Holzperlenspiel

Tekst
Z serii: Leo Schwartz #10
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

3.

„Wir haben einen Toten in Kastl,“ empfing Werner Grössert die Kollegen Viktoria und Leo, als sie eben das Polizeigebäude in Mühldorf betraten.

Werner war müde, denn er und Hans hatten gestern Abend noch stundenlang nach dieser Sandlerin Babette Silberstein gesucht, aber niemand kannte sie oder hatte sie gesehen. Überhaupt waren die wenigen Obdachlosen, die sie aufgespürt hatten, nicht sehr gesprächig, beinahe feindselig der Polizei gegenüber eingestellt, was auch irgendwie verständlich war. Die Beamten machten erst sehr spät Feierabend, nachdem sie alle einschlägig bekannten Stellen abgesucht hatten. Frustriert zogen sie sich zurück, Frau Silberstein war nicht aufzufinden – vielleicht meldete sich jemand aufgrund der heute erschienenen Pressemitteilung, der ein Foto der Frau beigefügt war.

Viktoria und Leo waren heute früh dran und hatten nur wenig gefrühstückt, denn in ihrer Küche der neu ausgebauten Wohnung auf dem Hof bei Hans Hieblers Tante Gerda in Altötting war es empfindlich kalt und Leo als Schwabe sah keinen Sinn darin, nur wegen der kurzen Frühstückszeit den Ofen einzuheizen. Viktoria hatte mit Tante Gerda gesprochen, die Leos Sparsamkeit kannte – sie versprach, heute Abend rechtzeitig den Ofen anzuheizen, damit sie beide es kuschelig warm hätten.

„Schäm dich Leo, man muss sich als Gentleman immer darum kümmern, dass seine Herzdame niemals friert. Und heute Morgen sind es nur wenige Grad über Null und dazu haben wir auch noch dicken Nebel.“ Tante Gerda drohte mit dem Finger und Leo schämte sich nun tatsächlich. Er hörte auf die alte Dame, die wie eine Mutter für ihn war. Tante Gerda war eine Seele von Mensch und beide mochten sie sehr. Sie brauchten ihre Tür nicht abzuschließen, denn sie hatten ein so starkes Vertrauen in die gute Tante Gerda, die in ihrer Wohnung ein- und ausging. Niemals würde sie fremde Personen mit in die Wohnung nehmen, dafür hatte sie viel zu viel Anstand. Auch wenn Handwerker, Kaminkehrer oder irgendwelche Leute in die Wohnung mussten, rief sie Leo oder Viktoria immer vorher an und bat um Erlaubnis. Sie respektierte die Privatsphäre und drängte sich niemals auf. Teilweise erwartete die beiden Polizisten nach Feierabend ein Topf mit leckerem Essen auf dem Herd, das sie sich nur noch warmmachen mussten. Die Post lag auf dem Couchtisch und erst gestern hatte Tante Gerda die Wohnungstür mit Kürbissen und frischen Blumen geschmückt. Am Wochenende aßen die drei gemeinsam, gingen spazieren, sahen ab und an gemeinsam fern oder saßen an trüben Tagen zusammen und spielten Karten, wobei Tante Gerda regelmäßig schummelte und sich einen Spaß daraus machte, die beiden an der Nase herumzuführen. Das Leben hier war herrlich und sie lebten wie eine richtige Familie. Um nichts in der Welt würden sie freiwillig von diesem wunderschön gelegenen Hof und vor allem nicht von Tante Gerda wegziehen, obwohl die Wohnung für zwei Personen sehr beengt war.

„Ein Toter? Schon wieder? Das gibt es doch nicht, was ist denn los?“, schimpfte Viktoria, denn einen weiteren Mordfall konnten sie jetzt ganz und gar nicht gebrauchen, sie waren in diesem ja noch keinen Schritt weitergekommen. „Weißt du was Genaues?“

Werner schüttelte den Kopf.

„Nein, Fuchs hat angerufen, da er bei dem vermeintlichen Unfall Ungereimtheiten festgestellt hat. Mehr weiß ich auch nicht.“

Viktoria stöhnte auf, ihr war Friedrich Fuchs ein Dorn im Auge. Der unsympathische Mann, den sie gerne mit einem Wiesel verglich, war pedantisch, schroff und verlangte seinen Leuten einiges ab, weshalb es regelmäßig Ärger gab. Niemand mochte diesen Mann, aber alle schätzten seine Arbeit.

„Übrigens war Ferdinand Schuster heute schon hier, der Bruder des getöteten Klosterbruders,“ sagte Hans, während sie zu ihren Fahrzeugen gingen.

„Hat er etwas Brauchbares ausgesagt, das uns weiterhilft?“

„Nein, nichts. Er kannte seinen Bruder kaum und ist an sich der Kirche gegenüber kritisch eingestellt, er selbst ist sogar schon vor vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten, weshalb es mehrfach heftigen Streit unter den Brüdern gab.“

„Ich kann beide Seiten verstehen. Bei so krassen Gegensätzen in einer Familie muss es zu Reibereien kommen, das liegt ja auf der Hand.“

Wenig später standen sie im mit vielen Strahlern ausgeleuchteten Garten eines großen Anwesens mitten in Kastl vor dem Toten, der mit dem Gesicht nach unten im Gras lag. Am Hinterkopf sahen sie deutlich eine blutende Wunde. Neben dem Toten lagen eine Axt und eine Säge, im Gras nur knapp einen Meter entfernt standen eine Kettensäge und zwei Benzinkanister. In der Nähe der Leiche lag ein dickerer Ast, auf dem jede Menge Blutspuren zu sehen waren.

„Was sollen wir hier Fuchs? Machen Sie sich wieder mal wichtig? Das sieht doch ein Blinder, dass das hier ein Unfall war. Der Mann war bei der Gartenarbeit und hat diesen Ast auf den Kopf bekommen,“ schnauzte Viktoria genervt.

„Ja, das sollen wir glauben. Ich bin auch zuerst von einem Unfall ausgegangen, aber die Spuren passen nicht zueinander. Dieser Ast kann niemals diese Verletzung verursacht haben, sehen Sie selbst. Der Mann wurde nicht bewegt. Jetzt nehme ich diesen Ast mit dem Blut – und voilà – beides passt nicht zusammen. Erstens wurde dieser Ast dort hinten abgesägt, die Schnitte passen exakt zusammen, daran besteht kein Zweifel – wie also soll der Ast von da hinten bis hier vorn heruntergefallen sein? Nein, das funktioniert niemals. Und zweitens wurde die Wunde am Hinterkopf mit einem scharfkantigen Gegenstand beigefügt, dafür ist der runde Ast nicht passend, wie Sie eben selbst gesehen haben. Der Mann wurde erschlagen, aber nicht mit diesem Ast. Deshalb habe ich Sie gerufen, denn hier will uns jemand einen Unfall als Todesursache unterjubeln.“ Friedrich Fuchs war euphorisch und absolut überzeugt von einem Mord, sodass die Beamten, die allesamt von einem Unfall ausgegangen waren, nun auch skeptisch waren – das, was Fuchs vorbrachte, war einleuchtend und nachvollziehbar. Hans Hiebler sah sich die Schnitte von Ast und Baum genauer an und musste Fuchs zustimmen. Werner bückte sich und nahm die Wunde am Hinterkopf genauer in Augenschein.

„Herr Fuchs hat Recht, diese Wunde wurde niemals mit diesem Ast beigefügt. Gute Arbeit Herr Fuchs, Respekt.“

„Da wollte uns aber jemand richtig verscheissern,“ sagte Leo, der Fuchs anerkennend auf die Schulter klopfte. „Was können Sie uns über den Toten sagen?“

„Der Mann heißt Xaver Fischer. Ich schätze mal, dass der Mann gegen 7.00 Uhr erschlagen wurde, plus minus eine halbe Stunde. Genaueres erfahren Sie nach der Obduktion. Mehr weiß ich nicht, das ist nicht meine Aufgabe, auch deshalb habe ich Sie gerufen. Wir haben hier noch viel Arbeit vor uns und wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden…?“

„Um 7.00 Uhr? Da war es doch noch dunkel, sind Sie sich bei der Uhrzeit ganz sicher?“

„Selbstverständlich. Wie immer zweifeln Sie an mir, das kenne ich zur Genüge. Aber wenn Sie sich umblicken, sehen Sie bestimmt die vielen Strahler.“

„Sie meinen, das sind nicht Ihre?“

„Natürlich nicht. Ich habe nicht so hochwertiges Equipment, bei uns wird doch immer gespart.“

„Das Opfer hat heute früh tatsächlich den Garten ausgeleuchtet, um Gartenarbeiten zu machen? Das ist doch vollkommen verrückt, wer macht denn so was?“

„Offenbar dieser Fischer.“

Nun musste auch Viktoria klein beigeben und sich wohl oder übel bei Fuchs entschuldigen.

„Es tut mir leid, es war absolut richtig, dass Sie uns gerufen haben. Sehr gut Fuchs, machen Sie weiter. Suchen Sie jeden Millimeter ab, damit wir denjenigen so schnell wie möglich finden, der aus diesem Mord einen Unfall konstruieren wollte. Haben Sie in der Hand des Toten eine Holzperle gefunden?“

„Sie denken an einen weiteren Mord des gleichen Täters? Nein, ich kann Sie beruhigen, keine Holzperle.“

Viktoria atmete erleichtert auf; auch die anderen hatten bereits die gleiche Befürchtung gehabt.

„Gibt es irgendwelche Zeugen? Wer hat die Polizei gerufen?“

„Von irgendwelchen Zeugen ist mir nichts bekannt, Sie müssten sich also schon selbst bemühen, das ist schließlich Ihre Aufgabe. Der Sohn des Opfers hat die Polizei gerufen, er hat seinen Vater hier im Garten so vorgefunden. Als ich mit den Kollegen eingetroffen bin, stand er in der Einfahrt und hat uns zu dem Toten geführt, wobei er ständig geredet hat, daher ist mir auch der Name des Toten bekannt – der Sohn ist im Haus, ein Notarzt kümmert sich um ihn. Kann ich jetzt endlich meine Arbeit machen?“ Hier war sie wieder, die unfreundliche Art des ungeliebten Kollegen.

Während Viktoria und Leo die unangenehme Arbeit übernahmen, mit dem Sohn zu sprechen, klapperten Hans und Werner die Nachbarn ab, was ihnen viel lieber war. Beide sprachen nur sehr ungern mit Hinterbliebenen und überließen diese Aufgabe gerne der Chefin und Leo, die viel geschickter darin waren. Leo und Viktoria mochten dies zwar ebenfalls nicht, aber sie mussten in den sauren Apfel beißen.

Der Sohn saß zusammengekauert im Sessel des riesigen Wohnzimmers und der Notarzt gab grünes Licht, sie konnten mit ihm sprechen.

Sie stellten sich vor und zeigten ihre Ausweise, was den Sohn überhaupt nicht interessierte. Er war immer noch bestürzt über den Tod seines Vaters.

„Florian Fischer,“ sagte der Sohn knapp, gab ihnen geistesabwesend die Hand, wobei er sitzen blieb.

„Ich habe meinem Vater immer wieder gesagt, dass er in seinem Alter diese Arbeiten nicht mehr machen soll,“ redete er drauf los, ohne dass er gefragt wurde. „Aber er konnte nicht warten, bis ich Zeit hatte, um ihm zu helfen. Alles musste immer sofort erledigt werden, als wenn es etwas ausmachen würde, wenn diese verdammten Bäume eine Woche später, nächstes Jahr oder überhaupt nicht geschnitten wurden. Mein Vater war ein penibler, pedantischer und ungeduldiger Mensch – und das hat er nun davon! Erschlagen von einem verdammten Ast!“

 

Der Sohn weinte. War er wütend auf seinen Vater oder auf sich selbst?

„War es üblich, dass Ihr Vater den Garten ausleuchtete und dann Gartenarbeit in aller Hergottsfrüh machte?“

„Leider ja. Er hatte eine Freude daran, die Nachbarn zu ärgern. Immer wieder regte er sich über Nachbarn auf, die sich ihm gegenüber scheinbar rücksichtslos benahmen. Und er ließ keine Gelegenheit aus, ihnen eins auszuwischen. Oft fing er bereits schon vor 7.00 Uhr an, den Rasen zu mähen oder die Hecke zu schneiden, auch samstags, wobei ihm jedes Motorengeräusch recht war. Natürlich fing er auch gerne genau um 12.00 Uhr damit an und er wusste, dass er die Nachbarn damit beinahe zur Weißglut brachte – immer wieder gab es deshalb Ärger, was meinen Vater natürlich amüsierte. Er nahm die Beschwerden hin und machte einfach weiter. Diese Bosheit und seine Ungeduld wurden ihm jetzt zum Verhängnis. Warum hat er nicht einfach gewartet, ich war doch schon unterwegs und hätte ihm geholfen, nichts wäre passiert.“

„Das stimmt so nicht ganz,“ sagte Leo. „Es war kein Unfall. Ihr Vater wurde ermordet.“

„Was reden Sie denn da für einen Blödsinn? Ich habe den Ast und das Blut gesehen, dieser verdammte Ast ist ihm auf den Kopf gefallen.“

„Die Lage des Astes und die Wunde passen nicht zusammen. Es sollte nach einem Unfall aussehen, aber wir sind uns sicher, dass Ihr Vater ermordet wurde. Wo waren Sie gegen 7.00 Uhr?“

„Zuhause. Ich fahre Zeitungen aus, 6 Tage die Woche. Ich war kurz nach 6.00 Uhr zuhause, habe geduscht, gefrühstückt und bin dann direkt hierher. Mein Vater hat mich gestern Abend angerufen und mich gebeten, ihm bei der Gartenarbeit zu helfen. Moment mal - denken Sie, ich habe meinen Vater ermordet? Sind Sie verrückt geworden? Ich hatte mit meinem Vater nicht das beste Verhältnis, das stimmt, aber ich würde ihn niemals umbringen, was denken Sie von mir?“

„Beruhigen Sie sich bitte, wir müssen diese Frage stellen, das ist reine Routine. Was können Sie uns über Ihren Vater erzählen?“

„Was soll ich schon groß sagen? Er war seit über zehn Jahren in Rente, vorher arbeitete er als leitender Angestellter im Jugendamt Altötting. Er lebt hier in diesem viel zu großen Haus seit dem Tod meiner Mutter vor 12 Jahren alleine. Ich habe ihn ein einziges Mal gebeten, ob ich aufgrund eines finanziellen Engpasses hier bei ihm einziehen kann, aber er hat mich nur ausgelacht. Für ihn war ich eine verkrachte Existenz und er hat mir immer wieder mein vermeintliches Scheitern vorgeworfen und hat mir prophezeit, dass ich es zu nichts im Leben bringen würde.“ Man konnte die Verbitterung aus dem Mund des Sohnes hören, aber noch konnten sie sich kein Bild vom Toten machen.

„Hatte er Hobbies?“

„Vor allem Reisen, er war ständig unterwegs. Und dann noch Schafkopfen und Eisstockschießen, beides zwar mit Leidenschaft aber mit mäßigem Erfolg. Er verlor regelmäßig, worüber er sich stundenlang aufregen konnte, und natürlich waren immer nur die anderen schuld, an ihm selbst lag es nie. Mit meinem Vater auszukommen war schwierig, er war sehr egoistisch und machte eigentlich immer das, was er wollte. Er ging spontan auf Reisen, ohne dass er mich oder gar meinen Bruder darüber informierte, wir konnten ihn oft tagelang nicht erreichen. Zu Fest- und Feiertagen ließ er sich trotz Einladungen nur selten blicken. Uns hat er nie eingeladen, ihm waren die Arbeit und der Aufwand zu viel. Kurz gesagt: mein Vater war kein Familienmensch, machte immer nur das, was er wollte und kümmerte sich nicht um uns. Trotzdem war er mein Vater und ich habe ab und an nach ihm gesehen, das hatte ich damals meiner Mutter am Sterbebett versprochen. Und mein Vater machte es mir nicht leicht, das können Sie mir glauben. Bei jeder Gelegenheit hat er mich spüren lassen, dass ich es im Leben bisher zu nichts gebracht hatte und er mir geistig überlegen war. Oft genug hat er mir gesagt, dass ich dumm bin. Aber solange er so drauf war, konnte ich mir zumindest sicher sein, dass es ihm gut ging und er noch in der Lage war, allein für sich zu sorgen. Er war physisch in sehr guter Verfassung. Er jammerte zwar immer, aber ihm fehlte nichts Ernstes.“

„Hatte er irgendwelche Feinde, Streitigkeiten?“

„Wie gesagt, hat er sich oft mit den Nachbarn angelegt, aber das waren nur Kleinigkeiten, glaube ich zumindest. Er war zwar ein unangenehmer Zeitgenosse und sagte auch gerne ungefragt seine Meinung, aber meines Wissens nach hatte er weder Feinde noch irgendwelchen ernsthaften Streit, der einen Mord nach sich ziehen würde.“

„Wer gehört noch zur Familie? Haben Sie Geschwister?“

„Nur einen Bruder und Verwandte in Altötting, zu denen mein Vater und auch ich seit Jahren keinen Kontakt mehr haben.“

„Dann wäre es das fürs Erste. Wenn Sie uns bitte Ihre Adresse, die Ihres Arbeitgebers, und die Ihres Bruders notieren würden?“

Etwas unbeholfen und unsicher suchte Florian Fischer nach einem Stift und einem Stück Papier; er kannte sich hier im Haus seines Vaters überhaupt nicht aus. Schließlich hatte er beides gefunden, setzte sich an den Tisch und schrieb in einer fast unleserlichen Schrift die Adressen auf. Den Beamten war sofort klar, dass Florian Fischer Probleme mit dem Schreiben hatte, was gar nicht so selten vorkam und in der Gesellschaft leider immer noch belächelt wurde. Selbst das schwedische Königshaus hat mit dieser Schwäche zu kämpfen und hat sich vor vielen Jahren bereits dazu entschlossen, dies öffentlich zu machen, was daraufhin inzwischen kaum mehr thematisiert wird. Trotzdem ist das Thema vor allem für die Betroffenen immer noch peinlich und wird nur zu gern verschwiegen. Leo und Viktoria traten zur Seite und signalisierten Florian Fischer, dass er sich ruhig Zeit lassen könne.

„Zumindest hatte der Tote keine Rosenkranz-Holzperle in der Hand. Das hätte uns noch gefehlt, dass wir es mit einem Serientäter zu tun haben,“ sagte Viktoria laut und Leo mahnte sie, leise zu sein, schließlich waren das Interna aus laufenden Ermittlungen, die hier nicht hingehörten, vor allem nicht vor einem potentiellen Verdächtigen. Leo sah sofort zu Florian Fischer und dann zu Viktoria, aber die winkte ab.

„Jetzt mach dir nicht ins Hemd, der hat nichts gehört, er ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.“

Tatsächlich mühte sich Florian Fischer immer noch, Buchstabe für Buchstabe mit der Nase direkt über dem Papier und voller Konzentration die Adressen einigermaßen leserlich aufzuschreiben. Dass er sehr genau gehört hatte, was Viktoria eben sagte, ließ er sich nicht anmerken.

Endlich bekamen sie den Zettel mit den Adressen, die zwar einige Schreibfehler enthielten, aber trotzdem verständlich waren. Leo rief den Arbeitgeber von Florian Fischer an, der ihm bestätigte, dass der Angestellte auch am heutigen Tag die Zeitungen ordnungsgemäß übernommen und an den Lieferanschriften abgeladen hatte.

„Und woher wollen Sie das wissen? Sie waren schließlich nicht dabei.“

„Glauben Sie mir, Herr Kommissar. Wenn der Flori einen der Kunden übersehen hätte oder viel zu spät gewesen wäre, dann hätte sich der längst beschwert – es hat sich aber keiner beschwert. Der Flori ist zwar nicht der Hellste, aber er ist zuverlässig. In den drei Jahren, die er bei uns ist, hat er keinen Tag gefehlt und es gab nie Klagen über ihn.“

Leo informierte seine Kollegin.

„Trotzdem hat er für die fragliche Tatzeit kein vernünftiges Alibi und wir sollten ihn im Auge behalten.“

Sie fuhren nun zur Wohnung von Florian Fischer und befragten die wenigen Nachbarn nach dessen Alibi für den frühen Morgen – aber keiner hatte etwas gehört oder gesehen und konnten ihm somit auch ein Alibi nicht bestätigen. Alle mochten Florian Fischer und waren bestürzt über die Todesnachricht seines Vaters, den einige kannten, und auch ihnen war der Mann unsympathisch. Es gab mehrere Vorkommnisse, bei denen Xaver Fischer seinen Sohn vor den Nachbarn demütigte und auch beleidigte.

Viktoria und Leo machten sich auf den Weg zu der angegebenen Adresse des Bruders in Unterneukirchen. Sie standen vor einem sehr schönen Neubau am Rande von Unterneukirchen, der von einem riesigen Grundstück eingefasst war. Sie klingelten an der modernen Eingangstür, die liebevoll und einladend üppig mit verschiedenen Kürbissen und Pflanzen geschmückt war.

„Da hat sich aber jemand sehr viel Mühe gemacht, da sind Kürbisse dabei, die ich noch nie gesehen habe,“ meinte Leo.

„Servus. Sie wünschen?“, sagte die junge Frau, die ein sehr hübsches, fröhlich strampelndes Kleinkind auf dem Arm trug. Die Beamten stellten sich vor.

„Wir würden gerne mit Hartmut Fischer sprechen.“

„Hartl!“, rief die Frau sehr laut ins Haus, „Polizei is do, kimm!“

Leo war erschrocken, während Viktoria sich bemühen musste, nicht zu lachen.

Ein riesiger, korpulenter Mann mit Jogginghose kam zur Tür.

„Polizei? Hab‘ ich was angstellt? Kommen Sie rein, heut ist es saukalt, drinnen brennt ein warmes Feuer.“

Sie folgten ihm in die gemütliche Wohnstube, in der tatsächlich in dem wunderschönen Schwedenofen ein loderndes, warmes Feuer brannte. Das Kleinkind krabbelte auf dem Boden und spielte, das Ehepaar Fischer nahm auf der Couch Platz und Frau Fischer bot den Beamten die Sessel an. Alles war nagelneu und bestimmt nicht billig; allein der Ofen kostete bestimmt ein Vermögen.

„Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Vater heute tot aufgefunden wurde.“

„Echt jetzt? Der Vater ist tot?“, rief Hartmut Fischer bestürzt. „Das kann doch nicht wahr sein. Was ist passiert?“

„Wir müssen davon ausgehen, dass Ihr Vater ermordet wurde.“

„Was? Ermordet? Sind Sie sicher?“

„Leider ja, er wurde erschlagen. Hatte Ihr Vater Feinde oder Streit mit jemandem?“

„Mein Schwiegervater hatte mit jedem Streit,“ antwortete anstelle von Hartmut Fischer dessen Frau Katja bemüht hochdeutsch, denn ihr Mann war geschockt und momentan nicht in der Lage zu antworten. Gerne überließ er ihr das Reden. „Er war rechthaberisch, egoistisch und nur sehr schwer zu ertragen, denn er schleuderte jedem seine Meinung direkt ins Gesicht und freute sich, wenn er andere beleidigen konnte. Mich hat er bei jedem Zusammentreffen beleidigt, sogar auf unserer Hochzeit. Ich war ihm nicht hübsch genug, entsprach nicht seinen Vorstellungen einer Wunsch-Schwiegertochter.“

„Wie muss ich das verstehen?“

„Ich habe einen Migrations-Hintergrund, meine Eltern kommen aus Rumänien, zwei meiner Geschwister ebenfalls, meine Schwester und ich wurden in Deutschland geboren. Mein Schwiegervater mochte keine Ausländer und zählte mich wegen meiner Herkunft dazu. Hinzu kommt, dass ich aus armen Verhältnissen komme. Meine Eltern haben vier Kinder großgezogen, arbeiteten beide in Gegenschicht im Werk Gendorf und leben noch heute in einer kleinen Mietwohnung. Ich finde, dass es meine Eltern sehr weit gebracht haben, schließlich haben sie hier mit nichts angefangen. Sie haben nie einen Cent Kredit aufgenommen, immer nur gespart und alles bar bezahlt. Aber mein Schwiegervater hat sich wegen ihrer Mietwohnung immer lustig gemacht, für ihn gab es nichts Schlimmeres, als keinen Besitz zu haben und nichts aus sich und dem Leben zu machen, dafür hat er meine Eltern regelrecht verachtet, obwohl meine Eltern nur für ihre Kinder lebten und darin ihren Lebenssinn sahen. Heute sind sie immer noch für uns Kinder und auch für die inzwischen sieben Enkel da, ich wüsste nicht, wie wir ohne sie zurechtkommen würden. Zu unserem Haus haben sie einen beträchtlichen Teil dazugegeben, von meinem Schwiegervater kam nichts, obwohl es ihm bestimmt leicht gefallen wäre. Mein Mann hat ihn um ein Darlehen gebeten, aber der hat ihn nur ausgelacht und gesagt, dass er sein Geld für sich selbst braucht und nichts zu verschenken hat. Er hat ihn einfach weggeschickt. Aber wir schaffen es auch ohne ihn.“ Frau Fischer hatte sich geradezu in Rage geredet. Alles, was sich in den Jahren angestaut hatte, platzte aus ihr heraus und ihr Mann hielt sie nicht zurück. „Nicht einmal zur Taufe unserer Kleinen ist er gekommen. Ich bezweifle, dass er ihren Namen kennt. Immer wieder habe ich versucht, trotz allem mit ihm ein normales Verhältnis aufzubauen, aber er hatte kein Interesse daran. Er ging lieber auf Reisen, traf sich mit seinen wenigen Freunden zum Kartenspielen und zum Eisstockschießen. Für seine Familie hatte er nichts übrig.“

Hartmut Fischer hatte sich wieder gefangen und die Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt. Er fühlte sich in Gegenwart der Polizisten, die sehr sympathisch waren, auch immer wohler und wollte sich nun auch an dem Gespräch beteiligen, was er durch einen Händedruck und einen Blick seiner Frau signalisierte.

 

„Das hört sich alles schlimm an, aber es stimmt, was meine Frau sagt. Als meine Mutter noch lebte, war alles anders. Sie hat die Familie immer zusammengehalten, für sie gab es nichts Wichtigeres auf der Welt. Aber mein Vater hat sich nach dem Tod meiner Mutter total verändert, hat nur noch gemacht, was er wollte, sich nicht mehr um uns gekümmert und sich auch nicht für uns interessiert. In den letzten Jahren hatten wir kaum noch Kontakt, was auch an mir lag. Wir haben dieses Haus mit viel Eigenleistung gebaut, auch meine Frau hat fleißig mitgeholfen, dadurch waren wir sehr eingespannt und hatten kaum freie Zeit. Jede freie Minute haben wir hier verbracht. Wir leben jetzt fast drei Jahre hier und mein Vater war nur ein einziges Mal hier, zum ersten Weihnachtsfest in den eigenen vier Wänden. Da war unsere Kleine noch nicht einmal geplant. Mein Vater hat sich das Haus angesehen, gab nur spärliche Kommentare von sich - und hätte natürlich alles anders und viel besser gemacht. Immer wieder hatte er dieses überhebliche Grinsen drauf. Das Essen verlief dann so wie alle anderen Essen auch: mein Vater aß nicht viel, meckerte wie immer an allem rum und machte sich über meine Figur und die meiner Frau lustig. Wir waren ihm einfach zu dick. Für meinen Vater zählten nur Äußerlichkeiten, für innere Werte hatte er nichts übrig. Es tut mir leid, wenn ich das sage, aber von meinem Vater hatte ich nie viel, wenn ich ehrlich bin, hatte ich nie einen Vater. Durch seinen Tod wird sich nichts ändern, ich werde ihn nicht vermissen. Ich vermisse einen Vater, aber meinen Vater nicht.“

Das klang sehr hart, was musste die ganzen Jahre über vorgefallen sein, dass ein Sohn so traurig über seinen Vater sprach? Leo war sich sicher, dass dieser riesige Kerl auf der Couch vor ihm im Grunde genommen einen sehr weichen Kern hatte, der einen Vater gebraucht hätte.

„Wo waren Sie heute gegen 7.00 Uhr? Entschuldigen Sie, aber wir müssen diese Frage stellen, reine Routine.“

„Ich verstehe, das ist die Tatzeit, das kenne ich aus dem Fernsehen. Heute habe ich ausnahmsweise frei, Überstundenabbau. Aber um die Uhrzeit war ich in der Firma, wir haben eine große Lieferung bekommen und da muss jeder mit anpacken. Die Chefin kann Ihnen bestätigen, dass ich dort war. Alles hat so ungefähr bis halb neun gedauert, seitdem bin ich zuhause und genieße die Zeit mit meiner Familie. Die Kleine wächst so schnell und ich verbringe so viel Zeit mit ihr, wie ich nur kann. Sie ist mein Sonnenschein.“ Hartmut Fischer winkte seiner Tochter zu, die ihn sofort anstrahlte und ihn animierte, mit ihr zu spielen.

„Wir werden das überprüfen. Wo arbeiten Sie?“

„Im Sägewerk Krug hier in Unterneukirchen. Ich schreibe Ihnen die Adresse auf.“

Leo war überrascht von der Antwort.

„Nicht nötig, das Sägewerk Krug kenne ich sehr gut. Seit wann arbeiten Sie dort?“

Leo hatte bei seinem letzten Fall mit dem Sägewerk Krug zu tun und kannte alle Arbeiter, dieser Hartmut Fischer sagte ihm nichts.

„Erst seit einigen Wochen. Das war ein echter Glücksfall, denn meine Firma hat Kurzarbeit eingeführt und das Geld hätte uns zum Leben und zum Bezahlen der Kredite fürs Haus nicht gereicht.“

„Und Sie Frau Fischer? Wo waren Sie um die Uhrzeit?“

„Zuhause, wo sonst? Ich kümmere mich um die Kleine, bis ich für sie einen Kita-Platz bekomme, was auf dem Land nicht einfach ist.“

„Dann war es das schon, vielen Dank. Wenn wir noch Fragen haben, kommen wir wieder auf Sie zu.“

„Eine Frage habe ich noch,“ flüsterte Hartmut Fischer beinahe. „Wann können wir meinen Vater beerdigen?“

„Er ist noch in der Gerichtsmedizin. Sobald Ihr Vater freigegeben wird, melden wir uns umgehend bei Ihnen, versprochen.“

„Eine richtige Idylle,“ sagte Viktoria, als sie auf dem Weg ins Sägewerk Krug waren.

„Ja, das hat mir sehr gut gefallen. Eine glückliche, sympathische, kleine Familie.“

„Trotzdem hat zumindest Frau Fischer kein überzeugendes Alibi. Wir müssen die Finanzlage der beiden prüfen. Das Haus mit dem riesigen Grund kostet doch ein Vermögen.“

„Du verdächtigst doch nicht etwa diese nette Frau? Das kann ich mir nicht vorstellen. Eher bin ich noch dazu geneigt, den Bruder Florian Fischer zu verdächtigen. Ich glaube, dass wir mit der Familie ganz falsch liegen und die Suche nach einem Verdächtigen ausweiten müssen. Nach Aussage der beiden Söhne muss das Opfer ein richtiges Ekel gewesen sein. Ich bin sehr gespannt darauf, was die Nachbarn und Freunde über den Mann zu sagen haben.“

„Ich bleib dabei: Florian Fischer ist raus, er ist für mich nicht tatverdächtig. Aber Hartmut Fischer und dessen Frau stehen für mich ganz oben auf der Liste. Diese heile Familie nehme ich denen nicht ab. Heute gibt es das doch kaum mehr. Jeder schaut doch nur noch auf sich und auf seine eigenen Wünsche.“

Leo teilte die Meinung seiner Viktoria nicht, was oft der Fall war. In Ihrem Beruf wurden sie leider tagtäglich mit widerlichen Situationen und Negativem konfrontiert, wodurch die meisten seiner Kollegen, auch Viktoria, in ihren Ansichten beeinflusst wurden und beinahe nur noch das Schlechte überall sahen und auch vermuteten. Eine Berufskrankheit, der sich Leo zwar bislang erfolgreich entziehen konnte, aber auch er bemerkte bereits Anzeichen dafür. Er hätte jetzt, da sie beide vollkommen anderer Ansicht waren, eine Diskussion vom Zaun brechen können, aber er verzichtete darauf, das brachte sowieso nichts. Viktoria war davon überzeugt, dass Hartmut Fischer und seine Frau verdächtig waren – und er glaubte nicht daran. Sofort nach ihrer Rückkehr im Präsidium wollte er die beiden überprüfen – dann würden sie schon sehen, wer Recht behielt. Für ihn war eher der Sohn Florian verdächtig, schließlich hatte er kein Alibi.

„Ich grüße Sie Frau Krug,“ rief Leo ins Büro des Sägewerks. Bei Leos Anblick strahlte Frau Krug übers ganze Gesicht.

„Der Herr Schwartz, wie schön! Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Sie sind nicht schon wieder beruflich hier?“

„Leider ja. Bei Ihnen arbeitet ein Hartmut Fischer?“

„Es geht um den Hartl? Ja, der arbeitet hier und er ist ein echtes Arbeitstier, er hat Kräfte wie ein Bär. Ich habe mit ihm echtes Glück gehabt. Nachdem das mit dem Adlerholz mehrfach in der Zeitung stand, laufen meine Geschäfte richtig gut und ich kann nicht nur meinen Leuten jetzt den vereinbarten Tariflohn zahlen, sondern habe so viel Arbeit, dass ich noch zwei Leute einstellen konnte. Dieses verfluchte Adlerholz hat mir letzten Endes sehr viel Glück gebracht. Vielen Dank Herr Schwartz. Das habe ich alles Ihnen und Ihren Kollegen zu verdanken.“

„Wir haben nur unsere Arbeit gemacht. Aber Ihr Lob ehrt mich und ich gebe es gerne an meine Kollegen weiter.“

Viktoria stand die ganze Zeit daneben und hörte nur zu, denn sie war bei diesem Fall Adlerholz leider nicht dabei, musste in dieser beschissenen Kur in Bad Mergentheim sitzen und sich langweilen. Endlich kam Leo auf den Grund ihres Besuches.

„War Hartmut Fischer heute früh gegen 7.00 Uhr hier im Betrieb?“

„Ja er war hier. Eigentlich hat er heute frei, aber weil eine große Lieferung kam, hat er mit angepackt. Meine Leute und auch der Hartl waren um 6.30 Uhr hier und haben den Lkw abgeladen. Der Hartl ging dann gegen 9.00 Uhr. Was hat er denn angestellt?“

„Gar nichts, reine Routine. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und für die Zukunft weiterhin gute Geschäfte.“

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?