GIERSCHLUND

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3.

Am frühen Nachmittag meldeten sich die Eltern des Opfers, die von Schülern auf die Suche der Kriminalpolizei, die auch online erschien und sich sehr schnell verbreitete, aufmerksam gemacht wurden. Das Ehepaar Geiger war völlig aufgebracht und stellte abwechselnd eine Frage nach der anderen.

„Ist das Ihr Sohn?“ Leo legte mehrere Fotos auf den Tisch, die Fuchs persönlich gemacht hatte.

„Ja, das ist unser Noah. Wer hat ihn getötet? Haben Sie den Mörder?“ Bettina Geiger war außer sich. Sie zitterte und kratzte sich ständig am Unterarm.

„Zunächst gehen wir von einem Unfall aus“, sagte Leo, auch wenn das vielleicht nicht der Wahrheit entsprach.

„Wer ist der Unfallverursacher? Wer hat ihn überfahren? Suchen Sie den, der meinen Jungen auf dem Gewissen hat. Hat er leiden müssen? Wo ist er? Kann ich ihn sehen?“

„Wir sind erst am Anfang unserer Ermittlungen. Ihr Sohn wird gerade obduziert.“

„Das dürfen Sie nicht! Alexander, sag der Polizei, dass sie nicht an unserem Sohn herumschnippeln sollen!“

„Die Polizei macht nur ihre Arbeit, bitte beruhige dich.“

„Ich bin doch Noahs Mutter. Können Sie nicht verstehen, dass eine Obduktion für mich unerträglich ist?“

„Doch, das verstehe ich, aber eine Obduktion ist in diesem Falle Vorschrift. Darf ich Ihnen Fragen stellen? Sind Sie dazu in der Lage?“

„Entschuldigen Sie bitte. Selbstverständlich können Sie Ihre Fragen stellen.“

„Sie wohnen in Burghausen?“

„Ja.“

„Was wollte Ihr Sohn in Burgkirchen?“

„Das weiß ich nicht. Weißt du, was Noah dort wollte, Alexander?“

„Nein. Woher soll ich das wissen?“

„Ihnen ist nicht aufgefallen, dass Ihr Sohn nicht zuhause war?“

„Nein. Noah war oft nachts unterwegs. Er ist neunzehn und somit erwachsen. Wir haben unserem Sohn immer alle Freiheiten ermöglicht.“

„Sie haben ihn auch heute Morgen nicht vermisst?“

„Nein!“ Alexander Geiger schien genervt. „Ich musste früh in die Firma und meine Frau hatte einen Arzttermin. Wir haben unseren Sohn heute Morgen nicht gesehen. Das ist nicht ungewöhnlich, das kommt vor.“

„Der Unfall geschah etwa gegen zwei Uhr nachts in einer gottverlassenen Gegend. Was denken Sie, wollte Ihr Sohn dort? Was hatte er vor? War er allein unterwegs?“

„Das weiß ich nicht! Noah sagte gestern Abend, dass er sich mit Julian treffen wollte.“

„Julian?“

„Julian Brechtinger, er wohnt ebenfalls in Burghausen, in der Robert-Koch-Straße. Er und unser Sohn sind seit vielen Jahren die besten Freunde. Die beiden gehen in dieselbe Klasse und verbringen die Freizeit gemeinsam“, erklärte Frau Geiger.

Hans machte Notizen. Von den Eltern erfuhren sie über den nächtlichen Ausflug ihres Sohnes nichts, vielleicht konnte Julian mehr dazu sagen. Hans ging nach draußen und sprach mit Viktoria, die sofort bei der Familie Brechtinger in Burghausen anrief. Dort meldete sich niemand. Werner rief in der Schule der beiden an und bekam die Auskunft, dass auch Julian Brechtinger heute nicht zum Unterricht erschienen war. Als Viktoria das hörte, wurde ihr schlecht.

„Jetzt mal‘ den Teufel nicht an die Wand“, sagte Werner, der immer positiv dachte und selten mit dem Schlimmsten rechnete.

Derweil ging die zähe Befragung mit dem Ehepaar Geiger weiter.

„Was ist mit dem Mofa? Warum hat es kein Versicherungskennzeichen?“

„Unser Sohn hatte kein Mofa, wie kommen Sie auf diese Idee? Hast du je davon gehört, Alexander?“

„Nein.“

Leo schob ihnen Fotos zu, auf denen das Mofa deutlich zu erkennen war.

„Dieses alte Ding soll unserem Sohn gehört haben? Niemals! Was sollte er damit? Wir haben Noah zu seinem achtzehnten Geburtstag ein Auto geschenkt, damit fährt er täglich. Was soll er mit einem uralten, demolierten Mofa? Damit fahren doch nur Proleten, die sich einen Wagen nicht leisten können“, sagte Alexander Geiger eine Spur zu überheblich.

Die Unterhaltung mit dem Ehepaar Geiger brachte nicht viel. Nach ihrer Aussage war ihr Sohn ein fleißiger und überall beliebter junger Mann, der keine Feinde hatte und mit dem es niemals Ärger gab.

Die Kriminalbeamten sahen dem Ehepaar Geiger hinterher, wie sie davonfuhren.

„Es ist immer besonders schlimm, wenn Eltern Kinder verlieren. Ich möchte nicht in deren Haut stecken.“

Leo und Hans übernahmen die Befragung von Julian Brechtingers Eltern. Die beiden fuhren zuerst zu der Firma des Vaters, Markus Brechtinger, bei dem sie sich telefonisch angemeldet hatten. Brechtinger leitete ein mittelständisches Baugeschäft mit zwölf Angestellten, zu denen seine Frau nicht zählte. Sie hatte sich vor einigen Jahren mit einem Maklerbüro selbstständig gemacht, das - wie das Baugeschäft ihres Mannes - sehr gut lief.

Leo und Hans waren überrascht, dass Roswitha Brechtinger im Büro ihres Mannes anwesend war. Sie stand mit verschränkten Armen direkt neben ihrem Mann. Auch gut, dann konnten sie sie gemeinsam befragen. Das Ehepaar Brechtinger schien sehr gespannt darauf, was die Kriminalpolizei von ihnen wollte. Die schlechte Stimmung konnte man spüren. Es schien, als hätten sich die beiden gerade gestritten.

„Wir suchen Ihren Sohn Julian“, begann Leo vorsichtig.

„Warum? Was wollen Sie von ihm“, sagte Roswitha Brechtinger viel zu laut. Die Frau war auf Krawall gebürstet.

„Was hat er angestellt?“, lachte Markus Brechtinger. „Ich hoffe nichts Schlimmes. Soll ich unseren Anwalt anrufen?“

„Wo finden wir Ihren Sohn?“

„Er war heute Nacht nicht zuhause, was ab und zu vorkommt. Julian wird in drei Wochen neunzehn. In dem Alter ist es nicht ungewöhnlich, dass man seine eigenen Wege geht. Julian ist um diese Zeit längst in der Schule. Worum geht es? Warum sind Sie hier? Was werfen Sie unserem Sohn vor?“ Roswitha Brechtingers Ton wurde schärfer.

„Sie wissen, was mit Noah Geiger geschehen ist?“

„Mit Noah? Was ist mit ihm?“

„Er ist tot. Er wurde heute Nacht überfahren.“

„Noah ist tot?“, rief Frau Brechtinger und sah ihren Mann erschrocken an.

„Leider ja.“ Leo vermied es, von Mord zu sprechen.

Für einen kurzen Moment war es still.

„Wo ist mein Sohn? Was ist mit ihm?“, rief Frau Brechtinger. Nach dieser Schreckensnachricht machte sie sich große Sorgen.

„Bitte beruhige dich.“ Markus Brechtinger war aufgesprungen und nahm seine Frau in die Arme. Der riesige, korpulente Mann strahlte eine angenehme Ruhe aus, die sich jedoch nicht auf seine Frau übertrug. Sie stieß ihn rüde von sich.

„Julian und Noah sind schon seit vielen Jahren die besten Freunde. Noah war wie ein zweiter Sohn für uns, er ging bei uns ein und aus. Er war sogar in vielen Urlauben dabei“, erklärte Markus Brechtinger.

„Jetzt ist Noah tot“, wiederholte Frau Brechtinger. „Was für ein Wahnsinn!“

„Was ist mit dem Ehepaar Geiger? Sind Sie auch mit ihnen befreundet?“

„Früher schon“, sagte Frau Brechtinger und sah ihren Mann dabei an, der kaum spürbar den Kopf schüttelte.

„Und heute?“

„Heute nicht mehr.“

Leo und Hans spürten, dass das einen triftigen Grund haben musste, wollten aber nicht weiterbohren. Es ging hier um die Söhne und nicht um die Differenzen der Eltern.

„Ihr Sohn war heute nicht in der Schule“, sagte Leo vorsichtig.

Das Ehepaar Brechtinger war zuerst sprachlos, dann wurden beide panisch. Von Ruhe war nichts mehr zu spüren. Beide riefen mehrere Personen an und fragten nach ihrem Sohn, leider ohne Ergebnis. Roswitha Brechtinger weinte und war nicht zu beruhigen.

„Bitte suchen Sie nach meinem Sohn. Wir werden unsererseits alle befragen, die Kontakt zu unserem Sohn haben“, rief Markus Brechtinger aufgeregt und wollte sich sofort an die Arbeit machen.

„Ich habe nur noch eine Frage“, hielt ihn Leo zurück. „Auf dem Firmenschild steht Brechtinger & Müller. Ihnen gehört die Firma nicht allein?“

„Nein. Jochen Müller ist schon lange bei uns. Er hat sich vor vier Jahren finanziell in die Firma eingebracht. Ich selbst habe ihn ausgebildet und bin froh, dass ich auf ihn zählen kann. Er vertritt mich, wenn ich im Urlaub oder krank bin. Darüber hinaus übernimmt er sehr viele Aufgaben, die ich mir nicht mehr zutraue. Nach dem zweiten Bypass habe ich eingesehen, dass ich kürzertreten muss. Außerdem ist es mit Ende Fünfzig an der Zeit, etwas ruhiger zu werden. Wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt.“

„Wo finden wir Ihren Kompagnon?“

„Auf der Baustelle in Neuötting, Bahnhofstraße. Ich weiß zwar nicht, wie er Ihnen behilflich sein kann, aber bitte, reden Sie mit ihm. War es das jetzt? Ich möchte nach meinem Sohn suchen. Außerdem muss ich mich um meine Frau kümmern. Sie sehen ja, in welchem Zustand sie ist.“

Die Fahrt ging direkt nach Neuötting. Leo und Hans brauchten nicht lange nach Jochen Müller suchen. Mehrere Fahrzeuge mit dem Firmenlogo parkten dicht an dicht. Jochen Müller stand vor dem Haus, an dem gerade gearbeitet wurde und diskutierte gestikulierend mit einem Mann, der sehr viel älter war als er. Leo und Hans waren bezüglich des Alters Jochen Müllers überrascht. Dieser war gerade mal dreißig Jahre alt. Die Kriminalbeamten wiesen sich aus und erklärten die Situation.

„Noah ist tot und Julian ist verschwunden? Um Gottes Willen! Was ist passiert?“

„Deshalb sind wir hier. Vielleicht haben Sie eine Ahnung, wo sich Julian aufhalten könnte.“

„Woher soll ich das wissen? Ja, ich kenne Julian schon sehr lange, so wie auch Noah, aber ich weiß nie, wo sie sich herumtreiben.“

„Wie ist Ihr Verhältnis zu der Familie Brechtinger?“

 

„Nicht nur gut, sondern sehr gut. Ich bin Markus‘ Geschäftspartner und ein enger Freund der Familie, der ich sehr viel zu verdanken habe. Früher hatte ich keine Lust auf Schule und Ausbildung. Als ich bei Markus anfing, glaubte ich nicht daran, dass ich dort bleiben würde. Arbeit war nichts für mich. Aber Markus hatte viel Geduld mit mir und hat mich unter seine Fittiche genommen. Er war ein sehr guter Ausbilder und dazu wie ein Vater für mich; mehr, als es mein eigener jemals war. Sie sehen ja, was aus mir geworden ist“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu.

„Sie haben sich in die Firma eingekauft?“

„Ja. Die Erbschaft meiner Großmutter und meine Ersparnisse haben zum Glück ausgereicht. Markus hat mich dazu ermutigt. Ich vermute, dass er mit seinem Sohn nicht als Nachfolger rechnet, dessen Interessen gehören nicht der Baubranche. Nach dem Abitur soll er studieren, das braucht er in unserem Gewerbe nicht zwingend. Verstehen Sie mich nicht falsch, wenn ich sage, dass Julian nicht für die Baubranche geschaffen ist. Er ist keiner von denen, die gerne mit den Händen arbeiten. Er verkriecht sich lieber hinter seinem Computer und seinen Büchern.“ Jochen Müller grinste.

Leo mochte den Mann nicht. Er war ihm zu glatt und einen Tick zu überheblich.

„Falls Ihnen etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an.“

Leo und Hans saßen im Wagen und atmeten tief durch.

„Was ist heute Nacht geschehen?“

„Das müssen wir herausfinden.“

„Womit fangen wir an?“

„Beide Eltern sagten aus, dass die Jungs immer zusammen waren. Wir müssen die Gegend um den Unfallort absuchen.“

„Du denkst, dass Julian dort irgendwo ist?“

„Keine Ahnung. Aber ich möchte mir später nicht den Vorwurf machen, nicht nach ihm gesucht zu haben.“

„Willst du heute noch nach ihm suchen?“

„Auf jeden Fall.“

4.

Bettina Geiger saß weinend auf der Bank vor dem Jägerhäusl im Kastler Forst. Immer wieder stand sie auf und blickte sich um. Endlich! Dort hinten kam er! Sie lief auf ihn zu und die beiden fielen sich in die Arme; dabei schluchzte Bettina und weinte hemmungslos.

Markus Brechtinger versuchte, sie zu trösten. Er sprach mit ruhiger Stimme, auch wenn ihm klar war, dass sie ihm nicht zuhörte. Er wusste, dass kein Wort der Welt den Schmerz dieser Frau lindern konnte.

Langsam beruhigte sich Bettina. Das war auch gut so, denn ein Radfahrer näherte sich und sie durften nicht in dieser Vertrautheit gesehen werden. Markus und Bettina hatten seit zwei Jahren eine Affäre, die vor zehn Monaten durch einen dummen Zufall aufgedeckt wurde. Die Ehepartner waren enttäuscht und wütend. Roswitha Brechtinger war sogar kurz davor, sich scheiden zu lassen, und machte ihrem Mann vor den Augen ihres Sohnes eine heftige Szene. Sie gingen sogar zur Paartherapie, was für Markus reine Zeitverschwendung war, denn er liebte seine Frau schon lange nicht mehr und daran würde sich auch nichts mehr ändern. Er blieb nur wegen des gemeinsamen Sohnes, nur ihm zuliebe hielt er die ständigen Streitereien und Demütigungen aus, die lange vor Bekanntwerden der Affäre an der Tagesordnung waren. Markus Brechtinger hatte mit Bettina vereinbart, mit einem gemeinsamen Leben zu warten, bis beide Söhne mit der Schule fertig waren. Nur noch ein Jahr, und dann waren sie frei. Für Alexander Geiger war eine Scheidung nie eine Option gewesen, denn die würde sich eventuell negativ auf die Geschäfte auswirken, die in seinem Leben eine zentrale Rolle spielten. Trotzdem hatte ihn das Verhältnis zwischen seiner Frau und seinem besten Freund bis ins Mark getroffen. Seitdem gingen sich die Paare aus dem Weg.

Bettina Geiger und Markus Brechtinger sahen sich nach Bekanntwerden ihrer Affäre drei Monate nicht, bis es Markus nicht mehr aushielt und seine Geliebte vor dem Garchinger Schuhgeschäft abfing. Er konnte und wollte nicht ohne sie sein, zumal seine Frau noch schlimmer geworden war. Die dominante und bestimmende Art wurde durch Boshaftigkeiten und tägliche Sticheleien fast unerträglich. Markus schob abends oft Arbeit vor, um so spät wie möglich nach Hause gehen zu müssen, wo ihn seine fiese Frau erwartete und ihn wie so oft mit Demütigungen und Streitigkeiten drangsalierte. Am Morgen ging er sehr früh außer Haus und atmete tief durch, wenn er im Wagen saß und er endlich seine Ruhe hatte. Es kam nicht selten vor, dass Roswitha ihn kontrollierte, was ihm zusätzlich auf die Nerven ging.

Bettina wurde von dieser Behandlung zuhause verschont, allerdings war Alexander mit seiner Ignoranz und Schweigsamkeit auch nicht viel besser. Im Hause Geiger herrschte Totenstille, was ihr sehr aufs Gemüt schlug. War sie nicht selbst schuld daran?

Seit Markus sie angesprochen hatte, trafen sie sich alle zwei Wochen am Jägerhäusl im Kastler Forst, immer zur selben Uhrzeit. Ihnen blieb nie viel Zeit, außerdem mussten sie vorsichtig sein. Es gab keine Telefonate zwischen ihnen und keine Geschenke. Nichts durfte sie verraten. Die wenigen Augenblicke genossen sie und schöpften daraus die Kraft, die nächsten beiden Wochen zu überstehen.

„Ich war mir nicht sicher, ob du kommst, mein Engel. Wie geht es dir?“

„Wie soll es mir gehen? Mein Junge ist tot!“ Wieder weinte sie und schmiegte sich dabei eng an ihren Geliebten, den sie am liebsten nie wieder losgelassen hätte. In seinen Armen fühlte sie sich geborgen.

„Noahs Tod tut mir sehr leid. Ich mochte den Jungen, er war wie ein zweiter Sohn für mich.“

„Das weiß ich. Gibt es schon eine Spur von Julian?“

Markus schüttelte den Kopf. Jetzt kämpfte er mit den Tränen, was Bettina bemerkte. Sie küsste ihn.

„Lass es raus, Markus. Du kannst nicht immer stark sein.“

Nun weinten sie beide und hielten sich aneinander fest.

„Was passiert mit uns?“

„Ich weiß es nicht.“

Die Zeit ging wieder viel zu schnell vorbei. Sie hätten sich noch so viel zu sagen, aber dazu reichte die Zeit einfach nicht. Sie gestatteten sich nur eine halbe Stunde, die musste reichen.

Markus verabschiedete sich und sah Bettina hinterher. Er wollte ihr für die Beerdigung tröstende Worte mit auf den Weg geben, die er sich sorgsam zurechtgelegt hatte. Jetzt war es dafür zu spät, sie war weg.

Markus setzte sich in seinen Wagen. Tief im Inneren rechnete er bereits mit dem Tod seines Sohnes. Würde er je damit zurechtkommen, wenn sich das bestätigte? Julian war sein ganzer Stolz, er liebte ihn sehr. Er hatte ihn oft gegen seine zänkische Mutter in Schutz genommen, wenn sie wieder einen ihrer Anfälle hatte. Dafür hatte er selbst von ihr alles abbekommen, aber das war ihm immer gleichgültig gewesen. Julian! Was war mit ihm geschehen? Markus weinte und betete, auch wenn er kein gläubiger Mensch war. Er betete nicht nur, sondern flehte Gott an. Ein Jogger lief an seinem Wagen vorbei, weshalb er mit dem Gebet aufhörte und sich langsam wieder beruhigte. Markus nahm sich fest vor, einiges in seinem Leben zu ändern, wenn sein Sohn wieder gesund auftauchen sollte. Ja, das würde er machen. Natürlich würde er sich sofort von seiner Frau trennen, dafür war es schon längst höchste Zeit. Er würde seine Firmenanteile verkaufen und sich an einem schönen, ruhigen Platz ein neues Leben aufbauen. Noch war er nicht zu alt dafür, noch war Zeit genug. Aber das alles würde er nur machen, wenn er Julian wieder in seine Arme schließen konnte.

Mit einem Kloß im Hals fuhr er zur Firma. Dort stand der Wagen seiner Frau, die wie immer direkt vor der Eingangstür parkte, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Das wusste Roswitha und deshalb ließ sie sich davon auch nicht abbringen.

„Wo kommst du her?“, begrüßte Roswitha Brechtinger ihren Mann, der nicht darauf antwortete. Es war egal, was er sagte. So, wie seine Frau gerade drauf war, gab es sowieso Streit, deshalb sparte er sich die Energie. „Hast du mich nicht verstanden? Ich habe gefragt, wo du herkommst! Warst du wieder bei der Hure Bettina? Oder bei einer anderen? Fängt das Theater wieder von vorn an?“

Roswitha stand direkt vor ihm. Ihr Gesicht hatte sich zu einer Fratze gewandelt, die er einfach nur widerlich fand. Ja, er hatte eine Affäre und er war sicher nicht stolz darauf. Warum konnte seine Frau nicht ein wenig wie Bettina sein? Sie war herzlich, verständnisvoll und leise. Alles Eigenschaften, die seiner Frau völlig fremd waren. Sie schimpfte und zeterte, was natürlich die Angestellten mitbekamen, denn Roswitha schrie immer lauter. Markus schloss die Tür, was vermutlich nicht viel brachte.

„Was kann ich für dich tun?“, fragte er, statt auf ihre Vorwürfe zu antworten, die er über sich ergehen lassen musste.

„Erinnerst du dich daran, dass wir einen Sohn haben, der verschwunden ist? Ich sorge mich um unseren Sohn, während du einfach zur Tagesordnung übergehst und fröhliche Ausflüge unternimmst. Was bist du nur für ein Mensch!“

„Was soll ich deiner Meinung nach tun? Ich habe nach Julian gesucht. Ich habe alle möglichen Leute angerufen und habe persönlich mit vielen gesprochen. Ich bin deiner Bitte nachgekommen und habe einen Privatdetektiv engagiert, obwohl ich nichts davon halte. Was soll ich noch tun? Zuhause sitzen und warten? Das kann ich nicht. Ich muss mich ablenken und das kann ich am besten mit meiner Arbeit.“

„Natürlich geht deine Arbeit vor. Die war dir schon immer wichtiger als deine Familie.“ Es folgte ein weiterer Regen von Vorwürfen, die Markus wieder kommentarlos über sich ergehen ließ. Roswitha setzte sich, sie war erschöpft. Sie hatte Probleme damit, sich zu konzentrieren, daher konnte sie nicht arbeiten. Sie malte sich wegen ihres Sohnes die schlimmsten Szenen aus und wurde fast verrückt. Aber das sagte sie ihrem Mann nicht. Sie hatte von klein auf gelernt, stark zu sein und keine Schwäche zuzugeben.

„Warst du bei deiner Hure?“, fragte sie jetzt leise und sah ihren Mann an.

„Nein, das war ich nicht“, log er. Ja, er hätte die Wahrheit zugeben können. Das war eine dieser verpassten Gelegenheiten, seiner Frau endlich reinen Wein einzuschenken. Aber dafür war er zu feige. Außerdem war das nicht der richtige Zeitpunkt. Julian stand an erster Stelle, alles andere konnte später geklärt werden.

„Die Polizei hat Julian immer noch nicht gefunden. Wo könnte er sein?“

„Das weiß ich nicht. Ich bin mir sicher, dass er wohlbehalten wieder auftaucht.“

„Alles spricht dagegen. Wie kannst du dir dabei sicher sein?“

„Weil ich nicht zulassen will, an das Schlimmste zu denken. Julian kommt gesund wieder.“ Das sagte Markus nicht nur zu seiner Frau, sondern vor allem zu sich selbst. Er musste fest daran glauben, dass Julian noch lebte, alles andere wäre Wahnsinn.

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