2610 m ü.M. Irma Clavadetscher

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Irma erfüllt – nicht ganz so perfekt wie ihre ältere Schwester, aber doch einigermassen – die Erwartungen, die in der Familie an ein Mädchen gestellt werden. In ihrem Inneren jedoch beginnt eine kleine Rebellin zu wachsen, die sich an den vielen Einschränkungen und Vorschriften reibt und andere Vorstellungen entwickelt, als sie der Vater für seine Töchter hat. Jakob widersetzt sich allen Vorschriften von klein auf am unbekümmertsten. Er strapaziert immer wieder Nerven und Geduld der Mutter aufs Äusserste. Die sonntäglichen Wanderungen im Toggenburg oder in den Appenzeller Bergen gefallen ihm gar nicht, und einmal kann überhaupt nicht gewandert werden, weil der kleine Knirps unbemerkt während der Fahrt seine Schuhe aus dem Autofenster geworfen hat. Als er dann die Schule besucht, muss am Morgen immer mal wieder sein Schulranzen gesucht werden, weil er ihn am Abend zuvor irgendwo am See liegen gelassen hat, und wenn im Dorf ein Spitzbubenstreich verübt wird, ist allen klar: «Das war Spenglers Köbeli.» Als es darum geht, nach den sechs Jahren Primarschule die richtige Schule für Jakob zu finden, ist der Vater überzeugt: Jakob braucht eine besonders strenge Schule.

Für Ursula, das allseits verwöhnte Nesthäkchen, gelten besondere Regeln. Da Hedi, die älteste Schwester, schon bald nach Ursulas Geburt auswärts zur Schule geht, wird sie in ihren ersten Lebensjahren oft von Irma betreut. Es ist eine traumatische Erfahrung für die ganze Familie, aber vor allem für Irma, als Ursula im Kindergartenalter vor ihren Augen direkt vor dem Elternhaus auf die Strasse springt und von einem Auto erfasst wird. Mit einem Schädelbruch und einem gebrochenen Bein kommt sie halbwegs glimpflich davon, aber der Spitalaufenthalt ist lang, und der Unfall markiert den Beginn von weiteren gesundheitlichen Problemen, mit denen Ursula noch lange kämpft.

Fast achtzig Jahre später zieht Irma dieses Fazit: «Wir hatten eine gute Kindheit. Es fehlte uns an nichts, was damals überhaupt nicht selbstverständlich war. Wir lebten in einem geräumigen, modernen Haus, in dem es sogar ein Badezimmer gab. Von unserem Balkon aus sahen wir direkt auf die Strasse hinunter und zählten zur Unterhaltung die Autos. Jedes Auto war noch fast eine Sensation. Die Felsenburg, der Bauernhof der Grosseltern mütterlicherseits, war für uns Kinder ein Paradies, ebenso der kleine Hühnerhof der Grossmutter väterlicherseits ein paar Strassen entfernt, wo wir frische Eier holten und den duftenden Kuchen, der eben aus dem Backofen kam, kosten durften. Und das Allerschönste: der See, in dem wir im Sommer schwammen und badeten, bis wir blau waren vor Kälte und schlotterten, die ausgedehnte Riedlandschaft, wo wir Wasservögel beobachteten und Frösche quaken hörten und wo wir die grossen Ledischiffe und ab und zu ein elegantes Dampfschiff vorbeiziehen sahen. Unsere Spielplätze waren tausendmal schöner als jeder moderne Abenteuerspielplatz.»



Franz und Sophie Müller-Kuster mit dem zehnjährigen Franz in Schmerikon. Irma Adelina Müller, 1947.

Jugend
«Day-o, Day-ay-ay-o … Daylight come and me wanna go home.» (Harry Belafonte)

Die Schülerin

Im Anschluss an die Primarschule besteht Irma die Aufnahmeprüfung in die Sekundarschule. Es kränkt sie, dass der Vater sie dennoch nach Wurmsbach schicken will. Sie weiss, dass die Klosterschwestern dem Vater immer wieder grössere Aufträge zuhalten, und fragt sich, ob die Müller-Töchter eine Art diplomatisches Gegengeschenk an die Klostergemeinschaft sind. Aber Hedi wurde ja auch nach Wurmsbach geschickt, und sie war dort schliesslich nicht unglücklich. Als Irma dann an einem schönen Frühlingsmorgen zum ersten Mal das Seeufer entlang nach Wurmsbach radelt und auf der einen Seite des Wegs das Schilf mannshoch steht, während auf der anderen dunkelblaue und gelbe Iris blühen, ist sie schon halb ausgesöhnt, und gänzlich zufrieden ist sie am Ende des ersten Schultags, nachdem sie ihre Lehrerinnen kennengelernt hat.

Die Klosterfrauen sind uralt; zumindest in Irmas Augen. Und sie sind, ebenfalls das in Irmas Augen, durchwegs eigenartig, ja schrullig. Aber sie sind auch freundlich und geduldig. Und es gibt eine Lehrerin, die ohnehin alles andere aufwiegt: die schöne, junge Klosterfrau, die Irma sofort zu ihrer Lieblingslehrerin erkürt. Ihr zuliebe will sie eine glänzende Schülerin sein, und die Schule – ganz egal, welches Fach – beginnt plötzlich, richtig Spass zu machen. Dennoch wird sie nie verstehen können, warum eine so attraktive und lebensfrohe junge Frau den Weg ins Kloster gewählt hat und sich freiwilllig einsperren lässt. Diese Frage beschäftigt sie. Im zweiten Sekundarschuljahr glaubt Irma, in den Augen ihrer Lieblingslehrerin Traurigkeit zu entdecken; zweifellos ist sie unglücklich. Machte sie nicht kürzlich auf dem Flur, als Irma mit ihr für einen Moment allein war, eine diesbezügliche Bemerkung? Irma würde sie gerne danach fragen, wagt es aber nicht. Heimlich beobachtet sie die geliebte Lehrerin. Einige Monate später ist die junge Klosterfrau eines Morgens verschwunden. Den Schülerinnen wird mitgeteilt, sie habe das Kloster verlassen. Irma freut sich unbändig, sie zweifelt keinen Augenblick, dass vor den Klostermauern ein gut aussehender, junger Mann gewartet und sie abgeholt hat. Sie stellt sich vor, wie die junge Frau endlich das strenge Kleid ablegt und man ihr schönes Haar sehen kann. Gewiss ist es dunkel und fällt bis auf die Schultern. Die beiden sind wohl schon über alle Berge, in Italien vielleicht, an einer tiefblauen Bucht, wo Kamelien und Oleander blühen …

Im Anschluss an die Sekundarschule hat der Vater Irma für einen Jahreskurs an der traditionsreichen Haushaltungsschule im Broderhaus in Sargans angemeldet. Das behäbige Bürgerhaus mitten im Städtchen Sargans gefällt Irma, auch mit den Lerninhalten Haushalt, Küche und Babypflege ist sie ganz zufrieden, aber nach diesem Jahr möchte sie ihren Traumberuf Coiffeuse lernen, was der Vater jedoch strikte verbietet, da ihm das zu oberflächlich und unseriös erscheint. Erstaunlicherweise kämpft Irma nicht für diesen Traum, wohl weil der Vater für einen anderen Vorschlag, der ihr ebenfalls entspricht, sehr zugänglich ist. Irma hat schon immer gerne gestrickt und genäht, und mit einer Damenschneiderinnenlehre ist er einverstanden.

Die Lehrstelle und heikle Fragen

Schnell findet Irma eine Lehrstelle in Rapperswil und beginnt mit viel Elan und Freude ihre Ausbildung. Das exakte Arbeiten bereitet ihr keine Mühe, und der Umgang mit den verschiedenen Materialien, Farben und Schnitten fasziniert sie und befriedigt ihren Sinn für Schönheit und Eleganz. Schon bald schneidert sie alle ihre Kleider selbst und verdient sich ein zusätzliches Taschengeld, indem sie auch für andere näht. Sie liebt die derzeitige Mode: die weiten Röcke und eng anliegenden Oberteile, die breiten Gürtel um die schmale Taille. Ganz besonders gefällt ihr das wichtigste Zubehör, der Petticoat, ein weiter Unterrock aus gestärkter Baumwolle oder Tüll, verziert mit Rüschen, Schleifchen und Spitzen, der dem weiten Oberrock Halt und Volumen verleihen soll, sodass dieser möglichst weit von der Taille absteht. Die Mädchen und jungen Frauen sehen alle aus wie Balletttänzerinnen mit knielangen Tutus in bunten Farben. Wenn Irma in einem solchen Kleid ausgehen will und das Pech hat, dem Vater zu begegnen, gibt es keine Gnade; sie muss sich umziehen. Der Petticoat hebt den weiten Rock so weit an, dass man das Knie sieht. «So kannst du nicht rumlaufen. Was sollen die Leute denken!» Und auch ihr erster, mutiger Versuch mit einem leuchtend roten Lippenstift und passendem Nagellack stösst auf keinerlei Verständnis: In hohem Bogen wirft der Vater Lippenstift und Nagellack aus dem Fenster.

Darüber, was sich gehört und was nicht, sind die Meinungen in Schmerikon jedoch geteilt. Die jungen Männer sind allesamt angetan von der jungen Irma Müller, der allseits bekannten, hübschen und schick gekleideten Tochter aus gutem Haus. Wenn Irma bei einer offiziellen Veranstaltung dank der Position ihres Vaters als Ehrendame auftreten darf, stehen die Verehrer Schlange. Aus verschiedenen Rekrutenschulen treffen buchstäblich Berge von Feldpostkarten ein: «Tausend Grüsse und Küsse von D. R.» oder «Die ganze Nacht träumte ich von dir, ich konnte fast nicht schlafen». Walter fragt an: «Liebes Irmeli, Hättest Du Lust, an einem Wochenende im August mit mir auf den Pizol zu kommen?», und ein etwas kindlicher, anonymer Verehrer, der sich Tom Dooley nennt, schreibt: «Ich liebe Dich wie Apfelmus, so fest wie Marmelade. Ich liebe dich am linken Fuss, und an der rechten Wade.» Oder etwas deftiger: «Wir lieben Dich so heiss, wie der Bock die Geiss!» Die Karten sind an «Fräulein Irma Müller, Spenglers Töchterli, Schmerikon» oder an «Fräulein Irmeli Müller, Damenschneiderin, Schmerikon» adressiert.

So sehr sich die jungen Männer mit Komplimenten und Einladungen förmlich überschlagen, Irmas Freizeit spielt sich in einem beschränkten und harmlosen Bereich ab. Es gibt nicht allzu viele Möglichkeiten für Mädchen aus gutem Hause, auszugehen, und wenn, dann geht man mit seiner besten Freundin. In Schmerikon und Umgebung haben Elvis Presley und der Rock ’n’ Roll Einzug gehalten, und Irma träumt zu Harry Belafontes «Banana Boat Song», der allerersten Langspielplatte, die sie sich kauft, von der Karibik und den heissen Rhythmen, zu denen dort getanzt wird. In modisch weitem Kleid und Petticoat geht sie mit ihrer besten Freundin an Sommersamstagen aber dennoch zu Fuss an die volkstümlichen Tanzanlässe in den umliegenden Dörfern und im Herbst an eine der vielen Älplerchilbis. Ab und zu nehmen sie den Zug nach Rapperswil, um sich dort einen Kinofilm anzuschauen. Aber egal, wo sie den Samstagabend verbringen, Irmas Vater holt die beiden im schwarzen Mercedes ab oder wartet am Bahnhof Schmerikon, wenn sie mit dem letzten Zug aus Rapperswil eintreffen. Es sei spätnachts zu gefährlich für zwei junge Frauen, meint er. Das passt Irma gar nicht, sie fühlt sich überwacht und eingeschränkt. Sie provoziert den Vater: «Wir sind doch auch allein hingegangen, warum soll es auf dem Heimweg plötzlich gefährlich sein? Was soll uns denn passieren? Hast du Angst, ich könnte ein Kind bekommen? Dazu müsste ich zuerst einmal wissen, wie das überhaupt geht! Passiert das schon bei einem Kuss? Das müsstest du mir einmal erklären!»

 

Sie weiss, dass sie darauf keine Antwort erhalten wird, dass der Vater, peinlich berührt, ausweichen und schweigen wird. Mehrmals hat sie schon erfahren, dass sich auch die Mutter nicht an dieses heikle Thema wagt. Wie in allen Belangen war die Antwort der Mutter: «Frag den Vater.» Es ist eine Mischung aus Wut und Verzweiflung, die Irma so heftig reagieren lässt. Natürlich ist es nicht so, dass sie gar keine Ahnung hat, sie hat schon vielerorts tuscheln hören, hat sich auch schon heimlich die vom Vater streng verbotene Jugendzeitschrift Bravo gekauft, in der Hoffnung, endlich etwas Genaueres über das Geheimnis zu erfahren, das die Erwachsenen vor den Jugendlichen so streng hüten. Und da sind ja auch noch die immer mächtigeren Zweifel, dass die Geschichte von der unbefleckten Empfängnis, die in der Christenlehre erzählt wird, nicht stimmen kann. So viel ist ihr klar, ohne Sex gibt es keine Kinder, aber sie weiss nicht, wie Sex funktioniert. Und sie ist wütend auf die Eltern, die gar keine Erklärungen abgeben, und wütend auf den Pfarrer, der etwas erzählt, das so offensichtlich falsch ist.

Sie möchte endlich mehr wissen, sie kann ihre eigenen Gefühle und Empfindungen nicht einordnen, sie verwirren sie, zumal ihre Eltern offenbar solche Gefühle gar nicht kennen. Niemals hat sie ihre Eltern Berührungen oder gar Zärtlichkeiten oder Küsse austauschen sehen, und sie haben immer sorgsam darauf geachtet, dass die Kinder sie nie unvollständig bekleidet oder gar nackt sehen. Und Hedi oder Franz, die ihr vielleicht etwas dazu hätten sagen können, wohnen nicht mehr zu Hause. Hedi ist im Welschland und Franz im Internat. Irma möchte jetzt wirklich endlich ganz genau wissen, was geschieht, wenn ein Kind entsteht. Schon einmal hat sie vor einiger Zeit den Vater herausgefordert, als er ein Bravo bei ihr entdeckte und es sofort verbrannte. «Dann sag du es mir doch, wenn ich das nicht lesen darf! Dann kläre doch du mich auf!» Aber der Vater hat auch damals geschwiegen.

Nach erfolgreich abgeschlossener Lehre arbeitet Irma noch einige Monate als Damenschneiderin in Rapperswil, aber sie will so bald als möglich weg von zu Hause, in die Welt hinaus. Sie findet eine Stelle als Au-pair in Paris. Während eines Abendessens informiert sie die Eltern über ihre Pläne. Der Vater ist zunächst sprachlos, dann explodiert er förmlich. «Das kommt überhaupt nicht infrage! Du bleibst hier in Schmerikon!» – «Tue ich nicht! Ich gehe nach Paris! Ich bin 19, und du kannst mir das nicht mehr verbieten!», kontert Irma. Wie immer sitzt der Vater oben am Tisch und Irma unten, ihm gegenüber. Schon bei mancher Meinungsverschiedenheit haben sie einander über den Tisch hinweg angeschrien, und ab und zu flog auch mal ein Löffel über den Tisch, wenn Irma den Vater zu sehr reizte. Diesmal fliegt kein Löffel, aber der Vater bleibt unnachgiebig: «Du bleibst hier! Ich befehle es dir!» – Vielleicht ist es ein Rest Gehorsamkeit oder doch die Angst vor der grossen Stadt, der fremden Sprache. Nach einer schlaflosen Nacht gibt Irma jedenfalls teilweise nach und beschliesst, in der Schweiz eine Stelle zu suchen. Aber weg von Schmerikon will sie auf alle Fälle.

Endlich flügge

Schon bald findet sie eine Saisonstelle bei einer Damenschneiderin in Arosa. Aber auch damit ist der Vater nicht einverstanden. Er will seine Tochter in Schmerikon behalten, zumal er weiss, dass es hier einen gut situierten jungen Mann gibt, der in Irma verliebt ist und sie heiraten möchte. Er versucht nun, Irma mit einer Bestechung umzustimmen. Wenn sie hierbleibt und die Stelle in Rapperswil nicht aufgibt, wird er ihr ein eigenes Auto kaufen und auch die Fahrstunden bezahlen. Sie darf bei der Wahl der Marke und der Farbe mitreden! Irma lacht laut. «Ich brauche kein Auto, das bedeutet mir nichts.» Und dann fügt sie etwas versöhnlicher hinzu: «Sieh mal, Vater. Ich bin 19 Jahre alt. Ich bin jetzt erwachsen. Du kannst mich nicht ewig behüten und beschützen.»

Und so bezieht Irma Müller, Spenglerstochter, im Herbst 1959 im Hause Fortuna in Arosa ein Zimmer und beginnt, im Couture-Atelier Urech zu arbeiten.

Was sie nicht weiss, ist, dass nur wenige Monate zuvor ein junger Aroser namens Hans Clavadetscher das Amt des Hüttenwarts in der Chamanna Coaz im Oberengadin übernommen hat. Im Winter spielt Hans im Team des Eishockeyclubs Arosa, der gerade eine beispiellose Erfolgsphase mit sieben Schweizermeistertiteln hinter sich hat. Da ist die Wartung der kleinen, primitiven Hütte zuhinterst im Engadiner Val Roseg ein idealer Sommerjob. 1959 erstürmen erst wenige Touristen und Wanderer die Gipfel, und die Bergsteiger, die zur Hütte aufsteigen – fast ausnahmslos Mitglieder des Schweizer Alpen-Clubs –, bringen ihr eigenes Essen mit und erwarten keinen Komfort. Hans’ Aufgabe ist es, die Hütte sauber und ordentlich zu halten und dafür zu sorgen, dass der Holzvorrat nicht ausgeht und die Quelle bei der Hütte sauber bleibt. Davon hat Irma natürlich noch keine Ahnung, denn zu diesem Zeitpunkt hat all das noch nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun.

Freiheit in der rauen Bergwelt
«Als er begann, mich die Namen der Berge abzufragen, wäre ich fast davongelaufen.»

Arosa: Herbst 1959 bis Herbst 1961

Irma lebt sich schnell ein in Arosa. Die neue Chefin ist zwar eine etwas griesgrämige, altjüngferliche Frau, aber die Arbeit mit der zum Teil internationalen, eleganten Kundschaft gefällt Irma. Sie macht Bekanntschaften, schliesst Freundschaften, sie wagt erste Rutschversuche auf den Skiern, sie geht aus, tanzt, flirtet und geniesst die neue Freiheit. Niemand schreibt ihr etwas vor, niemand kontrolliert sie, sie ist niemandem Rechenschaft schuldig. Sie experimentiert mit neuer Kleidung, neuer Frisur, neuer Haarfarbe. Ein kurzer Besuch zu Hause in Schmerikon mit rot gefärbtem Bubikopf bestätigt ihr die Richtigkeit ihres Entschlusses, Schmerikon zu verlassen. Als der Vater sie in ihrer neuen Aufmachung sieht, beginnt er sofort zu gestikulieren und zu schreien, sodass sie die Türklinke gar nicht erst loslässt und gleich in den nächsten Zug steigt, zurück nach Arosa. Dort, zuhinterst im engen Bergtal, atmet sie auf und fühlt sich freier als in der offenen, freien Landschaft des Zürichsees.

Schon bald hat sie eine «beste» Freundin gefunden. Marianne ist vor Kurzem aus Deutschland angekommen und arbeitet als Floristin in einem Aroser Blumengeschäft. Die beiden jungen Frauen verstehen sich auf Anhieb und empfinden sich als Seelenverwandte. Sie sind beide ausgezogen, um die Welt zu erobern, sie teilen den Drang nach Freiheit und Ungebundenheit und die Leidenschaft fürs Tanzen. Auch haben beide einen ausgeprägten Sinn für Schönheit, Farben und Formen. Irma schneidert in ihrer Freizeit schicke, modische Tanzkleider für sich und Marianne, manchmal sogar identische, in denen sie sich wie Zwillinge fühlen. Und so verhalten sie sich auch, wenn sie zusammen zum Tanzen ausgehen: Sie gehen zusammen hin, und sie gehen wieder zusammen nach Hause. Das ist eine unausgesprochene Abmachung, ganz egal, wie heftig sie flirten oder wie attraktiv der Tänzer sein mag, der sich für die eine oder die andere interessiert. Sie beschützen sich gegenseitig vor der Versuchung, sich mit einem Mann einzulassen, denn sie haben noch viel vor und wollen keinesfalls frühzeitig in die Beziehungs- oder gar Ehefalle tappen. Das Leben in Arosa gefällt ihnen ausgezeichnet, aber es soll für beide nur die erste Station sein auf ihrem Weg in die grosse, weite Welt.

Dreimal kommt es vor, während Irmas erstem Jahr in Arosa, dass sie unerwarteten Besuch aus Schmerikon erhält. Drei junge Männer haben dieselbe Idee. Jeder von ihnen hofft offenbar, dass er nun, da Irma allein in der Fremde lebt, vielleicht bessere Chancen hat, sie doch noch zu erobern. Einer versucht es mit einem Geschenk, der zweite mit einem Blumenstrauss und der dritte, Willi, mit seiner Überzeugungskraft. Alle drei wollen sie nach Schmerikon zurückholen; wenn sie möchte, gerne auch als Braut. Irma fühlt sich durchaus geschmeichelt, aber sie braucht keine Bedenkzeit. Verlobung? Niemals! Zurück nach Schmerikon? Niemals!

Christian Clavadetscher

Obwohl – so ganz ohne Männer fehlt auf die Dauer doch das Salz in der Lebenssuppe. Da gibt es zum Beispiel die zwei «Spinner», die in Arosa immer mal wieder von sich reden machen. Es sind zwei befreundete junge Männer, ungefähr gleich gross, die durch ihr Wuschelhaar und ihre langen Vollbärte auffallen. Der eine ist rothaarig wie eine Karotte, der andere hat rabenschwarze Haare. Irmas Chefin weiss, dass der schwarzhaarige, den sie Hitch oder Hitta nennen, obwohl er eigentlich Christian heisst, nicht nur einen Schäferhund, sondern auch ein Maultier besitzt; er soll ein ganz einfaches, naturverbundenes Leben führen. Man erzählt sich, dass er jeweils allein, nur von den beiden Tieren begleitet, zu Fuss über die Berge ins Engadin gehe, um seinen Bruder zu besuchen, der dort als Hüttenwart eine SAC-Hütte bewirtschafte. Irma ist fasziniert. Wer wandert schon mit einem Maultier in der Welt herum? Und wie, ums Himmelswillen, gelangt man zu Fuss von Arosa ins Engadin? «Nun ja», erklärt eine Bekannte, eine Aroserin. «Auf dem alten Passweg über die Maienfelder Furgga zur Stafelalp, von da nach Davos-Frauenkirch und dann über den Scalettapass nach La Punt. Von dort sind es über St. Moritz und den Hahnensee noch etwa acht Stunden bis zur Hütte. Insgesamt sind es schon ungefähr drei Tage.» Irma staunt, und der Kopf schwirrt ihr von all den unbekannten Namen. Das muss ein ganz extremer, verrückter Kerl sein, denkt sie. Und in ihren Augen ist das eine Auszeichnung.

War es Schicksal, dass sich Irma und Hitta, die in völlig verschiedenen Welten lebten, begegneten? Oder begegnete man sich, wenn man zu jener Zeit in Arosa lebte, früher oder später unweigerlich? Beide können sich jedenfalls später nicht an ihr erstes Treffen erinnern. Fest steht nur, dass Irma seit der Bemerkung ihrer Chefin neugierig nach dem aussergewöhnlichen jungen Mann mit dem schwarzen Bart Ausschau hält. Hitta seinerseits ist die hübsche, junge Schneiderin aus dem Unterland mit dem übermütigen Lachen und den Grübchen in den Wangen auch aufgefallen, und er möchte sie gerne kennenlernen. Der glückliche Zufall will es, dass Hitta mit jenem Aroser Bauern befreundet ist, der seit einiger Zeit um Irmas Freundin Marianne wirbt, sodass die beiden miteinander bekannt gemacht werden, «wie es sich gehört». Dennoch dauert es noch ein Weilchen bis zum ersten richtigen Rendezvous. Und das beginnt nicht unbedingt erfolgversprechend. Hitta lädt Irma an einem Sonntag zu einem Spaziergang und einem Kaffee ein, und er weiss nichts Besseres, als sie die Namen aller Berge rund um den Aroser Talkessel abzufragen, vielleicht um seine eigene Unsicherheit und Verlegenheit zu überspielen, indem er sie in Verlegenheit bringt, denn er geht ja nicht jeden Tag mit einer eleganten Unterländerin spazieren. Sie fühlt sich ertappt, da sie kaum einen Berggipfel nennen kann, und ist nun tatsächlich verlegen. Von Liebe auf den ersten Blick kann bei Irma keine Rede sein, aber Tatsache ist, dass Hitta ihr mit dieser Eröffnung unbeabsichtigt einen Blick in sein tiefstes Inneres erlaubt, auch wenn sie es nicht so wahrnimmt. Die Berge gehören untrennbar zu ihm und seinem Leben, und wer ihm nahekommen will, muss sich mit den Bergen auseinandersetzen. Trotz diesem wenig verheissungsvollen Anfang treffen sich die beiden nun ab und zu an einem Sonntag und gehen miteinander in die Berge. Irma erfährt von Hitta, dass er in ganz einfachen Verhältnissen aufgewachsen ist und immer noch bei seinen Eltern lebt. Er hat nicht einmal ein eigenes Zimmer und schläft in der Stube. Im Winter arbeitet er als Pistenkontrolleur und Skilehrer. So bald als möglich möchte er das Bergführerpatent erwerben.

Der Zugvogel

Ende Wintersaison 1961 wird Irma von einer inneren Unruhe gepackt. Sie lebt nun schon seit eineinhalb Jahren in Arosa und braucht Abwechslung. Gewiss, sie ist vielleicht ein ganz klein wenig verliebt in den schwarzhaarigen Bergler, aber sie will schliesslich frei und unabhängig bleiben. Da lockt die Stadt Zürich als neues Abenteuer. Im Warenhaus St. Annahof an der Bahnhofstrasse findet sie eine Stelle als Änderungsschneiderin, und sie entschliesst sich, während der Sommermonate doch wieder in Schmerikon bei den Eltern zu wohnen – teils aus Kostengründen, teils auf Druck des Vaters, dem die Idee, dass seine Tochter allein in der grossen Stadt ein Zimmer mietet, gar nicht gefällt.

 

Hitta verbringt einen grossen Teil des Sommers auf 2400 Metern in der Coaz-Hütte im Val Roseg. Sein Bruder Hans ist zum Schluss gekommen, dass das Leben im Hochgebirge und die Arbeit als Hüttenwart doch nicht so ganz seine Sache seien, und Hitta hat die Hüttenwartstelle von ihm übernommen. Ihm kommt die relative Freiheit, die diese Arbeit gewährt, entgegen. Er hat die Ausbildung zum Bergführer begonnen, die in Abschnitten von jeweils einem oder mehreren Tagen absolviert wird. Ab und zu trifft in Schmerikon eine Postkarte von ihm ein, manchmal gleich zwei oder drei nacheinander.

4. Mai 1961 (Bild: Dufourhütte)

Hier eine Karte von unserer zweiten Tour. Leider haben wir die Berge nicht gesehen, alles war im Nebel. Herzliche Grüsse Hitta

6. Mai 1961 (Bild: Hotel Hermann Geiger, Sion)

Wegen schlechtem Wetter sind wir wieder im Tal. Doch auch hier ist es schön, vor allem die Mädchen. Gruss Hitta

8. Mai 1961 (Bild: Les Pyramides d’Euseigne)

Schon wieder sind wir unterwegs zum Klettern. Somit ist es aus mit den Mädchen! Gruss Hitta

Dass viele solche Karten in regelmässigen Abständen eintreffen, spricht eine deutliche Sprache; ebenso die Tatsache, dass Irma sie fast sechzig Jahre später noch immer sorgfältig aufbewahrt und etliche davon vergilbte Spuren vom Klebeband tragen, mit dem sie an der Wand befestigt wurden.

Schon bald folgt diesen kurzen, wenig emotionalen Postkartengrüssen ein Brief. Hitta hat offenbar Sehnsucht nach Irma und sie nach ihm.

Coaz, 25.6.61

Liebe Irma

[…] Alles, aber auch alles, was ich mir wünsche, ist Dich wieder zu sehen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, ich bin gewiss, und wenn die ganze Welt gegen mich ist, ich sehe Dich wieder. Hier ist es herrlich, all die Blumen, der Himmel und ziehende Wolken, Sonnenflirren über Eis und Gletscher, helles Grün der Lärchen, Duft der Arven.

All diese Schönheit möchte ich sammeln und Dir, Irma, senden, damit Du etwas hast für Deine Traurigkeit.

Du und ich, schau, Irma, ich bete sogar zu einem Gott, dass er unsere Liebe erhalte.

Viele Küsse

Dein Christian

Diesem Brief kann Irma nicht widerstehen. Sie zögert zwar, entschliesst sich dann aber, Hitta in seiner Bergeinsamkeit zu besuchen, um mit eigenen Augen zu sehen, wo und wie er nun lebt.

August 1961: erster Besuch auf der Coaz-Hütte

Irma und ihr Bruder Franz sitzen sich im Zug nach Chur gegenüber und schweigen. Beide sind in Gedanken versunken. Franz ist in seiner Fantasie bereits in St. Moritz angekommen und stellt sich die Wanderroute vor, die er gestern auf der Karte sorgfältig studierte. Ob sie wohl Gämsen sehen werden, im Corvatschgebiet oder im Rosegtal? Oder wird er übermorgen das Engadin wieder verlassen, genauso enttäuscht wie beim letzten Mal, als alles Warten und Ausschauhalten mit dem Feldstecher ihm nichts als ein paar Murmeltiere vor die Linse brachte? Die Reise ins Engadin ist doch ziemlich lang und auch nicht gerade billig. Wenn es diesmal wieder nicht klappt mit den Gämsen, könnte es eine Weile dauern bis zum nächsten Versuch. Lohnen wird sich die Reise zwar auf jeden Fall, und nicht nur wegen der wundervollen Bergwelt. Er wird Irmas Aroser Freund kennenlernen, dessen Besuch in Schmerikon neulich den Vater so aufgebracht hat. Offenbar arbeitet er seit dem Frühling als Hüttenwart auf der Coaz-Hütte. Da muss man schon aus ganz speziellem Holz geschnitzt sein, um dieses Leben in der Abgeschiedenheit des Hochgebirges zu wählen, denkt er.

Auch Irma ist mit ihren Gedanken beschäftigt. Sie ist halb amüsiert, halb verärgert. Nur weil sie jetzt eine Sommersaison in Zürich arbeitet und wieder im Elternhaus wohnt, glaubt der Vater, er müsse erneut seine väterliche Autorität geltend machen und über ihre Tugend wachen. Dabei ist sie 21 Jahre alt und lebt und arbeitet seit bald zwei Jahren in Arosa, ohne dass er irgendeinen Einfluss darauf gehabt hätte, wie und mit wem sie ihre Zeit verbrachte. Und das geht ihn auch gar nichts mehr an.

Sie darf nicht daran denken, wie unmöglich er sich gebärdet hat, als Hitta sie vor einigen Wochen in Schmerikon besuchen wollte. Es war geradezu peinlich. Hitta musste in einem Hotel übernachten, als ob sie in ihrem grossen Haus nicht genügend Platz gehabt hätten, um ihn unterzubringen. Aber nein! Was würden auch die Leute sagen! Schlimm genug, dass Spenglers Tochter Herrenbesuch bekam, aber ihn auch noch im Haus übernachten lassen, diesen Wilden, diesen Berg-Hippie, der nichts ist und nichts hat, wo sie doch nur mit dem kleinen Finger winken müsste, um Willi, den wohlhabendsten und respektabelsten jungen Mann von Schmerikon, zu heiraten. In einer Villa in einem Park könnte sie leben, wahrscheinlich mit einem Dienstmädchen. Und wer weiss, wie weit es der junge Mann noch bringen wird. Immerhin hatte er schon jetzt gute Aussichten auf einen Sitz im Gemeinderat. Und wenn ihr dieser nicht passen würde, gäbe es genügend andere katholische junge Männer mit anständigen Berufen in Schmerikon, die sich um das schöne «Fräulein Spengler» reissen würden. Der Vater regte sich furchtbar auf, und es kam – wie so oft in früheren Jahren – wieder einmal zu einer lauten Auseinandersetzung zwischen ihm und seiner mittleren Tochter.

Irma bricht der kalte Schweiss aus, wenn sie an die Wünsche ihres Vaters für ihre Zukunft denkt. Sie hat nicht die geringste Absicht, irgendwen zu heiraten, und zuallerletzt möchte sie diesen Willi heiraten, von dem ihr Vater so begeistert ist. Weder jetzt noch irgendwann. Ihr schaudert allein bei der Vorstellung, mit einer adretten kleinen Schürze Willis Frühstück zuzubereiten und ihm dann hinterher zuzuwinken, wenn er in seinen Mercedes steigt, um eine Sitzung in seiner Firma zu präsidieren. Pünktlich um 12.15 Uhr würden sie sich zu Tische setzen, um die Mittagsnachrichten am Radio zu hören; und am Nachmittag wäre dann für sie ein Besuch beim Coiffeur angesagt oder ein Kaffeeklatsch mit Freundinnen. Natürlich müsste sie am Abend rechtzeitig zurück sein, um die adrette kleine Schürze wieder umzubinden und das Abendessen aufzutragen. Am Wochenende wäre der Besuch bei den Schwiegereltern Pflicht, und im Sommer würde man für drei Wochen an die Adria fahren, immer in dasselbe Hotel. Jeden Tag, jedes Jahr, ein ganzes Leben lang, immer dasselbe! Und stets beobachtet und überwacht von der Hautevolee de Schmerikon. Eine absolut grauenvolle Vorstellung. Niemals! Irmas Groll auf den Vater wächst, türmt sich auf wie Gewitterwolken, während der Zug den stillen, dunklen Walensee entlangfährt und irgendwann Sargans erreicht. Jetzt beginnt sie allmählich, sich auch über sich selbst zu ärgern. Warum nur hat sie sich darauf eingelassen, ihren Bruder mitzunehmen? Immerhin ist nicht anzunehmen, dass er die Rolle als Tugendwächter gern spielt.

Inzwischen nähern sie sich bereits Chur. Sie blickt ihren Bruder verstohlen an. Er schaut ruhig aus dem Fenster, mit einem sehr zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht. Er scheint sich doch auf diesen Ausflug zu freuen. Er mag die Berge, geht oft wandern, war im Gegensatz zu ihr selbst sogar schon einmal im Engadin. Er hat die Wanderkarte sorgfältig studiert und ihr den Weg zur Coaz-Hütte beschrieben. Drei Stunden Gehzeit und 900 Höhenmeter von St. Moritz bis zur Passhöhe Fuorcla Surlej, und dann noch einmal eineinhalb Stunden bis zur Hütte. Na ja, vielleicht ist es gar nicht so schlecht, ihn dabeizuhaben. Wer weiss, vielleicht findet sie in ihm sogar einen Verbündeten gegen die abstrusen Pläne des Vaters.

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