DRECKSPACK

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Z serii: Leo Schwartz #31
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DRECKSPACK
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Irene Dorfner

DRECKSPACK

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

Personenliste „Dreckspack – Fall 31“

Abkürzungen:

Liebe Leser!

Impressum neobooks

1.

DRECKSPACK

Leo Schwartz Fall 31

IRENE DORFNER

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig (bis auf die Namen: Hildegard Bückler, Regine Liebers, Jörg Greisinger und Enno Jakobs – hier liegen Einverständnisse vor).

Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.

Ich bedanke mich bei meinen Lesern für die Treue, denn ohne euch wäre ich nie so weit gekommen. Vielen Dank auch an Frank und Tommy – für die Geduld und die Unterstützung!

Die Reise mit Leo Schwartz & Co. geht auf jeden Fall weiter!!

Viel Spaß mit diesem neuen Fall,

Eure Irene Dorfner

Copyright © 2019 Irene Dorfner

All rights reserved

Lektorat: FTD-Script, D-84503 Altötting

1.

Die Umgebung für das Treffen war unwirklich. Die Schritte der zweiundvierzigjährigen Frau hallten im Kreuzgang der Altöttinger Stiftskirche. Weit und breit war niemand zu sehen. Wo war diese verdammte Tilly-Kapelle? Endlich fand sie sie, stellte sich direkt vor das Gitter und klammerte sich mit der linken Hand daran fest. Eigentlich war sie eine taffe Frau, aber jetzt hatte sie doch Schiss. Suchend blickte sie sich um. Es war nach einundzwanzig Uhr und ihre Verabredung ließ sich nicht blicken. Warum hatte sie sich auf dieses Treffen eingelassen? Sie hätte auf einen anderen Ort bestehen sollen, aber dafür war es jetzt zu spät. Nach Minuten, die sich unendlich lange anfühlten, hörte sie Schritte. Endlich!

„Ich bin hier“, rief sie. Ihre Worte waren sehr laut, weshalb sie erschrak. Die Schritte entfernten sich. Sie war enttäuscht. Unpünktlichkeit hasste sie wie die Pest. Warum konnte man sich nicht an Vereinbarungen halten? Schließlich tat sie es ja auch.

Warum wollte sie der Mann gerade hier treffen? War das überhaupt ein Mann? Die Nachricht, die sie heute Morgen in ihrem Briefkasten fand, war nicht handgeschrieben. Normalerweise hätte sie auf so etwas nicht reagiert, aber sie war neugierig geworden und fuhr die knapp einhundert Kilometer von München nach Altötting. Zweihundert Euro Spritgeld lagen dem Schreiben bei, was sie zusätzlich lockte. Es interessierte sie nicht nur, was das hier sollte, sondern wer sich dahinter versteckte. Wer würde auf solch einen abstrusen Treffpunkt kommen? Sie war zum ersten Mal in Altötting, Dörfer waren nicht so ihr Ding. Sie liebte Großstädte und die Möglichkeiten, die sich ihr dort boten. Was sollte sie auf dem Land?

Sie wartete und wurde ungeduldig. Beinahe jede Minute sah sie auf die Uhr ihres Handys, dessen Display die Umgebung gespenstisch ins Licht setzte.

Es war kurz vor halb zehn. Wo war ihre Verabredung? Seit sie hier war, war sie niemandem begegnet, was sie so nicht erwartet hatte. Sie kannte die Stiftskirche nicht, mit Kirchen hatte sie noch nie etwas am Hut gehabt. War es nicht so, dass es in solch riesigen Kirchen von Personal wimmelte? Gab es keine Mönche oder Nonnen? Was war mit dem Reinigungspersonal oder dem Hausmeister?

Es wurde kalt und sie zog den Mantel enger um das leichte Kleid, das für diese Temperaturen viel zu dünn war. In den offenen, hohen Schuhen spürte sie ihre Zehen kaum mehr. Langsam hatte sie genug. Sie gab sich noch fünf Minuten, dann würde sie diesen Mist hier abblasen.

Die fünf Minuten waren um und sie war sauer. Die zweihundert Euro würde sie auf jeden Fall behalten. Und sollte sie noch ein einziges Mal eine ähnliche Nachricht in ihrem Briefkasten finden, würde sie sie an Ort und Stelle in tausend Stücke reißen. Festen Schrittes ging sie los.

Die klappernden Geräusche ihrer teuren Schuhe füllten beinahe den ganzen Kreuzgang der Stiftskirche. Von dem beklemmenden Gefühl, das sie seit einer halben Stunde hatte, war nichts mehr zu spüren. Bis München bräuchte sie mit ihrem neuen Wagen um diese Uhrzeit sicher nicht lange. Es blieb genug Zeit für einen Drink in ihrer Lieblingskneipe.

Aber dazu kam es nicht mehr. Sie spürte einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf - und dann wurde es schwarz.

2.

Die Schmerzen waren für den vierundfünfzigjährigen Leo Schwartz kaum auszuhalten. Heute Morgen verspürte er beim Anziehen seines Cowboystiefels einen heftigen Schmerz im unteren Rücken. Für einige Sekunden war ihm die Luft weggeblieben. Was war das? Umständlich hatte er es geschafft, den zweiten Stiefel anzuziehen. Der Gang von seiner Wohnung die Treppe nach unten war für ihn kaum zu bewältigen. Stufe für Stufe ging es abwärts, was ewig dauerte. Die Umgebung des idyllisch gelegenen Bauernhofes vor den Toren Altöttings war ihm im Moment herzlich egal.

„Was ist denn mit dir los?“ Tante Gerda kümmerte sich seit über einer Stunde um ihr Gemüsebeet, das nur darauf wartete, endlich bepflanzt zu werden. Der Winter war sehr lange und kalt gewesen, der Frühling ließ sich lange bitten. Jetzt Ende Mai war es endlich warm geworden und die Meteorologen sagten einen ähnlich heißen Sommer wie im letzten Jahr voraus. Tante Gerda glaubte nicht daran. Sie beobachtete die Vegetation und die Tiere – und die prophezeiten einen eher durchwachsenen Sommer. Auch deshalb wollte sie endlich ein Gewächshaus haben, dessen Bau fürs nächste Wochenende anstand. Die Pflanzen dafür waren gekauft und warteten nur darauf, endlich einziehen zu dürfen. Bis dahin versorgte Tante Gerda das Gemüsebeet, das zum Schutz vor Wildtieren mit einem Zaun umgeben war und das sie nicht vorhatte, nur wegen eines Gewächshauses aufzugeben. Leos Vermieterin und Ersatzmutter war mit ihren siebenundsiebzig Jahren noch sehr rüstig, was jetzt besonders deutlich wurde.

„Nun sag schon: Was ist los?“, drängelte Tante Gerda und stellte sich ihm in den Weg.

„Kreuzschmerzen“, sagte Leo kleinlaut, als er am Ende der Treppe angekommen war. Erst jetzt bemerkte er, dass ihm sogar das Sprechen schwerfiel. Konnte das sein?

„Was habe ich dir gesagt? Zwei Wochen lang bist du nur im Liegestuhl gelegen und hast dich kaum bewegt. Wie oft habe ich dir vorgebetet, dass das noch schlimm enden wird, wenn du nur herumliegst? Aber du wolltest ja nicht auf mich hören! Der gnädige Herr hat all meine Ratschläge in den Wind geschlagen. Und jetzt haben wir den Salat! Komm mit!“

Leo wusste, dass Tante Gerda mit ihrer Predigt richtig lag. Den Urlaub hatte er sich redlich verdient und ihn so gestaltet, wie er es für richtig erachtete. Da es seine Verlobte Sabine Kofler vorzog, statt eines gemeinsamen Urlaubs einen Job in Frankreich anzunehmen, konnte er endlich die Bücher und Zeitschriften lesen, für die er in den letzten Monaten keine Zeit gehabt hatte. Dafür hatte er im Schuppen einen alten Liegestuhl gefunden, den Tante Gerda als viel zu unbequem erachtete. Er hingegen war damit zufrieden, das alte Ding würde seinen Zweck schon erfüllen. Entgegen Tante Gerdas Rat, sich einen neuen Liegestuhl zu kaufen, benutzte er dieses antike Stück und sparte sich das Geld, was ihm als gebürtigem Schwaben sehr entgegen kam. Das Wetter spielte einigermaßen mit. Wenn nicht, dann legte er sich eine Decke über. Ja, er hatte schnell bemerkt, dass sich der alte, klapprige Liegestuhl als sehr unbequem erwies, trotzdem dachte er nicht daran, ihn durch ein neues Modell zu ersetzen. Ob davon diese Rückenschmerzen kamen? Vermutlich. Tante Gerda hatte wieder einmal Recht behalten.

 

„Zieh dein T-Shirt hoch“, sagte die alte Dame, als sie mit einer Schachtel aus dem Bad zurückkam. „Du meine Güte! Was ist denn auf dem T-Shirt abgebildet? Ist das eine Hanfpflanze?“

Leo hatte einfach nur in den Schrank gegriffen und hatte nicht darauf geachtet. Ja, das war eine Hanfpflanze, was er jetzt auch als schlechte Wahl erachtete. Das T-Shirt musste bleiben, denn den Weg zurück in seine Wohnung würde er nicht mehr schaffen.

„Du solltest dich schämen, Leo! Als Kriminalbeamter solltest du dich nicht so respektlos kleiden. Damit wirst du dich blamieren! Wann wirst du endlich erwachsen?“ Tante Gerda schüttelte den Kopf. „Was ist nun mit dem T-Shirt? Zieh es endlich hoch!“

„Du musst mir helfen, ich schaffe es nicht.“

Tante Gerda griff beherzt zu. Leo stiegen Tränen in die Augen, die Schmerzen waren unerträglich. Die alte Dame schien kein Mitleid mit ihm zu haben. Sie stellte sich hinter ihn und drückte ihm ein Pflaster auf die nackte Haut, die während seines Urlaubes kaum Farbe angenommen hatte. Er sah aus wie ein einseitig gegrilltes Hähnchen, denn die Vorderseite passte nicht zu seiner Rückseite.

„Das wird jetzt ordentlich warm werden. Wenn die Schmerzen nicht leichter werden, musst du zum Arzt gehen. Der wird dir eine Spritze geben und dir hoffentlich auch Krankengymnastik verschreiben. Wie kann man in deinem Alter nur so dumm sein! Ich habe dir gesagt, dass es dir nicht guttut, auf der klapprigen Liege zwei Wochen faul herumzuliegen.“ Während Leo das T-Shirt in Zeitlupentempo herunterzog, hielt ihm Tante Gerda eine Strafpredigt, die sich gewaschen hatte. Wenn seine Schmerzen nicht so groß gewesen wären, hätte er vielleicht auch mitbekommen, was sie sagte.

Nach einigen Minuten begann das Wärmepflaster zu wirken. Ob er es schaffte, so Auto zu fahren? Er sah auf die Uhr. Schon kurz nach acht. Die Kollegen warteten sicher schon.

„Wo willst du hin?“, sagte Tante Gerda, die ihren Vortrag noch nicht beendet hatte.

„Zur Arbeit.“

„So kannst du ganz sicher nicht Autofahren!“

„Wer sagt das?“

„Ich!“

„Das geht schon. Vielen Dank für Deine Hilfe.“

„Du darfst so nicht fahren, sei doch vernünftig! Wenn dir dein Leben egal ist, solltest du an die anderen Verkehrsteilnehmer denken!“

Leo überhörte die Warnungen und ging langsam zu seinem Wagen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er hinter dem Steuer saß. Schon allein den Wagen zu starten kostete unendlich viel Mühe. Immer wieder sah er auf die Uhr, die Minuten rasten dahin. Als er es geschafft hatte, den Rückwärtsgang einzulegen, parkte neben ihm ein Wagen. Es war sein Kollege und Freund Hans Hiebler. Neidisch musste Leo mit ansehen, wie der fünf Jahre ältere Mann beschwingt aus dem Wagen sprang.

„Na, du Invalide?“, grinste ihn Hans frech an.

„Was machst du denn hier?“, fragte Leo.

„Tante Gerda rief mich an. Sie hat mir bereits ausführlich geschildert, wie schlecht es dir geht. Steig aus, ich fahre dich zum Arzt.“

„Danke, aber das ist nicht nötig.“

„Okay, wie du willst. Wir haben einen Mordfall. Bevor ich jetzt zum Tatort fahre, möchte ich sehen, ob du dich bewegen kannst. Steig aus!“

„Nein, das werde ich nicht tun!“ Leo wurde übel, was vermutlich von der Anstrengung kam. Oder vielleicht nur, weil er noch nichts gegessen hatte? Nein, das waren ganz sicher die Schmerzen. „Ich werde jetzt nicht aussteigen. Weißt du eigentlich, wie lange ich gebraucht habe, bis ich hinterm Steuer saß?“

„Steig aus und setz dich in meinen Wagen, du sturer Bock! Ich fahre dich jetzt zum Arzt. Das ist mein letztes Angebot. Danach kannst du zusehen, wie du zurecht kommst.“

Leo sah ein, dass er Hans‘ Hilfe brauchte. Dass er so nicht fahren konnte, war ihm klar. Also begann er, umständlich einen Fuß nach dem anderen aus dem Fahrzeug zu bekommen. Hans griff beherzt zu und zog Leo aus dem Auto. Die Schmerzen waren unvorstellbar. Ihm wurde schwindelig und konnte dem, was Hans mit ihm machte, nichts entgegensetzen. Nur wenige Augenblicke später saß Leo in Hans‘ Wagen und konnte vorsichtig durchatmen.

„Danke für den Anruf, Tante Gerda!“, rief Hans der alten Dame zu, die tatsächlich seine echte Tante war. Er hatte Leo die Wohnung auf dem alten, renovierten Hof vermittelt, als der nach seiner Versetzung vor fünf Jahren eine Bleibe suchte.

„Das ist die Adresse des Arztes in Tüßling. Kümmere dich um Leo! Und bring ihm bei, dass man in seinem Alter nicht zwei Wochen auf einer alten, kaputten Liege verbringt! Er soll endlich kapieren, dass man sich bewegen muss!“

„Ich kann dich hören“, sagte Leo.

„Wenn das, was ich dir sage, auch in deinem Dickschädel ankommen würde, wäre ich zufrieden.“

„Stimmt das? Bist du in den letzten zwei Wochen nur im Liegestuhl gelegen, während wir dazu verdammt waren, alte Fälle durchzuarbeiten?“

Leo nickte nur. Er hatte bereits erfahren, dass sich der Chef in den Kopf gesetzt hatte, diese unliebsame Arbeit endlich umzusetzen. Leo musste zugeben, dass er sich gefreut hatte, davonzukommen.

„Na toll! Und wegen deiner Faulenzerei muss ich jetzt auch noch den Krankenpfleger spielen! Tante Gerda hatte völlig Recht. Wie kann man nur….“

„Hör schon auf! Nicht du auch noch! Ich hatte Urlaub und muss mich vor niemandem rechtfertigen, wie ich den verbracht habe. Kannst du dir vorstellen, dass ich große Schmerzen habe? Wie wäre es mit etwas Mitgefühl?“

„Kannst du vergessen! Tatjana, Diana und ich mussten uns durch staubige Akten wühlen, was übrigens nichts gebracht hat. Diesbezüglich vermisse ich auch dein Mitgefühl!“

„Du sprachst vorhin von einem Tatort“, lenkte Leo vom Thema ab.

„Es gibt einen Toten in der Tilly-Gruft.“

„Wo?“

„In der Tilly-Gruft in der Altöttinger Stiftskirche. Der Feldherr Tilly sagt dir nichts?“

„Nein, nicht wirklich.“

„Arbeite gefälligst an deiner Allgemeinbildung! Tilly war ein berühmter Feldherr während des Dreißigjährigen Krieges. Er wurde zwanzig Jahre nach seinem Tod in die Altöttinger Stiftskirche überführt und ist dort in der Tilly-Gruft beigesetzt. Sein Herz ruht in der Gnadenkapelle. Hast du echt noch nie seinen gefensterten Sarg gesehen?“

„Nein.“

„Da hast du was verpasst! Man kann durch das kleine Fenster den Schädel von Graf Tilly sehen.“

„Warum soll ich mir den ansehen? Was hätte ich davon?“

„Das ist Geschichte, mein Lieber. Hast du daran kein Interesse?“

„An Toten ganz sicher nicht. Damit muss ich mich schon von Berufs wegen herumschlagen, das tue ich mir während meiner Freizeit sicher nicht an.“

„Ich fasse es nicht, dass du noch nie etwas von Graf Tilly gehört hast! Wie lange lebst du jetzt schon in Altötting? Das müssten doch schon fünf Jahre oder noch länger sein!“

„Jetzt fang dich mal wieder! Es gibt sicher Dinge, die auch dir nicht geläufig sind. Wer ist das Opfer? Was ist passiert?“

„Keine Ahnung. Statt am Tatort zu sein, muss ich dich ja zum Arzt chauffieren!“

Die Behandlung dauerte nicht lange. Leo wurde bereits erwartet und konnte trotz des vollen Wartezimmers sofort in die Praxis durchgehen. Wie Tante Gerda das geschafft hatte, war ihm ein Rätsel. Als der Arzt das Wärmepflaster sah, entfernte er es, was nicht ohne Schmerzen möglich war. Leo schrie auf, was dem Arzt nur ein Lächeln entlockte.

Hans flirtete in der Zwischenzeit mit der hübschen Sprechstundenhilfe, was er leider nicht auskosten konnte. Nach wenigen Minuten war Leo bereits fertig und sie konnten gehen.

„Und?“

„Spritzen und ein Rezept für Schmerzmittel. Außerdem muss ich zur Krankengymnastik, aber das kann der Arzt vergessen. Was soll ich dort? Es habe mir sicher nur einen Nerv eingeklemmt, das wird schon wieder. Können wir? Ich bin gespannt, was uns in dieser Tilly-Gruft erwartet.“

Hans musste lachen. Leo ging es deutlich besser, auch wenn er immer noch etwas gebückt ging und sogar humpelte. Dass sein Freund und Kollege maßlos übertrieb, war ihm klar. Was für ein Weichei! Er hätte an dessen Stelle die Zähne zusammengebissen und den Schmerz ertragen.

Tatjana Struck hatte den Tatort fest im Griff. Die achtunddreißigjährige Leiterin der Mordkommission hatte bereits einige Zeugen vernommen und sogar schon einen Streit mit Friedrich Fuchs vom Zaun gebrochen. Der Leiter der Spurensicherung hatte den Tatort abgesperrt und jedem verboten, auch nur einen Fuß über die Absperrung zu setzen. Der Streit war dadurch entstanden, als sich Fuchs erlaubte, Tatjana vor allen Kollegen zu maßregeln, was sich diese nicht gefallen ließ.

„Endlich“, begrüßte Diana Nußbaumer Leo und Hans. „Ich dachte schon, ihr kommt überhaupt nicht mehr.“ Diana war neu im Team. Die achtundzwanzigjährige, sehr ehrgeizige Kollegin sah heute wieder fantastisch aus. Diana gab sich immer sehr viel Mühe mit ihrem Äußeren. Sie passte mit ihrem pinkfarbenen, kurzen Rock, dem Top und den schwarzen, hochhackigen Schuhen mit der dazu passenden riesigen Handtasche nicht zur Tilly-Kapelle in der Altöttinger Stiftskirche.

„Sind das alles Zeugen?“, fragte Leo und zeigte auf eine große Gruppe, unter denen sich auch einige Mönche und Ordensschwestern befanden.

„Nein. Die Putzfrau Olga Nemec hat die Tote gefunden. Nachdem ich sie befragt habe, habe ich sie nach Hause geschickt. Die arme Frau ist völlig fertig mit den Nerven, was ich durchaus verstehen kann. Frau Nemec hat die Leiche um 7.35 Uhr gefunden und sofort die Polizei gerufen. Nach ihr kamen der Hausmeister, die Mesnerin und der Kerzenlieferant. Frau Nemec hat niemanden gehört oder gesehen, die anderen auch nicht. Nach unserem Eintreffen wurden alle Ein- und Ausgänge versperrt und die Stiftskirche wurde durchsucht.“

„Lass mich raten: Ihr habt nichts gefunden?“

„Richtig. Die Frau, deren Identität noch nicht geklärt ist, wurde erschlagen. Die Tatwaffe ist ein Kreuz aus Metall, das neben der Leiche gefunden wurde.“

„Wenn alle Ein- und Ausgänge versperrt wurden, frage ich mich, wie die ganzen Menschen hier reinkamen“, sagte Hans, der nicht fassen konnte, wieviel Leute hier waren. Hatten die nichts zu tun?

„Die waren schon hier, als wir eintrafen. Wir konnten ja nicht wissen, dass die nur aus Neugier hier sind. Ich wollte sie bereits wegschicken, aber Tatjana will das persönlich übernehmen.“

„Und warum ist das nicht schon längst geschehen?“

„Weil Fuchs sie ständig davon abhält. Der hat heute eine Laune, die nicht zu ertragen ist. Ich habe bereits versucht, ihn zu besänftigen, was mir aber auch nicht gelang. Er und Tatjana geraten ständig aneinander, was mir so langsam peinlich ist und auch auf die Nerven geht. Ihr müsst euch den Tatort ansehen. Macht euch auf etwas gefasst, das ihr so vielleicht noch nie gesehen habt.“

„Was ist damit?“

„Seht es euch selbst an, sonst glaubt ihr mir nicht.“

Leo und Hans standen vor der Absperrung, die Fuchs angebracht hatte. Beide schlüpften unter dem Band durch, was Fuchs beobachtete. Ab jetzt würde er die beiden Kriminalbeamten nicht mehr aus den Augen lassen.

Hans ging zuerst. Die Treppe zur Tilly-Gruft hatte sehr enge Stufen, was für seine Schuhgröße eine Herausforderung war. Hans starrte auf die nackte Frauenleiche, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Tilly-Sarg lag. Ihre roten Haare deckten das Sichtfenster des Sarges ab. Das Blut am Hinterkopf und auf dem Sarg glänzte im Schein der hellen Lampen, die Fuchs aufgestellt hatte. Hans registrierte sofort, dass das Blut noch nicht getrocknet war. Auf den beiden Särgen links und rechts des Tilly-Sarges, und auf den beiden Särgen direkt neben der Treppe, in denen Tillys Neffe Werner und dessen Familie bestattet wurden, standen mehrere Kerzen, darunter eine schwarze Kerze. Auf dem Sarg rechts lag ein großes Kreuz aus Metall - vermutlich die Tatwaffe, von der Diana sprach. Auch auf dem Boden standen viele Kerzen, unter denen sich auch zwei rote befanden.

„Was ist das denn?“, sagte Hans erschrocken. „Eine Totenmesse in der Tilly-Gruft? Das hatten wir auch noch nie.“

„Ich weiß nicht. Eine Totenmesse? Ist das nicht zu weit hergeholt?“ Leo war Hans gefolgt, brauchte aber sehr viel länger. Jede einzelne Treppenstufe schmerzte gewaltig. Unter normalen Umständen hätte er sich mit den Fotos zufrieden gegeben, aber seine Neugier war nach dem Gespräch mit Diana viel zu groß. Er war nicht minder geschockt von dem Anblick des Tatorts.

 

Beide sahen zu, wie einer von Fuchs‘ Mitarbeitern Fotos machte. Dann nahm er das rote Haar, das das Gesicht bedeckt hatte und machte mehrere Bilder von dem Gesicht. Leo und Hans erschraken. Das Gesicht war völlig verunstaltet worden.

„Sind das Schnitte?“, frage Hans den Kollegen Fuchs, der immer noch jede Bewegung der Kollegen registrierte. Hans hatte sich in der engen Tilly-Gruft zur Leiche vorgedrängelt und sah ihr ins Gesicht.

„Ja. Ich vermute ein scharfes Messer oder eine Rasierklinge.“

„Sie war stark geschminkt“, sagte Hans und zeigte auf eine falsche Wimper, die blutverschmiert an der Wange hing.

„Auch das haben wir registriert.“

Hans besah sich die Hände und Füße der Toten.

„Manikürt“, murmelte er.

„Auch das haben wir bereits notiert“, maulte Fuchs. Glaubte Herr Hiebler, dass er das nicht gesehen hatte?

„Kann man das Opfer jetzt endlich abdecken?“, sagte Leo an Fuchs gewandt. Er verzichtete darauf, sich der Leiche noch mehr zu nähern, denn dafür war einfach nicht genug Platz. Da genug Fotos von der Toten gemacht wurden, befand er es an der Zeit, die Leiche abzudecken.

„Wollen Sie mir jetzt auch vorschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen habe? Ich warne Sie, Herr Schwartz, meine Toleranzgrenze ist für heute erreicht.“

„Und trotzdem sollten Sie professionelle Arbeit machen! Ihre Befindlichkeiten sind mir völlig egal! Decken Sie die Leiche endlich ab! Wie lange soll die Frau denn noch entblößt für alle sichtbar hier liegen? Würde es Ihnen gefallen, wenn Sie anstelle des Opfers wären und man Ihnen so wenig Respekt zollen würde?“

Der Anschiss zeigte Wirkung. Fuchs nahm ein Laken und deckte die Frau zu.

„Todeszeitpunkt?“

„Gestern zwischen zwanzig Uhr und Mitternacht. Genauer kann ich mich nicht festlegen. Sie sehen ja selbst, in welcher Umgebung die Tote lag.“

„Warum ist das Blut noch nicht getrocknet?“

„Das liegt an der Umgebung.“

„Wir vermuten eine Totenmesse“, sagte Leo und sah Fuchs an. „Was denken Sie?“

„Das war auch mein erster Eindruck, aber daran glaube ich nicht. Totenmessen oder Schwarze Messen, die es seit Jahrhunderten geben soll, sind nie nachgewiesen worden. Ich bin Realist und will nicht glauben, dass es so etwas gibt.“

„Und trotzdem sieht es danach aus. Wo ist die Kleidung der Toten?“

„Die wurde nicht gefunden. Und bevor Sie fragen: Es gab weder Schuhe noch eine Tasche oder dergleichen. Haben Sie jetzt alles gesehen? Wenn ja, würde ich Sie bitten, wieder zu gehen. Sie sehen ja selbst, wie eng es hier ist.“

„Sicher.“

Hans übernahm es, die Personalien aller Anwesenden aufzunehmen, die am Geländer rund um die Tilly-Gruft standen. Dann versuchte er, die Leute wegzuschicken, was sich sehr schwierig gestaltete. Vor allem die Ordensschwestern und Mönche waren geschockt von der Leiche in der Tilly-Gruft. Alle hatten dieselbe Vermutung: Es gab eine Totenmesse in der Tilly-Gruft und die Tote war eine Opfergabe. Das war ein Skandal, den es in diesen ehrwürdigen Mauern noch nie gegeben hat. Einige Schaulustige stimmten ein Gebet an, denen andere folgten und lauter und lauter wurden. Als das auch noch in einen Gesang überging, war für Hans das Maß voll.

„Okay, Leute. Es dürfen nur die bleiben, die unmittelbar mit dem Mord oder der Toten zu tun haben. Alle anderen bitte ich zu gehen“, sage Hans sehr laut. Der Gesang verstummte, niemand rührte sich. „Sehr schön. Dann kann ich davon ausgehen, dass Sie alle tatverdächtig sind“, fügte er hinzu und zog seinen kleinen Block aus der Brusttasche. Darauf drehten sich alle um und verschwanden. Alle, bis auf einen.

„Wer sind Sie?“

„Bruder Niklaus. Ich fürchte, dass ich mit der Toten gestern am späten Abend gesprochen habe“, sagte der ältere Mann, dessen braune Kutte den runden Bauch nicht verhüllen konnte.

„Sie sind sich da ganz sicher?“ Hans war überrascht, denn man konnte das Gesicht der Toten nicht wirklich erkennen. Zum einen, weil sie mit dem Gesicht nach unten lag, und zum anderen, weil es entstellt wurde.

„Ja. Die Frau von gestern Abend hatte dasselbe rote Haar.“

„Geben Sie das Gespräch mit der Frau genau wieder.“

„Ich war an der Pforte, als sie nach Bruder Clemens verlangte. Ich teilte ihr mit, dass es für einen Besuch zu spät sei und bat sie, am nächsten Tag wiederzukommen. Daraufhin ist sie wieder gegangen. Sie schien enttäuscht zu sein, aber mir waren die Hände gebunden. Besuche um diese späte Zeit sind nicht erlaubt und daran habe ich mich gehalten.“ Hans kannte die Kutte des Glaubensbruders und wusste, dass es sich um einen Kapuziner handelte, dessen Kloster sich nur wenige Meter auf der anderen Straßenseite befand. „Vielleicht würde sie noch leben, wenn ich mich nicht an die Regeln gehalten hätte und einfach Bruder Clemens gerufen hätte.“

„Machen Sie sich darüber keine Gedanken.“

„Das sagen Sie so leichtfertig, ich mache mir die schlimmsten Vorwürfe.“

„Wenn Sie die Frau nicht getötet haben, haben Sie sich nichts vorzuwerfen. Was wollte sie von Bruder Clemens?“

„Das weiß ich nicht. Sie hat es mir nicht verraten und ich habe sie nicht gefragt. Wenn ich doch nur….“

„Von welcher Uhrzeit sprechen wir? Wann haben Sie mit der Frau gesprochen?“

„Es war kurz vor einundzwanzig Uhr. Wir schließen unser Kloster nach der letzten Messe um zwanzig Uhr dreißig.“ Bruder Niklaus war völlig aufgelöst und zitterte.

„Wo finden wir Bruder Clemens?“ Hans war kein Seelsorger, den musste Bruder Niklaus in den eigenen Reihen suchen.

„Er hat Dienst in der Basilika.“

„Hier ist meine Karte. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, melden Sie sich. Sie können jetzt gehen.“

Hans ging zu Tatjana, die sich erneut mit Fuchs angelegt hatte. Der Streit zwischen den beiden hallte in der alten, beeindruckenden Kirche, was beide offensichtlich nicht interessierte.

„Nun blasen Sie sich doch nicht so auf, Fuchs!“

„Für Sie immer noch Herr Fuchs, Frau Struck! Sie müssen warten, bis wir hier fertig sind, erst dann kann ich mehr sagen. Und jetzt lassen Sie mich endlich meine Arbeit machen!“

Hans unterbrach die beiden und schilderte, was er von Bruder Niklaus erfahren hatte.

„Such diesen Bruder Clemens, die Basilika ist ja nicht weit. Nimm Leo mit!“

Leo hielt sich am Geländer der Tilly-Gruft fest. Er fühlte sich zwar besser, aber für einen Fußmarsch von der Stiftskirche bis zur Basilika nicht fit genug. Wenn er an das unebene Kopfsteinpflaster und die vielen Stufen der Basilika dachte, wurde ihm schlecht.

„Sei so gut und nimm Diana mit“, sagte er und lehnte sich nun gegen die kalte Mauer der Stiftskirche, was aber auch keine Linderung brachte. „Ich muss zur Apotheke und mein Rezept einlösen, die Schmerzen sind kaum auszuhalten“, sagte er und ging langsam davon.

„Was hat er?“, fragte Tatjana Hans.

„Hexenschuss.“

„Naja, er ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Habe ich richtig gesehen? Ist auf seinem T-Shirt eine fette Hanfpflanze?“

„Ja. Lustig, nicht wahr? Der traut sich was! Wenn das der Chef sieht, flippt der aus.“

„Dann wird der Tag vielleicht doch noch ganz nett. Such Bruder Clemens und nimm Diana mit.“

„Ist das so klug?“

„Was meinst du?“

„Hast du gesehen, wie sie aussieht? Willst du, dass die Ordensbrüder einen Herzinfarkt bekommen? Wäre es nicht besser, wenn wir beide uns auf den Weg machen und Diana hierbleibt?“

„Diana macht ihre Arbeit, so wie wir alle. Es hat niemanden zu interessieren, wie eine Kriminalbeamtin gekleidet ist – auch die Ordensbrüder nicht! Sieh mich an!“

Hans musste lachen, was sich nach dem Streit auch sehr unnatürlich anhörte, aber er konnte nicht anders. Tatjana war rein optisch das genaue Gegenteil von Diana. Während die immer sehr ansehnlich und wie aus dem Ei gepellt aussah, legte Tatjana überhaupt keinen Wert auf ihr Äußeres. Auf ihrem ungebügelten T-Shirt leuchtete ein Fleck, der nach Eigelb aussah. Zu der alten Jeans, die etwas zu lang war, leuchteten neue, hellblaue Sneaker, mit denen sie kürzlich im Dreck gelaufen sein musste.

„Es ist besser, wenn ich hierbleibe und Fuchs Dampf mache, sonst müssen wir noch tagelang warten, bis wir endlich brauchbare Informationen von ihm bekommen.“

Hans genoss den kurzen Spaziergang mit Diana. Der Mai war nach einem holprigen Start zum Ende hin endlich in Fahrt gekommen. Es war warm und überall blühte es. Vor allem aber genoss er die Blicke auf die Frauen, die nach dem langen Winter endlich wieder mehr Haut zeigten.

„Du bist echt peinlich, Hans!“, sagte Diana, die die Blicke sehr wohl bemerkte.

„Ich und peinlich? Warum?“

„Starr doch die Frauen nicht so an!“

„Warum nicht? Die kleiden sich sehr hübsch und laufen in der Öffentlichkeit herum. Ich sehe keinen Grund, warum ich das nicht anerkennen sollte.“

„Du bist echt von vorgestern! Wir ziehen uns nicht für andere an, sondern für uns.“

„Das sehe ich anders.“

Leo kam nur langsam voran. Kurz nach dem Hintereingang der Stiftskirche musste er anhalten. Er hielt sich an einer Bank fest und atmete schwer. Dann hörte er sich stöhnen und schämte sich dafür. Ganz so alt und gebrechlich, wie er sich gab, war er dann doch noch nicht. Er nahm sich vor, sich zusammenzureißen. Gerade, als er weitergehen wollte, bemerkte er in einem der beiden Papierkörbe neben der Bank eine Plastiktüte, aus der ein gemusterter Stoff herauslugte. Mit einem Taschentuch zog er an dem Stoff und erkannte ein Kleid. Als er auch noch einen Damenschuh in der Tüte entdeckte, nahm er das Handy und rief Fuchs an.