Tatort Teufelsbrücke

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Sitz!«

Artus horchte auf und nahm rasch die geforderte Position ein.

»Und bleib!«

Ein roter Ball flog durch die Luft.

Artus verfolgte ihn gebannt mit den Augen. In gespannter Erwartung lehnte er sich leicht nach vorn, harrte der Dinge.

Der Ball landete auf dem Boden und hüpfte dann mehrmals auf und ab. Wie ein Kaninchen.

Artus fing an zu hecheln. Sein schwarzes Fell fühlte sich in der Sonne stets heiß an, auch wenn die Luft selbst kühl war. Wann kam endlich das Kommando?

Der Ball hatte aufgehört zu hüpfen und rollte nun über die Wiese davon. Seine Vorderpfoten waren bereits so angespannt, dass sich die Krallen ins Gras bohrten. Er schloss sein Maul, spitzte die Ohren. Immer noch nichts. Seine dunklen Augen fixierten den Ball, der nun still dalag und sich im Gras versteckte. Er verfiel wieder ins Hecheln.

»Und los!«

Das Signalwort »los« glich einem elektrischen Stromschlag. Kaum hatte Artus das Kommando vernommen, kippte er vornüber und preschte los. Zwei Sekunden später hatte er den Ball gepackt, schüttelte ihn ordentlich durch und brachte ihn dann eilig zurück.

»Gut gemacht!«

Er gab den Ball nach kurzem Zögern ab und bekam im Gegenzug einen kleinen Leckerbissen ins Maul geschoben. Kaum hatte er den Fleischbrocken hinuntergeschluckt, erhielt er bereits den nächsten Befehl.

»Platz!«

Die Art und Weise, wie Artus sich ablegte, entsprach genau den Vorgaben: der Körper gerade ausgerichtet, die Vorderpfoten parallel.

Dieses Mal gab es keine Belohnung. Er wurde lediglich über den Kopf gestreichelt. Enttäuscht schluckte er den Speichel herunter.

»Bei Fuß«, erklang das nächste Kommando.

Er sprang auf, nahm kurz Blickkontakt auf. Nun war Konzentration gefordert. Herankommen, ganz dicht an der Seite bleiben, immer auf derselben Höhe Schritt halten, sich der Schrittgeschwindigkeit anpassen.

Rechts um das Hütchen herum, links um das Hütchen herum, rechts, links, rechts.

Artus war so sehr auf die Übung konzentriert, dass er den Mann erst bemerkte, als dieser bereits hinter dem Busch hervorgetreten war. Schon wieder dieser grimmig dreinblickende Riese mit der dicken Jacke und dem gepolsterten Arm! Obwohl er kein Wort sprach, interpretierte Artus dessen Körpersprache sofort als Bedrohung. Kein Mensch stand breitbeinig und mit erhobenen Armen da, wenn er friedliche Absichten hatte. Das Fell gesträubt, die Ohren angelegt fixierte er den Riesen. Sein Instinkt gab ihm vor, in sicherer Distanz stehen zu bleiben und den Angreifer zu verbellen. Stattdessen war er nun gezwungen, geradewegs auf den Mann zuzulaufen. Denn nach wie vor galt das Kommando »Fuß«. Artus hielt sich noch etwas dichter am Bein, streifte fast die Wade. Als sie nur noch wenige Meter von dem Mann entfernt waren, blieben sie stehen. Der Mann blickte ihm direkt in die Augen. Es war ein bohrender Blick, provozierend und voller Aggression. Artus fletschte die Zähne und knurrte.

»Ruhig!«

Er stieß nochmals ein lang gezogenes Knurren aus, verstummte dann aber. Dafür machte er zwei kleine Schritte nach vorn. Dies musste als Verteidigungshaltung genügen. Sein ganzer Körper stand unter Spannung. Zu allem bereit. Für ein paar Sekunden passierte gar nichts. Dann setzte sich der Riese auf einmal in Bewegung.

Er hätte das akustische Kommando eigentlich gar nicht mehr gebraucht. Längst hatte er den Schweiß gerochen, den beschleunigten Pulsschlag und das Adrenalin wahrgenommen.

»Spring!«

Ohne zu zögern, nahm er Anlauf, stieß sich dann mit aller Kraft vom Boden ab und flog mit weit von sich gestreckten Beinen auf den Mann zu. Der Riese schaffte es gerade noch, sich den gepolsterten Arm schützend vors Gesicht zu halten. Dann trafen ihn die Pfoten des Hundes an der Brust. Er hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt, den Hund abzuwehren. 50 Kilogramm Lebendgewicht im Anflug. Dieser Stoß warf den stärksten Mann um.

Zwischen den Treppenstufen klafften riesige Lücken, die tief blicken ließen. Ganz schön luftig, dachte Uschi, klammerte sich mit der linken Hand an das Geländer und bemühte sich, ihren Blick nach vorn und nicht nach unten auszurichten. Hoffentlich waren die Holzdielen nicht auch noch morsch! Langsam, ganz langsam tastete sie sich Schritt für Schritt die Holztreppe nach unten. Die Treppen und Stege führten meist dicht an der Felswand entlang, aber dieser Treppenabschnitt schien im freien Raum zu schweben und war dazu noch extrem steil. So wildromantisch hatte sie diesen Weg gar nicht mehr in Erinnerung gehabt.

Es war allerdings auch schon eine Weile her, dass sie das letzte Mal hier in Inzigkofen gewesen war. Sie dachte nach. Eine Weile? Es war mindestens 20 Jahre her! Sie war damals für zwei Jahre an eine Schule nach Krauchenwies abgeordnet worden und hatte in dieser Zeit im schmucken Städtchen Scheer gewohnt. An den Wochenenden hatte sie viele schöne Radtouren im Donautal unternommen und eines ihrer Lieblingsziele war das idyllisch gelegene Inzigkofen gewesen. Das Dorf lag nur wenige Kilometer von Sigmaringen entfernt, von Scheer aus war es dennoch kein Katzensprung gewesen. Deshalb hatte sie zwar bei jedem Besuch einen Abstecher in den Kräutergarten des Inzigkofener Klosters gemacht, für eine Wanderung im fürstlichen Park hatte ihr jedoch meist die Energie gefehlt.

Der Weg führte nun unterhalb der Felsen entlang. Wie bizarr die Auswaschungen der Felsenüberhänge aussahen! Auf einem Schild stand, dass die Grotten und Felsformationen vor etwa 150 Millionen Jahren aus Schwammriffen im tropisch-warmen Weißjurameer entstanden waren. Eine der Grotten hatte mit fünf Metern Höhe und zehn Metern Tiefe so beachtliche Ausmaße, dass Erbprinz Karl Anton sie 1840 mit Tischen und Bänken möblieren ließ. In der sogenannten Nebelhöhle feierte er dann den Abschluss der Jagd. Dort wurde das erlegte Wild aufgereiht und zum Zeichen, dass die Jagd vorbei war, das Halali verblasen.

Immer noch das Schild studierend, kramte sie aus ihrer Jackentasche ein Papiertaschentuch hervor und schnäuzte sich. Also, von tropisch-warmem Klima war das Donautal heute weit entfernt. Zwar schob sich hin und wieder die Sonne zwischen den Wolken hervor und tauchte den spätherbstlichen Wald in ein sanftes Licht, doch sobald man sich im Schatten aufhielt, wurde es empfindlich kalt. Uschi ertappte sich beim Gedanken, dass die Klimaerwärmung zumindest für das Donautal nicht nur Nachteile bringen würde, schämte sich aber sogleich wieder für den törichten Gedanken. Korallenriffe im Donautal? Lieber nicht! Sie stopfte das Papiertaschentuch wieder in ihre Tasche und ging weiter.

Leopold, der an der nächsten Biegung auf sie gewartet hatte, war sichtlich froh, dass sie sich endlich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Schwanzwedelnd rannte er ihr entgegen, drehte dann zwei Meter vor ihr ab und preschte wieder voraus. Er genoss seinen Freilauf in vollen Zügen und rannte in Hütehund-Manier unermüdlich vor und zurück. Dadurch legte er die doppelte, wenn nicht gar die dreifache Strecke zurück. Uschi hatte ihn kurzerhand von der Leine losgemacht, als sie den Wegabschnitt mit den Treppen erreicht hatten. Es wäre viel zu gefährlich gewesen, den stürmischen Hund treppab an der Leine zu führen. Leopold nahm mehrere Stufen auf einmal und Uschi hatte den Eindruck, dass er mehr flog, als dass er ging. Er machte so große Sprünge, dass er die Holzplanken kaum mit den Pfoten berührte. Leopold musste das Gefühl haben, mit einer Schildkröte auf Tour zu sein. Hin und wieder traf Uschi ein beinah ungeduldiger Blick, wenn sie bei jedem einzelnen Schritt zögerte und sich erst noch einmal vergewissern musste, wo sie ihren Fuß am besten hinsetzte. Um sich die Zeit zu vertreiben, schnüffelte er an jeder Ecke und markierte wie ein Weltmeister. Dennoch behielt er Uschi stets im Blick und kam unverzüglich angerannt, wenn sie ihr »Hierher« verlauten ließ. Uschi machte sich nichts vor. Die Folgsamkeit, die er an den Tag legte, hatte natürlich mit den Leckerlis zu tun, die sie ihm zur Belohnung ins Maul schob. Sie war sich auch nicht ganz sicher, ob er es gelegentlich bewusst darauf anlegte, eine Belohnung zu bekommen, und mit Absicht gerade so weit vorauslief, dass er sich zwar nicht mehr in Sicht-, aber durchaus in Hörweite befand.

Der Weg führte unter einem großen Felsentor hindurch und endete schließlich beim Känzele, einem Aussichtsfelsen mit wunderschönem Panoramablick. Atemberaubend, dachte Uschi und stützte sich schnaufend auf das Geländer der Brüstung. Tief unter ihr schlängelte sich die Donau durch ein grünes Wiesental, das zu beiden Seiten von bewaldeten Anhöhen eingerahmt wurde. Die Bäume am Flussufer spiegelten sich auf der glitzernden Wasseroberfläche der Donau und schufen ein Bild herbstlicher Idylle. Uschi schloss für einen Moment die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Als sie die Augen wieder öffnete, wirkte das Farbenspiel der Natur sogar noch imposanter als zuvor. Die Sonne ließ den grün-braunen Flickenteppich der Wiesen und Äcker und das bunte Herbstlaub der Wälder in den kräftigsten Farben erstrahlen.

Ein Warnschild erregte ihre Aufmerksamkeit:

Bitte nicht mit Steinen werfen. Wanderer sind gefährdet!

Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit. Sie hatte es bereits am eigenen Leib erfahren müssen, wie es war, wenn man mit Steinen aus großer Höhe beworfen wurde. Es gehörte mit zu den schlimmsten Dingen, die sie in ihrem Leben bisher hatte erfahren müssen. Offenbar hatte es hier auf dem Känzele auch schon Steinewerfer gegeben. Sonst hätte man ja dieses Schild nicht aufgestellt. Verärgert legte sie ihre Stirn in Falten. Wie gedankenlos konnten Personen sein, von einer Aussichtsplattform Steine herabzuwerfen?

 

Apropos gedankenlos! Wo war eigentlich Leopold abgeblieben? Vor lauter Begeisterung über die Aussicht hatte sie den Hund ganz vergessen! Erschrocken sah sie sich um. Hier war er nicht. Dort auch nicht. Besorgt sah sie über den Felsvorsprung in die Tiefe. Er war doch wohl nicht abgestürzt? Aber das hätte sie doch mitbekommen … Gut, sie hatte die Augen eine Weile geschlossen gehabt. Aber zumindest hätte sie es ja wohl gehört, wenn er vom Felsen gestürzt wäre. Wobei, so ganz sicher war sie sich da nicht. Vermutlich würde ein Hund im freien Fall nicht jaulen oder bellen, sondern einfach nur schweigend fallen. Was für eine schreckliche Vorstellung!

»Leopold«, kreischte sie. »Leopold! Komm zu mir! Hierher! Hiiierher!«

Sie sah sich nach allen Richtungen um, aber Leopold war nirgends zu sehen. Um Gottes willen, dachte sie entsetzt, wenn er nun tatsächlich abgestürzt ist – wie soll ich das nur Clara erklären.

Uschi brach der Schweiß aus. Verflixt! Warum hatte sie ihn auch nicht an der Leine gelassen! Zumindest auf dem Felsvorsprung hätte sie ihn anleinen müssen. Völlig arglos war sie davon ausgegangen, dass ein Hund nicht abstürzen konnte. Wie kam sie denn zu dieser Annahme? Weil er zwei Beine mehr als sie hatte? So ungestüm wie sich dieser Hund manchmal benahm, musste man eigentlich mit allem rechnen. Nein, man musste mit dem Schlimmsten rechnen! Sie versuchte es erneut:

»Leopold? Komm, ich hab ein Leckerli für dich! Leckerli!«

Stille. Doch plötzlich vernahm sie ein Rascheln. Es kam aus dem Gebüsch etwas unterhalb des Felsvorsprungs. Eine Sekunde später kam der gefleckte Kopf des Australian Shepherds zum Vorschein. Er machte zwei große Sätze, saß dann schwanzwedelnd neben ihr und blickte erwartungsvoll zu ihr auf.

»Leopold«, stieß Uschi erleichtert hervor. »Da bist du ja!«

Sie ging in die Knie, nahm seinen Kopf in die Hände und knetete seine Ohren. Sie war unendlich froh, den Wirbelwind wohlbehalten an ihrer Seite zu sehen.

»Du darfst doch nicht einfach so abhauen«, schimpfte sie ihn halbherzig und schob ihm dabei ein Leckerli in die Schnauze.

Während er schmatzend seine Belohnung genoss, ließ sie den Karabiner der Leine an seinem Geschirr klickend einrasten.

»So, nun bleibst du mir aber an der Leine«, sagte sie bestimmt. »Das nennt man in der Pädagogik ›logische Konsequenz‹. Hilft nicht nur bei überdrehten Kindern, sondern auch bei pubertierenden Hunden.«

Leopold fügte sich seinem Schicksal und akzeptierte seine Strafe. In den folgenden drei Minuten ging er auch recht ordentlich an der Leine. Dann aber war seine Geduld mit dem Bremsklotz am anderen Ende der Leine zu Ende und er beschloss, Uschis Tempo durch entsprechendes Ziehen und Zerren zu beschleunigen. Seufzend löste sie ihn wieder von der Leine. Leopold dankte es ihr mit einem kurzen Schwanzwedeln und stob beglückt von dannen. Es waren heute kaum Spaziergänger unterwegs. Warum sollte sie sich und dem Hund dann das Gezerre antun?

Nach ungefähr einem halben Kilometer erreichte Uschi den Eingang eines Felsentunnels. Auf der anderen Seite befand sich eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten des Parks: die Teufelsbrücke! Nach dem Tunnel ging es treppab, dann wieder treppauf und schon hatte man die steinerne Brücke erreicht. Uschi lehnte sich an die Brüstung, die ihr bis zum Oberschenkel reichte und blickte in die Tiefe. Oha, das waren bestimmt um die 20 Meter! Leopold fragte sich wohl, was es da so Interessantes zu sehen gab. Kurzerhand tat er es ihr gleich, stützte die Vorderpfoten auf der Steinmauer ab und streckte den Hals. Uschi griff nach seinen Pfoten und schob ihn energisch von der Mauer.

»Nein, mein Freund«, sagte sie entschieden. »Für junge Hunde gibt es hier nichts, aber auch gar nicht zu sehen.«

Tatsächlich war der Ausblick schön, wenn auch nicht ganz so spektakulär wie vom Känzele aus. Herbstwald, Donau und Felswände. Mehr gab es nicht zu sehen. Die Aussicht war allerdings auch sekundär. Die eigentliche Attraktion war die elegant geschwungene Brücke selbst, die mit auf- und absteigenden Treppen über die »Höll-Schlucht« hinwegführte. Uschi schlenderte über die Brücke und studierte dann das Schild, das auf der anderen Seite der Brücke angebracht worden war. Das klang ja interessant! Die 21 Meter lange Brücke existierte in ihrer jetzigen Bauweise seit 1895 und diente dazu, die als »Höll« bezeichnete Schlucht zu überqueren. Die Schlucht selbst hatte man früher durch eine Treppen- und Steganlage begehen können. Uschi war nicht traurig darüber, dass die Steganlage nicht mehr existierte. Da sie weder tollkühn noch halsbrecherisch veranlagt war, hätte sie dieser Himmelsleiter vermutlich nicht viel abgewinnen können.

Der Aspekt, der sie an der Brücke am meisten beeindruckte, war ohnehin die Sage, die um ihre Entstehung rankte. Demnach war die Brücke vom Teufel höchstpersönlich erbaut worden. Als Gegenleistung verlangte er von den Inzigkofenern eine Seele. Die erste Seele, die über die Brücke gehen würde, sollte ihm gehören. Offenbar waren die Bewohner von Inzigkofen gerissen genug, dem Teufel ein Schnippchen zu schlagen: Sie jagten kurzerhand einen Hund über die Brücke, bevor sie diese selbst betraten. Somit musste sich der Teufel notgedrungen mit der Seele des Hundes zufriedengeben.

Uschi betrachtete nachdenklich den Australian Shepherd, der völlig unbekümmert die Brücke überquert hatte. Das war mal wieder typisch. Der Mensch ließ sich für seine Klugheit feiern und keiner dachte an den armen Hund, der geopfert worden war und seine Seele für die Bevölkerung lassen musste. Sie trat an Leopold heran und streichelte ihm sanft über den Kopf. Nun ja, immerhin hatte man dem Hund überhaupt eine Seele zuerkannt. Die Erkenntnis, dass Tiere eine Seele besitzen, war vor 125 Jahren sicher kein weitverbreitetes Gedankengut gewesen. Selbst heutzutage wurden Tiere in Deutschland rechtlich gesehen ja immer noch den »Sachen« zugeordnet. Kam ein Tier zu Schaden, sprach man von Sachbeschädigung. Lediglich bei Vorsatz lag der Tatbestand der Tierquälerei vor. Uschi beugte sich zu Leopold hinab und blickte ihm in die gefleckten Augen. Da war sie. Seine Seele. Man musste nur hinschauen und das Herz einen Spalt breit öffnen. Uschi fischte ein Leckerli aus der Tasche und schob es Leopold ins Maul. Einfach so. Ausnahmsweise einmal ohne Gegenleistung.

Von nun an ging es stetig bergab, bis sie nach wenigen Minuten das Ufer der Donau erreichten. Uschi trat an die Uferböschung und lauschte. Wie das Wasser rauschte! Bunte Herbstblätter zogen an ihr vorüber, tanzten auf den Wellen der Donau, herangetragen von der Strömung. Uschi fixierte ein rotes Buchenblatt und versuchte, es nicht aus dem Blick zu verlieren. Dies war eine schöne Meditationsübung, die sie gerne an Flüssen durchführte. Wenn sie ein Problem hatte, stellte sie sich vor, dass der belastende Gedanke mit diesem Blatt davontrieb. Doch momentan hatte sie zum Glück kein Problem. Jedenfalls nichts Gravierendes, das sie über Gebühr beschäftigen würde.

Ein lautes Platschen am Flussufer riss sie aus ihren Gedanken. Was war das denn gewesen? Und wo steckte eigentlich dieser Hund schon wieder? Gerade eben hatte er doch noch neben ihr gesessen. Er wird doch nicht … Aus welcher Richtung war das Platschen denn gekommen? Von links? Uschi rannte los.

Wer weiß, ob dieser Hund schwimmen konnte. Aber waren dazu nicht alle Hunde von Natur aus imstande? So ein sportlicher Hund wie Leopold konnte gewiss schwimmen! Fragte sich nur, wie lange. Wenn er von der Strömung mitgerissen worden war, konnte selbst so eine Sportskanone wie Leopold an seine Grenzen kommen und irgendwann absaufen.

Während Uschi, den Blick fest auf den Fluss geheftet, das Ufer abrannte, machte sie sich schwerste Vorwürfe. Wie hieß dieser Spruch? Die Kunst besteht darin, nie zweimal denselben Fehler zu machen. Warum war sie nur so blöd gewesen und hatte ihn erneut frei laufen lassen? Dieser Hund war doch unberechenbar! Und wenn sie weiterhin so fahrlässig war, würde ihn das demnächst womöglich noch sein Leben kosten. Und soweit sie informiert war, hatten Hunde nur ein Leben und nicht sieben wie die Katzen. Im Wechsel schrie sie seinen Namen und rannte, schrie und rannte. Vor lauter Aufregung sah sie auch noch schlecht. Oder waren das die Tränen in ihren Augen? Sie meinte jedenfalls, einen Waschbär gesehen zu haben. Nanu? Der gefleckte Waschbär kam direkt auf sie zu.

»Leopold!«, keuchte Uschi. »Oh Gott, wie siehst du denn aus?«

Von wegen Waschbär! Leopold stand triefend vor ihr. Er war so durchweicht, dass sein Fell dicht am Körper klebte. Offenbar war er unter Wasser geraten, denn auch sein Kopf war nass. Ganz dünn und klein sah er nun aus.

Leopold tat das, was alle Hunde taten, wenn sie nass waren: Er schüttelte sich. Und zwar so heftig, dass das Wasser nur so aus seinem Fell spritzte. Kreischend machte Uschi einen Satz zur Seite, bekam aber trotzdem eine Dusche ab. Nun stand das Fell zerzaust in alle Richtungen ab. Doch noch war es nicht trocken. Deshalb rutschte Leopold mit hocherhobenem Hinterteil, Schnauze voraus durchs Dickicht, gelangte dann auf die angrenzende Wiese und wälzte sich durchs Gras. Dann führte er sich auf, als hätte ihn eine Hummel in den Hintern gestochen, und raste wie wild im Kreis herum. Seine Ohren flogen und seine Füße bekamen kaum die Kurve, so ein Tempo hatte er drauf. Erst in die eine Richtung, dann in die andere Richtung. Uschi blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Erlitt dieser Hund gerade einen Anflug von Welpenrasen?

»An Ihrer Stell würd i jetzt mal ganz schnell mein Hund an die Leine nehmen!«

Uschi fuhr überrascht herum. Hinter ihr stand ein olivgrün gekleideter Mann mit gelben Gummistiefeln. Sie schätzte ihn auf Ende 50, Anfang 60. Die grauen Haare standen etwas wirr vom Kopf ab, Nase und Wangen waren gerötet – ob vor Erregung oder durch zu viel Alkoholgenuss war auf den ersten Blick schwer einzuschätzen. Verwundert zog Uschi eine Augenbraue hoch. Was wollte der Typ denn von ihr? Er führte einen stattlichen Golden Retriever mit sich, der mindestens ebenso grimmig dreinschaute wie sein erbostes Herrchen. Weshalb regte sich dieser Mann eigentlich so auf, fragte sich Uschi verunsichert. Der in Raserei verfallene Leopold hatte seinen Golden Retriever ja noch nicht einmal bemerkt. Sie wollte sich gerade schon wieder abwenden, als sie das Gewehr registrierte. Der Mann trug es locker, aber gut sichtbar über der Schulter. Oho! Hier handelte es sich wohl um einen Jäger. Und so wie es aussah, war mit diesem Jäger nicht gut Kirschen essen. Da sie sowieso vorgehabt hatte, Leopold nun wieder anzuleinen, marschierte sie auf die Wiese und versuchte es mit dem Kommando »Hierher!«.

Das brachte freilich wenig, denn Leopold hatte die Ohren auf Durchzug gestellt und war inzwischen dazu übergegangen, im Zickzack über die Wiese zu flitzen.

»Leopold! Kommst du hierher? Hierher! Hörst du!«

»Warum lassa Sie Ihrn Hund denn frei schpringa, wenn er net folgt?«

Uschi empfand es als ungeheures Zeichen der Respektlosigkeit, von hinten angesprochen zu werden. Also sah sie es auch nicht für nötig an, sich nach ihm umzudrehen.

»Es ist gar nicht mein Hund«, verteidigte sie sich über die Schulter hinweg. »Er ist nur mein Urlaubshund. Aber normalerweise folgt er ganz gut. Nur eben gerade nicht.«

Der Jäger wechselte ins Hochdeutsche. Dies klang nun noch eine Spur schärfer.

»Aber wenn dies nicht Ihr Hund ist, dann könne Sie ihn doch erst recht nicht frei springen lassen!«

Uschi hatte es satt. Mit ausgestreckten Armen rannte sie auf den Aussie zu und versuchte, ihn zu schnappen. Leopold interpretierte dies als Spielaufforderung. Herausfordernd bellte er sie an, sprang kurz an ihr hoch, nur um dann blitzschnell einen Haken zu schlagen und wieder auf Abstand zu gehen. Als er merkte, dass sie nicht den Hauch einer Chance hatte, ihn zu erwischen, machte er sich einen Spaß daraus, sie in immer kleineren Kreisen zu umrunden. Uschi fand das alles andere als lustig. Sie wusste sehr wohl, dass sie sich gerade vor dem Jäger zum Affen machte. Mit zusammengebissenen Zähnen keuchte sie »Na, warte!« und setzte zu einem Hechtsprung an. Der ging leider ins Leere, da sich Leopold mit einem einzigen Satz rasch aus der Gefahrenzone gebracht hatte. Doch da kam Uschi eine neue Idee.

»Schau mal, was ich für dich hab!«, säuselte sie zuckersüß. »Leckerli! Ja, so ein feines Leckerliii!«

Leopold stand still und horchte mit schief gelegtem Kopf. Leckerli?

Einen Wimpernschlag später stand er neben ihr und schnüffelte erwartungsvoll und freudig schwänzelnd an ihrer Jackentasche.

 

»So, jetzt hab ich dich!«, fauchte Uschi, packte ihn am Geschirr und befestigte die Leine daran.

Enttäuscht stellte Leopold fest, dass das versprochene Leckerli seltsamerweise ausblieb. Uschi wusste, dass sie ihn nun eigentlich belohnen müsste, denn er war ja tatsächlich zu ihr hergekommen. Andererseits hatte er sein Spiel mit ihr getrieben, und da sie immer noch den kritischen Blick des Jägers im Rücken spürte, konnte ihr im Moment jegliche Hundepädagogik gestohlen bleiben. Verärgert zerrte sie ihn neben sich her und zischte dabei fortwährend »Fuß!«.

Sie war bestrebt, einen großen Bogen um Jäger und Hund zu machen, doch für diesen war das Thema offensichtlich immer noch nicht erledigt. Er schnitt ihr den Weg ab und baute sich mitsamt seinem Hund vor ihr auf. Da Leopold grundsätzlich an allen Hunden interessiert war, zerrte er nun wie verrückt an der Leine, um den Artgenossen auf hündische Art und Weise ordentlich unter die Lupe zu nehmen. Uschi riss ihn mit einem genervten »Fuß!« zurück, nur um daraufhin erneut ein Stück Richtung Golden Retriever geschleift zu werden. Obwohl sie Leopold nun wie gewünscht an die Leine genommen hatte, sah der Jäger alles andere als zufrieden aus. Sein Gesicht war sogar noch eine Spur röter geworden und zwischen seinen Augenbrauen war eine tiefe Furche entstanden. Er sah sie so abschätzig an, als habe sie gerade die Reifen an seinem Auto zerstochen.

»Wenn Sie des nächste Mal den Hund frei herumspringen lassen«, sagte er streng, »muss ich von der Schusswaffe Gebrauch machen.«

Uschi starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen ungläubig an. Was hatte er da gerade gesagt? Von der Schusswaffe Gebrauch machen? Das konnte ja wohl nicht sein Ernst sein! Uschi schnappte vor Empörung nach Luft, wich aber gleichzeitig einen Schritt zurück. Die finstere Miene des Jägers ließ keinen Zweifel zu. Dieser Idiot bedrohte sie! Er wollte sie erschießen! Zuerst sie und dann den Hund. Oder umgekehrt.

»Wie meinen Sie denn das?«, entgegnete sie schrill. »Wollen Sie mir drohen?«

Der Jäger räusperte sich und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.

»Laut Bundesjagdgesetz § 23 bin ich als Jagdpächter verpflichtet, das Wild vor wildernden Hunden zu schützen«, sagte er im Brustton der Überzeugung.

»Aber …«, Uschi war so perplex, dass ihr für einen Moment die Worte fehlten. Dann sagte sie kopfschüttelnd: »Mein Hund hatte überhaupt nicht vor zu wildern. Sie haben doch selbst gesehen, dass er die ganze Zeit auf der Wiese im Kreis herumgerannt ist.« Sie blickte zum Wald hinüber und fügte hinzu: »Außerdem ist gar kein Wild in der Nähe!«

»Woher wollen Sie das denn wissen?«, schleuderte er ihr verächtlich entgegen. »Ihr Hund riecht das Wild auch auf eine große Entfernung hin. Es genügt übrigens, wenn Ihr Hund – ich zitiere – ›deutlich erkennbar im Wald Wild hinterherjagt oder es gefährdet und andere Maßnahmen, wie einfangen, fehlschlagen‹.« Ein überhebliches Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. »Und das mit dem Einfangen ist ja wohl gründlich fehlgeschlagen. Das müssen Sie zugeben.«

»Moment mal«, widersprach Uschi. »Ist mein Hund nun an der Leine oder nicht?«

Der Jagdpächter zog eine Grimasse.

»Eigentlich reicht es schon, wenn sich der Hund – ich zitiere – ›nicht im Einwirkungsgebiet des Halters befindet‹. Und wirklich einwirken konnten Sie auf den Hund nicht mehr. Das hat man deutlich gesehen.«

»Sagen Sie mal, was wollen Sie eigentlich von mir?«, rief Uschi wütend. »Legen Sie es nur darauf an, Hunde abzuknallen? Schafft Ihnen das Vergnügen, oder was? Wenn Sie so weitermachen, dann zeige ich Sie an.« Sie überlegte kurz, wofür sie ihn anzeigen könnte. »Wegen Sachbeschädigung«, entfuhr es ihr.

Im selben Moment bereute sie schon, das unsägliche Wort in den Mund genommen zu haben. Sachbeschädigung! Wie konnte sie nur!

Erneut war da dieses schräge Grinsen auf dem Gesicht des Jagdpächters. Es gefiel ihm offenbar, dass er es geschafft hatte, sie in Bedrängnis zu bringen. Sie hatte den besten Freund des Menschen im Eifer des Gefechts zur Sache degradiert und war somit genau auf der Gesprächsebene angelangt, wo er sie haben wollte.

»Das können Sie machen, wie Sie wollen. Aber eins kann ich Ihnen gleich sagen: Ich bin im Recht. So oder so. Wenn ich vor Gericht sage, ich hätte das Gefühl gehabt, dass der Hund kurz davor war, im Wald zu verschwinden, dann ist das Gesetz unter Garantie auf meiner Seite. Da haben Sie keine Chance!« Er holte kurz Luft. »Deshalb gebe ich Ihnen den guten Rat, dass Sie ihren Hund künftig einfach an der Leine lassen. Das ist ja nicht so schwer zu kapieren, oder? Dann hab ich kein Problem – und Sie auch nicht.«

»Wissen Sie was?«, keifte Uschi und stemmte die Hände in die Hüften. »Mir ist das jetzt wirklich zu dumm. Ich gehe jetzt. Und wenn Sie mich oder meinen Hund noch einmal mit Ihrem Gewehr bedrohen, dann gehe ich zur Polizei.« Sie machte auf dem Absatz kehrt, zog Leopold hinter sich her und murmelte in einem fort: »Eine Unverschämtheit ist das! Eine Un-ver-schämt-heit! Von der Schusswaffe Gebrauch machen. Der spinnt ja!«

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