Die Toten von Stade

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Z serii: Leo Schwartz #41
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3.

Im Altstadtcafé Stade

in der Hökerstraße…

Benno Jäger setzte sich an seinen Stammplatz, den ihm die freundliche Natascha immer frei hielt.

Am Nebentisch saß Hauptkommissar Leo Schwartz aus dem bayerischen Mühldorf am Inn zusammen mit seiner besten Freundin Christine Künstle. Die beiden unterhielten sich angeregt, es hörte sich sogar teilweise nach Streit an.

„Der Termin beim Notar ist erst morgen, meine Liebe. Kannst du mir erklären, warum wir bereits heute angereist sind?“

„Weil ich sichergehen wollte, dass uns diese dämliche Pandemie keinen Strich durch die Rechnung macht. Was hast du dagegen, ein, zwei freie Tage mit mir zu verbringen?“

„Dagegen habe ich nichts. Allerdings hätte ich es fair gefunden, mich einzuweihen, schließlich geht es um meine Urlaubstage, über die ich gerne selbst verfüge. Du hast nicht das Recht, über meinen Kopf zu bestimmen, das finde ich echt Scheiße! Anstatt hier sinnlos herumzusitzen, könnte ich in dem neuen Fall ermitteln, den jetzt die Kollegen allein bewältigen müssen.“ Dass sich dieser Fall als Selbstmord entpuppt hatte, behielt Leo lieber für sich, denn sonst hätte er kein schlagkräftiges Argument vorzubringen, um seiner ältesten Freundin ein schlechtes Gewissen einzureden. Christine zuckte aber nur mit den Schultern.

„Die Verbrecher kommen auch mal zwei Tage ohne dich aus, so wie die Kollegen auch. Mach einfach mal Pause, das schadet dir nicht. Man kann nicht immer nur Mörder jagen, man muss auch mal ausspannen können.“

Der siebenundfünfzigjährige Leo Schwartz lehnte sich zurück - er war sauer. Vor zwei Tagen hatte ihn Christine gebeten, sie nach Stade zu begleiten. Da er völlig übermüdet war, hatte er einfach zugesagt, ohne zu begreifen, dass Stade in Norddeutschland liegt. Als er seinen Fehler bemerkte, war es zu spät. Christine bestand darauf, dass er sie begleitete, da sie zum einen nicht gerne allein verreiste, und zum anderen nicht wusste, was auf sie zukam. Außerdem stand eine Aussprache mit Leo an, die längst überfällig war.

Christine Künstle bemerkte Leos schlechte Laune, aber die war ihr völlig egal. Die Anreise war perfekt gewesen und jetzt waren sie in Stade. Worüber beschwerte sich Leo? Sie hatte Flugtickets in der Business-Klasse und einen Privattransfer vom Hamburger Flughafen nach Stade springen lassen, außerdem bezahlte sie auch die Übernachtung und die Verpflegung während der zwei Tage Aufenthalt – für einen Schwaben wie Leo einer war doch geradezu perfekt!

Mit einem Lächeln erinnerte sie sich an den Transfer von Hamburg nach Stade mit dem Chauffeurdienst Caddy Mobil Stade, der von Marko Reidenbach betrieben wurde. Mit ihm verstand sie sich blendend. Da Leo bockte und keine Lust auf ein Gespräch hatte, unterhielt sie sich mit dem reizenden Herrn Reidenbach, der ihr alles erklärte, auch wenn sie ihn nicht darum bat. Trotzdem war sie fasziniert von den Ausführungen und hatte jede Menge dazugelernt.

„Du hättest zu Herrn Reidenbach etwas freundlicher sein können“, warf sie Leo vor.

„Zu wem?“

„Zu unserem Fahrer. Er hat sich alle Mühe gegeben, aber du hast nur geschmollt. Ich habe mich echt für dich geschämt. Was soll der Mann von uns denken?“

„Das ist mir doch egal!“ Leo verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Er hatte nicht vor, klein beizugeben.

Christine war das gleichgültig. Leo war an ihrer Seite und sie war nicht allein, nur das zählte. Irgendwann beruhigte sich der Dickschädel auch wieder. Morgen würde sie erfahren, was sie geerbt hatte, denn davon stand kein Wort in dem kurzen Schreiben des Notars Doktor Boll. Danach ging es wieder nach Hause.

„Warum willst du persönlich bei der Testamentseröffnung dabei sein? Das alles hättest du auch billiger haben können, Christine“, maulte Leo weiter. „Du hättest dir einen hiesigen Anwalt nehmen und deine Angelegenheit über ihn oder sie regeln lassen können. Warum wolltest du unbedingt persönlich beim Notar erscheinen?“

„Weil ich das so entschieden habe. Nimm das einfach so hin und genieße den Aufenthalt in dieser schönen Stadt.“ Die sechsundsechzigjährige Christine war bester Laune, die ihrer Aufregung geschuldet war. Sie war vor über vierzig Jahren als junge Frau in Stade gewesen. Damals hatte sie einen Mann kennengelernt, dessen Namen sie längst vergessen hatte: Lothar Stürz. Er hatte sie nach all den Jahren, in denen sie keinen Kontakt hatte, in seinem Testament bedacht. Ja, sie war neugierig. Warum auch nicht?

Christine stand auf und ging zur Kuchentheke, die sie verführerisch anzulächeln schien. Sie kam ins Gespräch mit einer der netten Damen, die sich ihr als Natascha vorstellte. Die hübsche Frau stellte ihr einen Teller mit den leckersten Kuchen zusammen – wie hätte Christine da widerstehen können?

Benno Jäger hatte jedes Wort gehört, das zwischen den beiden Schwaben gewechselt wurde. Zum Glück verstand er den Kauderwelsch, da er früher eine Freundin aus Stuttgart hatte und ihm daher der Dialekt nicht fremd war. Er folgerte, dass neben ihm ein waschechter Polizist saß, sogar einer von der Kriminalpolizei. Na wenn das kein Glücksfall war! Noch zögerte Jäger. Er musterte den riesigen Mann, der optisch in den achtziger Jahren hängengeblieben schien, denn die alte Lederjacke, die engen Jeans und die Cowboystiefel hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Jetzt zog der Fremde die Lederjacke aus und darunter kam ein schwarzes T-Shirt mit einem riesigen Aufdruck zum Vorschein: Schwarz ist bunt genug. Humor hatte der Mann, das stand außer Frage. Also nahm er all seinen Mut zusammen und sprach ihn.

„Frauen! Man kann nicht mit ihnen, aber auch nicht ohne sie“, sagte Jäger lächelnd.

„Absolut richtig.“

„Sie sind zum ersten Mal in unserem schönen Stade?“

„Ja. Morgen fahren wir zurück.“

„Das war kaum zu überhören. Sie sind aus Baden-Württemberg?“

„Gebürtig ja, ich lebe und arbeite aber in Bayern. Genauer gesagt in Mühldorf am Inn.“

„Das sagt mir nichts.“

„Altötting vielleicht? Die Wallfahrtsstadt lockt jährlich Millionen Gläubige an.“ Ob die Zahl stimmte? Leo war sich nicht sicher. Es waren viele, da waren mehrere Millionen sicher nicht übertrieben.

„Doch, Altötting sagt mir was. War da nicht vor Jahren der Papst zu Besuch?“

„Richtig.“ Dass es drei Päpste waren, die 1782, 1980 und 2006 Altötting besuchten, behielt er für sich. Nicht nur, weil er nichts für die Kirche an sich übrig hatte, sondern weil er Details dieser Besuche nicht kannte und somit auf die zu erwartenden Nachfragen keine Antworten geben konnte.

Die beiden plauderten, während sich Christine jetzt im Gespräch mit einem anderen Gast befand und dabei ihre Kuchen aß. Leo genoss das Gespräch mit dem Fremden, da er echt sauer auf Christine war und momentan gerne auf ihre Gesellschaft verzichten konnte.

Leo Schwartz und Benno Jäger stellten sich einander vor, womit es sich viel leichter plaudern ließ. Sie redeten über alle möglichen Dinge - dann kratzte Jäger all seinen Mut zusammen und sprach Leo jetzt auf das an, was ihm auf dem Herzen lag.

„Sie sind doch Ermittler, Herr Schwartz. Entschuldigung, aber das war vorher nicht zu überhören. Ihre Begleitung sprach von Morden und Ermittlungen.“

„Das ist richtig, ich bin Hauptkommissar bei der Mordkommission.“

„Eine Bekannte erhält Postkarten mit seltsamen Sätzen. Wäre das ein Fall für die Polizei? Sollte ich das melden?“

„Kommt darauf an. Fühlt sich die Frau bedroht oder belästigt?“

„Das ist ein riesiges Problem, denn sie spricht nicht darüber. Genau genommen spricht sie kein einziges Wort, mit niemandem. Sie zog im letzten Herbst nach Stade. Niemand kennt sie und sie scheint auch keine sozialen Kontakte zu haben. Sie lebt in einem der heruntergekommensten Häuser im Altländer Viertel, dort gehört sie nicht hin.“

„Ich verstehe. Die Frau ist die Betroffene und sie müsste zur Polizei gehen.“ Leo wurde neugierig. „Sie sprachen von seltsamen Sätzen? Woher wissen Sie davon?“

„Vom Postboten – aber das bleibt unter uns. Sie sind augenblicklich nicht im Dienst, wir plaudern hier nur privat. Unser Siggi ist ein netter Kerl, ich möchte ihm nicht schaden.“

„Alles klar.“

„Das hier sind zwei Sätze, an die sich der Siggi erinnern kann.“ Jäger gab Leo den Zettel und rutschte mit seinem Stuhl etwas näher.

Ungläubig las Leo die seltsamen Sätze, die auch für ihn spontan keinen Sinn ergaben.

„Von wie vielen Postkarten sprechen wir?“

„Der Siggi sagt, dass es insgesamt acht waren. Frau Leipert bekommt nur diese Postkarten – keine Briefe, keine Pakete oder dergleichen. Alle wurden in Hamburg abgestempelt, auf allen sind Segelschiffe abgebildet.“

„Interessant“, murmelte Leo – er hatte Blut geleckt. Ohne ein weiteres Wort nahm er sein Handy und tätigte einige Anrufe. Erstaunt verfolgte Benno Jäger, was hier gerade passierte. Endlich verstand er, dass der Polizist Erkundigungen über den Postboten Siegfried Schindler einzog und dann auch noch seine Telefonnummer notierte. Leo rief Siggi umgehend an. Auch dem Gespräch zwischen den beiden konnte Jäger nur mit offenem Mund verfolgen. Alles ging sehr schnell.

„Würden Sie mir zeigen, wo die Frau wohnt?“, wandte sich Leo dem alten Mann zu, nachdem er aufgelegt hatte.

„Selbstverständlich, aber ich verstehe nicht, was das bringen soll. Der Siggi kann Ihnen auch nicht mehr sagen als ich. Und die Frau wird nicht mit Ihnen sprechen, sie spricht mit niemandem.“

„Haben Sie einen Wagen oder brauchen wir ein Taxi?“

„Wir können zu Fuß gehen, das Altländer Viertel ist in zwanzig Minuten zu erreichen.“

 

„Das dauert zu lange.“ Leo stand auf und ging zu Christine. „Gibst du mir die Nummer von unserem Chauffeur?“

„Welchem Chauffeur?“

„Von dem Typen, der uns vom Flughafen nach Stade gefahren hat.“

„Von Herrn Reidenbach?“

Leo nickte. Ungeduldig wartete er, bis Christine die Telefonnummer in ihrer riesigen Handtasche hervorgekramt hatte. Leo lächelte ihr zu und ging zurück zum Tisch, an dem Benno Jäger wartete.

Leo wählte und sprach jetzt mit Reidenbach, der zum Glück verfügbar war.

„Ich bin im Altstadtcafé.“

„Dann weiß ich Bescheid. Ich warte am Fischmarkt auf Sie.“

Leo wiederholte den Treffpunkt und sah Jäger dabei an, der sofort nickte.

„Können wir los?“, fragte Leo und sah den alten Herrn dabei an, der völlig überfordert schien.

„Was haben Sie vor? Wie wollen Sie vorgehen? Was sagen Sie zu Frau Leipert?“

„Lassen Sie das mal meine Sorge sein.“ Leo legte einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch. „Können wir?“

Christine beobachtete, dass Leo aufstand, und ging zu ihm.

„Machen wir einen kleinen Spaziergang durch die Innenstadt? Die nette Dame meinte, wir könnten…“

„Du musst leider allein gehen, Christine. Ich habe meinem neuen Freund hier versprochen, ihm einen kleinen Gefallen zu tun. Wir sehen uns später im Hotel. Wo übernachten wir?“

Christine nannte ihm das Stadthotel im Zentrum von Stade. Leos Freundin konnte kaum glauben, was hier gerade geschah. Ließ er sie tatsächlich in dieser Stadt im Stich? Und wer war eigentlich der Mann an seiner Seite?

Leo sah Jäger an, somit konnte er Christines Enttäuschung nicht sehen. Um sie machte er sich keine Sorgen, sie kam einige Stunden auch sehr gut allein zurecht. Mit einem gemurmelten Gruß gingen die Männer davon.

Christine war nicht nur enttäuscht, sondern auch beleidigt. Entschlossen band sie sich ihren Schal um und stampfte los. Wenn Leo sie im Stich ließ, musste sie eben allein gehen.

Nach wenigen Schritten waren Leo und Benno Jäger am Fischmarkt, dort wartete bereits das Caddy Mobil von Marko Reidenbach.

„Zuerst zum Altländer Viertel.“

Während Benno Jäger versuchte, Leo von seinem Vorhaben abzubringen, interessierte sich der nur für die beiden Sätze. Was bedeuteten sie? Was sollte das?

Vor dem Mehrfamilienhaus mit der Nummer 12 angekommen stiegen die Männer aus.

Dort wartete bereits der Postbote Siegfried Schindler, der für das Treffen seine Tour unterbrochen hatte.

„Sie warten bitte, ich brauche Sie noch“, sagte Leo zu dem Chauffeur, der daraufhin nur nickte. Reidenbach sah dem riesigen Schwaben hinterher. Was war hier los? Was hatte der Polizist vor? Bei der Fahrt vom Flughafen nach Stade war er sehr wortkarg gewesen, jetzt verhielt sich der Mann ganz anders. Da heute keine weiteren Aufträge warteten, hatte er Zeit. Außerdem war er neugierig geworden.

Benno Jäger blieb an Leos Seite, da er kein Wort der Unterhaltung mit Siggi verpassen wollte. Außerdem hoffte er, in Siggi einen Mitstreiter zu finden, um den fremden Kriminalkommissar von seinem Vorhaben abzubringen. Wie würde die arme Frau Leipert auf den riesigen Mann reagieren, dem man ansah, dass er selbstsicher und bestimmt auftrat und sich vor nichts fürchtete?

Siggi war begeistert davon, dass sich ein Polizist für Frau Leipert interessierte und etwas unternehmen wollte, wozu er keinen Mut hatte. Er strahlte Leo und Benno Jäger geradezu an, als er wahrheitsgemäß auf die Fragen antwortete.

„Das ist zusammenfassend das, was Herr Jäger auch aussagte“, murmelte Leo. „Sie haben als Postbote sicher eine gute Menschenkenntnis. Was haben Sie für einen Eindruck?“

„Mir tut die Frau sehr, sehr leid. Ich bin davon überzeugt, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Sie gehört nicht in diese Gegend. Mir kommt es so vor, als würde sie sehr leiden.“

„Seit wann lebt sie hier?“

„Das müssten jetzt ziemlich genau vier Monate sein. Sie bezog diese Wohnung“, zeigte er auf die dritte Etage links. „Die Wohnung stand vorher lange leer. Keiner, der es sich leisten kann, zieht hier freiwillig ein.“

Leo nickte nur. Er war entschlossen, mit der Frau zu sprechen, wovon ihn Benno Jäger erneut abhalten wollte, der Postbote allerdings nicht.

„Ich weiß, was ich mache. Sie bleiben hier. Vielleicht ist es sogar besser, Sie gehen wieder zur Arbeit und Sie nach Hause.“

Leo ging einfach los. Er musste herausfinden, was es mit den Texten der Postkarten auf sich hatte.

Benno Jäger und Siggi Schindler dachten nicht daran, jetzt einfach zu gehen. Sie gingen zu Reidenbach, der ausgestiegen war und jetzt neben seinem Wagen stand.

Carina Leipert, die im echten Leben einen ganz anderen Namen trug, hatte das Auto mit den Männern nicht gesehen. Auch das des Postboten nicht, auf den sie täglich sehnsüchtig wartete. Obwohl Carina mit ihrem Schicksal haderte, wusste sie nicht, dass in wenigen Minuten ein Mann vor ihrer Tür stand, der allem eine andere Wendung geben würde. Eine wahnsinnige, schreckliche Wendung, die sie nie für möglich gehalten hätte. Ihr altes Leben, in das sie so gerne zurück wollte, gab es nicht mehr.

4.

Christine Künstle war sauer. Sie ging durch die Altstadt, ohne die schönen Gebäude wahrzunehmen. In Gedanken war sie weit weg – nicht bei dem, was morgen beim Notar auf sie zukam, sondern bei Leo. Ahnte er denn nicht, wie sehr sie sich auf diese beiden gemeinsamen Tage gefreut hatte? Es ging ihr doch nicht um dieses Erbe. Ja, sie war neugierig, aber das war es auch schon. Große Reichtümer erwartete sie nicht. Sie freute sich auf etwas Zeit, die sie mit Leo verbringen konnte, und zwar nur mit ihm. Als Leo vor Jahren von Ulm nach Mühldorf am Inn strafversetzt wurde, brach ihr das fast das Herz. Viele Jahre hatten sie zusammengearbeitet – er als leitender Kommissar der Mordkommission, sie als Pathologin. Dann war er einfach verschwunden und alles war anders. Ja, sie konnte damals gut verstehen, warum er die Schuld für den missglückten Plan auf sich genommen hatte, aber deshalb war Leo trotzdem weg. Er war ihr Vertrauter, ihr bester Freund in Ulm gewesen, danach fühlte sie sich trotz der anderen Freunde und ihres Bruders allein. Nichts war mehr wie vorher. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt, bis die unerbittliche Pensionierung sie erneut hart traf, die sie vor drei Jahren ereilte. Als die liebe Gerda, Leos Ersatzmutter und Vermieterin, ihr vor einem halben Jahr anbot, dass sie zu ihr auf den ausgebauten Bauernhof vor den Toren Altöttings ziehen solle, hatte sie sofort zugegriffen. Endlich waren Leo und sie wieder vereint, lebten sogar unter einem Dach. Sie hoffte auf die Vertrautheit, auf die vielen Gespräche, die es früher fast täglich gab, aber die blieben bisher aus. Sie nahm Rücksicht auf Leo, der von ihrem Einzug nicht begeistert war. Sie und Gerda waren überzeugt davon, dass sich alles entspannen würde, aber das war nicht so. Leo distanzierte sich und kam mit der neuen Situation nur sehr schwer zurecht. Es schien sogar so, als wäre er froh darüber, wenn sie wieder ausziehen würde. Seit Weihnachten stand die Hochzeit von Leo mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Sabine Kofler ins Haus, auf die sich alle freuten. Christine hoffte darauf, dass sich mit der Aufregung und den vielen Vorbereitungen die Wogen glätten würden, aber Leo verhielt sich unverändert. Als der Brief des Notars Boll ins Haus flatterte, sah Christine ihre Chance gekommen. Die darin angekündigte Erbschaft an sich war interessant, aber nicht wichtig. Das war eine sehr gute Gelegenheit, mit Leo allein zu sein und mit ihm endlich in Ruhe sprechen zu können. Leos Verlobte Sabine Kofler, die mitten im Umzug nach Altötting steckte und auch wegen der bevorstehenden Hochzeit im Mai jede Menge um die Ohren hatte, war mit Christines Plan sofort einverstanden. Auch ihr passte das Verhältnis zwischen Leo und Christine nicht. Wie sollten sie mit ungeklärten Dingen in Ruhe alle unter einem Dach wohnen? Damit waren Probleme vorprogrammiert, auf die sie gerne verzichten konnte.

Christine hatte Leo überrumpelt, das musste sie zugeben, aber wie sonst hätte sie ihn dazu bringen können, mit ihr nach Stade zu fliegen? Und jetzt? Leo war verschwunden und sie lief allein durch die Altstadt. Wann er zurück war? Sie wusste es nicht. Könnte es nicht sein, dass er sogar den Braten roch und ihr absichtlich aus dem Weg ging?

Je länger Christine darüber nachdachte, desto verrückter wurden ihre Gedanken. Dann blieb sie stehen. Ungläubig sah sie die vielen Yachten in dem Hafen an. Wie war sie hier hergekommen? Völlig außer Atem setzte sie sich auf eine Mauer. Schnell versammelten sich zahllose Möwen um sie herum. Da sie nichts bei sich hatte, was für die Vögel interessant war, und sie sich auch sonst ruhig verhielt, verloren die Tiere schnell das Interesse an ihr. Sie beobachtete, wie ein wunderschönes Segelboot in den Yachthafen fuhr. Als es näherkam, konnte sie den Namen Calimero lesen. Sofort kam ihr das Lied der Zeichentrickserie in den Sinn: Calimero, aus Palermo. Sie summte das Lied vor sich hin und sofort wurde die Laune besser. Da das Segelboot nicht weit weg von ihr anlegte, bekam sie etwas zu sehen, was ihr sonst entgangen wäre. Der Kapitän ging sehr geschickt vor. Er trug eine dieser albernen Mützen, wie sie auch im Fernsehen oft zu sehen waren und wie es sie in jedem Ramschladen in Küstennähe zu kaufen gab. Gekonnt machte der Mann das Boot fest, was Christine bewunderte. Dann schloss er die Kajüte und ging von Bord, diesmal ohne diese affige Mütze. Er lief direkt an ihr vorbei.

„Grüß Gott“, grüßte sie den Mann, auch wenn sie die Ältere war. Das war ihre Art. Höflichkeit kostete nichts, deshalb grüßte sie jeden.

Der Mann sah sie nur kurz an und drehte den Kopf wieder zur Seite.

„Arroganter Schnösel“, sagte Christine. Belustigt stellte sie fest, dass er sie gehört hatte. Wenn er sich jetzt umdrehte und sie dumm anmachte, war sie darauf gefasst. Vor einer Auseinandersetzung hatte sie noch nie Angst gehabt. Aber der Mann ging einfach weiter. Komisch.

Christine stand irgendwann auf und ging weiter. Das große, grüne Schiff mit Namen Greundiek zog sie magisch an. Ungläubig stand sie vor dem Museumsschiff – das musste sie sich ansehen. Sie kam mit einem netten Mann ins Gespräch, der ihr stolz das alte Schiff zeigte, das von vielen Freiwilligen instandgehalten wurde. Sie erfuhr, dass hier ein breit gefächertes Spktrum an Veranstaltungen möglich war. Sie machte viele Fotos, die sie nicht nur Leo, sondern zuhause allen zeigen konnte.

Sie schlenderte weiter, denn Zeit hatte sie genug. Wenn Leo sie brauchte, wusste er, wo er sie finden konnte. Sie entdeckte einen Stand, an dem Fischbrötchen verkauft wurden. Lecker. Sie kam mit dem Verkäufer ins Gespräch - von ihrer üblen Laune war inzwischen nichts mehr zu spüren. Auch die Möwen hatten sie wieder ins Visier genommen und scharrten sich um sie, da sie an ihrem Brötchen interessiert waren. Sie kaufte zwei Brötchen, die sie verfütterte. Dass das nicht gerne gesehen war, war ihr gleichgültig.

Christine hatte die Begegnung mit dem unhöflichen Mann längst vergessen. Dass sie noch mit ihm zu tun bekäme, ahnte sie nicht.

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