Der Heinrich-Plan

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Z serii: Leo Schwartz #1
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9.

Die Befragungen der Crew-Mitglieder des Abgeordneten ergab überhaupt nichts, das hatten die beiden erwartet. Die Aussagen glichen sich dermaßen, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass sie nicht abgesprochen waren.

„Wir haben noch eine Chance,“ sagte Leo, während sie in einem Café saßen.

„Ich denke, ich weiß, was du meinst,“ erwiderte Georg. „Die anderen Boote?“

„Genau. Meyer hatte behauptet, außer seiner Crew wäre er allein an Bord gewesen. Wenn wir die anderen Bootsbesitzer fragen, ob sie noch weitere Personen gesehen haben? Schließlich ist der Abgeordnete bekannt wie ein bunter Hund. Und wenn ich mir das Foto seiner Yacht anschaue, die ist auch mehr als auffällig.“

„Das machen wir, das ist unsere einzige Chance.“

Leos Handy klingelte, es war Anna.

„Ich habe eben mit Tim Mahler gesprochen, um mit ihm nochmals seine Aussage durchzugehen. Wir hatten doch der Polizei Passau das Foto von Nadine Siebert zukommen lassen mit der Bitte, dass Albert Steinberger den drei Freunden und auch Herrn von Kellberg das Foto zeigt. Das ist jetzt schon vier Tage her. Ich habe nachgehakt und dabei herausgefunden, dass Steinberger den Jungs das Foto noch nicht gezeigt hat. Ich habe Tim Mahler das Foto per E-Mail zugesandt und er sagte, dass ihm das Mädchen bekannt vorkommt. Sie war mit Maximilian am Strand, er ist sich ganz sicher. Außerdem hat er sich daran erinnert, dass er auch einen Mann am Strand gesehen hat. Er kommt morgen her und wir versuchen, ein brauchbares Phantombild des Mannes zu erstellen. Er hat ihn zwar nur von weitem, nur im Dunkeln und nicht von vorn gesehen, aber besser als nichts.“ Leo spürte, dass Anna sehr verärgert war.

„Das gibt es doch nicht. Was ist denn mit Steinberger los? Dafür muss es eine simple Erklärung geben. Vielleicht ist das Foto nicht angekommen.“

„Doch, ist es. Das habe ich auch vermutet und habe mit der zuständigen Mitarbeiterin in Passau gesprochen. Sie kann sich genau daran erinnern, dass das Foto vor vier Tagen eingegangen ist. Und sie hat es persönlich an Albert Steinberger übergeben.“

Leo war stinksauer. Was war da los?

„Hat Tim gesagt, wie der Mann ungefähr ausgesehen hat?“

„Er hat ihn, wie gesagt, nicht genau gesehen. Er hat ihn mir nur ganz grob beschrieben: Etwas älter, so circa 50 Jahre, normale Statur, normal groß – so seine bisherige Schilderung. Sehr viel mehr wird wohl nicht dabei rauskommen, aber wir versuchen es trotzdem.“

Zumindest konnte es der Beschreibung nach nicht der Abgeordnete Meyer sein. Oder doch? Schließlich hatte Tim den Mann nicht genau erkennen können.

„Warten wir ab, vielleicht haben wir Glück und er erinnert sich noch an ein wichtiges Detail. Ich wollte dich eben anrufen, Anna, ich habe auch etwas für dich. Der Kölner Kollege Obermaier und ich haben heute den Abgeordneten Meyer befragt und wir haben das Gefühl, dass er uns etwas verheimlicht. Er hat behauptet, er wäre nur mit seinen sieben Crew-Mitgliedern an Bord gewesen. Jetzt wollen wir die anderen Bootsinhaber nochmals befragen, ob Meyer wirklich allein war, oder ob jemand noch andere Personen auf dem Boot gesehen hat. Ich habe mich entschieden, noch ein paar Tage hier zu bleiben, mit Zeitler habe ich das schon abgesprochen. Schick bitte die Aussage per Fax an das Büro von Georg Obermaier nach Köln…“

Georg unterbrach Leo.

„Das mit dem Fax in mein Büro ist viel zu umständlich. Sag ihr, sie soll die Unterlagen an meine E-Mail-Adresse schicken.“ Er nannte ihm die Adresse, die er an Anna weitergab.

„Schick die Unterlagen per E-Mail an Obermaiers Adresse. Gibt es sonst noch was Neues?“

„Nein, sonst nichts. Ich habe Julius Bernrieder, Benjamin Aschenbrenner und die Eheleute von Kellberg nicht erreicht und somit keine E-Mail-Adressen, um ihnen das Foto zu übermitteln. Ich habe heute per Post ein Foto von Nadine Siebert mit einem Kurzbrief weggeschickt, auf Steinberger verlasse ich mich nicht mehr.“

„Ich habe Frau von Kellberg das Foto bereits gezeigt und es ihr überlassen, aber doppelt genäht hält besser. Das hast du gut gemacht. Und jetzt ärgere dich nicht mehr, es gibt bestimmt eine simple Erklärung für Steinbergers Nachlässigkeit. Und es tut mir leid, dass ich dich mit dem ganzen Schriftkram alleine lasse.“

„Für Steinbergers Nachlässigkeit gibt es keine Entschuldigung. Und mach dir wegen mir keine Sorgen, ich komme schon zurecht.“ Leo wusste, dass er sich auf Anna verlassen konnte und war stolz darauf, solch eine Kollegin zu haben. Das war nicht selbstverständlich.

Kurze Zeit später waren die Unterlagen übermittelt. Nachdem die beiden die Aussagen gelesen hatten und darin keinen Hinweis auf das Boot des Abgeordneten fanden, machte Georg eine Liste mit Namen, Adressen und Telefonnummern der Bootsinhaber. Die beiden telefonierten bis spät in die Nacht mit den betreffenden Personen. Sie hatten kein Glück: Niemand hatte irgendwelche Besucher auf Meyers Boot gesehen.

Leo hatte inzwischen bereits mehrfach versucht, Albert Steinberger in Passau zu erreichen, jedoch ohne Erfolg. Leo war stinksauer. Vielleicht wären sie jetzt schon einige Schritte weiter, wenn Steinberger das Foto von Nadine Siebert eher gezeigt hätte. Bevor er zu Bett ging, versuchte er abermals, Steinberger zu erreichen. Nichts. Der würde morgen was von ihm zu hören bekommen.

10.

„Tim Mahler ist tot“. Leo war sofort hellwach, als er gegen 7.00 Uhr noch schlaftrunken an sein Handy ging und Anna ihm diese schreckliche Nachricht mitteilte.

„Was? Tim ist tot?“, schrie er aufgebracht. „Was ist passiert?“

„Albert Steinberger hat mich eben angerufen. Tim ist heute Nacht gegen 23.15 Uhr vermutlich absichtlich mit hohem Tempo gegen einen Baum gefahren. Man hat neben ihm einen Abschiedsbrief mit einem Geständnis bezüglich des Todes von Maximilian von Kellberg gefunden. Steinberger lässt uns die Unterlagen zukommen.“

Leo legte auf, er musste sich erst einmal sammeln. Dieser vor Energie strotzende Tim ein Selbstmörder und Mörder? Das konnte er sich einfach nicht vorstellen, das passte einfach nicht. Oder hatte Tim tatsächlich etwas mit dem Tod von Maximilian zu tun? Er hatte ein ungutes Gefühl und beschloss deshalb, das vor Ort abzuklären.

Daher rief er seine Kollegin einige Minuten später an.

„Ich fahre umgehend nach Passau. Ich kann das mit Tim Mahler nicht glauben und muss mich selbst von den Umständen überzeugen. Ich habe bereits mit unserem Chef gesprochen und er hat mir grünes Licht gegeben. Albert Steinberger werde ich vorab nicht informieren und ich bitte dich, meinen Besuch in Passau nicht an die große Glocke zu hängen.“

„Von mir erfährt keiner etwas, darauf kannst du dich verlassen. Ich bin froh, dass du dich selbst um die Sache kümmerst, denn auch ich bin davon überzeugt, dass da irgendetwas nicht stimmt. Ich habe diesen Tim doch gesehen, das passt einfach nicht zu ihm, da müsste ich mich schon schwer täuschen. Vor allem die Nachlässigkeit von Albert Steinberger mit dem Foto und die Tatsache, dass er die ganze Zeit nicht zu erreichen war, ist seltsam. Viel Glück und halte mich auf dem Laufenden.“

Er telefonierte mit Georg Obermaier, der heute sehr früh einen Termin im Präsidium hatte und schilderte ihm die Situation. Danach führte er ein knappes Telefongespräch mit seiner Freundin, der Pathologin Christine Künstle, zog sich an und ging zu seinem Wagen. Zu seiner großen Überraschung fuhr Georg die Auffahrt hoch.

„Georg? Was machst du denn hier?“ Leo war verblüfft.

„Ich denke, das ist auch irgendwie mein Fall. Ich habe mich nach Absprache mit meinem Vorgesetzten entschlossen, dich zu begleiten,“ sagte Georg bestimmt. „Ich bin einfach davon ausgegangen, dass du nichts dagegen hast. Also, auf was warten wir noch?“

Leo war vollkommen überrascht.

„Was soll ich dagegen haben? Ich bin froh, dass du da bist.“

Gegen 15.00 Uhr trafen sie bei der Polizei Passau ein. Leo war glücklich über das moderne und mit allem Komfort ausgestattete Fahrzeug. Er durfte auf keinen Fall vergessen, seinem Vorgesetzten Michael Zeitler nochmals dafür zu danken.

Leos Handy klingelte, das Gespräch dauerte keine Minute. Sie parkten und gingen raschen Schrittes direkt in Albert Steinbergers Büro, der geschäftig über einigen Papieren saß. Er sah die beiden erstaunt an und begrüßte sie knapp. Man spürte sofort, dass ihm der Besuch nicht willkommen war.

„Das ist mein Kollege Georg Obermaier,“ stellte Leo Georg vor. Die beiden nickten sich kurz zu. Leo kam sofort auf den Punkt. „Ich habe gehört, was mit Tim Mahler passiert ist. Geben Sie mir bitte die Unterlagen.“

Albert Steinberger zögerte und schüttelte schließlich den Kopf.

„Ich bin überrascht, dass Sie wegen des Selbstmordes von Tim Mahler extra hergekommen sind. Die Sache ist doch völlig klar. Ich habe die Akte Maximilian von Kellberg abgeschlossen und bereits veranlasst, dass Ihnen eine Kopie zugesandt wird. Das habe ich auch Ihrer Kollegin gesagt.“

Leo wurde ungeduldig.

„Was ist hier völlig klar? Ich verstehe Sie nicht.“

Mit einem überheblichen Stöhnen nahm sich Steinberger die schmale Brille von der Nase.

„Durch den Selbstmord von Tim Mahler ist doch klar, wer Maximilian getötet hat, oder?“

Leo hätte diesem aufgeblasenen Kerl eine reinhauen können, riss sich jedoch zusammen.

„Woher wissen Sie, dass es sich um Selbstmord und nicht um einen Unfall oder einen Mord handelt?“

„Weil wir einen Abschiedsbrief haben, deshalb.“ Er kramte in einer schmalen Akte. „Hier, bitteschön. Überzeugen Sie sich selbst.“

 

Leo las den mit Computer geschriebenen Brief, der lediglich aus zwei kleinen Zeilen bestand: Ich habe Maximilian getötet. Es tut mir leid, ich kann nicht mehr mit der Schuld leben. Der Brief war weder unterzeichnet, noch stand ein Name oder ein Datum darauf. Das könnte nun wirklich jeder geschrieben haben. Er konnte sich nicht helfen, aber hier stimmte etwas nicht, sein Misstrauen wuchs. Georg las den Brief ebenfalls, zog die Stirn in Falten und sah ihn an. Leo konnte deutlich erkennen, dass auch er nicht überzeugt war.

„Sie sehen, Herr Schwartz, dass es sich eindeutig um Selbstmord handelt und Sie wieder nach Hause fahren können. Leider haben Sie den ganzen Weg nach Passau umsonst gemacht. Jetzt muss ich Sie leider bitten, zu gehen. Ich habe noch jede Menge Arbeit.“

„Wo ist die Pathologie, Herr Steinberger? Ich möchte mir den Jungen ansehen.“

Überrascht sah ihn Steinberger an.

„Warum das denn?“

„Wo ist die Pathologie?“, wiederholte Leo seine Frage.

„Ich habe den Leichnam zur Beerdigung bereits freigegeben. Was soll das Ganze?“ Leo bemerkte, wie nervös Steinberger wurde.

„Jetzt hören Sie mir mal zu, Steinberger. Ich möchte jetzt umgehend die Leiche sehen und Einsicht in die Akte nehmen, haben Sie mich verstanden?“

„Das dürfen Sie gar nicht, das ist nicht Ihr Zuständigkeitsbereich. Sie dürfen hier lediglich wegen des Todes von Maximilian von Kellberg ermitteln, und nicht mehr. Jetzt machen Sie, dass Sie rauskommen, und zwar schnell,“ Steinberger wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.

„Da muss ich Sie leider enttäuschen, werter Kollege. Mein Vorgesetzter hat die Sache bereits mit Ihrem Vorgesetzten, Herrn Hartmann, abgeklärt, ich habe sehr wohl freie Hand. Vor einer halben Stunde bekam ich grünes Licht. Wenn Sie mir nicht glauben, dann rufen Sie Ihren Chef an.“

Mit zittrigen Fingern wählte Steinberger Hartmanns Nummer und ließ Leo dabei nicht aus den Augen. Das Gespräch dauerte nicht lange.

„Sie haben recht, tut mir leid,“ sagte Steinberger und übergab Leo die Akte Tim Mahler. Leo verließ ohne ein weiteres Wort Steinbergers Büro. Georg, der äußerst amüsiert das Gespräch verfolgt hatte, begleitete ihn.

Sie fragten einen Polizisten nach dem Weg zur Pathologie und bekamen eine Wegbeschreibung. Sie fuhren zu der angegebenen Adresse, die in knapp fünf Minuten mit dem Wagen zu erreichen war.

„Was war das denn, Leo? Hast du mit Steinbergers Widerstand etwa gerechnet?“, wollte Georg wissen, als Leo den Wagen vom Parkplatz des Polizeireviers fuhr.

„Ich hatte kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache und wollte mich absichern. Deshalb habe ich heute Morgen meinen Chef angerufen und ihn um Hilfe gebeten. Vorhin bekam ich den Bescheid, dass ich auch in der Sache Tim Mahler grünes Licht habe. Georg, glaube mir: Wenn du mit Tim Mahler gesprochen hättest, würdest du auch daran zweifeln, dass er sich das Leben genommen hat. Merkwürdig ist auch, dass er gerade auf dem Weg nach Ulm war, um ein Phantombild zu erstellen. Zufall? Ich kann mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser Junge seinen Freund Maximilian getötet haben soll. - Wir sind da,“ sagte Leo und deutete auf ein schlichtes Gebäude. „Ich habe eine Überraschung für dich.“

Sie stiegen aus und betraten das Gebäude. Schon von weitem konnte Leo die Stimme seiner Freundin und Kollegin Christine Künstle hören, die einen hiesigen Kollegen lautstark beschimpfte.

„Darf ich dir meine Kollegin Christine Künstle vorstellen, Georg?“, sagte Leo, als sie vor Christine und einem eingeschüchterten Mann standen. „Christine, das ist Georg Obermaier.“

„Jaja, freut mich, freut mich,“ sagte sie genervt und gab Georg die Hand. „Gut, dass ihr da seid. Dieser sture Kerl hier verweigert mir den Zugang zu meiner Leiche. Ich habe ihm den Wisch gezeigt, der mich berechtigt, die Untersuchung vorzunehmen, aber der Kerl scheint meine Sprache nicht zu sprechen. Jetzt rücken Sie mir sofort die Leiche raus, oder Sie können was erleben junger Mann,“ schrie sie den Kollegen erneut an, der jedoch keine Anstalten machte, irgendetwas zu unternehmen. Er stand nur da und schüttelte den Kopf.

„Sie können doch aus dem Dokument, das Sie in der Hand halten, unschwer erkennen, dass wir berechtigt sind, die Leiche von unserer Pathologin Dr. Künstle untersuchen zu lassen,“ schaltete Leo sich jetzt ein.

„Ja, das kann ich. Aber wie ich schon bereits mehrfach gesagt habe, kann ich Ihnen die Leiche nicht geben.“

Christine hatte schon angesetzt, um den Kollegen weiter zu beschimpfen, als Leo sie stoppte.

„Warum können Sie uns die Leiche nicht geben?“

„Weil ich sie gar nicht hier habe. Ich kenne diesen Namen überhaupt nicht. Das versuche ich schon die ganze Zeit zu sagen, aber diese Frau lässt mich nicht zu Wort kommen.“

Jetzt waren alle sprachlos.

„Wieso ist die Leiche nicht hier? Sie muss doch heute Nacht ungefähr gegen 24.00 Uhr hier eingeliefert worden sein. So steht es zumindest in dieser Akte, die ich eben von Albert Steinberger bekommen habe.“

„Nein. Es ist definitiv seit gestern früh keine neue Leiche eingeliefert worden. Sehen Sie selbst.“ Er übergab Leo eine Liste mit den Eingängen der letzten Tage. Tatsächlich. Es war weder eine Leiche mit Namen Mahler, noch ein Eingang in der letzten Nacht verzeichnet.

Leo griff sofort zum Telefon und wählte Steinbergers Nummer, der jedoch nicht ans Telefon ging.

„Den kauf ich mir,“ sagte Leo und ging los. Christine und Georg folgten ihm. Diesmal fuhr Georg den Wagen und Leo informierte seinen Vorgesetzten Zeitler über die hiesigen Missstände. Der reagierte ungehalten und rief umgehend seinen Passauer Kollegen Hartmann an.

Im Präsidium war Steinberger nicht auffindbar. Niemand wusste, wo er war. Das Telefongespräch seines Vorgesetzten mit dem Chef der hiesigen Polizei hatte jedoch zur Folge, dass sie uneingeschränkt grünes Licht für weitere Ermittlungen bekamen und ihnen auch jegliche Unterstützung zugesagt wurde. Außerdem wurde ihnen der Bericht eines Polizisten über den Unfall Mahler übergeben, der der Akte noch nicht beigefügt war. Diesem Bericht entnahmen sie, dass die Leiche bereits schon vom Unfallort direkt in ein Bestattungsunternehmen abtransportiert wurde, dessen Name und Adresse aus den Unterlagen ersichtlich war. Das widersprach sich jetzt völlig. In der Akte stand, dass die Leiche in die Pathologie gebracht wurde und laut dem Bericht des Polizisten war die Leiche direkt zum Bestattungsunternehmen gebracht worden. Was war hier los?

Umgehend setzten sich Leo, Georg und Christine in den Wagen und fuhren zu dem Bestattungsunternehmen. Leo versuchte fortlaufend, dort jemanden telefonisch zu erreichen, jedoch war ständig besetzt. Nach endlosen Minuten erreichte er schließlich eine freundliche junge Frau.

„Hier Leo Schwartz von der Polizei Ulm. Ich rufe an wegen der Leiche Tim Mahler, die Sie heute Nacht bekommen haben.“

„Das muss ein Missverständnis sein,“ flüsterte sie fast ins Telefon, „bei uns ist keine Leiche mit diesem Namen und wir haben auch letzte Nacht keinen neuen Kunden hereinbekommen.“

„Sind Sie sich ganz sicher?“ Leo war außer sich. Hatte dieser Steinberger auch die Adresse des Bestattungsunternehmens gefälscht?

„Ja, ich bin mir ganz sicher. Wir haben seit zwei Tagen keinen neuen Kunden bekommen.“

Leo musste einen Moment durchatmen. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Welches Spiel wurde hier gespielt?

„Gibt es noch weitere Bestattungsunternehmen in Passau?“

„Natürlich, wir haben in Passau eine große Konkurrenz. Es gibt noch vier weitere Unternehmen. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Namen und Telefonnummern geben.“

„Das wäre sehr freundlich.“ Leo notierte sich Namen und Telefonnummern. Georg hatte mitgehört und war rechts rangefahren.

„Habe ich das richtig verstanden? Die Adresse des Bestattungsunternehmens in den Unterlagen stimmt nicht? Das gibt es doch nicht!“ Christine war außer sich. So etwas hatte sie noch nie erlebt.

„Ja, du hast richtig verstanden. Das ist unglaublich. Steinberger hat die kompletten Unterlagen manipuliert. Hoffentlich finden wir die Leiche des Jungen.“ Leo wählte eine Nummer nach der anderen und hatte bei der dritten Nummer Glück.

„Ja, wir haben heute Nacht eine Leiche bekommen, ein Unfallopfer. Wir haben den Auftrag bekommen, den Leichnam so schnell wie möglich zu verbrennen.“

„Unter keinen Umständen wird die Leiche verbrannt, bis wir sie gesehen haben, ist das klar? Sie haften mir persönlich dafür. Wir sind unterwegs.“

„Gut, wenn Sie das sagen, dann warten wir.“

Leo notierte die Adresse und Georg fuhr los. Zur Sicherheit rief Leo noch das vierte Beerdigungsunternehmen an, die zwar eine Leiche während der Nacht bekamen, aber dabei handelte es sich nicht um ein Unfallopfer. Auch diese Leiche sollte so schnell als möglich verbrannt werden. Leo gab strikte Anweisung, noch nichts zu unternehmen, bis er sich wieder melden würde.

„Da brauche ich aber etwas Amtliches in den Händen, das müssen Sie verstehen. Was soll ich den Angehörigen sagen? Mir ist lieber, ich habe ein amtliches Schriftstück in den Händen, das ich vorzeigen kann.“

Leo verstand den Mann und telefonierte mit seinem Vorgesetzten Zeitler, der versprach, umgehend ein entsprechendes Dokument per Fax direkt an das Unternehmen zu schicken.

Im Bestattungsunternehmen angekommen, wurden sie bereits erwartet. Sie ließen sich das Unfallopfer zeigen, das ziemlich übel zugerichtet war. Eine Identifizierung war unmöglich. Christine sah sich den Mann an und runzelte die Stirn.

„Wie alt ist dieser Junge, der heute Nacht umgekommen ist?“

„20. Warum ?“

„Weil dieser Mann hier mindestens 30 ist, eher 35.“

Leo nahm den Totenschein zur Hand, den ihm der Mitarbeiter des Unternehmens übergeben hatte. „Hier steht eindeutig Mahler, Tim, 20 Jahre.“

„Das kann nicht sein, der Mann hier ist eindeutig älter. Was weißt du noch über diesen Mahler? Ich meine, die Leiche ist in einem sehr schlechten Zustand, vielleicht müssen wir eine DNA-Analyse machen. Ich bin mir absolut sicher, dass dieser Mann älter ist.“

„Mahler war Sportler, Fußball-Spieler. Er studierte nicht nur Sport, sondern war wegen seines Talents bereits in Verhandlungen mit Spitzenvereinen.“

Christine schüttelte energisch den Kopf.

„Das hier war nie und nimmer ein Sportler. Sieh dir die Beinmuskulatur an, die ist bei einem Fußball-Spieler viel ausgeprägter, da ist ja quasi gar nichts. Der Mann hier hat niemals dauerhaft Sport gemacht.“

Leo war stinksauer. Albert Steinberger hat nicht nur die ganze Akte manipuliert, sondern besaß auch noch die Dreistigkeit, Toten falsche Namen zuzuordnen.

„Kommt. Wir müssen uns noch eine Leiche ansehen.“

„Das hier ist Peter Kremer, 32 Jahre. Den haben wir heute Nacht geholt,“ sagte der Angestellte des Bestattungsunternehmens. „Plötzlicher Herzstillstand steht auf dem Totenschein.“ Leo und Georg besahen sich die Unterlagen, Christine trat an den Sarg.

„Der ist eindeutig jünger als 32 Jahre.“

Leo versetzte es einen Stich, als er in das junge, hübsche Gesicht von Tim Mahler blickte, das vom Bestattungsunternehmen für die Verbrennung zurechtgemacht wurde. Die Leiche war unversehrt.

Der Leichnam Mahler wurde in die Pathologie gebracht. Bei Christines Anblick stöhnte der Pathologe laut auf, half ihr jedoch bei der Autopsie. Christine hatte ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen und zeigte sich von ihrer besten Seite. Sie gab ihm hilfreiche Tipps und er bewunderte ihr Geschick. Bis sie ihre Arbeit beendeten, war ihr Umgangston schon fast freundschaftlich.

Leo und Georg warteten währenddessen draußen. Die beiden wurden von Polizisten auf dem Laufenden gehalten, was die Suche nach Albert Steinberger betraf, aber leider blieb er verschwunden. Steinberger wurde von Hartmann persönlich zur Fahndung ausgeschrieben, als er die ungeheuerlichen Details erfuhr. Er befürchtete negative Schlagzeilen, sogar einen Skandal für seine Polizeidienststelle, wenn Einzelheiten publik wurden. Leo hatte den Polizisten in die Pathologie beordert, der den Bericht mit dem falschen Bestattungsunternehmen verfasst hatte und er war ihm gegenüber sehr ungehalten.

„Dieser Bericht ist von Ihnen?“

„Ja. Stimmt etwas nicht?“

„Allerdings. Und zwar die Adresse des Bestattungsunternehmens.“

„Die hat mir Albert, also Herr Steinberger genannt und deshalb habe ich das so in den Bericht geschrieben.“

 

Also hatte hier Steinberger auch seine Finger im Spiel. Unfassbar.

Christine trat auf den Gang, Leo und Georg sahen sie erwartungsvoll an.

„Zyankali, habe ich mir schon fast gedacht. In seinem Mageninhalt befanden sich Speisereste von Putenfleisch, Kartoffeln und Salat. Und von einem Isotonischen Getränk. Ich vermute, dass ihm das Gift mit dem Getränk verabreicht wurde. Und Zyankali hat mit einem plötzlichen Herzstillstand, wie er hier in dem Totenschein als Todesursache steht, so viel zu tun wie ich mit einer Primaballerina.“ Sie übergab Leo den Totenschein. „Find heraus, welcher Stümper diesen Totenschein ausgestellt hat. Mein junger Kollege hier wird den Bericht schreiben und wird ihn euch zukommen lassen. Keine Sorge,“ fügte sie hinzu, als sie die entsetzten Gesichter der beiden sah, „natürlich nicht ohne meine Überprüfung.“ Letzteres sagte sie so laut, dass der Kollege sie hören musste. „Und bevor ihr beiden euch wieder an die Arbeit macht,“ sie sah auf ihre Uhr, „wäre es jetzt höchste Zeit, etwas zu essen. Ich habe einen Bärenhunger. Und euch beiden würde eine warme Mahlzeit auch nicht schaden. Machen Sie den Jungen wieder zu?“, rief sie in den Autopsie-Raum. Der Kollege sagte sofort zu und Leo hatte den Eindruck, dass er sich sogar freute.

„Also, Georg,“ sagte Christine, als sie ein Stück ihres Steaks abschnitt, das ziemlich blutig war, „wie sagt man jetzt politisch korrekt? Schwarzer oder Neger? Wie sagt man?“

„Christine! Reiß dich doch zusammen,“ sagte Leo ärgerlich, denn nicht jeder kam mit der offenen und direkten Art seiner Freundin zurecht.

„Ach komm, so erschrocken sieht er gar nicht aus. Er ist nun mal schwarz. Oder soll ich jetzt so tun, als würde ich das nicht sehen? Ich habe ja auch gesehen, dass er ein ziemlich hübscher Kerl ist. Oder darf ich das auch nicht sagen?“

Leo wollte gerade etwas erwidern, als Georg laut loslachte.

„Sie sind ja eine Marke. Ich glaub, ich spinne,“ rief er aus und einige der anderen Restaurantbesucher sahen verstohlen zu den dreien rüber. „Hören Sie, Lady“, fuhr er fort und wischte sich mit der Serviette eine Träne weg, „Sie können zu mir sagen, was Sie wollen, Sie sind in Ordnung.“

„Na also. Ich bin Christine und weil ich die Ältere bin, kann ich bestimmen, dass wir das SIE weglassen. Das hätten wir geklärt. Wäre Georg nicht etwas für unsere Anna?“ Sie musterte ihn von oben bis unten. „Oder bist du verheiratet?“

„Ich bin verheiratet.“

„Wenn sich der Zustand ändert, ruf mich an. Vielleicht kann ich dann was mit unserer Anna arrangieren. Sie ist ein wirklich nettes, intelligentes und außerordentlich hübsches Mädchen.“

„Christine! Jetzt hör aber auf!“, sagte Leo peinlich berührt. „Anna ist mit Stefan Feldmann zusammen, das weißt du genau.“

„Ja und? Das plätschert nun geraume Zeit so dahin und ich denke mir ja nur, es wäre doch schade, wenn so ein hübscher Junge an die Falsche geraten würde. Woher kommen deine Vorfahren?“, bohrte Christine weiter.

„Ich wurde im Alter von zwei Jahren adoptiert, meine Vorfahren kommen aus Kenia. Meine Adoptiveltern waren wirklich tolle Eltern. Sie konnten selbst keine Kinder bekommen und ich bin sehr behütet aufgewachsen. Meine leiblichen Eltern habe ich nie kennengelernt und ich habe auch keine Ahnung, was aus denen geworden ist. Sie gaben mich in einem Krankenhaus ab und haben mich dort nicht mehr abgeholt. Dann kam ich in ein Waisenhaus, von wo aus ich zur Adoption freigegeben wurde. Das zumindest steht in meinen Unterlagen. Ob das der Wahrheit entspricht, weiß ich natürlich nicht. Vor Jahren habe ich versucht, meine Eltern ausfindig zu machen, aber das war reine Zeitverschwendung. Die Kenianischen Behörden sind nicht sehr kooperativ und haben über mich nur die Unterlagen gefunden, die ich sowieso schon hatte. Entgegen vieler anderer Schilderungen von adoptierten Kindern in ähnlicher Situation hatte ich niemals Probleme wegen meiner Hautfarbe. Auch im sozialen Umfeld gab es nie irgendwelche Anfeindungen. Klar gibt es immer irgendwelche Idioten, die blöd schauen oder Witze machen, aber meine Eltern haben mir schon von klein auf beigebracht, darüber wegzusehen.“

„Die schauen auch blöd, wenn ich ein kurzes Kleid anhabe, was mich aber auch nicht davon abhält.“ Christine sagte das mit einem witzigen Unterton und alle mussten bei der Vorstellung herzlich lachen.

Sie aßen zu Ende, gingen wieder zurück in die Pathologie, wo Christine von ihrem Kollegen der fertige Bericht freudestrahlend überreicht wurde. Sie las ihn durch und nickte. „Sehr schön gemacht, junger Freund. Wie heißen Sie eigentlich?“

„Mein Name ist Daniel Rauscher,“ sagte er strahlend und strich sich mit seinen Händen durch die kurzen, blonden Haare. Eilig zog er seinen Kittel aus, unter dem ein brauner Anzug zum Vorschein kam, der zu Christines Überraschung sehr modern und wohl auch sehr teuer war. Für seine 42 Jahre hatte er noch ein sehr jugendliches Aussehen, wozu auch die 1,64 Meter kleine, sehr schlanke Figur beitrug.

„Darf ich Ihnen meinen Wirkungskreis zeigen, Frau Kollegin? Außer diesem Autopsie-Raum hat meine Pathologie noch so einiges zu bieten,“ fragte er stolz und Christine konnte wegen ihres schlechten Gewissens nicht ablehnen. Sie gab Leo den Bericht und sagte: „Wenn ich hier fertig bin, fahre ich wieder nach Hause. Also los, Kollege Rauscher, dann zeigen Sie mal, was Sie haben.“

Daniel Rauscher führte Christine durch sein Reich. Sie musste zugeben, dass das, was sie hier in der Pathologie Passau zu sehen bekam, ziemlich beeindruckend war.

„Sehr schön, junger Freund, aber meine Pathologie in Ulm ist auch nicht übel. Wenn Sie irgendwann mal in der Nähe sind, kommen Sie doch bei mir vorbei, ich würde mich freuen.“

Sie gab ihm ihre Karte und Daniel freute sich wie ein kleines Kind. Er hatte sich inzwischen über Dr. Christine Künstle informiert und war beeindruckt. Neben ihren zahlreichen Vorträgen veröffentlichte sie in Fachzeitschriften immer wieder Artikel, die in Fachkreisen großen Anklang fanden und von denen er selbst schon einige gelesen hatte. Er ärgerte sich, dass ihm ihr Name nicht sofort ein Begriff war.

Leo und Georg suchten den zuständigen Arzt auf, der in der Nacht den Totenschein ausgestellt und unterzeichnet hatte. Es stellte sich heraus, dass der Arzt „unbekannte Todesursache“ eingetragen hatte, und zeigte den beiden die Kopie in seinen Unterlagen. Also hatte Steinberger auch noch den Totenschein gefälscht. Nur er konnte veranlasst haben, dass Tim so schnell wie möglich verbrannt werden sollte. Steinberger konnte nicht damit rechnen, dass der angebliche Selbstmord untersucht würde.

Als Nächstes wollten sie Julius Bernrieder und Benjamin Aschenbrenner wegen des Fotos der Vermissten Nadine Siebert aufsuchen. Leider trafen Sie Julius Bernrieder nicht an, hinterließen aber eine Nachricht.

Benjamin Aschenbrenner war zuhause. Sie zeigten ihm das Foto von Nadine.

„Ich habe das Foto bereits per Post bekommen. Nein, tut mir leid, ich kann mich an dieses Mädchen nicht erinnern. Das ganze Hotel war voll von diesen Mädchen, die nur auf das eine aus waren,“ sagte er sichtlich angewidert.

„Stehen Sie nicht auf Frauen?“, fragte Georg unverblümt, der diesen arroganten Kerl von Anfang an nicht leiden konnte.

„Natürlich stehe ich auf Frauen,“ schrie Benjamin empört. „Allerdings bevorzuge ich die Sorte Frauen, die anständig sind und einen gewissen Intellekt haben. Ich habe aufgrund der gesellschaftlichen Stellung meiner Eltern eine gewisse Verantwortung, der ich mir bewusst bin. An leichten Mädchen habe ich keinerlei Interesse.“

„Können Sie uns sagen, wo wir Julius Bernrieder finden können?“, warf Leo ein. Auch um den Redeschwall, der kaum zu ertragen war, zu unterbrechen.

„Nein, ich kenne Julius nicht näher. Maximilian hatte ihn, wie auch Tim, entgegen unserer Absprache einfach in den Urlaub auf Sylt mitgenommen. Während des Urlaubes hatte ich keinen engeren Kontakt mit ihm. Wir sind zu verschieden und fanden keinerlei Gemeinsamkeiten. Zuletzt habe ich ihn zusammen mit Tim auf der Polizeistation gesehen, als wir bei Ihnen unsere Aussage gemacht haben.“