Schrottreif

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa
Mittwoch, 1. Woche

1. Teil

Markus war schon da, als Valerie gegen 8.45 Uhr in den Laden kam. Er war dabei, die Räder, die repariert werden mussten, in den Hinterhof zu stellen, damit im Verkaufsraum mehr Platz für die Kunden war. Valerie half ihm, schaute sich die Reparaturzettel kurz an und bestimmte, welche Aufträge Markus sich zuerst vornehmen sollte.

»Wechsle als Erstes dieses Vorderrad aus. Ich habe Frau Bäbler versprochen, dass sie das Velo heute Mittag abholen kann. Die hat Glück gehabt, dass sie sich nur die Hand leicht verstaucht hat, als sie in den Abfallcontainer gedonnert ist.«

Das Velo hatte weniger Glück gehabt, das Vorderrad war zu einer hässlichen Acht verbogen. Markus griff sich das Rad, blieb unschlüssig stehen, schaute Valerie an, aber sagte nichts.

»Na?«, sagte Valerie.

»Ich wollte etwas fragen«, begann Markus.

»Ja?«

»Wir haben doch keine Putzfrau mehr«, bemerkte Markus.

»Ja?«, wiederholte Valerie leicht ungeduldig.

»Ich wüsste vielleicht eine.«

Aha. Markus brachte es langsam auf den Punkt.

»Meine Freundin. Sie könnte einen Job brauchen. Sie hat schon geputzt. Weiß, was man beachten muss. Hat bei einer Reinigungsfirma gearbeitet.«

»Warum nicht«, meinte Valerie. »Sie kann sich mal vorstellen kommen. Wie alt ist sie? Wie heißt sie?«

»33. Sibylle.«

Bloß kein Wort zu viel, ärgerte sich Valerie. Typisch.

»Okay«, sagte sie rasch. »Mach einen Termin aus für nächste Woche. Am besten an einem Vormittag.«

Markus nickte und wandte sich seiner Reparatur zu.

Markus Stüssi, Anfang 30, groß und breit gebaut, arbeitete seit zweieinhalb Jahren bei FahrGut. Valerie wurde nicht ganz schlau aus ihm. Er war sehr zugeknöpft, erzählte kaum etwas von sich, arbeitete meist stumm vor sich hin und machte den Mund nur auf, wenn es um die Arbeit ging. Dann allerdings zeigte sich, dass er durchaus reden konnte. Er erklärte Luís den Unterschied zwischen zwei Bremssystemen oder wies eine Kundin auf die Vor- und Nachteile einer Nabenschaltung im Vergleich zu einer Kettenschaltung hin. Valerie war so weit zufrieden mit ihm. Er war vielleicht nicht besonders intelligent, ein langsamer Denker, Initiative und Ideen erwartete sie nicht von ihm, aber er war ein geschickter Mechaniker und er hatte Kraft, was sie praktisch fand, denn ihre Körperkräfte waren, bei 1,66 Meter, 53 Kilo und einer Abneigung gegen Krafttraining, eher begrenzt. Zu einem guten Klima im Laden trug Markus nicht viel bei – was, wie sich Valerie sagte, auch nicht sein Job war –, aber er arbeitete zuverlässig, kam nie zu spät und war ohne Weiteres bereit, früher zu kommen oder länger zu bleiben. Und bei den Kunden war er beliebt. In letzter Zeit hatte Valerie registriert, dass sich Hugo Tschudi ein wenig mit Markus angefreundet hatte. Das passte ihr nicht ganz, da sie Tschudi misstraute, aber es ging sie im Grunde nichts an, solange der Kunde ihren Mechaniker nicht von der Arbeit abhielt. Und Markus ließ sich nicht ablenken. Valerie wusste, dass Markus es vor einiger Zeit mit einer eigenen kleinen Bude versucht hatte, aber nach zwei Jahren in Konkurs gegangen war. Das wunderte sie nicht. Aber sie wunderte sich darüber, dass er zuvor mit dem Velo ein Jahr durch die Welt gereist war. Er schien ihr so gar nicht der weltoffene, abenteuerlustige Typ zu sein. Doch man konnte wohl ebenso eigenbrötlerisch, wie man Fahrräder instand setzte, durch Litauen, Transnistrien oder Indien pedalen. Selbstverständlich erzählte Markus kaum etwas von jener Reise, obwohl Luís furchtbar gern aufregende Geschichten gehört hätte. Jedenfalls, auch das wusste Valerie, hatte Markus einige Schulden durch seinen Konkurs, die er monatlich abstotterte. Vermutlich brauchte er wenig Geld zum Leben, er hatte eine günstige kleine Altbauwohnung in Örlikon, einem Quartier im Norden der Stadt. Offenbar hatte er nun eine Freundin, es war das erste Mal, dass er sie erwähnte.

Um fünf Minuten nach 9 Uhr kam Luís angeschlichen. Er kam durch den Hintereingang und versuchte, sich unauffällig in den unteren Stock, wo die Garderobe war, zu verdrücken.

»He«, Valerie fasste ihn am Ärmel und deutete auf die Uhr.

»Tschuldigung«, murmelte er schuldbewusst und versuchte, seinen Charme spielen zu lassen. »Konnte nicht schnell fahren. Überall rote Lichter. Und Lastwagen. Konnte nicht überholen. Und auf Trottoir Leute.« Er grinste. »Aber dafür ich jetzt ganz schnell arbeiten, okay, Boss?«

»Auf dem Trottoir sollst du sowieso nicht fahren«, ermahnte Valerie ihn streng. »Und mit Rotlichtern musst du immer rechnen. Los, zieh dich um.«

Valerie hatte es in dem Dreivierteljahr, in dem Luís bei ihr eine Anlehre machte, fertiggebracht, dass er nicht oft zu spät kam, mehr aber auch nicht. Seine Sprachkenntnisse ließen immer noch zu wünschen übrig. Er war klein für seine 16 Jahre, mager und trug seine Baseballmütze immer ins Gesicht gezogen. Er war seit fünf Jahren in der Schweiz, hatte hier auch ein paar Jahre die Schule besucht. Valerie war es unerklärlich, wieso er nach dieser Zeit immer noch so schlecht Deutsch konnte. Er war ihr vom Verein Job vermittelt worden; einer Stelle, die versuchte, Jugendliche, die kaum eine Aussicht hatten auf Arbeit oder Lehrstelle, irgendwie unterzubringen. FahrGut war in den diversen Institutionen, die sich um Schulabgänger kümmerten, als gute Adresse bekannt und Valerie beherbergte häufig für ein paar Tage einen ›Schnupperstift‹. Die meisten schickte sie wieder weg. Wenn sie sich zu desinteressiert zeigten, machte sie kurzen Prozess. Luís hatte sie behalten. Er hatte eine phänomenale Begabung für alles Mechanische. Er verstand vermutlich Valeries Erklärungen nie vollständig, aber nachdem er einen Blick auf ein kaputtes Licht geworfen hatte, wusste er innerhalb von Sekunden, wo der Fehler lag. Valerie begann, mit Luís zu arbeiten, ihm Deutsch beizubringen. Luís lernte. Anfangs verwunderte es ihn unendlich, dass ihm Valerie Zeit gab, im Büro zu sitzen und zu lernen, wo er doch fürs Arbeiten bezahlt wurde. Valerie brachte ein Kinderbuch in den Laden, Pettersson und Findus. Bilder und eine einfache Geschichte. Sie hatte befürchtet, das könnte dem 16-Jährigen zu blöd sein, aber Luís hatte Spaß daran. Sie ließ ihn die Geschichte vorlesen, erklärte ihm Wörter und sie lachten zusammen über die Pointen. Vor ein paar Tagen hatte sich Valerie etwas Neues ausgedacht. Sie brachte Luís ein kleines Schreibheft mit, ein Tagebuch.

»In dieses Heft schreibst du jeden Tag einen Satz. Was du willst. Du kannst etwas beschreiben, das du gesehen, gemacht oder gedacht hast.«

Er hatte sie nur verständnislos angesehen.

»Heute Morgen«, sagte Valerie, »hast du einem Velo einen neuen Sattel montiert. Das könntest du zum Beispiel schreiben.«

Abends zeigte ihr Luís das Heft. Der erste Satz lautete: ›Ich zendriere Rad heute. Und ich schbiele mit Hund.‹

»Super«, lobte Valerie. Und dann besprach sie mit ihm die Rechtschreibfehler.

Heute war Luís also wieder mal zu spät dran. In Windeseile hatte er sich in den Arbeitsoverall geworfen und tauchte wieder auf. Er schnappte sich rasch das Fahrrad, das Valerie ihm zuschob, und begann, den platten Schlauch aus dem Reifen zu schälen.

Valerie deutete auf die Pneuoberfläche: »Wie nennt man das?«

»Profil«, antwortete er.

Valerie nickte. Es war heute bedeckt und kühler und das machte sich am Kundenvolumen bemerkbar. Sie ging ins Büro hinunter, um Bestellungen zu erledigen und die E-Mails zu checken. Außerdem hatte sie vor, die Website zu aktualisieren. Der nächtliche Anruf ging ihr wieder durch den Kopf. Unangenehm. Aber falls er sich nicht wiederholte, würde sie nichts unternehmen. Lina, ihrer besten Freundin, würde sie es erzählen.

Sie wandte sich ihrer Arbeit zu, musterte einen Bestellzettel, den Markus falsch ausgefüllt hatte, und korrigierte. Tja, die Angestellten. Das war ein Kapitel für sich. Valerie hatte zwar schon, bevor sie ein eigenes Geschäft führte, Leitungsfunktionen innegehabt und war Chefin gewesen. Aber sie hatte ihre eigenen Vorstellungen und strebte eine partnerschaftliche Zusammenarbeit an, wollte flache Hierarchien und Frauen fördern. Allerdings hatte sie es nicht gerade geschickt begonnen. Ihre erste Mitarbeiterin war Rahel Aebli gewesen, eine junge Kindergärtnerin, die aus ihrem Beruf raus und eine Männerdomäne entern wollte. Sie war Autodidaktin, brauchte aber noch Anleitung und Ausbildung. Valerie begegnete ihr freundschaftlich, was bedeutete, dass sie es war, die den Abfall raustrug und putzte, ihrer Angestellten aber genauso viel Lohn bezahlte, wie sie selbst bezog. Valerie kaufte einen neuen Kompressor, damit sie nicht von Hand Pneus aufpumpen mussten. Rahel wies darauf hin, dass der Kompressor die Luft verschmutzte und dringend ein Filter anzubringen war. Valerie bastelte einen. Rahel machte darauf aufmerksam, dass ihr Lohn unter dem branchenüblichen Ansatz lag. Zwar bezog sie sich hier auf ausgelernte Mechaniker, übersah das jedoch großzügig. Rahel wies immer wieder auf dieses und jenes hin, verbunden mit dem Zusatz, dass sie von einer weiblichen Chefin etwas anderes erwartete. Bis Valerie sie in einem Zornesausbruch hinauswarf.

Nach dieser Geschichte war Valerie über die Bücher gegangen. Innerlich. Hatte Lehren daraus gezogen. ›Freunde dich nicht mit dem Personal an‹, hatte sie groß in ihr Tagebuch geschrieben. Von da an änderte sie ihr Verhalten. Sie verwedelte die Tatsache, dass sie die Chefin war, nicht mehr. Und ab diesem Zeitpunkt hatte sie weniger Probleme mit ihren Angestellten. Sie hatte im Laufe der Jahre eine Reihe von Mechanikerinnen und Mechanikern beschäftigt. Bessere und schlechtere. Nettere und weniger nette. Seit zweieinhalb Jahren war es Markus Stüssi. Und im letzten Sommer war Luís Zafar als Anlehrling dazugestoßen. Sie war soweit zufrieden mit der Situation.

 

Sie machte sich an die Bestellungen, da rief Luís nach ihr. Es war ein unterdrücktes Lachen in seiner Stimme. Valerie ging hinauf. Aha, wieder eine Situation, in der die Chefin ran musste. Die beiden Männer, Markus und Luís, plus ein älterer Kunde standen in einem Kreis ratlos um zwei weinende kleine Mädchen herum. Die beiden trugen Strumpfhosen, aber weder Schuhe noch Hausschuhe. Ihre Kleidchen waren sicher nicht in der Globus-Kinderabteilung gekauft worden.

»Sind da gekommen«, Luís deutete auf den Platz, in Richtung Zentralstrasse. »Haben Hand gehalten und weinen. Konnte sie nicht einfach so lassen. Sind klein.«

Da hatte er sie halt mit hineingenommen. Na ja. Dass lange nicht alle Menschen, die das Leben in ein Fahrradgeschäft spült, irgendetwas mit Rädern zu tun haben oder zu tun haben wollen, wusste Valerie inzwischen aus langjähriger Erfahrung. Lorenz hatte ihr sogar mal vorgeschlagen, FahrGut in ›Strandgut‹ umzubenennen. Diese beiden kleinen Mädchen wollten sicher kein Kindervelo kaufen. Valerie und die Männer versuchten, mit ihnen zu sprechen. Aber die beiden schluchzten bloß. Als Seppli auftauchte, erschraken sie so sehr, dass Valerie ihn hinunterschickte. Die Kleinen konnten weder Deutsch noch Portugiesisch, noch verstanden sie die paar Brocken Türkisch, die eigenartigerweise Markus beizusteuern wusste. Und auf das Kroatisch, das der Kunde an ihnen ausprobierte, reagierten sie ebenso wenig. Valerie nahm die beiden an der Hand und ging mit ihnen zur Regionalwache Wiedikon hinüber. Sie lag ganz in der Nähe, auf der anderen Seite des Platzes, ein altes Eckhaus zwischen Birmensdorfer- und Stationsstrasse.

»Ich habe wieder mal Strandgut abzuliefern«, sagte sie zu Polizistin Elmer, die Dienst hatte. Man kannte sich. In den FahrGut war schon eingebrochen worden, Valerie hatte einmal bei einem Kaffee über die Diebstähle gejammert, und vor ein paar Monaten hatte sie einen verwirrten alten Mann, der nicht ins Altersheim zurückfand, auf der Wache abgeliefert. Außerdem war Zita Elmer dafür zuständig, den Drittklässlern im Quartier auf dem Pausenplatz des Ämtlerschulhauses das Velofahren beizubringen und sie in die Verkehrsregeln einzuweisen. Dabei fuhr sie eines der Falträder, das die Stadtpolizei im FahrGut für diesen Zweck gekauft hatte.

Zita Elmer war Ende 20, groß, etwas massig, hatte kurzes blondes Haar. Ursprünglich Krankenschwester, hatte sie bald nach der Ausbildung umgesattelt, die Polizeischule absolviert, sich in Zürich beworben und einige Jahre Streifendienst gemacht. Auf der Polizeischule hatte sie ihren Mann kennengelernt, der in Höngg Dienst tat. Seit fünf Jahren arbeitete sie in Wiedikon, seit einem Jahr leitete sie die Wache. Sie war gerne Polizistin. Krankenschwester war sie geworden, weil sie es mochte, mit Menschen zu tun zu haben und einen lebhaften Betrieb liebte. In einem Spital passierte etwas mit den Menschen. Sie wurden krank eingewiesen und verließen den Ort meist wieder gesund. Viele Patienten mochten sie, weil sie optimistisch und auf eine etwas resolute Art einfühlsam war. Sie konnte beispielsweise sehr sanft Blut abnehmen. Andere mochten sie nicht. Das waren diejenigen, die mutlos waren, sich kampflos ihrer Krankheit ergaben. Diese Patienten empfanden sie als grob. Nach wenigen Jahren fühlte sie sich nicht mehr wohl in der Spitalwelt. Sie bewegte sich in einer permanenten Ausnahmesituation, so kam es ihr zumindest vor, aber sie wollte doch mitten im Leben stehen, dort, wo etwas los war. So wurde sie Polizistin. Sie hatte keine Angst vor Hektik, vor sich schnell verändernden Situationen, vor Konflikten. Ob sie sich nachts mit jugendlichen betrunkenen Partygängern herumschlug, die sie beschimpften, oder ob sie sich nachmittags einer alten verängstigten Frau annahm, der auf dem Heimweg die Handtasche entrissen worden war – beides waren Facetten ihrer Arbeit, auf beide Situationen konnte sie sich sehr rasch einstellen. Die Arbeit im Quartier gefiel ihr. Sie wurde meist mit kleineren Delikten und Regelverstößen konfrontiert, mit Situationen, in denen die alltägliche Ordnung verletzt wurde und es ihr oblag, sie wiederherzustellen. Aber sie betrachtete diese Arbeit nicht als oberste Stufe ihrer Karriereleiter, denn sie war ehrgeizig. Zwei, drei Jahre würde sie weitere Erfahrungen sammeln, bevor sie sich beim Kommissariat Ermittlung oder beim Kommissariat Fahndung bewerben wollte.

Als die beiden kleinen Mädchen die große Frau in der Uniform sahen, weinten sie noch mehr. Aber Zita Elmer wusste bereits Bescheid.

»Ein Problem weniger«, sagte sie zufrieden. Sie liebte es, Fälle zügig zu lösen. »Der Vater der Kleinen hat angerufen. Drei und vier Jahre alt sind sie. Irena und Diana. Eben erst in der Schweiz eingetroffen. Durch die halb offene Wohnungstür abgehauen. Albanisch hätten Sie mit ihnen reden müssen. Na ja, kann ich auch nicht.« Sie wandte sich an die Mädchen. »Offenbar seid ihr zwei fixe kleine Abenteurerinnen, Irena und Diana. Muss der Papa halt besser auf euch aufpassen, was?«

Die Mädchen, die aufmerkten, als ihre Namen fielen, schauten mit großen Augen die fremde Frau an und wurden still.

Zita Elmer griff zum Telefon und rief den Vater an. Sie reichte das Telefon den Kindern weiter, die, ohne selbst den Mund aufzutun, hineinhorchten.

»Er wird gleich kommen«, sagte Elmer. »Happy End in Sicht.«

Valerie und Zita Elmer unterhielten sich noch ein paar Minuten, dann verabschiedete sich Valerie. Sie überlegte einen Augenblick, ob sie Elmer von dem Drohanruf erzählen sollte, ließ es dann aber bleiben. Bevor Elmer hier gearbeitet hatte, war Beat Streiff da gewesen. Er hatte auf demselben Stuhl gesessen, der nun ihr Platz war. Auch der Schreibtisch war derselbe. Vor ein paar Jahren hatte Streiff zur Kriminalpolizei in der Zeughausstrasse gewechselt. Valerie schob den Gedanken an ihn rasch beiseite.

2. Teil

Valerie kam aus einer kurzen Mittagspause zurück. Spaziergang mit Seppli, eine Cola und ein Sandwich mit scharfer Salami und roter Paprika aus dem Paradicsom nebenan, im Gehen verzehrt. Sehr ungesund, hätte Lorenz, der Arzt war, erklärt. Aber der hatte ja schon länger nichts mehr zu sagen. Zudem, dachte Valerie trotzig, könnte ich auf das Salatblatt zwischen Brötchen und Salami und auf das Stück Paprika verweisen. Trotzdem kaufte sie rasch am Marktstand vor der Migros einen Apfel. Dann schob sie sich einen Nikotinkaugummi in den Mund. Sie war von Gauloises blau umgestiegen, als Lorenz ihr in einer ihrer innigeren und leidenschaftlicheren Phasen gesagt hatte: ›Ich verzeihe es dir nie, wenn du mit Mitte 50 Krebs bekommst.‹ Das hatte Valerie imponiert. Nun, mittlerweile hatte es sich so entwickelt, dass Lorenz sich kaum darum scheren würde, was mit ihr Mitte 50 sein würde. Ihr Kontakt war nach der Trennung abgerissen. Aber beim Kaugummi war sie geblieben.

Markus war dabei, einem Kunden die neu eingetroffenen Cannondale-Mountainbikes vorzuführen. Der Kunde, ein junger Mann, schien sich auszukennen, fragte nach technischen Details, verglich die verschiedenen Modelle miteinander. Valerie deutete an, dass sie ins Büro hinunterginge und man sie, wenn nötig, rufen könne.

Sie wollte Anzeigen entwerfen. Sie inserierte regelmäßig im Tagblatt, im Quartier-Anzeiger, im Tachles, in der Zeitung der orthodoxen Juden – da in Wiedikon ein großer Teil der jüdisch-orthodoxen Bevölkerung Zürichs wohnte – und in der Frauenzeitung. Lange hatte es ihr Spaß gemacht, in ihren Werbetexten mit ihrem Namen zu hantieren, Wortspiele zu kreieren. Aber das verbrauchte sich mit der Zeit. Gewisse klassische Slogans behielt sie bei, schlichte Aussagen wie ›Gute Räder bei Gut‹. Aber sie fand, sie musste ihre Palette etwas erweitern, und hatte vor, sich einem Brainstorming zu überlassen. Nach unzähligen durchgestrichenen Ideen, zerrissenen Blättern, verworfenen Slogans textete sie schließlich ›Warum wie auf Nadeln sitzen? – Satteln Sie Ihr Fahrrad bei uns‹, ergänzt durch ›Gute Sättel bei Gut‹, in kleinerer Schrift am unteren Rand.

Sie hörte ein leises Klopfen und sah auf. Durch die Glasscheibe erblickte sie Adele Goldfarb und winkte sie herein.

»Störe ich?«, fragte Adele und streichelte rasch Seppli.

»Nein, komm nur, ich bin gerade fertig geworden.«

Adele war zehn Jahre alt, wohnte in der Nachbarschaft und kam auf dem Heimweg von der Schule ab und zu bei ihr vorbei. Valerie hatte das Mädchen gern und freute sich, wenn sie kam. Sie war fröhlich, selbstsicher, aufgeweckt, wollte alles wissen. Die Porzellanmöwe fand sie toll. Valerie kannte drei ihrer älteren Brüder, die ebenfalls bei ihr ein und aus gegangen waren; Sruli, Alexander und Aron. Alle mit Löckchen vor den Ohren, kleinen Käppchen, einer Portion unbekümmerten Neugier und großer Diskussionslust. Es war ihnen bewusst, dass bei ihnen zu Hause andere Werte vertreten wurden als außerhalb, und sie erprobten gerne ihre Weltanschauung an den abweichenden Auffassungen von Valerie. Alexander hatte die Plastikdinosaurier in der Kinderecke entdeckt und wollte wissen, was das für Tiere seien. Valerie hatte ihm erzählt, dass sie vor über 100 Millionen Jahren auf der Erde gelebt hätten, dass sie riesengroß gewesen seien und man nicht genau wisse, warum sie ausgestorben sind. Das Alter der Erde war für Alexander aber nicht verhandelbar gewesen. Gott hat die Erde vor 5.766 Jahren geschaffen, da konnte es nicht vor viel, viel längerer Zeit Dinosaurier gegeben haben. Sicher nicht.

Valerie, die nicht viel über die jüdischen Bräuche wusste, unterhielt sich gern mit den Kindern. »Warum dürft ihr nicht gleichzeitig Milch und Fleisch essen?«, fragte sie deshalb eines Tages Alexander.

Der wusste Bescheid. »In der Tora steht, dass man ein Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen darf«, hatte er erklärt. Und hatte mit kindlicher Logik hinzugefügt: »Das ist doch klar. Das Kleine soll die Milch seiner Mutter trinken.«

»Wie ist es denn für euch, wenn wir Weihnachten feiern und auf den Plätzen große Weihnachtsbäume stehen?«, hatte sie sich ein anderes Mal erkundigt.

»Wir haben auch schöne Feste«, hatte Alexander erzählt. »Im Winter haben wir Chanukka, das Lichterfest, da zünden wir Kerzen an. Und Geschenke geben wir einander an Purim. Dann verkleiden wir uns.« Die Kinder kamen offenbar ganz selbstverständlich zurecht mit den beiden Welten, in denen sie lebten.

Die meisten Kinder der jüdisch-orthodoxen Familien im Quartier hatten panische Angst vor Seppli, überhaupt vor Hunden. Valerie hatte nie herausfinden können, warum. Die kleinen Goldfarbs waren die Ersten, die sich dem gefährlichen Mysterium Seppli näherten. Der Pionier war nicht Sruli gewesen, der Älteste, sondern Alexander, der Zweite. Er hatte eines Tages Seppli gestreichelt, zwei Tage später wieder. Am dritten Tag war Aron, der Kleine, mitgekommen, der seinen großen Bruder erst ungläubig bewunderte; ihm dann kurz entschlossen nacheiferte und Seppli ins grau gelockte Fell fuhr. Von da an war der Bann gebrochen. Um ihren Mut für sie selbst und die Eltern zu verewigen, hatte Valerie von jedem der Goldfarb-Buben ein Foto mit Seppli machen müssen. Irgendwann war Adele aufgetaucht. Drittklässlerin. Zahnlücke, frecher Blick, ein etwas zu langes Kleidchen für eine Neunjährige, fand Valerie.

»Ich war mit meinem großen Bruder schon mal bei Ihnen«, hatte sie gesagt und sich gründlich umgesehen. »Sie, was ist das für ein Werkzeug? Was machen Sie damit?« Valerie hatte erklärt. Irgendwann war die Kleine mit dem Wunsch herausgerückt, wie ihre älteren Brüder mit Seppli fotografiert zu werden.

»Klar«, hatte Valerie zugestimmt, den faulen Hund aufgescheucht und von den beiden vor dem Laden ein Bild gemacht. Stolz war Adele mit der Aufnahme abgezogen.

Adele trug immer Strumpfhosen und langärmlige Blusen, sogar im Sommer. Valerie hatte sie gefragt, ob ihr nicht zu heiß sei.

Die Kleine hatte gleichgültig die Schultern gezuckt. »Bei uns ist es halt so, alle Mädchen sind so angezogen. Und wenn ich groß bin, verdecke ich mir die Haare wie meine Mutter. – Es ist wegen unserer Religion«, hatte sie hinzugefügt. »Aber manchmal«, hatte sie Valerie anvertraut, »wenn es gar zu warm ist, kremple ich ein wenig die Ärmel hoch. Aber nur bis hier.« Sie deutete auf die Mitte ihres Unterarms.

Adele besah sich die Inseratvorlage. »Den Spruch finde ich lustig«, stellte sie fest, »aber die Zeichnung ist nicht gut genug. Sie müssen einen Sattel zeichnen, aus dem Stecknadeln herausschauen, und daneben einen, der weich ist, vielleicht könnten Sie ein richtiges Kissen daraufmalen.«

 

Valerie versprach, sie werde schauen, was sich machen lasse, und Adele bot an, ihrem Bruder die Anzeige anzukündigen, damit er Platz in der Zeitung freihielt. Sruli, der älteste der Goldfarb-Söhne, akquirierte neuerdings als Lehrling die Inserate für die Zeitung der orthodoxen Juden, und Adele genoss es, Valerie zuliebe ihre Connections spielen zu lassen.

Plötzlich fragte Adele: »Was sind Neonazis?«

Valerie fühlte sich überrumpelt und ein wenig überfordert. Wusste das Mädchen, wer die Nazis gewesen waren? Wie gingen jüdische Eltern mit solchen Informationen um? Wurden zehnjährige Kinder über alles informiert oder wurden sie geschützt, bis sie älter waren?

»Nicht wahr, die Neonazis mögen Juden nicht?«, fuhr Adele fort.

»Das stimmt«, bestätigte Valerie.

»Wissen Sie, warum?«

Valerie überlegte einen Moment, weil sie das Kind nicht mit einer billigen Antwort abspeisen wollte.

Aber Adele fragte schon weiter: »Gibt es in der Schweiz viele Neonazis?«

»Nein«, schüttelte Valerie den Kopf, »es sind nur wenige.«

»Kennen Sie selbst Neonazis?«

»Nein, mit Neonazis mag ich nichts zu tun haben. Ich kenne niemanden, der so denkt.«

Adele bedachte sie mit einem langen Blick.

»Fragst du mich das aus einem bestimmten Grund, Adele?«, hakte Valerie nach. »Möchtest du mir etwas erzählen?«

Die Kleine schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich muss nach Hause, meine Mama wartet auf mich«, erklärte sie und stieg die Wendeltreppe hinauf. Sie blieb nochmals stehen: »Ich kenne einen Neonazi. Er mag mich nicht.« Dann war sie weg.

*

Eine Minute später stand Markus vor Valerie. Er wirkte beunruhigt. Der sportliche Typ, der sich Mountainbikes habe zeigen lassen, sei von einer Probefahrt nicht zurückgekehrt. Wann er denn losgefahren sei, wollte Valerie wissen. Vor einer Stunde, gab Markus zu.

»Hast du ihm ein Pfand abgeknöpft?«, fragte Valerie.

»Ja, die Identitätskarte.«

»Na, dann ist ja gut. Wir rufen ihn einfach an«, meinte Valerie, der es vor Jahren einmal passiert war, dass sie unfreiwillig ein Fahrrad gegen eine Jeansjacke eingetauscht hatte. Die Jacke war ihr überdies zu groß gewesen. Lorenz hatte sie deshalb eine Weile getragen.

Sie rief den jungen Mann an, der tatsächlich zu Hause war; den Vorwurf, ein Fahrrad angesehen zu haben und zu einer Probefahrt aufgebrochen zu sein, aber weit von sich wies. Das Rätsel wurde rasch und unerfreulich aufgeklärt. Seine Identitätskarte war ihm an diesem Morgen gestohlen worden, zusammen mit einer Reihe weiterer Ausweise. Er hatte den Diebstahl der Polizei bereits gemeldet und war im Moment dabei, Kreditkarten und andere Chipkarten unschädlich zu machen beziehungsweise sperren zu lassen. Armer Tropf. Immerhin erhielt er jetzt seine ID wieder. Er kam vorbei und er war in der Tat nicht jener Kunde, der zur Probefahrt gestartet war. Ein ähnlicher Typ, jung, blond, sportlich. Valerie machte Markus keinen Vorwurf, sie hätte vermutlich ebenfalls nicht so genau hingeschaut und sich austricksen lassen. Aber verdammt unangenehm war es schon. Sie ging zum zweiten Mal an diesem Tag zum Polizeiposten hinüber, diesmal in Begleitung eines betretenen und eines unschuldigen jungen Mannes und erstattete Anzeige.

Kurz nach 19 Uhr kam sie nach Hause und schaute nach ihrer Post. Im Postkasten lag ein Paket. Ohne Absender. Valerie runzelte die Stirn. Geburtstag hatte sie nicht und bestellt hatte sie auch nichts. Der Hund schnupperte.

»Na«, fragte Valerie lachend, »ist das für dich? Hast du heimlich Hundefutter bestellt? Passt es dir nicht mehr, was ich dir vorsetze?«

Irgendwie schien es auch ihr, dass das Paket ein bisschen roch. In der Wohnung riss sie es auf. Sie starrte ein paar Sekunden auf den Inhalt. Ihr Herz klopfte heftig, noch bevor ihr Verstand begriff.

»Verdammte Scheiße«, rief sie aus. Zornestränen schossen ihr in die Augen. In dem Paket lag ein toter Fisch. Ein Fisch, der schon eine ganze Weile verendet war. Ein toter Fisch mit glasigen Augen, einem grauen Leib, der jetzt deutlich stank. Sie legte die Schachtel ab und scheuchte den Hund weg. Halb verborgen unter dem Fisch entdeckte sie einen Bogen Papier. Sie zog ihn heraus. ›Beste Grüße‹ stand darauf. Nichts weiter. Der Text bestand aus Buchstaben, die aus einer Zeitung ausgeschnitten und aufgeklebt worden waren. Sie wollte den Zettel schon zerreißen, hielt aber inne. Moment, dachte sie, der Anruf gestern Nacht. Jetzt das Paket. Bevor sie weiter überlegen konnte, klingelte das Telefon. Lina hatte doch gesagt, sie würde heute Abend anrufen. Valerie hob ab. »Lina!«, rief sie. Es war nicht ihre Freundin.

Es war wieder dieses Kichern von gestern Nacht, dieses Flüstern: »Valerie, wie gefällt dir das? Sieht nicht schön aus, so ein toter Fisch, oder? Du wirst auch nicht besser aussehen, wenn du tot bist.«

Valerie legte augenblicklich auf. Ihr Zorn war verflogen. Sie hatte auch keine Angst. Sie war plötzlich ganz kühl. War das eine Art Todesdrohung gewesen? Ich muss etwas unternehmen, dachte sie. Sie legte das Paket auf den Balkon und setzte sich an den Küchentisch. Es konnte keine ernst gemeinte Drohung sein. Es gab niemanden, der sie umbringen wollte, da war sie sich sicher. Aber es gab offensichtlich jemanden, der sie in Angst und Schrecken versetzen wollte. Wer? Warum? Hatte er gewusst, dass sie um diese Zeit nach Hause kam? Sie würde sich das nicht bieten lassen. Morgen früh vor der Arbeit würde sie auf dem Polizeiposten vorbeigehen.

Inne książki tego autora