Satzfetzen

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Angela Legler betastete das dicke Pflaster, das an ihrer linken Schläfe klebte. Sie war eben erwacht, zwei Stunden hatte sie geschlafen. Ihr Kopf schmerzte ein wenig, aber nicht allzu stark. Am frühen Nachmittag war sie aus dem Spital entlassen worden. Sie hatte keine Gehirnerschütterung und auch sonst keine Verletzungen außer einer tüchtigen Schramme. Sie solle sich übers Wochenende schonen, hatte ihr die Ärztin geraten, dann könne sie am Montag wieder arbeiten. Angela stand auf und ging ins Badezimmer. Der Spiegel zeigte ihr ein etwas blasses Gesicht, ihre dunklen, kurzen Haare waren zerwühlt, sonst sah sie okay aus.

Aber innerlich fühlte sie sich nicht okay, ganz und gar nicht. Sie war aufgewühlt und wütend. Dass jemand es wagen konnte, sie anzugreifen! Sie, die Kantonsrätin Angela Legler! Was waren das für Zustände! Dieser Flohmarkt musste geschlossen werden, jetzt erst recht. Nicht nur Diebe und Hehler trieben sich da herum, sondern auch Gewalttäter; Leute, die sich der demokratischen Ordnung nicht fügen wollten. Aber ihre Erschütterung ging tiefer. Sie ganz persönlich war angegriffen worden, nicht nur die Politikerin, sondern die Person Angela Legler. Was hatte das zu bedeuten? Wurde ihre Autorität nicht anerkannt? Konnte man so mit ihr verfahren, weil sie eine Frau war? Sie hatte es zu etwas gebracht, sich durchgesetzt, und das würde sie sich nicht nehmen lassen. Sie ging ins Schlafzimmer zurück, setzte sich in den Sessel, der am Fenster stand, und schaute in den Garten hinaus. Der Apfelbaum hatte seine Blätter schon verloren, über der Stadt hing zäher Hochnebel.

Seit zwei Jahren war sie im Kantonsrat und war alles andere als eine Hinterbänklerin, sie hatte eine Position in der Fraktion und im Rat – und sie hatte eine gute Medienpräsenz. Es hatte sie jahrelang geärgert, dass sie nicht studiert, sondern nur eine kaufmännische Lehre absolviert, einen Beruf hatte, bei dem die Aufstiegschancen sehr beschränkt waren. Und Pfarrersfrau zu sein, sich gemeinnützig um die Schäfchen ihres Mannes zu kümmern, war nicht ihr Ding. Das hatte sie Fritz schon am Anfang ihrer Ehe klargemacht. Mit den Jahren war sie mehr und mehr unzufrieden geworden mit ihrem Leben und hatte mit Mitte 30 beschlossen, dass sich etwas ändern musste. Sie hatte Weiterbildungen erwogen, sich aber schließlich für die Politik entschieden. Es war gut gelaufen. Die CVP arbeitete daran, sich ein frauenfreundliches Image zu geben und eine energische, engagierte Newcomerin, die bereit war, sich in Dossiers zu knien, und auch auf einem Podium eine gute Figur machte, war willkommen. Man muss nur wollen, dachte sie, dann erreicht man auch etwas. Aber ein Steinwurf passte nicht in ihr Programm. Sie hatte zäh gearbeitet, sich ein parteiübergreifendes Netz von Kontakten geschaffen, sich profiliert. Man musste flexibel sein: hier kleine Kompromisse machen, dort sich knallhart durchsetzen. Mit den linken Frauen hatte sie zusammengespannt, als es um die Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs ging. Ein bürgerliches Thema hatte sie mit dem Vorstoß, den Flohmarkt zu schließen, besetzt. Mit dem Präsidium der AG KVK hatte sie sich im Umweltbereich gut positioniert. Aber dort wollte sie auch die Interessen von Wirtschaft und Gewerbe einbringen. Ein Spagat? Selbstverständlich, Politik war immer ein Spagat. Kritik, die in den Medien ab und an geäußert wurde, bestärkte sie. Sie verfolgte eben ihre eigene Linie. Der Vorfall von heute Morgen war der erste empfindliche Dämpfer in ihrer politischen Karriere. Das war eine Grenzverletzung, die es nicht geben durfte. War sie verwundbar? Ganz unvermutet tauchte dieser Gedanke auf. Er erschreckte sie und sie schob ihn rasch beiseite. Angela Legler war nicht der Typ, der sich groß darüber Gedanken machte, ob man sie mochte, ob sie beliebt war. Zeitverschwendung, fand sie. Sie war ehrgeizig, sie hatte Erfolg, selbstverständlich gab es da Neid und Eifersucht. Man hatte Gegner, aber man hatte auch Anhänger, Wähler, nicht nur aus ihrer Partei, die ihr schrieben, ihr gratulierten zu ihrer Unerschrockenheit.

Angela hörte, wie unten die Tür aufgesperrt wurde. Fritz kam nach Hause. Ob er es schon gehört hatte? Das Lokalradio hatte eine kurze Meldung gebracht. Er rief nicht nach ihr, vermutlich dachte er, sie sei nicht da. Auch sie gab kein Zeichen. Fritz, dachte sie, und nicht zum ersten Mal kam ihr als Bild für ihre Ehe der Mathematikunterricht ihrer Jugend in den Sinn. Mengenlehre. Zwei Kreise, die sich überschnitten. Der gemeinsame Bereich war die Schnittmenge. Dieses Oval war in ihrer Ehe im Laufe der Jahre immer magerer geworden. Wo­raus bestand diese Schnittmenge noch? Sie verbrachten die bei beiden spärliche Freizeit und die Ferien mitein­ander. Sport. Velotouren. Das Häuschen in den Bergen. Dabei verstanden sie sich ganz gut. Beide waren ehrgeizig und ausdauernd, wenn sie einen Pass hinaufpedalten, beide wollten das Rennen gewinnen. Und es war gar nicht immer Fritz, der die Nase vorn hatte, denn Angela war, obwohl eher klein, muskulös und zäh. Aber im Alltag drifteten sie immer mehr auseinander. Er hatte seine Gemeinde, sie die Politik. Gemeinsame Freunde hatten sie kaum. Selten begleiteten sie einander zu Anlässen. Beide führten sie ihr eigenes Leben und trafen sich manchmal zu einem improvisierten Abendessen am Küchentisch. Sie erzählten einander nicht viel. Angela hatte den Eindruck, dass Fritz ihre politische Arbeit nicht ganz ernst nahm. Und er war ihr in seiner beruflichen Entwicklung fremd geworden. Aus dem wissbegierigen, offenen Theologiestudenten war ein moralisch strenger evangelikaler Pfarrer geworden, der sich von der Landeskirche abgewandt hatte und in eine Freikirche übergetreten war, die eine schwärmerische und autoritätsgläubige Religiosität pflegte. Was war da bloß in ihm vorgegangen? Sie redeten nie darüber. Sie sprachen über Fahrradausrüstungen, über die Heizung ihres Häuschens in den Bergen, über Urlaubstermine. Manchmal fragte Angela sich, ob es anders gekommen wäre, wenn sie Kinder gehabt hätten. Ob er enttäuscht war, weil es nicht geklappt hatte? War sie enttäuscht? Es war müßig, darüber nachzudenken. Sie hatte jetzt andere Sorgen.

Sie erhob sich und ging langsam hinunter. Fritz saß im Wohnzimmer.

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte er, als er ihr Pflaster sah. Angela erzählte es ungern, es kam ihr vor wie das Eingeständnis einer Niederlage. Gleichzeitig ärgerte sie sich darüber, dass sie es so empfand.

»Irgendein … ein Krimineller hat einen Stein nach mir geworfen, auf dem Flohmarkt«, rief sie. Tränen des Zorns stiegen ihr in die Augen. »Muss ich mich so behandeln lassen?«

»Du musst Anzeige erstatten«, riet ihr Mann.

»Habe ich natürlich gemacht.«

»Hast du dir überlegt, dass das ein Zeichen sein könnte?«, fragte er.

»Ein Zeichen?« Sie sah ihn verständnislos an.

»Ich zweifle schon seit einiger Zeit daran, ob es das Richtige ist, was du machst, diese Politik«, sagte er. »Tut dir das wirklich gut? Ist es das, was Gott mit dir vorhat?«

Angela starrte ihn an. Ihr Kopf begann plötzlich heftiger zu schmerzen.

»Spinnst du?«, rief sie. »Das erste Mal in meinem Leben mache ich etwas wirklich Spannendes. Wie kannst du?«

Er blieb ganz ruhig, beobachtete sie. »Ich habe den Eindruck, dass du überlastet bist, du hast keine Zeit mehr, du entziehst dich mir, du hast keinen festen Boden mehr unter den Füßen.«

»So ein Unsinn! Mir gehts prima. Mein Problem ist, dass ich angegriffen worden bin, nichts anderes!« Sie schwieg. Es stimmte, dass sie sich ihrem Mann entzog. Aber hatte sie kein Recht auf ein eigenes Leben, das sie ausfüllte?

»Gönnst du mir meine Karriere nicht?«, fragte sie misstrauisch. »Du wolltest schon immer im Mittelpunkt stehen, mich dominieren. Und jetzt nimmst du diesen Angriff zum Anlass, mich kleinzumachen, statt dass du zu mir hältst.« Ihre Schläfe pochte.

Sein Blick war durchdringend. »Selbstverständlich halte ich zu dir. Du bist meine Frau. Aber ich glaube, dass du auf einem falschen Weg bist.«

»Was sollte ich denn deiner Ansicht nach tun? Wieder als Sekretärin arbeiten? Musik auflegen auf deinen Jugendpartys? Oder Taschentücher verteilen, wenn die Jugendlichen ihre Bekehrungserlebnisse haben?« Sie brach ab. So verächtlich hatte sie sich noch nie über seine Arbeit geäußert.

»Es wäre sicher nicht die schlechteste Aufgabe für eine Ehefrau, ihren Mann bei seiner Arbeit zu unterstützen«, gab er ungerührt zurück. Sie fühlte sich schwindlig und er schien es zu bemerken.

»Komm, leg dich wieder hin«, sagte er sanfter, »ich mache dir einen Tee.«

Angela legte sich aufs Sofa. Soll ich mich von ihm trennen, fragte sie sich. Nein, das würde sich nicht gut machen, eine geschiedene CVP-Politikerin. Die Situation ist so schon kompliziert genug. Fritz stellte ihr eine Tasse Tee und ein Tellerchen mit Zwieback hin. Einen Moment lang kam ihr die Szene ganz unwirklich vor und sie fragte sich, ob er fähig wäre, ihr Gift in den Tee zu schütten. Meine Nerven sind wirklich überreizt, dachte sie und nahm einen Schluck. Er schaltete den Fernseher ein.

Montag

Lina Kováts saß an ihrem Pult im Kantonsratssaal. Sie hatte die Tonaufnahme der Debatte in Gang gesetzt, die Liste der Ratsgeschäfte, die an diesem Tag behandelt wurden, lag vor ihr, vor einer Viertelstunde hatte die Ratssitzung begonnen. Das Thema, es ging um Steuersenkungen für Kleinbetriebe, interessierte sie nicht besonders. Sie gab sich keine Mühe, sich zu konzentrieren, ohnehin würde sie das alles in den folgenden Tagen nochmals hören, ab CD, wenn sie es schrieb und redigierte. Lina arbeitete seit einem Jahr nicht mehr als Zeitungskorrektorin, sondern als Protokollführerin im Kantonsrat. Nun musste sie nicht mehr dauernd bis spät abends arbeiten, sondern hatte Zeit, nach dem Job in ihrem Atelier zu malen. Sie ließ ihren Blick über die Reihen schweifen. Die meisten Plätze waren besetzt, was nicht hieß, dass alle Ratsmitglieder auch zuhörten. Einige lasen Zeitung, andere tippten etwas in ihre Laptops oder hackten eine Kurznachricht ins Handy, ordneten Unterlagen oder zwängten sich durch die engen Sitzreihen, um mit einem Kollegen flüsternd etwas zu besprechen. Anfangs hatte Lina diese Undiszipliniertheit verwundert, bis sie verstanden hatte, dass hier nicht die eigentliche politische Arbeit gemacht wurde. Die Knochenarbeit, die Erarbeitung von Gesetzen, wurde in den Kommissionen geleistet. Der Ratssaal, so sah es Lina, war die Bühne für die Öffentlichkeit, die montägliche Sitzung das Stück, das über die politische Arbeit Auskunft und den Darstellern die Gelegenheit gab, sich ins rechte Licht zu rücken. Man musste ja alle vier Jahre wiedergewählt werden. Der Saal gab eine würdige Bühne ab. Ein hoher Raum in einem schönen Renaissancebau, die Wände mit Porträts von ehemaligen Bürgermeistern von Zürich und einem hellblauen Wandteppich geschmückt, der das Kantonswappen, flankiert von zwei Löwen, zeigte. Durch die Fenster auf der einen Seite sah man die Limmat vorbeifließen.

 

Lina wurde aufmerksam auf das Geschehen. Eine Sprecherin hatte geendet, die Ratspräsidentin erteilte einem anderen Kantonsrat das Wort, der zu reden begann, ohne sein Mikrofon einzuschalten.

»Mikrofon!«, rief Lina. Typisch, dachte sie. Hefti. Ein junger Grüner, dessen Vater in Wiedikon eine Hausarztpraxis führte. Der war so eifrig darauf aus zu reden, dass er es jedes zweite Mal vergaß.

»Ach ja, Tschuldigung«, lachte Hefti fröhlich zurück, drückte den Knopf und begann, sein Manuskript abzulesen. Immerhin. Er redete nicht frei wie andere, die dachten, das mache einen souveränen Eindruck, sondern kannte seine Grenzen und trat gut vorbereitet zu seinen Voten an. Seine Grenzen traten zutage, wenn er spontan auf einen Antrag reagierte oder eine Frage stellte. Dann verhedderte er sich heillos in einem Wust von Haupt- und Nebensätzen, Appositionen, Ellipsen, verunglückten Metaphern und verwechselten Fremdwörtern. Es war dann hinterher Linas Aufgabe, das in Ordnung zu bringen, dem Ganzen eine Syntax zu unterlegen, zu spüren, was Hefti inhaltlich hatte sagen wollen, und das, behutsam seinen eigenen Wörtern entlang balancierend, aber ohne in die von ihm aufgerissenen Gräben abzustürzen, zu formulieren. Hefti dankte es ihr. Wenn die redigierten Voten vor dem Ratssaal zur Einsicht auflagen, fischte er sich seine heraus, kam bei ihr vorbei und strahlte: »Super haben Sie das wieder geschrieben, Frau Kováts, super! Nicht wahr, Deutsch müsste man können«, und er zwinkerte ihr zu. Lina lächelte jeweils höflich und dachte: in der Tat. Aber im Grunde genommen mochte sie Hefti.

Heute war die Stimmung im Ratssaal unruhiger als sonst. Vor Sitzungsbeginn hatte der Angriff auf Angela Legler Gesprächsstoff gegeben. Diese saß tapfer im Saal, an der linken Schläfe ein großes Pflaster, mit geradem Rücken, als ob sie ein Brett verschluckt hätte, und mit einem Blick, der sagte: Ich lasse mich nicht mundtot machen. Der Fraktionspräsident hatte eine Debatte zum Vorfall vom Samstag verlangt, was aber von der Ratspräsidentin abgelehnt worden war. Sie hatte ihm nur eine kurze Erklärung zugestanden, in der er die Attacke verurteilte, ohne genauer auf die Ursache und den Kontext einzugehen. Es war eine heikle Angelegenheit, denn die CVP stand mehrheitlich gar nicht hinter Leglers Vorstoß, den Flohmarkt zu schließen, und war nicht glücklich über das Sonderzüglein, das sie in dieser Sache fuhr.

Die Debatte plätscherte weiter, noch immer ging es um die Steuersenkungen. Lina sah sich um. Wen sollte sie sich heute aussuchen? Vielleicht – ja, Ruth Noser. Die hatte ein interessantes Gesicht. Wenn Lina sich langweilte, fertigte sie manchmal kleine Bleistiftskizzen von den Kantonsräten an, keine Karikaturen, sondern Porträts, in denen sie versuchte, Stimmung und Ausdruck einzufangen. Obwohl sie diskret vorging, war das nicht verborgen geblieben. Es gab Ratsmitglieder, die misstrauisch darauf reagierten, im Vorbeigehen einen Kontrollblick warfen, um zu schauen, ob etwa sie das Opfer waren, aber auch andere, die ganz versessen darauf waren, von Lina gezeichnet zu werden, und ihr anboten, ihr Porträt zu kaufen. Denn es war bekannt, dass Lina Kováts auch Malerin war; eine kleine Galerie in Zürich stellte regelmäßig ihre Bilder aus. Lina fasste Ruth Noser ins Auge und begann, die Form ihres Kopfes zu skizzieren.

Kurz vor 10 Uhr betrat Streiff das Rathaus. Um 10 Uhr war Sitzungspause und er war mit Angela Legler verabredet, die ihm die Drohbriefe zeigen wollte, die sie in Sachen Flohmarktschließung erhalten hatte. Punkt 10 Uhr gingen die Türflügel des Ratssaals auf und die Politiker strömten heraus – in Richtung Café. Eine Frau mit einem dunklen Pagenkopf ging an ihm vorbei und grüßte ihn. Streiff nickte unverbindlich zurück. Wer war das bloß? Ach ja, vielleicht Lina Kováts, Valeries beste Freundin. Die arbeitete doch hier. Mit ihr kam er gar nicht gut zurecht, ihre oft wechselnden Haarfarben überforderten ihn heillos. Er war froh, dass Valerie und Lina keinerlei Neigung zeigten, ihre Freundschaft auf die zugehörigen Männer, ihn und diesen Hannes Neubauer, auszudehnen. Er schaute ihr nach. Sie ging auf einen Mann zu, der die Treppe hinaufkam. »Carlo«, rief sie, »kann ich rasch etwas mit dir besprechen?« Er hörte, dass der Mann sie mit Lina ansprach und wandte sich ab. Da erschien auch schon Angela Legler. Streiff hoffte, dass sie sich nicht mehr an seinen Sarkasmus vom Samstag erinnerte. Er fragte nach ihrem Befinden, aber Legler hatte keinen Sinn für Konversation.

»Kommen Sie«, sagte sie, »dort drüben sind wir ungestört.«

Er folgte ihr und sie reichte ihm zwei Briefe. Der eine war von Hand geschrieben, eine leicht lesbare, flüssige Schrift, der Brief gut formuliert. In deutlichen Worten wurde der Politikerin vorgeworfen, dass sie ein wichtiges Stück Alternativkultur abwürgen wolle, dass sie sich nicht schere um die Bedürfnisse der finanziell Minderbemittelten in dieser Stadt, dass ihr der direkte Draht zur Bevölkerung fehle. Der Brief war unterschrieben und mit einer Absenderadresse versehen.

»Das ist doch gar kein Drohbrief«, bemerkte Streiff. Hat die mich deswegen antraben lassen, fragte er sich gereizt.

»Bitte«, Legler hielt ihm einen zweiten Brief hin.

Dieser war auf dem Computer geschrieben und trug keine Unterschrift. Sie solle ihre Pfoten vom Flohmi lassen, wurde der Politikerin grob beschieden, sonst werde etwas passieren …

Streiff nahm die Briefe an sich und versprach, der Sache nachzugehen. Besonders beeindruckt war er nicht, es gab erstaunlich viele Leute, die ihrem Unmut über behördliche oder politische Entscheide in anonymen Briefen Luft machten. Aber immerhin, Angela Legler war am Samstag ein Stein nachgeworfen worden.

»Haben Sie einen konkreten Verdacht, von wem der Drohbrief stammen könnte?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Mit Leuten von diesem Niveau verkehre ich nicht«, stellte sie klar. »Meine Wählerschaft benimmt sich anders.«

Streiff ging darauf nicht ein. »Haben Sie am Samstag auf dem Flohmarkt jemanden bemerkt, der den Stein geworfen haben könnte? Haben Sie jemanden in einem bunten Pullover gesehen?«

»Jeder aus dieser unerzogenen Bande könnte mich angegriffen haben«, fuhr Legler auf. Wirklich weiterhelfen konnte sie nicht.

»Haben Sie Angst? Fühlen Sie sich persönlich bedroht?«, fragte er.

»Ich lasse mich nicht einschüchtern«, erklärte Legler stolz. »Ich habe einen Wählerauftrag.«

»Bei der Flohmarktschließung haben Sie aber vor allem Unterstützung von der SVP, nicht von Ihrer Partei«, konnte sich Streiff nicht verkneifen anzumerken.

»Das geht Sie gar nichts an«, klemmte sie ihn ab. »Sorgen Sie dafür, dass man sich in dieser Stadt frei bewegen kann, ohne zusammengeschlagen zu werden.« Sie wandte sich ab.

»Zu Befehl«, murmelte Streiff.

Die Pause ging dem Ende zu. Die Parlamentarier kamen grüppchenweise aus der Kaffeepause zurück. Ein großer massiger Mann mit Bürstenschnitt ging auf Angela Legler zu. »Na, geht es besser, Kiwi?«, fragte er.

Kiwi? Streiff wunderte sich.

»Sicher, so schnell lasse ich mich nicht unterkriegen«, hörte Streiff sie antworten. Offenbar fand sie es völlig in Ordnung, Kiwi genannt zu werden.

Lina Kováts setzte den Kopfhörer auf und drückte auf die Playtaste. Die Kantonsratssitzung war zu Ende, sie hatte von der Tonaufnahme der Sitzung noch im Rathaus eine CD gebrannt und ging nun in ihrem Büro im Kaspar-Escher-Haus daran, das Protokoll zu schreiben. Nach einleitenden Worten der Präsidentin, der Ansage, welches Geschäft behandelt wurde, war der erste Redner dran, der sich zur Steuersenkung äußerte. Lina hörte Heinrich Leuzinger, einen SVP-Vertreter: »Das Rezept der Linken, mit dem man die finanzielle Situation des Kantons beheben soll, lautet, sie zu erhöhen.« Lina brauchte nicht lange für die Korrektur, sie schrieb: Das Rezept der Linken, mit dem sie die finanzielle Situation des Kantons verbessern wollen, lautet, die Steuern zu erhöhen. Sie konnte sich noch daran erinnern, dass er den Satz gesagt hatte. Manchmal kam sie sich bei ihrer Arbeit vor wie in einer Art Zeitschleife. Das erste Mal erlebte sie die Situation live, in Echtzeit, mit Bild und Ton, das zweite Mal auf den Ton reduziert, der aus dem Kopfhörer in ihren Kopf strömte, und das dritte Mal in abstrahierter Form, als Text auf dem Bildschirm oder als Papierausdruck. Jedes Mal war sie ein Stück weiter davon entfernt. Aber innerlich konnte sie sich die Stimmen der Ratsmitglieder auch noch vergegenwärtigen, wenn sie den redigierten Text auf Papier Korrektur las. Es war, als könnte sie die Sprechenden in einem bestimmten Moment in ihrer Vergangenheit festhalten, obwohl diese in ihrer Gegenwart schon ganz woanders waren und nicht ahnten, dass sie auf Linas CD gefangen waren in einem ewigen Montagmorgen.

Sie korrigierte die Unvollkommenheit des gesprochenen Wortes. Druckreif reden – darüber konnte sie nur lächeln. Das hatte sie nur ein einziges Mal erlebt. Das Normale waren, auch bei Rednern, die gut rüberkamen und sich verständlich ausdrückten, angefangene Sätze, die syntaktisch im Nirgendwo endeten, Kaskaden von verschachtelten Nebensätzen, die abrupt geschnitten wurden von einer ganz anderen Konstruktion, Präpositionen, die ihr Verb im Stich ließen, Verben, die sich davongemacht hatten, als Nominative verkleidete Akkusativobjekte, falsche Bezüge, hinkende Vergleiche, Aussagen, die sich verzweifelt durch eine aus dem Ruder laufende Grammatik kämpften. Lina liebte das. Sie ging mit einer Mischung aus kühlem Sachverstand und Fürsorglichkeit ans Werk, verbesserte Verbformen und Fallfehler, glättete behutsam Holprigkeiten, strukturierte endlos lange Sätze, rückte ein schiefes Sprachbild gerade, fügte ein fehlendes ›nicht‹ ein, strich Füllwörter oder fügte eines ein, um eine akustische Betonung, die im Schriftlichen nicht direkt abzubilden war, nachzuvollziehen, stellte Satzteile um, um den Satz flüssiger zu machen. »Es gibt Überflüssiges, das nicht immer seinem Zweck zugeführt wird«, hörte sie aus dem Kopfhörer. Solche seltenen sprachlichen Kostbarkeiten gefielen ihr besonders. Unbeabsichtigte Paradoxa, die in der Debatte untergingen, aber bei ihr zum Vorschein kamen und die nur sie zu würdigen wusste. Was sie daraus machen sollte? Vielleicht würde sie es stehen lassen, einfach, weil sie es schön fand.

Aber jetzt war es 15.30 Uhr. Kaffeepause, ihr Arbeitskollege Carlo Freuler hatte seinen Kopfhörer bereits abgestreift und stand auf. Nach der Pause musste sie noch zu einer kurzen Sitzung der AG KVK, um das Protokoll zu schreiben. Darauf freute sie sich, denn da würde sie Valerie treffen, die als Expertin in dieser Arbeitsgruppe saß; Valerie und sie waren seit Schulzeiten miteinander befreundet. Es gab im Kaspar-Escher-Haus für die Mitarbeitenden der Parlamentsdienste keinen eigentlichen Pausenraum, nur eine winzige, düstere Teeküche, an deren Tür die Farbe abblätterte, und auf dem Flur zwischen den Büros standen ein paar Tischchen und ein Getränkeautomat. DDR hatten sie dieses Gebiet getauft, bis vor einiger Zeit eine futuristisch aussehende Raucherkabine installiert worden war. Nun passte dieser Name nicht mehr ganz. Sie fanden sich bei der Teeküche zusammen, Carlo Freuler, der zweite Protokollführer, Mario Bianchera, der Kommissionssekretär der Parlamentsdienste, der Sitzungen organisierte und Berichte für die Kommissionen schrieb, und Raffaela Zweifel, die erst seit zwei Monaten da war. Sie ersetzte im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms für Arbeitslose des RAV die ständige Administrativsekretärin, die einen unbezahlten Urlaub genommen hatte, um in England einen Sprachkurs zu besuchen. Die junge Frau hatte es nicht ganz einfach im Sekretariat. Die anderen wunderten sich, warum Angela Legler, die Präsidentin der Verkehrs- und Umweltkommission und Ratslektorin und deshalb häufig auf dem Sekretariat anzutreffen war, so unfreundlich mit ihr umging. Lina, die es wusste, sagte nichts. Legler war ohnehin nicht die Herzlichkeit in Person, sondern eher der raubeinige Typ, aber Raffaela wurde von ihr regelrecht schikaniert. Gut, sie war kein Mäuschen, wusste sich schon zu wehren und konnte Legler recht spöttisch anblicken, aber oft sagte sie nichts, wenn diese an ihrer Arbeit herumkrittelte. Sie konnte nicht das Risiko eingehen, rausgeworfen zu werden, denn das hätte ihr bei der weiteren Stellensuche geschadet.

 

Carlo hatte ein Protokoll einer Sitzung der Verkehrskommission, die über Mittag stattgefunden hatte, in Arbeit.

»Die Noser hat ja keine Ahnung«, regte er sich auf. »Hat einen ellenlangen Antrag vorgetragen und nicht gemerkt, dass sie da etwas verwechselt hatte und er überhaupt nicht zum Thema passte. Was soll ich damit jetzt machen?«

»Einfach streichen«, meinte Lina friedlich und nahm einen Schluck Tee.

Aber Carlo hörte ihr gar nicht zu. »Und die Legler ist ja komplett unfähig, eine Sitzung zu leiten«, schimpfte er weiter, »keine Ahnung, wie man eine Diskussion strukturiert.«

Lina sagte nichts, Raffaela kräuselte spöttisch die Lippen.

»Also komm, die ist doch mit den Nerven runter wegen der Geschichte vom Samstag«, verteidigte sie nun Mario. »Da wäre jeder etwas mitgenommen.«

Mario Bianchera war ein liebenswürdiger Mensch, der sich nie über andere das Maul zerriss. Er war Mitte 30, dunkelhaarig, etwas rundlich, von Beruf Politologe und Historiker. Seit seiner Scheidung vor zwei Jahren, die ihm arg zugesetzt hatte, lebte er allein. Seine achtjährige Tochter sah er am Wochenende. Er war ein Familienmensch und hatte Mühe gehabt, sich an diese Situation zu gewöhnen. Nachdem er längere Zeit melancholisch und still gewesen war, war er seit einigen Monaten wieder fröhlicher, momentweise fast übermütig. Ab und zu bekam er ein SMS, das, seiner Reaktion nach zu schließen, nicht von seiner Tochter stammte. Er liebte sie zwar zärtlich, aber das verträumte Lächeln deutete auf etwas anderes hin. Lina hatte sich gefragt, ob er wieder verliebt war. Sie hätte es ihm gönnen mögen. Hoffentlich ist es eine Frau, die zu ihm passt, hatte sie gedacht. Denn so umgänglich und friedfertig Mario war, hatte er doch auch seine Ecken und Kanten. Er hatte eine fast strenge Liebe zur Wahrheit. Notlügen oder Lügen aus Höflichkeit, mit deren Hilfe sich ja die meisten Menschen durch ihr Sozialleben hangelten, kamen für ihn nicht infrage. Wenn er einen Fehler gemacht hatte, stand er dazu, und wenn er Kritik anzubringen hatte, tat er es, zwar sacht, aber klar, auch wenn es sich um den Ratspräsidenten oder ein Regierungsmitglied handelte. Auch seine kleine Tochter erzog er zur Ehrlichkeit. Lina hatte ihr einmal einen Lebkuchen geschenkt. Die Kleine hatte sich bedankt und dann hinzugefügt: »Es ist schade, dass ich Lebkuchen nicht so gern esse.« Das hatte sie in einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und Charme gesagt, sodass Lina ganz beeindruckt gewesen war. Mario war allgemein beliebt, aber, mutmaßte Lina, in einer Beziehung mochte Marios Hang zu Offenheit und Gerechtigkeit vielleicht manchmal auch anstrengend sein. Jeder war doch darauf angewiesen, dass man einmal fünf gerade sein ließ, dass man etwas ein bisschen zurechtbog, verschwieg oder im Unklaren beließ. Jedenfalls hatte Mario durchaus Verständnis für menschliche Schwächen und war der Einzige, der Angela Legler in Schutz nahm.

Carlo zuckte die Schultern. »Dann soll sie sich krankschreiben lassen. Wäre eh eine Wohltat für alle«, brummte er.

Es war nichts Neues, dass Carlo in Rage geriet. Nicht nur wegen Angela Legler, aber wegen ihr besonders. Er hasste seine Arbeit, und mit Legler war er in einen zähen Kleinkrieg verwickelt, in dem beide einander nichts schenkten. Legler war Ratslektorin, was bedeutete, dass sie es war, die das fertige Ratsprotokoll nochmals las und letzte Korrekturen anbrachte, die Lina oder Carlo dann ausführen mussten. In dieser Funktion, das war auch Lina klar, war sie eine Fehlbesetzung. Sie hatte kein Sprachgefühl, keine soliden Grammatikkenntnisse, dafür ein großes Durcheinander mit der neuen Rechtschreibung im Kopf. Das hatten Carlo und Lina zwar nach dem Hin und Her der letzten Jahre mittlerweile ebenfalls, aber im Unterschied zu Madame Legler waren sie nicht zu stolz, in Zweifelsfällen den Duden zu konsultieren. Die Politikerin war rechthaberisch und stur und da man kein fehlerhaftes Ratsprotokoll im Internet wollte, war es immer wieder eine heikle diplomatische Mission, sich einvernehmlich auf die richtige Lösung zu einigen. Eine Mission, die immer öfter Lina übernehmen musste. Denn von Carlo Freuler ließ sich Angela Legler gar nichts sagen. Das, zusammen mit deren Falschkorrekturen, trieb Carlo zur Weißglut. Lina nahm das Ganze nicht so persönlich und sie wurde nicht ganz so von oben herab behandelt, aber angenehm war der Job auch für sie nicht.

Lina und Carlo hatten einmal Esther Jenny, die Leiterin der Parlamentsdienste, um Vermittlung gebeten. Aber sie, kurz vor der Pensionierung stehend, hatte keine Lust gehabt, sich in fremde Händel einzumischen.

»Der Geschäftsleitung einen Antrag stellen, Frau Legler als Ratslektorin abzusetzen?«, hatte sie entsetzt gerufen. »Kinder« – Carlo war 55 und Lina immerhin 48 – »nein, das können wir unmöglich machen. Dafür sind wir überhaupt nicht zuständig. Seid einfach höflich zu ihr und zeigt ihr, was im Duden steht.«

Also schlugen sich Carlo und Lina irgendwie durch.

Carlo trank seine Ovomaltine aus und wandte sich an Lina: »Du gehst doch nachher noch auf diese Sitzung der AG KVK.«

Lina wusste, was kommen würde.

»Könntest du nicht diesen Protokollauszug da mitnehmen und Legler vorlegen? Sie sagt hier oben auf der Seite das Gegenteil von dem, was sie hier unten behauptet. Kannst du das mit ihr klären?«

»Okay, mach ich.«

Insgeheim hielt Lina auch Carlo für eine Fehlbesetzung in diesem Job und fragte sich, warum er ihn nicht einfach aufgab. Seine Frau war eine Zahnärztin mit einer gut laufenden Praxis. Sie verdiente sicher genug für die ganze Familie. Carlo, der Philosophie studiert hatte, war eigentlich Schriftsteller. Er schrieb seit Jahren an einem Roman, der immer dicker, aber nie fertig wurde. Er wäre sicher glücklicher, dachte Lina, wenn er den ganzen Tag unbehelligt in seiner Klause sitzen und schreiben könnte. Die Arbeit im Kantonsrat betrachtete er als eine Zumutung, als eine ständige Beleidigung seiner Fähigkeiten. Es machte ihm keine Freude, abgestürzte Sätze zu retten, aus einem unbeholfenen Sprachgebilde etwas Schönes zu machen, aus unzusammenhängenden Sprachfetzen einen Sinn herauszuschälen. Er verachtete die Ratsmitglieder, die er allesamt für strohdumm hielt. Es kränkte ihn tief, hierarchisch unter ihnen zu stehen und für sie eine Dienstleistung erbringen zu müssen, die sie nicht einmal zu würdigen wussten.

Aber vielleicht brauchte es Carlo für sein Selbstwertgefühl, auch etwas zum Familienunterhalt beizutragen. Jedenfalls sprach Lina nie mit ihm darüber, es ging sie ja nichts an. Sie packte ihre Sitzungsunterlagen und den Protokollauszug von Carlo in eine Kartonmappe, klemmte sich den Laptop unter den Arm und machte sich auf den Weg zum Sitzungszimmer.

Inne książki tego autora