgetürmt, damit die Kunden sahen, was bei ihm alles im Angebot war. Mit dem Resultat, dass man gar nichts wahrnahm, nicht mal Lust hatte, einen zweiten Blick zu riskieren.

Aber nun sah Valerie doch genauer hin. Denn die Ladentür wurde aufgerissen und sie hörte Schiesser laut und wütend, mit sich fast überschlagender Stimme brüllen: »Hauen Sie bloß ab und lassen Sie sich hier nie wieder blicken!«

Aus seinem Geschäft stürzte Hugo Tschudi. Was, hier verkehrt der auch?, wunderte sie sich. Dann sah sie Hugos Gesicht. Sein überlegenes, verschlagenes Lächeln. Sie ging rasch weiter. Womit hatte Tschudi Schiesser wohl so in Rage gebracht? Jedenfalls, daran zweifelte Valerie nicht, hatte er es genossen. Nein, dachte sie, Hugo Tschudi war nicht nur ein eigenbrötlerischer Mensch, er war ein sehr unsympathischer Mensch, der in ihr Unbehagen auslöste. War er darüber hinaus ein Dieb? Sie wünschte, er würde FahrGut und ebenso ihren Mechaniker in Ruhe lassen. Ihn einfach ein für alle Mal rauswerfen konnte sie nicht, dafür hatte sie keinen handfesten Grund und dafür war auch der Streit mit Angela Legler noch nicht lange genug her. Die Sache lag ihr ein wenig im Magen. Man hatte ja schließlich einen Ruf zu verlieren.

Valerie ging weiter. Eine Frau fuhr auf einem Rad an ihr vorbei. Angekoppelt war ein kleiner, mit durchsichtiger Folie bedeckter Anhänger, in dem ein kleines Kind saß. Der wurde bei mir gekauft, registrierte Valerie beiläufig. Aber sie hat dem Kind den Helm ja ganz falsch aufgesetzt. Sie erinnerte sich an eine SUVA-Werbung für Velohelme. Eine ganze Familie, alle mit Helmen ausgestattet – und jeder einzelne saß falsch. Hatte keinen Wert, sich darüber aufzuregen.

3. Teil

Die Ladenglocke ertönte, herein kam Frau Zweifel. Frau Zweifel fuhr nicht Velo. Sie war 80 Jahre alt. Sie wohnte im selben Haus, einen Stock über FahrGut. Valerie freute sich, sie zu sehen. Vor über 30 Jahren war sie bei ihr zur Schule gegangen. Frau Zweifel war im Quartier, im Ämtlerschulhaus, Primarlehrerin gewesen. Längst war sie pensioniert. Auch wenn sich das Quartier in den letzten Jahrzehnten stark verändert hatte, Leute weggezogen waren, andere sich hier niedergelassen hatten, kannte Salome Zweifel bis heute viele der Viertelbewohner. Einige hatten bei ihr lesen und schreiben gelernt. Nicht nur Valerie, auch ihr ungeliebter Kunde Hugo Tschudi, Angela Leglers Mann und sogar Paul Schiesser waren ihre Schüler gewesen. Sie wohnte in der eigenen Wohnung und dachte nicht daran, ins Altersheim zu ziehen. Zweimal pro Woche lieferte Pro Senectute Mahlzeiten, die Frau Zweifel nur aufzuwärmen brauchte; eine Putzfrau hielt die Wohnung sauber und bügelte, und wenn sie krank war, bestellte sie jemanden von der Spitex. Zudem hatte ihr Hausarzt, Doktor Hefti, seine Praxis im selben Haus. So kam sie sehr gut zurecht, obwohl ihr diese und jene Altersgebrechen zu schaffen machten. Aber im Kopf war sie völlig klar. Und dann gab es noch Raffaela, ihre Großnichte. Salome Zweifel war nie verheiratet gewesen und hatte keine Kinder. Aber Raffaela, die Enkelin ihres Bruders, schaute regelmäßig bei ihr vorbei.

»Guten Morgen«, grüßte sie, »haben Sie gerade viel zu tun?« Obwohl sie Valerie als Siebenjährige gekannt hatte, nahm sie es sich nicht heraus, sie zeitlebens zu duzen, und Valerie war ihr dankbar dafür.

»Nein«, erwiderte Valerie, »heute läuft nicht viel.« Sie hatte ein Rad in den Bock eingespannt, dessen Lenker sie auswechseln musste. Es war ein Citybike, das statt eines sportlichen Mountainbike-Lenkers einen bequemen Hollandlenker bekommen sollte. Sie rückte für Frau Zweifel einen Stuhl zurecht. »Ich freue mich, wenn Sie mir ein wenig Gesellschaft leisten.«

Markus und Luís waren im hinteren Teil der Werkstatt zugange. Frau Zweifel grüßte unsicher nach hinten. Luís lächelte, Markus reagierte nicht. Typisch, dachte Valerie genervt, dieser Stockfisch.

Valerie hatte eben eines der Bremskabel des Vorderrads mit einem Inbusschlüssel gelöst, nun griff sie nach einem Gabelschlüssel und machte sich am Schaltkabel des Hinterrads zu schaffen. »Wie läufts denn in Ihrem Kurs?«

»Gut«, gab Frau Zweifel Auskunft. »Das ist gar nicht so schwierig mit diesem Internet, wie ich gedacht hatte. Das war eine gute Idee von Raffaela.«

Valerie lachte. Sie kannte Frau Zweifels Großnichte nur flüchtig, denn Raffaela Zweifel war keine Radfahrerin. Sie war eine gut aussehende junge Frau Mitte 20. Typ Partygirl. Fröhlich, lebenslustig – und bewundernswert souverän auf ihren High Heels. Raffaela Zweifel, die in der Nähe als Sekretärin arbeitete, war weit davon entfernt, sich um ihre Großtante zu kümmern, indem sie sich mit ihr zum Kuchenessen traf. Das hätte sie zweifellos gelangweilt. Sie hatte sie dazu angestiftet, sich einen Laptop zu kaufen, und sie eifrig in dessen Benutzung eingeführt. ›Schreib deine Erinnerungen auf‹, hatte sie vorgeschlagen, ›Geschichten, wie es früher war.‹ Kurze Zeit später hatte sie ihr einen Internetanschluss eingerichtet und sie zu einem Internetkurs für Senioren angemeldet. Als Geschenk zum 80. Geburtstag. Das hatte die alte Frau zuerst etwas überrumpelt, aber dann hatte sie Gefallen daran gefunden.

Alle Achtung, dachte Valerie, während sie sich daranmachte, die Lenkergriffe zu entfernen. Sie fuhr mit einem dünnen Schraubenzieher unter den Gummi und sprühte etwas Kriechöl in den Spalt. Nun ließen sich die Griffe herunterschieben. Valerie wischte das Öl sorgfältig vom Lenker.

Sie hatte sich schon oft mit der alten Frau unterhalten und wusste, dass sie es faustdick hinter den Ohren hatte. In ihrer Jugend hätte sie gern Mathematik studiert, aber das Höchste, was ihr Vater ihr damals zugestanden hatte, war eine Ausbildung zur Primarlehrerin gewesen. Da hatte sie wenigstens mit Kindern zu tun. Was sie da lernte, konnte sie später bei den eigenen Kindern anwenden. Eigene Kinder hatte sie dann aber nicht. Aber sie unterrichtete gern. Kinder waren so lernfähig, sie lernten von Geburt an, egal ob sie versunken spielten, herumtobten, sich stritten, Fragen stellten oder etwas beobachteten. Sie lernten, weil sie wissen wollten, wie die Welt funktionierte, in der sie lebten. Man musste also so unterrichten, hatte die junge Lehrerin Salome Zweifel gefolgert, dass die Kinder das, was sie ihnen beibrachte, tatsächlich wissen wollten. Und sie hatte Erfolg. Wenn sie ihre Klassen nach drei Jahren an den Viert- bis Sechstklasslehrer abgab, waren sie mit dem Schulstoff regelmäßig weiter, als es der Lehrplan vorschrieb, vor allem im Rechnen. Natürlich änderten sich die didaktischen Methoden im Laufe der Jahrzehnte, aber Salome Zweifel hatte davon nur das übernommen, was ihr sinnvoll erschien. Wenn sie in der Zeitung las, dass immer mehr Leute auch nach acht Schuljahren nicht richtig lesen konnten, schüttelte sie nur den Kopf. Lesen war eine einfache Kulturtechnik. Auch ein nicht sehr gescheites Kind – oder wie man heute sagte, ein Kind aus bildungsfernem Elternhaus – konnte diese erlernen, das wusste sie aus langjähriger Erfahrung. Wenn das in acht Jahren nicht klappte, stimmte etwas mit der Schule ganz grundsätzlich nicht.

Neben dem Unterricht pflegte sie weiterhin ihre geheime Leidenschaft, die Mathematik. Sie verfolgte ihre Entwicklung aus der Distanz, las Artikel darüber auf der Seite Forschung und Technik der Neuen Zürcher Zeitung, verschlang Biografien von Mathematikern, verfolgte die Entstehung der Informatik. Besonders beeindruckte sie Heinz Rutishauser, Informatiker an der ETH, ein Pionier der Computerwissenschaften. Er war im gleichen Dorf aufgewachsen wie sie, war aber einige Jahre älter. Trotz dieser Interessen hatte Salome Zweifel eine Scheu vor den elektronischen Medien. Irgendwie schienen sie einer anderen Zeit anzugehören, in der sie, Salome, zwar lebte, aber mit der sie nicht so eng verbunden war wie mit früheren Zeiten. Die Pensionierung war ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben gewesen. Eigentlich hätte sie sich jetzt an der Universität immatrikulieren und Mathematik studieren können. Aber sie traute es sich nicht mehr zu. Ich werde alt, hatte sie gedacht, nein, ich bin alt, die Dinge überholen mich. Es hatte die junge, unbekümmerte Raffaela gebraucht, um sie aus dieser Unsicherheit und Resignation herauszuholen. ›Unsinn, Salome‹, hatte sie resolut erklärt, ›das muss man heutzutage können. Du auch. Und das schaffst du mit links.‹ Und die alte Frau stellte fest, dass sie zwar langsamer lernte, aber nicht so eingerostet war, wie sie gedacht hatte.

»Raffaela fürchtet, ich könnte mich langweilen, allein in der Wohnung«, erzählte sie nun Valerie. »Sie hat mir von diesen Chatrooms erzählt, in denen man Leute von überall her kennenlernen kann. Zum Beispiel pensionierte Lehrerinnen aus Australien. Oder Leute, die Anagramme basteln. Oder ich könnte im Internet kanadische Zeitungen lesen. Das hat mich natürlich schon interessiert, auch wenn es bald 50 Jahre her ist, seit ich in Kanada gelebt habe. Immerhin war ich zwei Jahre dort.«

 

»Waren Sie schon auf der Website von FahrGut?«, wollte Valerie wissen. Sie hängte die Brems- und Schaltkabel, die mit kleinen Köpfchen gesichert waren, aus der Bremse und der Gangschaltung aus. Dann hob sie den Lenker aus dessen Vorbau heraus.

»Ach, so weit bin ich bisher nicht. Wir haben im Kurs erst das mit diesen E-Mails gehabt. Das ist alles ein wenig verwirrend. Das Internet ist ja offenbar riesig. Wie finde ich denn Ihre Seite?«

Valerie erklärte es ihr.

»Ich habe jetzt immerhin eine E-Mail-Adresse«, erzählte Frau Zweifel, »und Raffaela schreibt mir täglich eine kurze Nachricht aus dem Büro. Sie ist wirklich ein liebes Mädchen. Auch wenn sie sich etwas verrückt anzieht. Sie hat diese Stelle nun schon länger als ein Jahr und ihr Chef ist offenbar sehr zufrieden mit ihr. – Ihre E-Mails beantworte ich natürlich. Das ist Ehrensache. Wenn ich täglich nachsehe, vergesse ich zudem mein Passwort nicht. Im Kurs haben sie uns gesagt, wir sollten es auswendig können und nicht notieren. Aber mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut.«

»Sie müssten eins wählen, das Sie sich gut merken können.« Valerie hatte den Mountainbike-Lenkervorbau, dessen Krümmung nach unten zeigte, aus dem Rahmen entfernt und setzte den neuen Vorbau, dessen Krümmung nach oben verlief, ein. Darauf kam der neue Lenker. Sie erzählte Frau Zweifel die Geschichte aus Umberto Ecos Roman ›Das Foucaultsche Pendel‹. Wie Casaubon am Computer des verschwundenen Jacopo Belbo sitzt und versucht, an dessen Dateien heranzukommen, obwohl er das Passwort nicht kennt. ›Hast du das Passwort?‹, fragt ihn der Computer höflich. Nach stundenlangen vergeblichen Versuchen ist Casaubon mit den Nerven völlig am Ende und er tippt wütend ›Nein‹ ein. Und siehe da, dieses Wort war das Passwort. Frau Zweifel lachte.

»Ja, so etwas Narrensicheres müsste ich auch haben. Eine Frage, die die Antwort enthält. Eine Eingabeaufforderung, die das Passwort beinhaltet. Ein passendes Wort.« Sie kicherte. Sie hatte Freude an Wortspielen, gleichermaßen gefielen ihr Valeries Werbeslogans, in denen sie mit ihrem Namen spielte. Früher hatte sie mit den Namen ihrer Bekannten und ihrer Schülerinnen und Schüler Anagramme ausgetüftelt.

Ihr würde schon was einfallen, dachte Valerie. Sie holte die neuen Brems- und Schaltkabel, die etwas länger waren als die alten.

Es war kurz nach 16 Uhr. Adele kam, wie oft auf dem Nachhauseweg von der Schule, auf einen Sprung vorbei. Valerie hätte sie gerne auf ihre Bemerkung vom Vortag angesprochen, aber dazu hätte sie mit ihr allein sein wollen. Frau Zweifel war gerade dabei, ihr zu erklären, dass sie sich Fotos, die sie mit ihrer Handykamera aufnahm, per MMS auf den Laptop schickte. Adele blickte sehnsüchtig auf das Handy. Ihre Eltern wollten nicht, dass sie eins hatte. Frau Zweifel hingegen besaß eines, weil ihre Nichte es ihr praktisch aufgedrängt hatte. ›Du musst eins haben‹, hatte sie bestimmt erklärt. ›Wenn du irgendwo hinfällst, mit deinen Schwindelanfällen, musst du dir Hilfe organisieren können.‹ Sie hatte ihr natürlich nicht das billigste gekauft, sondern eines, und das machte das Teil so spannend für Adele, mit dem man Fotos machen und sogar kurze Filme drehen konnte. Das hätte das Mädchen so gern ausprobiert. Sie wünschte sich eines zu ihrem Geburtstag, aber ihre Eltern machten ihr keine Hoffnungen.

»Warum schieben Sie die Fotos nicht per Kabel auf Ihren Laptop rüber?«, schlug Valerie vor. »Wäre doch einfacher und billiger als per MMS.« Von einer Rolle zwackte sie vier abgemessene Stücke Kabelhülle ab, schob nacheinander die zwei Bremskabel und die zwei Schaltkabel hinein und zog sie hindurch. Sie hängte oben die Kabelköpfchen ein und legte die Kabel entlang des Lenkervorbaus und des Rahmens nach unten.

»Ach, das funktioniert irgendwie nicht, Raffaela hat es versucht.« Frau Zweifel zuckte die Achseln. »Aber es geht auch so. Übrigens werde ich auf meine alten Tage noch Fotoreporterin.«

Fotoreporterin? Adele hörte gespannt zu.

»Schauen Sie, das haben sie im Kurs verteilt.« Sie kramte eine Broschüre aus ihrer Handtasche hervor und reichte sie Valerie. Ein Wettbewerb für Senioren. Vom Sozialamt organisiert. Seniorinnen und Senioren sehen ihr Quartier. »Kleine Reportagen mit Texten und Fotos des Quartiers, in dem man wohnt. Was meinen Sie, soll ich da mitmachen?«

»Klar!«, rief Valerie. »Sie leben doch schon so lange hier. Kennen das Quartier, die Leute, haben Erinnerungen, haben die Veränderungen miterlebt.« Sie befestigte die Kabel an den Bremsen und der Gangschaltung. Mit einem Inbusschlüssel drehte sie die feinen Schräubchen fest.

»Dürfte ich in Ihrem Geschäft Fotos machen?«

Valerie machte eine einladende Geste. »Jederzeit.« Sie löste das Fahrrad aus der Halterung, stellte es auf den Boden, ersetzte den schwarz übermalten Sticker durch einen neuen und schob es in den hinteren Werkstattbereich. Nun würde sie noch die Gangschaltung überprüfen und wahrscheinlich neu einstellen müssen.

Adele wusste, dass sie langsam nach Hause gehen sollte. Aber sie konnte sich kaum losreißen. Sie wusste plötzlich, was sie werden wollte: Fotoreporterin. Am liebsten gleich. Aber dafür bräuchte sie einen Laptop. Ein Handy. Einen Fotoapparat. Es war hoffnungslos, wenn man zehn Jahre alt war. Sie streichelte Seppli und machte sich auf den Heimweg.

Auch Frau Zweifel verabschiedete sich. Valerie blieb zurück, etwas getröstet, und nahm sich die nächste Reparatur vor. In der letzten Stunde hatte sie die üble Geschichte ganz vergessen. So sollte es sein, dachte sie, nette Kunden, Nachbarinnen, die zum Plaudern kommen, Arbeit, auch mal nervige Kunden, das gehört dazu. Normal sollte es sein, einfach alltäglich. Was war denn bloß in der letzten Zeit los? Angefangen hatte es mit den übermalten Stickern, dann die Diebstähle, jetzt Drohungen, Belästigungen – was sollte das Ganze? Standen diese Dinge in einem Zusammenhang? Würde es sich noch weiter steigern? Plötzlich stieg eine leise Furcht in ihr auf. ›Du wirst auch nicht besser aussehen, wenn du tot bist.‹ Hatte ein Geistesgestörter sie ins Visier genommen?

Es hatte schon eingedunkelt, als Valerie nach Hause fuhr. Sie nahm heute nicht wie sonst den Fußweg am Fluss entlang, sondern blieb auf der Straße. Nun lasse ich mich doch einschüchtern, gestand sie sich ein, ein bisschen ärgerlich auf sich selbst. Sie war normalerweise unerschrocken, hatte auf Velotouren allein draußen übernachtet, ohne Angst zu haben. Aber im Moment fühlte sie sich nicht auf sicherem Boden.

Als zu Hause das Telefon klingelte, schaute Valerie erst aufs Display, bevor sie sich meldete. Diesmal war es wirklich Lina. Sie erzählte ihr die ganze Geschichte, und ihre Freundin reagierte beunruhigt. Vor einigen Jahren war ihr eine Zeit lang ein Stalker nachgestiegen, ein Typ, der in einer Ausstellung ihre Bilder gesehen und ein Porträt über sie in einer Zeitschrift gelesen hatte. Er hatte sich eingebildet, sie seien füreinander bestimmt, und war, als Lina diese Idee nicht teilte, zunehmend aggressiv geworden. Es ging so weit, dass er sie auf der Straße tätlich angriff. Daraufhin war er in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden. Aber Lina steckte die Geschichte noch in den Knochen. Sie riet Valerie, Telefonanrufe mit unbekannter Nummer gar nicht entgegenzunehmen oder sofort abzubrechen, wenn sich der Unbekannte meldete. »Er will dir ja Angst machen, und wenn du gar nicht reagierst, interessiert es ihn vielleicht nicht mehr.« Valerie hoffte, dass es wirklich nur darum ging, sie in Schrecken zu versetzen. Ganz überzeugt war sie nicht. Als sie zu Bett ging, stellte sie den Klingelton des Telefons wieder auf null.

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